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i
'I
Verlag von Wilheim Engelmann in Leipzig,
HottiffPT HXTilllPlTn CtrundriflB der qualitativen Analyse vom
^ ' ^ Standpunkte der Iiohre von den lonen.
Mit 10 Piguren, 3 Tabellen und einer Spektraltafel gr.^8. 1902.
In Leinen gebunden-M. 7. — .
BTfldiS? (tPOTS? Anorganiache Pennente. Darstellung k6lloi-
^^ ^ daler Metalle auf elektrischem Wege und Unter-
suchung ihrer katalytischen Eigenschaften. Kontaktchemische Studie.
JVIit 6 Figuren im Text gr. 8. 1901. M. 3.—.
fiflllPTl "RmSt Jacobus Henricus van't
't Hoff. Mit einem Portrat.
in Heliogravure und einer
Bibliographie. gr! 8. 1899. M. l.GO.
fjOTlPtl "Pm^t Vortrage fur Arzte iiber Physikalische Ghemie.
L: ^ Mit 49 Figuren im Text gr. 8. 1901.
M. 8. — ; in Leinen gob. M. 9. — .
fiflllPTI "Pm^t Studien zur chemisohen Dynamik nach J. H.
5 ? van't Hoff
8 Etudes de dynamique chiiniquo.
Mit einem Yorwort von J. H. van't Hoff und 49 Figuren im
Text gr. 8. 1891). ' M. (3. — .
Gescbichte der
Dannemann, Eriedricli, ^'^^^^^^^^ ^^^'^
; • ^' Naturwissenschaften, zugleich eine
Einfiihrung in das Studium der naturwissenschaftlichen Litteratur.
2 Biinde.
I. Band: Erlihitorte j\bschnitto aiis den Worken liervoirairender Natnrforsclier
aller Yolkcr und Zeiton. Zweite v^rmelirte An f I age. Mit 44 AM»il-
dungon zum grOssten Teil in AViedergabc nach den Originalwerken und einer
Spektraltafel. gr. 8. 1902. M. 8.— ; in' Leinen geb. M. t).— .
II. Band: Die Entwicklnng der Naturwissenscliafien. Mit 7(> Abhildungen znm
gross^ten Teil in Wiedergabo nach den Original werken und einer Spektraltafel.
gr. 8. 18i)8. M. 9.— ; in LeintMi geb. M. 10.:')(>.
DPVPTltPT flh IVr VRTI I^liyaikalischeChemiefurAnrangGr.
' i- Mit einem Vorwort von J. H. van't
Hoff. Zweite Auflage, besorgt von Ernst Cohen, kl. 8. 19i)l.
In Leinen geb. M. 4. — .
ROOZelDOOm, H. W. BaklllliS, ^'^ Bedeutung derPhasen-
1 '" lebre. vortrag, gelialten m
der 72. Yersaninilung Deutscher Xalurforscher und Arzte zu Aachen,
September 1900. Mit G Figuren im Text gr. 8. 1900. M. - .80.
^W^nlfVllTI A Chemisches Praktikum. L Teil: Analytischo
— ^ UbujQgen. Mit 2.") Figuren im Text 8. 1902.
In Leinen gel). M. 10 — .
= J>cr II, 7V<7, div ///ajvnvi^'?-*/? thnui/rn hthamirlnrj , erscheint im
7/' rh«t J'JO'3. =
LEHRBUCH
DER
ALLGEMEINEN CHEMIE
VON
DrWILH. ostwald
PROFESSOR AN DER UNIVERSITAT ZU LEIPZIG
IN ZWEI BANDEN
ZWEITE, UMGEARBEITETE AUFLAGE
ZWEITEN BANDES ZWEITER TEIL:
VERWANDTSCHAPTSLEHRE
ERSTER TEIL
MIT 389 TEXTFIGUREN
LEIPZIG
VERLAG VON WILIIELM ENGELMANN
1896 — 1902.
VERWANDTSCHAFTSLEHRE
EB8TEB lEIL
VON
DrWILH. ostwald
PttQFBSSOR AH DBB UKIVXB8ITAT ZU LBIPZI6
ZWEITE, UMGEARBEITETE AUFLAGE
MIT 889 TEXTFIGUBEN
LEIPZIG
VERLAG VON WILHELM ENGELMANN
1896—1902.
i " 'I
BfOLOcr
^ '7* ^ -^ V r- I-)
Alle Rechte, besonden das der tTbenetsang, sind rorbehalten.
Vorwort zur zweiten Auflage.
Mit dem vorliegenden zweiten Teile der Neubearbeitung des zweiten
Bandes des Lehrbuches der allgemeinen Chemie ist die Gesamtheit der hier
in behandelnden Gegenstande noch nicht erschopft. Er enthalt zunachst
die chemische Kinetik und yon der Gleichgewichtslehre die regularen
Gleichgewichte erster, zweiter and dritter Ordnang; in das Gebiet hoherer
Ordnnngen ist die Wissenschaft noch nicht Yorgedrungen. Noch nicht
behandelt sind hier die besonderen Falle des chemischen Gleichgewichts,
wie sie bei den festen Losungen, den isomorphen Gemischen und
den enantiomorphen Krystalldn auftreten; ebenso fehlt noch das
sehr ausgedehnte Gebiet der elektrochemischen Gleichgewichte.
Fiir diese Gegenstande ist ein dritter Teil des zweiten Ban4es vor-
gesehen, welcher ausserdem eine Darlegung onserer Eenntnisse iiber
Katalyse, sowie eine Zusammenstellung der Einzelergebnisse in der
speziellen chemischen Mechanik (Sammlung von Dissociations- und Gleich-
gewichtskonstanten, spezielle kinetische Studien u. s. w.) enthalten soil.
Ein Nachtrag, in welchem die wahrend des Erscheinens der zweiten
Auflage veroffentlichten Arbeiten sich systematisch zusammengestellt
finden, wird das Werk abschliessen.
Die Bearbeitung des vorliegenden Bandes hat sich iiber eine langere
Zeit hingezogen, als dem Verfasser lieb und dem Werke gut war, denn
die erste Lieferung wurde 1896, die letzte 1902 ausgegeben. Hierdurch
ist bei der regen Entwicklung des Gebietes, die zuweilen unmittel-
baren Anschluss an den Inhalt einzelner Lieferungen genommen hat,
manches in den fruheren Teileu bereits erganzungsbediirftig geworden.
Ich habe den Mangel an Einheit, welcher durch diese zeitliche Aus-
f
i *^ > * • * » J
VI Vorwort.
dehnung entstanden ist, fiir weniger unerwiinscht gehalten, als den
Mangel an Einheit in Methode und Stil, welcher eingetreten ware, wenn
ich einzelne Kapitel durch Mitarbeiter hatte herstellen lassen. Zwar
darf ich nicht behaupten, dass ich nicht beim Verzicht auf alle andere
Zwischenarbeit den Band erheblich friiher hatte beenden konnen; doch
habe ich in der That die Anstrengung beim Abfassen dieses Werkes
starker empfunden als bei irgend welchen anderen Buchern.
In den thatsachlich sehr grossen Schwierigkeiten einer derartigen Auf-
>
gabe, die Leitlinien eines in lebhaftester Entwicklang und Bewegung
befindlichen Wissensgebietes aufzufassen und zu Ziehen, bitte ich auch
eine Entschuldigung fiir die UnvoUstandigkeiten und Unzulanglichkeiten
zu sehen, welche genauere Kenner einzelner Gebiete zweifellos finden
und empfinden werden. Auch hier habe ich einen Ausgleich zwischen
verschiedenen entgegengesetzten Forderungeu suchen miissen, und man
kann nahezu sicher sein, dass die Mittellinici welche der Eine fur
die zweckmassigste halt, vom Andern ganz woandershin gewiinscht
wird. Hier muss ich darauf hoffen, dass die Nachsicht meiner Leser,
die mir bisher in so hohem Masse zu teil geworden ist, auch diese
Probe iiberdauert.
Die Herren Bredig, Luther, Bottger und Brauer, welche mir hochst
wertvoUe Mitarbeit beim Lesen der Probebogen gewahrt haben, bitte
ich auch hier meinen herzlichen Dank empfangen zu wollen. Herrn Brauer
Yerdanke ich ausserdem die Herstellung zahlreicher Figuren, insbe-
sondere der yerwickelten Zeichnungen, welche die Ableitung der temaren
Gleichgewichte aus den geometrischen Eigenschaften der g-Flache be-
treffen.
«
Leipzig, Mai 1902.
W. Ostwaid.
Inhalt
Srstes Bnoh. Gesohiohte der Verwandtsohaftslehre.
8eite
Erites Eapitel. Geschichte der chemischen Theorien 1
Die Attnitit 1. Die Elemente 2. Die atomlstische Hypethese 8. Die Korpuskalarbypo-
these. Anilchten tod Lemery 4. Die Ansiehongahypothesen 8. Buffons Meinung und ihre
BegTiindiuig 9. Elektiochemlsche Hjpothesen 12. Elektrocbemlsche Theorle von Davy 14,
TOD BeneUoB 16. SpAtere Theorien 16.
Zweites Kapitel. Altere Geschichte der Affinit&tslehre 18
Ente AnflLoge 18. Geoflroys Tabelle 19. Bergmanns Verwandtschaftslehre 26. ZusAtse
hiecBQ 90. Adhflaion und Affinltat 81. Versuch einer Aufstellung von Verwandtschaftsge-
«ctzeD34. Die Matfaenwirkiing 86. Wenzela ,,Lehre von der Venrandtschaft der Korper** 86.
CUnde Lonia BerthoUet 40. Schicksale seiner Theorie 47 ; ilire Wiederbelebung 50. Die Ar-
beiten Ton fl. Bom 52, von R. Bunsen 64. Weitere Einielbeobacbtungen 65. ZerseUung
onltelkher Salse durcb I6sllcbe 66. Gegenaeitige Zersetzung Idslicber Salae 69. Die Arbeiten
Ton Biot 60. Die Entdeckung des Gesetzes der Reaktionagescbwindigkeiten 67. Ldwenthal
nod Lenaeona „chemiache Untersucbungen" 70. Untersucbungen von Gladstone 78, von
A. Chiczynaki 75, Ton Berthelot und P6an de St. Gilles 76. Die DlBsociationBerscbeinungen
81. Das Geseta des DiasodationBdruckes 82. Die Energie in derVerwandscbaftslehreSB. Er-
ttterongen yon Schroder van der Kolk 89. Das „dritte Prinslp" 91. Das bewegliche Gleicb-
gewlcbt 99. Pfiiandlers Beitrfige zur chemischen Statik 101.
Drittea Kapitel. Neaere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1886 .^ . . 104
Goldberg und Waage 104; Nebenreaktionen and StOrungen 106; die Gescbwindigkeit
dwmlscher Vorgftnge 107; unldeliebe Stoffe 108. BesUttlgungen der Theorle 109. — Anwendung
der Tbermodynamlk ; Horstniann 111. Andere Forscher 114. Arbeiten von W. Glbbs 114:
das cbemiache Potential 116; Fundamentalglelchungen 121; Potentialel23; koCzistente Phasen ;
das PbaacDgesetz 124; Besttndigkelt bomogener FlQssigkeiten 128; PotenUale bei kleinen
Meogen rises Bestandteils 129; ideale Gase und Gasmiscbungeu 131; Potentlale fester und
flUsBiger KOrper 134 ; Phaseu zerstreuter Energle eines idealen Qaagemlsches, dessen Bestand-
telle is chemiacher Wechselwirkung stehen 136 ; OberflAcbenspannung 141 ; Unstetlgkeits-
lliehen xwlacben festen und fliissigen KSrpem 146; Theorle der Voltascben Eetten 147. Die
frrie Energie, Uelmholtz 149. Anslchten von Lord Bayleigb 150. Van't Hoils Studies zur
chemlachen Dynamlk 151 ; die kondenslerten Systeme 154; das Qleichgewlcbt als Temperatur-
ftmktion 156; das Mass der AffinltAt 157. Ostwalds speziflsche Affinit&tskofiCfizienten 162;
Methoden 164 ; dynamlsche AfOnitfttamessung 165. Die neueren elektrochemischen Theorien :
Hittorf 166; Arrhenlus 168; Bestimmnng des Aktivit&tskoftf&zienten 169; Diskussion der
Formel 174; Aktivientngswftrme des Wassers 177; Schlussbemerkungen 178. Das Verhalten
d«r Sinren 179; das YerdQnnungsgesetz 179; Elnfluss der Zusammensetzung und Konstiiutlon
der Stazen ant ihre Affinititseigenschaften 181.
TierteB Kapitel. Die Entwicklung der Affinit&tslehre in den letzten
Jahren . . • 182
Allgemelnes 182. Die Theorie der LOsungen 184; der Kofiffizient 1 185. Die Theorie
d« frden loses 187. Anwendung der Gasgesetze in dieser Theorle 189. Isohydrische
Lfisongos 192. Heterogese Gleichgeirichte 196.
VIII Inhalt.
Zweites Bnoh. Chemisohe Dynamik.
Seite
Erstes Kapitel. Chemische Einetik , 199
Altesta Yenucbe 199. Die Reaktlonsgeschwindigkeit, Wilhelmy SOO; weitere Fftlle:
Wlttwer, Harcourt and Eason 203. Katalyae dea Methylacetata 205. Verauche von van't
Hoff 2U7. AnftogUche StOrungen 208. Der Endwert 210. AUgemeinea Sll. Reaktionen
aweiter OrdmiDg 212; ADwendungen 214; ollgemelne Bemerkong 216; nichtfiqatTalente
Mengen 216. tfber die Formnlierung der BeaktioDen 219. GrenzfiUle 220. Chemiache Vor*
giDge h5herer Ordnung 221. Beiapid: ZinnchlorQr und Eisenchlorid 223; eioe Reaktion
dritter Ordnung mit drel Terachiedenen Stoffen 225. Graphlache Daratellung 228. Die Di-
menaion der Geachwindigkeltakoftffizlenten 231. Beatimmung der Beaktionaordnung bei ge-
8t5rten Yor^^gen : eratea Yerfahren 238 ; xweitea Yerfahren 235 ; die Methode der laolierung
238. Die Yereinfochung der Beaktionen 239. Yerhftltnla aur Gleichgewichtsformel 243. Daa
Kofixiatenaprinalp 214. YerwickeltereReakUonen246. Nebenreaktionen249, aolche hftherer
Ordnung 250. Gegenreaktionen 251; Yerauche von P. Henry 253, von F. W. Kllster 254 ;
Gegenreaktionen zwelter Ordnung 255, FrQfung durch O. Knoblauch 258 ; <ere Formulierunga-
▼ersuche S60. Katalytiacbe Reaktionen: erater Fall 202; zwelter Fall 264, eln beaonderer
Fall 267; Beaktionen hoherer Ordnung 269; katalytiacbe YenOgerungen 270. Die Ordnung
verwickelter Reaktionen 272 ; Beiapiel 273. Folgereaktionen 277. Heterogene Gebilde 281.
Eratamingageachwindigkeit Qbeikalteter Scbmelzen 282. Oegenaeltlge Umwandlnng feater
Kdrper 285. Yerftnderlicbe KonaentraUon 885; varftnderliche Oberflftche 288. Heterogene
Yorginge aweiter Art 291. Scbluaabemerkungen 294.
Zweites Kapitel. Dm chomische Gleichgewicht. Grundlagen and Gleich-
gewichte erster Ordnung 296
AUgemeinea 296. Hylotrope Formen und Gruppen 298. Homogene und heterogene Ge-
bilde. Phaaen 299. Daa Phaaengeaeta 301. Die abaoluten und relatlvra Mengen 301. Ein-
teilungaprinalpien 30S; die mOglichen Falle 304. Gleichgewicht erater Ordnung. Eine
Oa8phaae905. Dynamiache und energetiache AbleitungderMaaaenwirkungaformel 307; daa
YerbSItnia beider Ableitungen 308. Gleichgewicht und GeaamtdruckSlO. Daa Temperaturgeaeta
312;die IntegralformelS14. Graphische Daratellung deaTemperatureinfluaaea 315. DerTempera-
turko^ffizient der BeaktionageachwindigkeitSie. Beispiele: der erate Fall 317, der aweite 318.
Stickatoffperoxyd 320; der Temperatureinfluaa 322 ; Rechnung von Guldbeig und Waage 823 ;
Anwendung der Formel von van der Waala 325. Berechnung der Diaaodationaw&rme au»
der Temperaturrerachiebung dea Glelchgewichta 326. Andere Stoffe 327. Ein allgemeinerer
Fall 327. Die polymeroi Schwefeld&mpfe 828. Homogenea Gleichgewicht in FlQaaig-
keiten 332. Enol- und Aldo-, bez. Ketoformen 334. Eine feate Phaae 339.
Die zweiphaaigen Gleichgewichte. I. FlQaaigkeit und Dampf 339. Bftum-
liche Daratellung 842. Die atetlgen Kurven 345; rftumllche Daratellung 346. Metaatablle und
labile Formen 347. Daa Temperaturgeaetz dea Dampfdruckea 350. Eine Yerallgemeinerung
352. — II. Feater EOrper und Dampf 353. Cyan und Paracyan 354. Cyansfture 355.
Phoaphor 356. Anwendung der Dampfphaae zur Ermittelung der wirkaamen Menge 359.
HalbdurchllaaigeScheidewftnde; PreaaungSGl. —III. Feat-flQssig 363. Einfluaa deaDruckea
auf den Schmelapunkt 366. BeatAtigung der Drucktemperaturformel 367. Auadehnung auf
weitere Druckgebiete 369. Graphlache Daratellung 371. Eine halbdurchllaslge Scheidewand
373. PresBung 374. t^berkaltung und €^berhitaung 879 ; Oeachichtlichea dazu : Fahrenheit
379 ; weitere Unterauchungen 383. Der atetige Cbergang feat-flQsaig 389. Der kritiache Punkt
und die Kryatalleigenachaften 392. FlQ88igeKry8taUe392. — lY. Feat- feat 393. Geachicht-
lichea Qber Polymorphie 894. Frankenheim 896. Schmelapunktaunterschiede polymorpher
Formen 399. Polymorphie bei KohlenatoffVerblndungen 400; Benzophenon 403; Unter-
auchungen von 0. Lehmann 404, von Rdcher 406, weitere Arbeiten 407, Fortoetzung 412 ;
polymorphe Nitrate 417. Die Bchwefel- und Selenverbindungen dea Kupfera und SUbera 420.
Neuere Arbeiten 428. Daa allgemeine Geaetz fUr die Umwandlung polymorpher Stoffe 425.
Kritiacher Punkt bei polymorphen Formen 426. — Y. Der Fall flQaaig - flQaaig 427.
Gleichgewichte dreier Phaaen; der dreifache Punkt 428. Baumliche Daratellung 433.
. Die atetige Zuatandaflftche 434. Die halbatetige Zuatondsflitebe 436. Die Dampfdrucklinien
beim dreifachen Punkte 437. Der dreifache Punkt bei polymorphen K5rpem; EnanUotropie
und Monotropid 439. Daa Geaetz der Umwandlungaatufen 445. Rftumllche Daratellung der
Verbal tnlaae polymorpher Stoffe 448.
Inhalt IX
Seite
Der Schwefelala Beispiel 449. Der amorphe Schwefel 450; verschledene Arten
deaaelb«n 458 ; Darstellung auf nassem Wege 458. Einflau fremder Stoffe 454. Der Utriku-
laRostand 455. ZiuammenfassuDg 456. Die Bestftndigkeitageblete der verschiedeDeo For-
men 457. Katalytische Umwandlungen 461. Die physlkaliMhen Erschelnungen bei der
Umwandluog 463. Erstarrixiigsgeacbwindigkelt 465. Beiapiel fQr das Gesets der Umvand-
Itingutufen 472.
Weitere FSlle das noDyaiianteo Gleichgewichts 475.
Drittes Kapitel. Chemische Gleicbgewichte zweiter Ordniing .... 476
Bestandteile 476. Mehrere Bestandtelle 477. Einteilung 479.
A. Gleicbgewichte mit Gaaen.
Zwei gaHfOrmlgeBeitandteilo, die oiclit chemisch auf einander wirken
4^0. ArbeitsleistuDgen bei der Difhuion 488. Homogenes Oleichgewidit 483. Die Konien-
tratiODen 484. Dimension der Konatanten 485. Vergleicb mit einem einfacheren Falle 485.
Kleine Mengen eines Bestandteils 486. Eonstantes Yolum 488. Beisplde 489. Der Tem-
peratureinfluBB 492. Ezperimentelle Prfi/ung 498. Jodvaaserstoff 494 ; Versucbe von Lemoine
496, Ton Bodenatein 499; BilduDgawArme dea Jodwasaeratoffs 501. Die Bildangawttrme Null
5o2. — £ln feater K5rper neben Gaaen 503. Zwei Fftlle 504; der erste Fall 5u&, der
zveite 507. Nichtftquivalente Mengen 509. Konatantertyberacbuaa 510. Gegenwart der Ver-
bindung Im Oaaraume 514. Beetimmung ihrea Druckea 613 ; sweitea Verfabren dasu 514. Ex-
peiimenteUeBestitigong : Ammonlumaalfbydrld5l5. Cyanammonlam 518, Fboapboniumbroniid
519. Der Fall mi>m4. — Zwei feate KOrper nnd ein Gaa 524. Daa Diaaociationage-
aetz b«(i kryatallvasserbalUgen Salzen 5)t6 ; Einwendungen 528 ; Versucbe von A. H. Pareau
529. AmmoniakTcrbindungen Ton Metallcbloriden 530. Weitere PrQfting des Diaaodationage-
setsea 532 Tbeorie 534. Der Einfluaa der Temperator 535 ; Versucbe von Frowein 5S7. Be-
ziebung swiachen den mdglicben Dlaaodationadrucken 538. Weitere ezperimentelle Unter-
ancfanngen 589. Verachiedene Dampfdrucke deaaelben Hydrate 548. Eine feate Pbaae neben
Dampf 514. Zvei oder ein feater KOrper 546. — Drei feate Kdrper und ein Gaa bit.
Der vierfieicbe Punkt ala Durcbacbnittapunkt der p-t-Kurven 547. Ein beaonderer Fall 55U.
Drei feate Phaaen obne Gas 551. — Vier feate Pbaaen 553.
B. Gleicbgewichte mit FlQasigkeiten.
Daa Henry ache Geaetx 554; Besiehung m den Geaetxen dea oamotiacben Druckea
555. Dampfdruck der lOaenden FlQaaigkelt 556. Teilweise chemische Wlrkung 557. Der all- ,
gemeinere Fall 559. Vennehrung der Molekelsabl 560. Gleicbaeitige Hydratatlon und elektro-
lytiicheDiaaociation 568. Beiaplele 563. Obera&ttlgte GaslOaungen 5k6. Unteraucbungen
▼on Schdnbein 569, von Qemex 571, tou H. Schroder 573; die Scbluasarbeit Ton Gemez 577.
FosHirer und negativer Druck 580. Zwei Arten der Cberaattigung 582. Bltacben von mole-
kulaien Abmeeaungen 584. — Gemlache flQcbtiger FlQasigkeiten 586. Dampfdruck
der Ltenng elnea flBchtigen Stoffes 588. Siedetemperaturen der LAsungen liQcbtiger Stoffe
590. Chemiache Vorgftnge in der I^snng: der einfkcbste Fall 592; yerwickeltere F&lle 593.
Zuatand der Stoffe in TerdQnnter L5aung 596; ibre wirkaame Menge 597. Beiaplele. Die
Dissociation des geldsten Stickatoff^roxyda 599. Besiehung swiachen dan KoeCfisienten der
Lllsllcbkeit und dea Glelchgewicbta 603. Tsutomere Umwandlung in LOaung 604. Cbemische
Wediaelwirkong swiachen beiden Beatandteilan 603. Spatere Unteraucbungen 607. FlUaaige
Geraische mittlerer Konsentration 611. Versucbe 615. AngenOfaerte Tbeorie der Dampf-
dni^e gemischtar FlOaalgkeiten bei alien Konsentrationen 617. Eigenacbaften der ver-
schiedenen Gemiaohe 619; Fortsetzung 623. Siedepunkte binitrer Gemiacbe 627. Experi-
mentelle Bestimmung der Einselkurren 689 ; weitere Veiauche 632. Energetische Tbeorie
der binaren Gemiadie 636; sndere Ableitung 639. Anwendungen 642; die Verdampfungs«
winne644. — Kritische Punkte bei Qemengen. Allgemeinea 64S. Der krltiache Punkt
651. Die Druoktemperaturkurren 652. Betrograde Kondenaation 653. Experlmen telle
Prflfung 657. Auagoseicbnete Fille 660. Verwickeltere Fftlle 661. — Zwei fltt saiga
Phasen. FItkssigkeiten yon begrenster Ltelicbkeit 666. Verlauf der LOallchkeltakurTen
669. Die kiitiacbe Lfleungatemperatur 670 ; Beatimmung derselben 672. Beobacbtuugen 676.
Uatere kiiUscba Punkte 678. Daa Geaets der thermodynsmiacben 'DbereinBtimung 6b l.
Eialge Nebenerschainungen 688. Praktiacfae Anwendungen 6t)5. Dampfdrucke teilweiae
miachbarer FlQssigkeiten 687. Die Teildruckkurren 6«»9. Die Zuaammansetsung des Dampfos
692. ObsvaftttiguBg bei Ldaongen von Fllkssigkeiten in Flftasigkeitan 60.o. Zwei flQasige
Phaaafi oboe Dampf 697. Mehr und wenlger ala swei flOsaige Phaaen 699.
X Inhalt
G. Gldcfagewichte feBter Stoffe mit Finssigkeiten. Seite
liOsaog fester Stoffe 699. Begrenste LOslicbkelt 701. Das LOsangsgleicfagewlcht 704.
t^bersSttigung 704. Grundlegung dnrch J. T. Lowitz 705. Tfaeoretische Versuche 710.
Bemerkungen von Schweigger 712. Gay-Lnssacs zweite Arbeit 714. Die mehrereD Formen
des Nfttriumsulfats. Ziz 717. Arbelten von LOwel. Glaubersalz 719; seine Aosicht besflg-
lich der t^bersAttigung 723; seine letsten Arbelten 723. Die ^katalytische" Wirkung des
Staubes 7S7. Neues Stadium; Analogie mit den organischen Keimen 789. Arbelten von
Gemez 736. Polemik 788. Die Schlussarbeit von Gemez 799. Arbeiten von Lecocq de
Boisbaudran 741. Isomorphe Salze 748. Gemlscbe zweier Vitrlole 745. Weiteres Qber iso-
morphe Salze 748. Freiwillige Erystallisation in Hbersftttigten Lteangen 751. Die untere
Granze der Keime 754 ; die „Eultnnnethode" 756. Kachlese 762 ; Borax und Cbromalaun
766. Stoffe von geringer KrystaUisationsgesdiwindigkeit 766. Mechaniscbe AuslOsung 769.
Beobachtungen von Booseboom 778. Die metastabile Orenze 778. Experimenteller Nach-
weis der CbersAttigungsgrenze 777. Zusammenfassung 780. — Die LSsIichkeitslinie.
Sehr grosse Konzentrationen 786. Sehr kleine 787. Die einfMhste LOsungslinie 789. Der
Yeriaof der LOsungslinie 791; ilire verschiedenen Gestalten 798. Die L&sungsw&rme 799.
Diaknssion der LOsungslinien 804. Beispiele 80b. Zusammengesetzte feste Phase 813. Un-
endliche LOsuDgsw&rmen 621. Dampfdrucke gesHttigter LQsungen 888. Theorle derselben
885. ExperimenteUe Best&tigung 887. Zusammengedetzte Teste Fhasen 889. Einfluss des
Druckes aaf die LOslicbkeit 831; Theorie 838. — Die letzten Fllle 885. Allgemeines
Qber die Umwandlungen im vier&chen Punkte 836. Drei feste Pliasen neben Dampf 888.
Zwel feste und eine flOssige neben Dampf. Kryohydrate und eutektische Gemische 840.
Die Schmelzdrucklinle der Kryohydrate 651. Zusammengesetzte feste Phase: erster Fall
854; zweiter Fall 858. Zwei bylotrope feste Phasen 859. Tbeorotische Betrachtungen 868.
Zwei flQssige Phasen und eine feste neben Dampf 864. Die voUst&ndige Ldsungslinie 867 ;
Beispiele 670. t^bersAttigungnerscheinungen 878. Ein besonderer Fall 878. t^bersicht 87G.
Anwendungen des thermodynamischen Potentials 878; flUssige Gebilde 860. Feste Verbin-
dungen 885. Zwei flQssige Phasen 889.
D. ExperimenteUe Untersuchung zusammengesetzter FftUe.
Zusammengesetzte Gleichgewichte 898. Die Hydrate des Schwefeldioxyds 894; ein schein-
barer Widerspruch 900. Chlorhydrat 901. Bromhydrat 905. Die Hydrate des Cblorwasser-
stofb 907. Die Hydrate des Bromwasserstoffs 908. Ammonlakverbindungen des Brom-
ammoniums 912. Die Chloride des Jods 913. Die Hydrate dee Chlorcaldums 919. Die
Hydrate des Elsenchlorids 987. Organische Yerbindungen 9j': Legierungen 938.
Yiertes Kapitel. Chemische Gleichgewichte dritter Ordnung .... 934
Die Bestandteile 934. Summengleichungen 938. Die mOglichen Fftlle 989. — Gemische
mehrerer 6a se 940. Chemische Vorgftnge dritter Ordnung bei Gasen 940. EinfQhrung
der Konzentration 941. Einfluss der Temperatur 941. Beispiele: Kohlenoxyd, Wasserstoff,
Sauerstoff 948. Fortsetzung 946. — Eine feste Phase neben einer gasfOrmigen 948.
Beispiele: Wassergas 948. Abgeleitete Gleichungen 951; Allgemeines darQber 954.— Zwei
feste Stoffe neben Gas 955. Beispiele: DeviUe 966. Audere FlUIe 961. Drei feste
Stoffe und eine Gasphase 962. Beispiel 962. — FldBsigkeiten und Gase 964. Das
Daltonsdie Gesetz fQr Gasgemenge 964. I/^slichkeit eines Gases in FlAssigkeitsgemisdien 967.
Vollstftndfge Reihen von Fl&ssigkeitsgemischen 974. Chemische Vorgftnge in der Gasphase
976. Gleichgewichte in FlQssigkeiten 976. Temftre Gleichgewichte in FlUsslg-
keiten 976. LOsungen 978. Homogenes Gleichgewicht 980. Graphische Darstellung drei-
&eher Gemische 982. Das zweite Reaktionsschema 985. — Dampfdrucke dreifacher
homogener Gemische 988. Der Fall III 989. Der Fall 1 1 II. Unaberschreitbare
linien 991. Der Fall I I II 994. Der Fall I 11 II 994. Die Ffllle II II II und lU III HI '
996. Die FiUe U II HI und II III III 996. Der Fall I II III 1001. Zusammenstellung
1008. Die Fftche der cliemischen Energie 1003. Weitere Untersuchungen 1005. DieHaupt-
fllle 1007. Isotherme Destination 1008. Die elnfacheren FUle 1010. Der Fall I I III 1013
Die Ftile I II II und I III III 1018. Die Fftlle II II II und III III III lOlS. Die Fftlle
U n III und II III III 1016. Der Fall I II III 1017. Yerbindungen zwischen den Be-
standteilen 1017. LOsungen in gemischten I..teungsmittelD inso. — Mehrere flQssige
Phasen 1088. Zunehmende LSslichkeit 1085. Kritischer Punkt I0s5. Retrograde Loslichkeit
1089. Umwandlungder Regelflftchen 1030. Der kritische DoppelpunktlOSl. AnfkfthluDg
der mOglichen Elnzelffllle 1038. DieFlilche der cbemischenEnergie. Der Falteapunkt
Inhalt. XI
Seite
1033. ZttsammenhftDgendeFaltenlOSS. Drei SchichteD 1038. Drel Fatten 1040. MittelfaltenlOiO.
Die BOttelfaltezwelter Art 1041. Die aUgemeioBteFlftche 1043. Dampfdrucke nichthomo-
generternftrerOemenge 1044. Die mdglictaen heterogeDen DampfdruckflSchen 1046. EiDige
typiflche FiJilB 1048. Daa Dreiphasenfeld 105S. Die anderenF&lle 1054 imd 1056. Nachlese
1056. LrOsUchkeitsTerminderuDg durch ZusAtze 1057. £xpeTimeiitelle PrQfUDgen 1058. Um-
gekehrte LOslichkeitsbeeinfloasuDg 1061. Gleichzeitige L5slichkeit 1068. Belege 1064. Ycr-
wickelten FSlIe 1065. Gleichgewichgewlchte mit fiassigen nnd festen Phasen.
Feite Pbaaen 1067. Ihre FIfiche der chemiachen Energle 1068. BeobachtDngen 1071. Der
Grenzfall 1075. Chemische Wirkung in der Ldsimg 1075. Zwei feste StofTe und eine FlQaslg-
keit 1076. Dantellung an der C-Flftche 1077. Zwei feste binSre Verbindimgen 1081. Eine
feste temAre VerUndung 108S. Beiapiele 1083. Drei feste Ptiasen 1087. Vier feste Phasen 1088.
Zwei flISssige Phasen und eine feste 1088. Betrachtung der ^-Flache 1090. Ein Grenzfall 1093. Zwei
IIQssige and zwei feste Phasen 1095. DrelflQssige Phasen und eine feste 1095. t^^bersicht 1006.
Die TemperaturflAchen and -linien 1098. Die TemperaturflSche flQssig-flflssig 1101. Drei fl&ssige
Fhaaen bei TerftnderlicherTemperatur 1103. Feste Phasen 1105. Zusammengesetate Temperatur-*
flacihen 1105. Eutektische Linien bei Verbindungen 1109. Aussere und innere Durchachnitte
1 1 10. Temftre Verbindungen 1111. Schnitte an TemperaturflSchen mit zwei fl&ssigen Phasen
1112. I>as Yollstftndige Temperaturdiagpramm 1114. Experimentaluntersuchungen 1115. Das
Umwmndlungsintervall 1118. Eutektische Punkte bei mehreren Salsen 1119. Doppelsalae in
LOsungen 1121. Elsenchlorid , Chlorwasserstoff nnd Wasser 1122. Nichtelektrolyte 1187.
Mehrere flQssige Phasen 1139. Drei flQssige Schichten 1144. Zweimal zwei flQs&ige Schichten
1148. Zwei Wendepunkte 1152. Wasser, Phenol und Anilin 1155. Feste binftre Verbindung
1157. Alkoholisch - wAsserlge 8alz]5sungen 1158. Natriumkarbonat , Wasser, Alkohol 1162.
Uotere kritische Punkte 1169. Dampfdrucke 1175.
Autoren-Rcgistcr 1176
Sach-Register 1180
Erstes Buch.
Geschichte der Verwandtschaftslehre.
Erstes Kapitel. Oeschiclite der chemisclien Tlieorien.
1. Die Af&nit&t. Die Beziehungen, welche zwischen den verschie-
denen Eigenschaften desselben Stoffes, und zwischen den entsprechenden
Eigenschaften verschiedener Stofife bestehen, und deren Inbegriff die
Stochiometrie bildet, setzen diese Stoffe als fertig gebildet voraus.
Die Stoffe sind aber nichts unveranderlich Gegebenes; sie entsteben und
verwandein sich in mannigfaltigster Weise. Die Erforschung der Vor-
gange, welche diese Verwandlung bedingen und begleiten, ist die Auf-
gabe der Verwandtschaftslehre. Wahrend also die Stochiometrie die
wissenschaftliche Eenntnis des in der chemischen Welt Gewordenen
zur Aufgabe hat» befasst sich die Verwandtschaftslehre mit der Erfor-
schung des Werdens.
Man bezeichnet die angenommene Ursache der chemischen Vorgange
mit dem Namen chemische Verwandtschaft oder dem gleichbedeu-
tenden Affinitat. Diese Bezeichnung ist einer der vielen Reste, welche
die antike Naturphilosophie in unserer Wissenschaft hinterlassen hat.
Sie ist der Ausdruck der auf Hippokrates zuriickgefiihrten Anschauung,
dass den Stoffen, damit sie sich vereinigen konnen, etwas gemeinsam sein
miisse^). Sie miissen dazu einen gemeinsamen Ursprung haben, also
gleichsam verwandt sein, und die eintretende Verbindung hat ihre Ur-
sache in der Verbindung von Gleichem mit Gleichem.
Eine andere Idee iiber dieselbe Erscheinung ist von Empedokles
geltend gemacht worden. Er dachte sich alle Stoffe aus kleinsten Teil-
chen, Atomen, gebildet, welche je nach ihrer Natur zu einander Liebe
oder Hass haben und sich demgemass entwedor anziehen und vereinigen,
Oder abstossen und zerstreuen.
') Kopp, Gesch. d. Ghemie. II, 286.
Oitwald, Chemie n,2.
2 I. Geschichte der Verwandtschaftslehre.
Wahrend von den Hippokratischen Anschauungen nur der Name
iibrig geblieben ist, nahern sich die gegenwartigen Hypothesen iiber die
Ursache der cbemischen Vorgange viel mehr den Ideen des Erapedokles.
Fur die positive Entwicklung der Wissenscbaft sind beide ohne Belang
geblieben.
2. Die Elemente. Nach dem Untergange der klassischen Kultur
iibernahmen die Araber die Vermittelung ihrer Reste an die aufbliiheu-
den Kulturvolker Europas. Das ganze Mittelalter schopfte seine wissen-
schaftlichen Ideen aus jenen Resten und erwarb sich im Kommentieren
und Interpretieren dersolben die Schulung des Geistes, welche die Vor-
bedingung fiir eine selbstandige Bethatiguug auf dem Felde der freien
Forschung war. Wahrend dabei die empirische Kenntnis chemischer
Thatsachen durch die unausgesetzten Bemiihungen der Alchemisten, so-
wie durch den Fortschritt der Medizin und der Technik sich erheblich
erweiterte, blieben die theoretischen Anschauungen auf dem alten Boden-
Die Ideen iiber den Gehalt eines gleichen Prinzips oder Elements
in den ahnlichen StoflFen hatte anfangs die von Aristoteles gepragte Form
der vier Kombinationen der vier „Grundeigenschaften", in den Reprii-
sentanten Feuer, Luft, Wasser und Erde. Von den arabischen Alche-
misten wurden diese Reprasentanten als unzulanglich aufgegeben und in
engerem Anschluss an ihre Erfahrungen, aber unter Aufgabe der syste-
matischen Wechselbeziehung durch die Grundstoffe Schwefel, Quecksilber,
Salz ersetzt. Es ist noch immer derselbe Gedanke, dass jeder chemisch
definierte Stoff nicht ein Individuum fiir sich sei, sondern aus indiffe-
renter Materie, behaftet mit bestimmten Eigenschaften infolge eines be-
stimmten Gehalts an den erwahnten Prinzipien bestehe. Die Metalle
verdanken ihren Glanz und ihre Schmelzbarkeit dem „Queck8ilber", die
brennbaren Stoffe ihre Brennbarkeit dem „Schwefel", die loslichen und
auf den Geschmack wirkenden diese Eigenschaften dem „Salz", das sie
enthalten. Dabei wurden diese Prinzipien als von den ebenso genannten
Stofifen ganz verschieden angesehen und Warnungen gegen die Verwech-
selung von „philosophischem" Quecksilber oder Schwefel mit den „ge-
meinen" Stoffen gleichen Namens werden bestandig ausgesprochen. Von
diesen Anschauungen aus sind die Bestrebungen der Alchemisten voll-
kommen verstandlich.
Indessen bereitete sich durch die Ausdehnung des empirischen
Wissens allmahlich die Ansicht vor, dass die meisten Stoffe aus an-
deren Stoffen von verschiedener Art zusammengesetzt seien, Basilius
Valentinus schrieb seine Monographie der Antimonderivate, in welcher
er eine grosse Anzahl Abkommlinge aus demselben Ausgangsmaterial
Geschichte der chemiscben Theorien. 3
kennen lehrte, aus denen sich wieder Antimon riickwarts erhalten liess.
Die Elemente entklcideten sich zuuchmeml ihres abstrakten Charaktcrs
und nahmen einen konkreten an; sie warden aus Eigenschaftcn und
Zustanden der Materie allmahlich sclbst Materie. Der Umwandlungs-
vorgang hat bis zur Mitte unseres Jahrhunderts gedauert. Bei Lavoisier
beginnt die Reihe der Elemente noch mit Warme, Licht, Elektrizitat,
um sich mit Sauerstoff, Wasserstoflf, Stickstoff u. s. w. fortzusetzen, und
in der 1852 erschienenen fiinften Auflage des Gmelinschen Handbuches
ist der Chemie der wagbaren Stoflfo eine „Chemie der unwagbaren Stoflfe"
vorausgeschickt. Dieser Entwicklungsprozess wurde erst durch die Auf-
stellung und Durcbfiibrung des Energiebegriffes abgeschlossen.
3. Die atomistische Hypothese. Von der Anschauung iibcr die
Beschaffenheit der Elemente hangt die iiber die Ursache der chemiscben
Vorgange ab. So lange die Umwandlungen der Stofife als Abande-
rungeii der Eigenschaften der Grundmaterie angesehen wurden, war der
Begriff der chemiscben Verbindung sehr beschrankt. Nur die jetzt unter
die Kategorie der Losungen und Gemenge fallenden zusammengesetzten
Stoffe, die man unter den Augen entstehen und sich wieder in die Be-
btandteile trennen sab, wurden als Verbindungen angesehen, und fUr
diese gilt der Ausspnich des Hippokrates, dass die StofFe ahnlich oder
verwandt sein miissen, damit sie sich verbinden, wio Wein mit Wasser
oder wie Silber mit Gold.
Ganz entgegengesctzt war der Standpunkt der Atomistiker. Nach
(iiesen bestanden alle Stoffe aus Atomen von verschiedener Grosse, An-
ordnung und Geschwindigkeit. Es musste eine Ursache goben, welche
.^ie zasammenhielt, und welche von Empedokles unter dem Bilde von
Uebe und Hass dargestellt wurde. Durch deren Wirkung lagerten sich
die Atome um, erhielten andere Richtungen und Geschwindigkeiten, und
so entstanden die verschiedenen Stoffe.
Diese antike Atomtheorio hat mit der unserigen wenig zu thun.
Das griechische Denken war vorwiegend idealistisch; es kiimmerte den
Philosopheu meist wenig, sein System an einem umfanglichen That-
sachenmaterial zu erweisen, sondern seine erste Sorge war, es mit sich
selbst in Ubereinstimmung zu halten. Doch muss wohl betont wcrden,
dass wenn im Altertum etwas an die heutige Methode erinnerndes vor-
baoden ist, dieses sich bei der Richtung des Denkens vertreteu findet,
welche durch die Namen Demokrit, Epicur und Lucrez bezeichnet wird,
ond in welcher auch die atomistische Anschauung die herrschende war.
Indessen fehlte doch jede Moglichkeit, andere als systematische Griinde
fo die Moglichkeit dieser Anschauungsweise zur Geltung zu bringen, und
4 I. Geschichte der Yerwandtschaftslehre.
es gab kein Gebiet, auf welchem ihre Wahrscheinlichkeit oder Niitzlich-
keit bewiesen werdeD konnte. Diese antike EigeDtiimlichkeit kommt
auch noch vielen heute gebrauchlichen Hypothesen zu. Auch in den
Kreisen der Chemiker begniigt man sich gern mit dem Nachwei8» dass
ein bestimmter Thatbestand durch irgend ein hypothetisches Bild einiger-
massen veranschaulicht wird, obne sich zu fragen, ob dieses Bild in
irgend einer Beziehung mehr lehrt, als schon vorher in jenem That-
bestand gegeben war, und ob es somit der Miihe wert war, ein solches
Bild aufzusuchen und aufzustellen.
4. Die Corpusonlarhypothese. Die Einwirkung der durch Galilei
begriindeten exakten, durch stete Beziehung auf Beobachtung und Ver-
such Yor der dauernden Festsetzung willkiirlicher Konstruktionen ge-
schiitzten Mcthode auf die Chemie ist nur langsam erfolgt. Die atomi-
stische Hypothese hatte von jeher unter den hervorragendsten Chemikem
Vertreter gehabt. Als die Anschauungen von den elementaren Bestand-
teilen der Stofife bcstimmtere Gestalt gewannen, da erhielt es auch einen
verstandigeren Sinn, im Licht der Atomhypotheso die zusammengesetzten
Stoffe als aus den Atomen der einfachen durch Aneinanderfugung ent-
standen zu denken. Die Ursache des Zusammenhaltes wurde im An-
schluss an die eben zur Entwicklung gelangte Mechanik moglichst
mechanisch gedacht.
Die Atomhypothese von Gassendi schliesst sich noch in vielen Stiicken
der antiken an; urn der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen aber folgen
zu konnen, machte sich bald das Bediirfnis speziellerer Hypothesen gel-
tend. So entstand die Corpuscularhypothese Borellis, in welcher
der Versuch gemacht wurde, die Ursache der Eigenschaften der Stoffe
in die Beschaffenheit der Atome, ihre Form und ihre Organe zuriick-
zuverlegen '). So sollte die Luft aus cylindrischen, verastelten oder blatt-
formigen Teilchen bestehen, die Wasserteilchen soUten von biegsamen,
haarformigeu Werkzeugen umgeben sein, die durch ihr Anklammern das
Benetzen und die Kapillarerscheinungen verursachen. Der Hauptvertreter
dieser Idee in der Chemie ist N. Lemery, dessen Erklarungen chenai-
scher Erscheinungen vollig den gleichen raechanistischen Charakter haben,
wie die physikalischen Borellis. Die Vorgange bei der Auflosung des
Goldes durch Konigswasser schildert Lemery*) beispielsweise folgender-
massen:
„Die Losung des Goldes ist eine Suspension, welche die Spitzen des
Eonigswassers mit den Teilchen dieses Metalles im Phlegma bilden. Denn
»; K. Lasswitz in Pogg. 153, 373. 1874.
»i Coura de chymie, 11. Aufl., Leyden 1716. S. 94.
Geschichte der chemischen Theorien. 5
es geniigt nicht, dass das Eonigswasser das Gold in feine Teilchen teilt,
es ist ausserdem erforderlich, dass seine Spitzen sie wie Schwimmer
tragen, da sie sonst als Pulver auf den Boden fallen wiirden, so fein
sie sind.
„Man hat eingewendet, dass die Gold teilchen auf den Grund des
Gefasses fallen miissten, da sie mit den Spitzen des Konigswassers yer-
bimden und dadurch schwerer als friiher geworden sind: denn die Ver-
einigung zweier Korper macht ein grosseres Gewicht, als wenn die
Korper einzeln vorhanden sind.
„Ich antworte, dass man sich die Teilchen des Goldes an den Spitzen
der Saure im Phlegma aufgehangt deoken muss, ebenso, wie man sehr
gut einsehen kann, dass ein Stuck Metall, das an einem Stocke oder
einem Brette befestigt ist, im Wasser schwimmen kann; denn obwohl
das kleine Stiick Metall auf den Boden fallen wiirde, wenn es aUein
ware, so schwimmt es, wenn es am Holze befestigt ist; die Spitzen der
Saure sind im Vergleiche zum Golde sehr leichte Korper, und haben
ausserdem yiel ausgedehntere Flacheu, und deshalb okkupieren sie mehr
Phlegma, halten so das Gold und machen es schwimmen.
„Um das Gold zu fallen, bedient man sich des Weinsteinols (Kalium-
carbonats) oder des Salmiakgeistes, weil beide Fliissigkoiten ein alkali-
sches Salz enthalten; daber miissen sie, mit einer Saure gemischt, auf-
brausen. Bei diesem Aufbrausen werden nun die Spitzen des Konigs-
wassers, welche die Goldteilchen schwimmend erhielten, geschwacht;
und da nun die kleinen Goldkorperchen nicht mehr gehalten werden,
so fallen sie ab und fallen durch ihr eigenes Gewicht auf den Boden.
Man muss die fallende Fliissigkeit in die Goldlosung giessen, bis kein
Aufbrausen mehr stattfindet, was das Anzeichen dafiir ist, dass alle
Spitzen des Konigswassers abgebrochen sind, und dass alle Goldteilchen
befreit und im Stande sind, zu Boden zu fallen."
Mit dieser Erklarung ist Lemery indessen selbst nicht ganz zu-
frieden, da sie ihm kcine Auskunft dariiber giebt, warum das Konigs-
wasser das Gold yerlasst, um sich mit dem Alkali zu yorbinden. Er
ericemit die grosse Schwierigkeit der Aufgabe an, gedenkt sie aber fol-
gendermassen zu losen:
,Jch nehme an, dass, wenn das Konigswasser auf das Gold gewirkt
ond es gelost hat, die Spitzen, welche seine Starke machten, sich in den
Teilchen des Goldes festgebohrt haben. Da diese kleinen Korperchen
aber sehr hart, und deshalb sehr schwer zu durchdringen sind, so sind
die Spitzen nur oberflachlich eingedrungen , wenn auch geniigend, um
die Teilchen des Goldes zu halten, und ihr Niederfallen zu yerhindern;
6 I. Geschichte der Verwandtschaftslehre.
dalier riihrt es, dass wenn man soviel wciteres Gold hinzusetzt, als man
will, kein Gran mehr aufgelost wird, falls jede Spitze so viel aufgenommen
hat, als sie halten kann; auch macht diese Suspension die Goldteilchen
unsichtbar; fiigt man abor einen Korper hinzu, welcber durch seine Ge-
stalt und Bewegung die Saure so stossen und erschiittern kann, dass die
Goldteilchen abgobrochen werden, so warden sie frei und fallen durch
ihr Eigengewicht nieder. Dies macht nach meiner Meinung das Wein-
steinol und das fliichtige Alkali. Diese sind mit sehr aktiven Salzen
erfullt, welche die ruhenden Korper, die sie finden, erschiittern, und sie
vermoge der Schnelligkeit ihrer Bewegungen dermassen schiitteln, dass
sie die Spitzen abbrechen, an denen das Gold aufgespiesst war. Diese
vom Golde befreiten Spitzen sind noch scharf genug, und es bleibt ihnen
noch genug Bewegung, urn mit Heftigkeit in die Teile des alkalischen
Salzes einzudringen und sie zu entfernen, da dies viel aufloslicher ist,
als das Gold, woher das Aufbrausen riihrt, welches alsbald eintritt, sowie
man diese Geister in die Losung giesst
„Sind die Spitzen abgebrochen, so muss zweierlei geschehen. Das
eine ist, dass das nachbleibendo Konigswasser unfahig werden muss, Gold
aufzulosen, weil es nicht hineindringcn kann. Das andere, dass das
niederfallende Pulver etwas von dem Losungsmittel enthalten muss, da
die scharfsten Teile der Spitzen darin geblieben sind. Der Versuch be-
weist, dass das eine wie das andere stattfindet."
Gewiss eine „iiberraschende Bestatigung" der Hypothesel
An einer anderen Stelle beschaftigt sich Leraery mit der Frage,
warum das Konigswasser zwar Gold, aber kein Silber auflost, wahrend
die Salpetersaure, die ein Bestandteil desselben ist, sich umgekehrt ver-
halt (S. 463). Nach der Erwalmung einiger Ansichten, die er fiir falsch
halt, fahrt er fort:
„Durch derartige Betrachtungen kann man daher nicht die Erschei-
nung erklaren; ich halte es fiir wahrscheinlicher, dass das Konigswasser
deshalb Silber nicht auflost, weil die Spitzen der Salpetersaure durch
die Zufiigung des Salzes verdickt sind, uud deshalb iiber die Poren des
Silbers hinweggleiten und nicht in sie eindringen konnen wegen des
Missverhaltnisses der Gestalten; wahrend sie in die grosseren Poren des
Goldes eintreten und dort ihre Stosse ausiiben konnen. Dass umgekehrt
der Salpetergeist Silber auflost, riihrt daher, dass seine Spitzen fein
genug sind, und angemessen, um in die kleinen Poren dieses Metalls ein-
zudringen und durch ihre Bewegung die Teilchen loszumachen. Diese
Spitzen konnen auch in die grosseren Poren des Goldes eindringen, da
sie aber zu schmal und zu biegsam sind, um auf diesen Korper zu
Geschichte der chemischen Tbeorien. 7
wirken, bedarf man starkerer und schneidenderer Messer, welche die
Poren mehr ausfuUen und die Kraft haben, es zu zerteilen.
„Ich sehe voraus, dass man mir einwerfen wird, dass das Gold
schwerer ist als das Silber, und deshalb kleinere Poren haben muss, da
die Schwere der Korper nur in der Nahe der Teilchen ihren Grund
haben kann; doch ist es leicht, diese Schwierigkeit zu heben. Betrachtet
man beide Metalle mit einem guten Mikroskop, so sieht man, dass die
Poren des Goldes viel grosser sind, als die des Silbers, dass sie aber
viel weniger sind, und dieser Umstand erklart sehr gut, warum das Gold
schwerer ist als das Silber . . .
,,Andere haben das Gegenteil dieser Erklarung versucht, und haben
geschrieben, dass die Loslichkeit des Goldes und die Unloslichkcit des
Silbers im Konigswasser daher riihrt, dass die dicken Spitzen des Sal-
petergeistes durch die Mischung mit dem Salmiak^) zugespitzt worden
sind, wodurch sie geeigneter gemacht worden sind, in die kleinen Poren
des Goldes einzudringen, wahrend ihre Feinheit ihnen wedor die Starko,
DOch die Bewegung gelassen hat, um die Teile des Silbers zu trennen,
dessen Poren viel grosser sind.
„Diese Betrachtung stimmt aber nicht wohl mit der Erfahrung iiber-
ein: denn welcher Grund lasst sich dafiir anfUhren, dass die Salpeter-
8pitzen dadurch feiner geworden sind, dass sie zwischen die Teilchen des
Salmiaks eingedrungen sind und sie geteilt haben? Wo findet man Bei-
spiele, dass nach einem betrachtlichen Aufbrausen der beiden einzelnen
Sabe die Aciditat spitzer geworden ware, als vorher? Dies kann nicht
erwiesen werden; im Gegenteil wciss jedermann, dass niemals ein Auf-
brausen stattfindet, ohne dass die Saure teilweise gebrochen und ab-
gestumpft wiirde. Schliesslich verlangt diese Betrachtung, dass der
Salpetergeist seine feinstcn Spitzen abgebrochen haben muss, indem er
mit Heftigkeit gegen den Salmiak stiess, um ihn zu teilen, da sich auch
im Salmiak alkalische Salze befinden, deren Eigenschaft es ist, die
Saaren zu zerstoren. Ich konnte hinzufiigen, dass die Vereinigung des
Salzes mit dem Salpetergeiste dess^ Spitzen notwendig grober machen
mosSt und dass die Krystalle, die aus dem Konigswasser entstehen, eine
weniger spitze Gestalt haben als die, welche aus dem Seheidewasser er-
halten werden; doch ist das, was ich gesagt habe, so wahrscheinlich
Qod so leicht zu begreifen, sowie man dariiber nachdenkt, dass ich
glauben wiirde, den Leser unniitz zu amiisiren, wenn ich weitere Be-
weise geben woUte."
') Kooigswasser warde damals nicbt aus Salpeter- und Salz8S.ure, sondern aus
8ilpeters&are and Salmiak bereitet.
8 I. Gescbichte der Verwandtscbaftslehre.
Mit einem ganz modernen kritischen Bewusstsein beurteilt der
Zeitgenosse Robert Boyle diese Hypothesen, die er nicht hoher stellt,
als sie verdienen. Ihm ist die Hypothese ein wissenschaftliches Hilfs-
mittel, auf welches die Kategorieen zweckmassig und unzweckmassig
anzuwenden sind, nicht aber das lotzte Ergebnis der Naturforschung,
das den Anspruch erhebt, als Wahrheit zu gelten. Dem entsprechend
steht uns seine Art, die Erfahrung in den Vordergrund zu stellen, und
die Hypothescn nur insoferii zu ontwickeln, als sie an der Erfahrung
gepriift werden konnen, viel nahor, als die scheinbar alles erklarenden
Hypothescn seiner Zeitgenossen , die infolge ihrer Bcschaffenheit der
weiteron Forschung sich eher hinderlich als forderlich erwiesen.
5. Die AnziehungBhypotheBen. Die Unzulanglichkeit der Corpus-
cularhypothese wurde von Newton dargelegt, indem er zeigte, dass die
zu erklarenden Erscheinungen nur eben den Atomen statt den aus ihnen
gebildeten StoflFen zugeschrieben waren. Biegsame Atome wurden an-
genommen um die Biegsamkeit, und anhaftende, um die Benetzung zu
erklaren. Er flihrte deshalb in die Molekularwelt die Idee der An-
ziehung durch den Raum ein, welche er in der Sternenwelt so grossartig
durchgefiihrt hatte.
Es ist Yor einiger Zeit die Frage lebhaft erortert worden, ob
Newton eine Fernewirkung durch den Raum fiir moglich gehalten hat;
man hat die Frage meist auf Grundlage einer in spaterem Alter ge-
thanen brieflichen Ausserung verneint. Indessen diirfte doch wahr-
scheinlich sein, dass Newtons Meinung Uber diescn Gegenstand gewechselt
hat, und dass er in der ersten Halfte seines Lebens, so lange er sich
noch mit naturwisscnschaftlichen und mathematischen Problemen be-
schaftigte, in der Idee der Fernewirkung keine Absurditat gesehen
hat. Denn er wendet diese Idee riickhaltlos fur die Erklarung einer
ganzen Reihe chemischer und physikalischer Erscheinungen an'): „Ist
das Zerfliessen des Weinsteinsalzes nicht durch eine Attraktion zwischen
den salinischen Partikeln und den Wasserdampfen der Atmosphare her-
vorgebracht? Warum zerfliesst das gemeine Salz, der Salpeter und Vi-
triol nicht, wenn nicht deshalb, weil ihnen eine seiche Attraktion ab-
geht?" „Haben nicht die kleinsten Teilchen der Korper gewisse Fahig-
keiten und Krafte, durch den leerou Raum hindurch zu wirken, nicht
nur auf die Strahlen des Lichts, sondern auch aufeinander, und so die
moisten Erscheinungen der Natur hervorzubringen?*^ Und endlich: „Ich
^> Ygl. Kopp, Gesch. d. Chemie II, 310 und Lasswitz, Fogg. 153, 386. Die
angezogenen Stellen stehen Iq Optics, 241 und 252.
Geschichte der chemischen Theorien. 9
mochte aos der Eohasion der Korper schliessen, dass sich die Teilchen
derselben mit einer Kraft anziehen, welche in der Beriihrung selbst sebr
gross ist, in geringer Entfernung verscbiedene cbemiscbe Erscbeinungen
mr Folge hat, auf weitere Entfernungen jedocb koine merklicbe Wir-
kung ausiibt.^
Die Ideen Newtons baben einen grossen Einfiuss auf die weitere
Entwicklung der cbemischen Hypotbesen geiibt, indcm diese fortan fast
ausnabmelos auf die Annabme fernewirkender Atome begriindet blieben.
Diesem Grundgedaoken und der von Newton alsbald gezogenen Scbluss-
folgemng gegeniiber, dass die cbemiscbe Anziebung nie einseitig erfolgen
konne, sondern eine Wecbsolwirkung sei, fallt es wenig ins Gewicbt, dass
spatere Autoren von Newton insofern abweicben, als sie fiir die cbemiscbe
Anziebung, sowie fiir die Kobasion keine besondere Kraft, sondern die-
selbc allgemeine Gravitation annabmen, welcbe aucb die Himmelsbe-
wegungen bestimmt. Wabrend Newton die besondere Wirkungsweise
der chemischen und Kobasionskrafto auf eine schnellere Abnabme mit
der Entfernung, als proportional dem Quadrate derselben, zuriickfubren
wollte, schrieben Bu£Fon und nach ibm Bergmann und BertboUet jene
dem Einfluss der Form der kleinsten Teilchen zu.
Wenn aber aucb die chemischen Hypotbesen der Folgczeit samtlicb
voD der Ncwtonscben Idee beeinfiusst sind, so bat diese doch mit der
Entwicklung der Wissenschaft als solcher wenig zu thun gehabt, da die
LosDDg ihrer Probleme von jener Annabme nicht beriibrt wurdc. Ernst-
liche Versuche, aus jener Annabme bestimmtc, auf cbemiscbe Vorgange
beziigUche Folgerungen abzuleiten, sind kaum gemacht worden, und wo
sie gemacht worden sind, sind sie fehlgescblagen. Nichtsdestoweniger
erfrettt sich die Annabme von Fenikraften zwischen den Atomen als
Ursachen der chemischen Vorgange bis auf den heutigen Tag einer fast
nnbedingten Verehrung, und ibre ganzliche wissenschaftliche Unfrucht-
barkeit kommt nur wenigen ins Bewusstsein, da sie eben nicht fur eine
willkiirliche Annabme, sondern fiir eine unzweifelbafte Wahrheit ge-
halten wird.
6. BnffonB Heinung nnd ihre Begriindung. Die eben erwahnten
insserangeu Buffons'), die so viel Anerkcnnung gefunden baben,
lanten: „Die Yerwandtscbaftsgesetze, nach welcben die Bestandteile der
▼erschiedenen Massen des Mineralreicbes sich von einander trennen, urn
lidi unter einander zu vereinigen und neue Materien zu bilden, sind
^) Cit. nach Gay ton Moryeaa, Allg. Grunds&tze der Affinit&t, deatsch Ton
D. J. Veit, heraosgeg. von S. F. Hermbst&dt, Berlin 1794. S. 82.
10 I- Geschichte der Verwandtschaftslehre.
die Damlichen allgemeinen Gesetze, nach welchen alle himmlischcn
Korper auf einander wirken. Sie richtcn sich gleichfalls nach deu
Massen und den Entfernungen. Ein Kiigelchen von Wasser, Sand oder
Mctall wirkt auf ein anderes Kiigelchen wie die Erdkugel auf den
Mond; und wenn man bis auf die neueste Zeit die Gesetze der Ver-
wandtschaft als verschieden von den Gesetzen der Schwere betrachtet
hat, so muss man sie nicht recht verstanden, nicht auf die ersten
Grundsatze zuriickgefiihrt, man muss den Gegenstand nicht in seiner
ganzen Ausdehnung umfasst haben. Die Gestalt, welche bei derWirkung
der himmlischen Korper auf einander wegen ihres grossen Abstandes
von einander fUr nichts gerechnet wird, macht bei einem kleinen, oder
bei gar keinem Abstande alles aus. Wenn der Mond und die Erde,
statt ihrer Kugelgestalt, abgestumpften Cylindern glichen, deren Durch-
messer den Durchmessern der Kugeln gleich waren, so wiirde das Gesetz
ihrer gegenseitigen Wirkung durch die veranderte Gestalt nicht merklich
leiden, weil die Entfernung aller Teilchen der Erde von denen des
Mondes nur eine geringe Anderung erlitten hatte. Waren aber diese
Weltkorper sehr ausgedehnte und nahe Cylinder, so wiirde das Gesetz
ihrer gegenseitigen Wirkung sehr abgeandert erscheinen, weil die Ent-
fernung der Teile eines jeden Korpers von einander und von den Teilen
des anderen ein neues Verhaltnis erhielte. Sobald also ausser der Ent-
fernung auch noch die Gestalt ein Moment der Berechnung werden
muss, scheint das Gesetz abzuweichen, obwohl es im Grunde das nam-
liche bleibt.
„Von diesem Grundsatze geleitet, kann der menschliche Geist noch
einen Fortschritt wagen und in das Innere der Natur tiefer eindringen.
Das Wasser, die Luft, die Erde, alle gleichartigen Korper sind un-
zweifelhaft aus einander ahnlichen Elementarteilchen von unbekannter
Form zusammengesetzt. Die Gelehrten kiinftiger Jahrhunderte werden
sich durch die Berechnung hier ein neues Feld von Kenntnissen eroffnen,
und vielleicht die Gestalt der Elemente bestimmen konnen. Sie werden
von dem festgesetzten Prinzip ausgehen und zur Grundlage annehmen,
dass die Materie sich im umgekehrten Verhaltnisse des Quadrats der
Entfernungen anzieht und dass dieses allgemeine Gesetz nur vermoge der
Gestalt der Bestandteile jeder Substanz, welche zur Bcstimmung der
Entfernungen das ihre beitragt, in den besonderen Anziehungen ab-
zuweichen scheint. W^enn man durch wiederholte Versuche zur Kenntnis
des Attraktionsgesetzes einer besonderen Substanz gelangt sein wird, so
wird man auch durch Berechnung die Gestalt ihrer Bestandteile finden.
Man habe z. B. durch die Erfahrung eingcsehen, dass das Quecksilber
Geschichte der chemischen Theorien. 11
aaf einer vollkommen polierten Flache sich immer im umgekehrten
Verhaltnisse des Wiirfels der Entfernungen anzieht, so wird raan durch
Hypothesen, durch Annahcrungen und Berechnungen suchen miissen,
welche Figur mit diesen Erscheinangen am meisten iibereinkommt, und
diese Figur kann man den Bestandteilen des Quecksilbers mit Recht
beimessen^). Fande man durch Versuche, dass dieses Metall sich im
QiDgekehrten Verhaltnisse des Quadrats der Entfernungen anzieht, so
ware erwiesen, dass seine Bestaudteile die Kugelgestalt haben, well die
Kugel die einzige Figur ist, die dieses Gesetz will, und Kugeln in joder
Entfemung immer das namliche Attraktionsgesetz beibebalten.
„Newton hat wohl schon vermutet, dass die chemischen Verwandt-
schaften, welche nichts anderes sind, als die besondercn Anziehungcn,
Ton denen hier die Rede ist, nach Gesetzen vor sich gehen, welche den
Gesetzen der Schwere sehr ahnlich sind; aber er scheint nicht ein-
gesehen zu haben, dass die besonderen Gesetze bloss Modifikationen
des allgemcinen Gesetzes sind, und von diesem nur insofern verschieden
erscheinen, als bei einer sehr kleinen Entfernung die Gestalt der einander
anzieheuden Atome eben so viel und noch mehr zur Gestaltung des
Gesetzes beitragt, indem die Figur alsdann auf die Bestimmung des
Abstandes einen grossen Einfluss ausiibt."
Ich habe diese geschichtlich vielgenannte Stelle mitgeteilt, weil sie
gleichfalls charakteristisch fur die Art der Hypothesenbildung auf diesem
Gebiete ist. Bufifon, der ofifenbar von der Mathematik nur wenig verstand,
imhm vermutlich auf die Autoritat Newtons hin an, dass durch das ein-
fache Auziehungsgesetz die chemischen Erscheinungen nicht darstcllbar
seien. Indem es ihm nun einfiel, dass eine weitere Mannigfaltigkeit durch
die Annahme eines Einflusses der Gestalt der sich anzieheuden Teilchen zu
erzielen sei, hielt er sich alsbald iiberzeugt, dass diese moglicherweise
brauchbare Erklarung auch gleich die richtige sein miisse. Von einem
Nachweise, dass erstens dieser Gedanke wirklich das leistet, was von
ihm verlangt wird, und dass zweitens diese Auffassung die einzig mog-
liche ist (welche beide Forderungen doch erfiillt sein miissten, wenn
dem Gedanken wirklich die zugeschriebene Bedeutung zukommen soil),
ist gar nicht die Rede, und die ganze Idee schwebt vollig in der Luft.
Es kann leider nicht verhehlt werden, dass diese Art der Hypothesen-
bildung in der Chemie, und auch in den benachbarten Wissenschaften,
^ Diese Darlegung zeigt, wie wenig Buffon von ^er Sache verstand, in welcher
er Kewton za korrigieren unternahm ; das Auftreten eines derartigen Anziehungs-
gesetzea infolge der Gestalt der sich anziehenden Kdrper Qber relativ endliche
Strecken ist unmOglich.
12 I. Geschichte der Yerwandtschaftslehre.
typisch geworden ist. Bis auf den heutigen Tag werden Einfalle, ver-
moge deren gewisse Thatsachen moglicherweise dargestellt werden
konnten, wenn man die entspreebenden Rechnungen durchfiihren wollte
Oder konnte, als beachtenswerte Gedanken verkiindigt, und treten mit
dem Ansprucbe auf, als Fortscbritte der Wissenschaft zu gelten. So
unweigerlicb derartige Versuche friiber oder spater der woblverdienten
Vergessenbeit anheimfallen , so unwiderstehlicb wirkt nocb beute die
Neigung, derartiges in die Welt zu setzen, und dem grossen wissen-
schaftlichen Publikum kann der Vorwurf nicbt erspart werden, dass es
solcben Eintagsfliegen nocb eine yiel zu grosse Beacbtung scbenkt, da
die Forderungen, welche an einen wirklicb braucbbaren wissenscbaft-
licben Gedanken zu stellen sind, nicbt vielen klar gegenwartig zu sein
pflegen.
Trotz der mangelbaften Begriindung bat indessen diese Ansicbt
Buffons, der zu Liebe sogar Newton selbst als kurzsicbtig und uniiberlegt
abgekanzelt wird, viele Wiederboler gefunden. Torbern Bergmana
(s. w. u.), der sicb nm die gleicbe Zeit mit den Fragen der cbemiscben
Verwandtscbaft bescbaftigt, bat ibn gleicbfalls ausgesprocben ^), obne
mebr Ergebnisse aus ibm zieben zu konnen als Buffon. Und ebenso
baben Wenzel und BertboUet mebr oder weniger bestimmt erklart, dass
die Beriicksicbtigung der Gestalt der sicb anziebenden Atome der wabre
Weg sei, um den letzten Grund der cbemiscben Verwandscbaftserscbei-
nungen aufzudecken. Wenzel ist in dieser Beziebung sebr bestimmt,
wabrend BertboUet sicb kritiscber aussert, und auf den Versucb als
die einzige zuganglicbe Quelle vollkommener Einsicbten binweist
7. Elektrochemische Hypothesen. t)ber die Ursacbe der „gegen-
seitigen Anziebung der Atome*' entstand zu Beginn unseres Jabrbunderts
eine ncue Anschauung, die elektrocbemiscbe ^). Es waren allerdings scbon
seit der Mitte des vorigon Jabrbunderts cbemiscbe Wirkungen der Rei-
bungselektrizitat bekannt. Beccaria beobacbtete die Zersetzung von Metall-
oxyden durcb elektriscbe Entladungen, Priestley fand, dass Ammoniak
beim Durcbscblagen des Funkens sein Volum vergrossert und nicbt mebr
vom Wasser aufgenommen wird. Cavendisb bemerkte das Entsteben von
Salpetersaure aus Luft durcb den Funken und Deimann und Pacts van
Troostwyk zerlegten das Wasser durcb die Strome der grossen Haarlemer
Elektrisiermascbine. Docb war man so sebr der gewaltsamen Wirkungen
*> Opuscali physica et phemica, III, 292. 1786.
*) Eioe eiDgehende DarstelluDg der Geschichte der Elektrochemie findet der
Leser in Ostwald, Elektrochemie, ihre Geschichte und Lehre. Leipzig, Veit&Co.,
1895—1896.
Geschichte der chemischen Theorien. 13
elektrischer Entladangen gewobnt, class man die chemischen Erschei-
uungen nicht mehr beachtete, als die optischen und mechanischeu Be-
gleiteracheinungen derselben.
Erst die Entdeckung Galvanis ') oder vielmehr ihre wissenschaftliche
Uutersuchung durch Volta anderte die Sachlage. Wahreud Galvani die
voD ihm beobachtete Thatsache, dass die praparierten Hinterschenkel
eines Frosches zncken, wenn man Muskel und Nerv mit verschiedenen
Metallen verbindet, und letztere in Beriihrung bringt, auf die Wirkung
einer spezifischen tierischen Elektrizitat zuriickfiihrte, brachte Volta den
Yersuch auf seine einfachste Form: zwei Metalle und ein feuchter Leiter.
£r bewies, dass durch die Beriihrung dieser drei Sto£Fe Elektrizitat
firei wird, und Ritter zeigte 1798 '), dass die von Volta aufgestellte elek-
trische Spaunungsreihe der Metalle mit der Reihe zusammenfallt, in
welcher sich die Metalle aus ihron Salzen fallen. Im Jahre 1800 baute
Volta die uneigentlich nach Galvani benannte Saule, welche die elek-
trischen Wirkungen in sehr yerstarktem Masse zu erhalten gestattet.
Bei diesem neuen Elektrizitatserreger treten die bisher besonders
beachteten Erscheinungen der Funkenbildung mit ihren optischen und
mechanischen Nebenwirkungen ganz zuriick, dagegen offenbarte sie sich
als ein machtiges Hilfsmittel chemischer Wirkungen. In demselben
Jahre schon nahmen Nicholson und Carlisle wahr, dass, wenn man zwei
mit den Enden der Saule verbundene Golddrahte in Wasser scnkt, an
diesen sich Sauerstoff und Wasserstoff entwickelt, dass Lakmustinktur
sich an dem positiven Poldraht rot farbt etc. Bald darauf begannen
die glanzenden elektrochemischen Entdeckungen Humphry Davys und
einigc Jahre spater veroffentlichte Berzelius gemeinschaftlich mit Hisinger
seine Erstlingsarbeit ^), welche die Grundlage der bald darauf von dem
ersteren entwickelten elektrochemischen Theorie abgab. DieSumme
ibrer Beobachtungen und Schliisse ist folgende.
Eigene und fremde Versuche batten ihnen gezeigt, dass Neutral-
salze unter dem Einflusse elektrischer Strome zerlegt werden.
Da ihnen „dies Verbalten den Gesetzen der chemischen Verwandtschaft
za widersprechen** schien, so nahmen sie eingehendere Untersuchungen
Tor, die ihnen folgende Resultate gaben:
a. Die chemischen Verbindungen werden durch den elektrischen
Strom zerlegt, und ihre Bestandteile sammein sich an den Polen an.
*) Klassiker der exakten Wissenschaften, Nr. 52. Leipzig, W. Engelmann.
*) Beweis, dass ein bestandiger Galvanismus u. s. w. Weimar 1798.
». Afhandl. Fysik, Kemi och Mineral. Stockholm, 1806. — Gilb. Ann. 27,269. 1807.
14 I. Geschichte der Verwandtschaftslehre.
b. Zum iiegativen Pol gehen die breuDbaren Stoffe, die Alkalieu
und Erden; zum positiven der Sauerstoflf, die Sauren, die oxydierten
Stoffe. Dor Stickstoflf des Ammoniaks geht z. B. nach dem negativen,
der der Salpetersaure zusammen mit Sauerstoff nach dem positiven Pole.
c. Die Zerlegung von Gemengen erfolgt im zusammengesetzten Ver-
haltnis der Verwandtschaft ihrer Bestandteile und der Grosse der Be-
riihrungsflache.
d. Die absoluten Grossen der Zerlegung verhalten sich wie die
Mengen der Elektrizitat, und diese wachsen mit der Beriihrungsflache
zwischen dem Metall und dem feuchten Leiter.
e. Die absolute Grosse der Zerlegung ist proportional der elektri-
schen Loitfahigkeit.
f. Die chemischen Vorgange bei der Zerlegung hangen ab 1) von
der Verwandtschaft der Bestandteile zu den Poldr'ahten, 2) von der
gegenseitigen Verwandtschaft der Bestandteile, 3) von der Kohasion der
entstehenden Verbindungen.
Dies war das Material, aus welchem Berzelius seine elektrochemische
Theorie der Verwandtschaft entwickelte; andere elektrochemische Unter-
suchungen hat er wahrcnd seiner unzahligen spateren Arbeiten nicht
mehr ausgefiihrt. Vorher aber sind noch H. Davys Anschauungen, die
er aus seineu elektrischen Arbeiten gezogen hatte, zu erwahnen.
8. H. Davys elektrochemische Theorie. Die wundcrbaren Eigen-
schaften der in der Voltaschen Saule entwickelten Elektrizitat batten
unmittelbar nach ihrer Entdeckung eine Reihe von Behauptungen, die
iiber Entstehung von verschiedenen Stoffen aus reinem Wasser oder aus
solchen Fliissigkeiten, die nichts von jenen enthielten, aufgestellt wurden,
glaublich erscheinen kisseii. Mit ihrer Priifung beschaftigte sich Davy^),
der zunachst die scheinbare Entstehung von Sauren und Basen auf die
Ansammlung geringster Mengen aus Verbindungen, die sich in den Fliis-
sigkeiten vorfiuden oder aus den Gefassen auflosen, zuriickfiihrte. Er
zeigte, dass Gefasse von Gyps, Flussspath, Schwerspath, Basalt, Lava,
Glas etc. durch Wasser angegriffen werden; nur Gefasse von Gold gaben
reine Resultate, und in ihnen war eine Entstehung basischer oder saurer
Stoffe aus ganz reinem Wasser nicht zu beobachten.
Weitere Untersuchungen iiber die Zerlegung von Salzen und die
Wanderung ihrer Bestandteile nach den Polen zu, sowie elektroskopische
Versuche iiber die Elektrizitat, welche Metalle in Beriihrung mit Sauren
\< Gilb. 28, 1 u. 161. 1808; Bak. Lect der Roy. Soc. 20. Nov. 1806. — Klaasiker
der ezakt. Wissensch., Nr. 45. Leipzig, W. Engelmann.
Geschichte der chemlschen Theorien. 15
und Alkalien aunehmeii, fiihrten ihn zu einer elektrisclien Theorie der
chemiscben Yerwandtschaft, dereu Grundziige die folgenden siiid.
Die chemiscben Verwandtschaften werden im allgemeinen durch die
elektrisclien Eigenschafteii der Atome bestimmt, die gegenseitige An-
ziehuDg derselben ist eine Folge der Auziebuug der in ibnen entbaltenen
Elektrizitat Je nacbdem diese verschieden ist, ist die Wablverwandt-
schaft verscbioden. Mit steigender Temperatur wacbst die Starke der
elektroskopiscben Spannung; gleichzeitig nimmt die Verwandtschaft zu.
Den elektriscben Zustand der Atome, durch welcben sio einander
aDziehen oder abstossen, fiihrt Davy^) spater unter dem Einflusse der
Voltaschen Ansicbten auf die Erscbeinuugeu der Kontaktelektrizitat zu-
riick. Dieselbe Ursache, welcbe bei der Beriihrung zweier verschie-
dener Korper sie verscbiedene elektrische Zustande annebmen lasst, ist
auch zwiscben den Atomen tbatig and bewirkt die Erscbeinuugeu der
chemiscben Verwandtschaft. Die letztere ist daher mit der elektriscben
Anziehung nicht sowobl eigentlicb identisch, sondern beide sind gleich-
wertige Folgen derselben Ursache.
Die elektrische Zerleguug ist die Zuriickversetzung der Atome in
den Zustand, welcben sie vor der Vereinigung batten, durch Zufiibrung
?on Elektrizitat. Aus dem Zeichen des Pols, an welcbem sie sich aus-
scheiden, lasst sich der Zustand erscbliessen, welcben sie in der Ver-
biDdung einnahmen; negativ elektrische Atome werden am positiven,
positiT elektrische am negativen Pol erscbeinen.
9. Elektroohemisclie Theorie von Berzelius. Von der eben aus-
einandergesetzten Theorie Davys unterscbeidet sich die von Berzelius
weseutlicb durcb die Annabme, dass die Atome nicht erst bei ibrer Be-
riihrung oder Naberung verscbiedene elektrische Zustande erhalten,
sondern dass sie von vornherein in polarer Anordnung 6lektriscb seien.
In Bezug auf die letztere Annabme stimmt Berzelius Vorstellung mit
einer friiber von Scbweigger aufgestellten iiberein, die indessen den Bei-
tall der Facbgenossen nie erhalten batte.
Die entgegeugesetzten Elektrizitaten, die sich an jedem Atom in
polarer Anordnung vorfinden, sollen nun nicht in gleicher Menge vor-
handen sein, sondern die eine oder andere kann vorwiegen. Ferner
konnen an Atomen verscbiedener Art die absoluten Mengen der Elek-
trizitat wie ihre Unterscbiede mannigfaltig sicb andern, so dass Atome
denkbar sind, in welcben eine oder die andere Polaritat sebr iiberwiegt,
obwohl die Gesamtmengo der Elektrizitat und daher die entsprecbende
\. Elem. of Chem. Philos. 1612.
16 I. Geschichte der Yerwandtschaftslehre-
Anziehang nicht gross ist, wabrend anderorseits Atome, welcho grosse
aber aunahernd gleiche Mengcn der cntgegODgesetzten Elektrizitaten
enthalten, obne ausgesprochcn positiven oder negativen Charakter doch
Starke Affinitaten entwickcln koniien.
Zu quantitativ fiir die Bostimmuiig von Affinitatsgrossen verwert-
barcn Ergebnissen hat diese Theorie ebensowenig geftihrt, wie alle vor-
hergehenden. Ihro Bedeutung fur die chemische Systematik ist bereits
an friiherer Stelle gewiirdigt worden. Wenn gegenwartig auch die dua-
listische AuffassuDg der chemischeu Verbindungen, welche Berzelius als
notwendigo Koiisequenz seiner Hypothese zur Grundlage seines Systems
gemacht hatte, eudgliltig beseitigt ist, so steckt doch in der elektro-
chemischen Spannungsreifae, durch welche er seiner Theorie gemass die
Affinitatsverhaltnisse der Elemento untereinander weuigstens qualitativ
ausdriickte, ein thatsachlicher Kern, der erst in unseren Tagen zu genii-
gender Entwicklung zu gelangen beginnt In der That bedient man sich
heute, wo die elektrochemische Theorie in den Lehrbiichem kaum dem
Namen nach erwahnt wird, immer noch der alten Termiuologie, urn Ver-
haltnisse zu bezeichnen, deren Beriicksichtigung die neueren Theorien
noch nicht ermoglicht haben. So wird die Starkung der Sauren durch
eintretende Chloratome, ihre Schwachung durch Aufnahme von Amid-
gruppen, die Orientierung eintretender Substituenten am Benzol und
seinen Abkommlingen durch bereits vorhandene Atome oder Atomgruppeu
immer noch in Ausdriicken dargestellt, die der elektrochcmischcn Theorie
entlehnt sind, wenn man die negativen Eigenschaften der Sauren durch
den Eintritt negativer Atome starker, durch positive Gruppen schwacher
werdon lasst, oder wenn man sagt, eintretende negative Radikale stellen
sich meist im Benzol zu vorhandenen negativen in die Meta-, zu positiven
in die Ortho- und Para-Stellung.
10. Sp&tere Theorien. Durch das Bediirfnis, die herandrangende
Fiille empirischen Materials der aufbliihenden organischen Chemie iiber-
sichtlich zu orduen, ist das bei Berzelius noch einigermassen vorhan-
dene Gleichgewicht zwischen dem formaleu und materialen Inhalt der
chemischen Theorie fur lange Zeit vollig zu Gunsten des ersten ver-
schoben worden. Bogilnstigt wurde diese, die gleichmassige Entwicklung
der Wissenschaft beeintracbtigende Richtung durch die ungeniigende Art
des Widerstandes, mit wclchcm Berzelius den neueren Ergebnissen, ins-
besondere den Substitutionsbeziehungen entgegentrat. Mit dem Siege
uber den altersschwachen Verteidiger des Elektrochemismus glaubte
man diesen sclbst beseitigt zu haben, und bis heute ist der formale
Charakter der chemischen Theorien so vorherrschend geblieben, dass
Geschichte der chemischen Theorien. 17
sie wie eben erwahnt, fiir die der Beobachtung sich aufdrangenden that-
sachlichen Beziehungen nicbt elDmal neue Namen babea scbaffen konneD.
Die Substitutionsvorgange bildeten die Grundlage der zunacbst
entwickelten Kemtheorio Laurents, sowie der spater durch Gerhardt
aufgestellten Typentheorie. Wahrend aber diese die Kerne oder Typen
als gegeben annahmen, und nur die Schemata auszufiillen als erforderlicb
ansahen, wurden in der Valenzlehre diese selbst auf Eigenscbafteu der
Atome zuriickgefuhrt durcb die grundlegenden Annabmen, dass jedes
Atom eine bestimmte ZabI von Bindungspunkten besitze, welcbe mit
den Bindungspunkten anderer Atome sich zusammenschliessen konnen.
In der ausdriickliGhen Formulierung, dass die Sattigung eines gegebenen
Atoms nur yon der. Zahl nnd Valenz, nicbt aber yon der Art der zu-
tretenden Atome abhange, lag ein formeller Verzicht darauf, die letztere
in Betracht zu ziehen.
So ist es denn auch natiirlicb, dass tiber den materialen Inbalt der
Valenzlehre lange Zeit eine yollstandige Gleichgultigkeit herrschte. Wie
es kommt, dass ein Kohlenstoffatom gerade yier Bindungspunkte oder
Valenzen hat, und ein Wasserstoffatom nur einen; welcher Art die
Krafte sein konnen, die in so ungewohnlicher Weise wirken, erschien
den Chemikem als eine nicbt aufzuwerfeude Frage. Der einzige Versuch
in dieser Richtung war bis in die Mitte der acbtziger Jahre die yon
Tan't Hoff aufgesteUte Hjpothese iiber die tetraedrische Form der Eohlen-
stoSatome.
Seitdem ist zwar die Zahl der Hypothesen iiber die Natur oder die
Ursache der Valenz in schnellem Anwachsen begriffen gewesen; dass
i^end etwas yon allgemeiner Bedeutung bei diesen Bemiihungen heraus-
gekommen ware, kann man indessen nicbt sagen. So ist denn die
beutige Theorie der chemischen Verbindungen ein seltsames und wider-
sprachsyoUes Eonglomerat fossiler Bestandteile aller friiheren Theorien.
Die heryorragendste Rolle spielen noch die Cberreste der Attraktions-
theorie; daneben ist yiel yon positiyen und negatiyen Elementen, den
Besten der clektrochemischeu Theorie die Rede, und in neuester
Zeit sehen wir in der Stereochemie die lang yergessenen mechanischeu
Vorstellongen wieder in den Vordergrund treten und yon vielen als eine
Beae Bliite der Wissenschaft angesehen werden. Der tiberblick iiber
die Geschichte der chemischen Theorien lehrt, dass keine derselben fiir
die Erforschung der quantitatiyen Gesetze der chemischen Yerwaudtschaft
Ton Belang gewesen ist; in alien Fallen war der Rahmen zu weit, um in
Zahl nnd Mass ausdriickbare Folgerungen nach dieser Seite zu ermoglichen.
OttwBld, Cbemie n,2. 2
18 I- Geschichte der VerwandtschaftBlehre.
Zweites Eapitel.
Altere Oeschiclite der Affinit&tsbestimmungeii.
1. Erste Azifange. Die YorstelluDg einer verschiedenen Starke
der chemischen Verwandtschaft bat sich zunachst volktandig an die
Vorstellung, dass die Stoffe auch in ihren Verbindungen ibre Natur bei-
bebalten, also an den beuto giiltigen Begriff der cbemiscben Elemente
gekniipft, und entwickelte sich demnacb nicbt, bevor der letztere in das
Bewusstsein der Chemiker iibergegangen war, d. b. nicbt vor dem sieb-
zebnten Jabrbundert. Glauber und Boyle sind die ersten Autoren^),
bei denen viele cbemiscbe Vorgange auf eine Verscbiedenbeit der cbe-
miscben „Erafte" zuriickgefiibrt werdcn. Bei Glauber findet diese Er-
kenntnis nocb den naiven bildlicben Ausdruck des Empedokles von
Liebe und Hass, Boyle wendet Umscbreibungen an. Die Newtonsche
Idee der Fernwirkung der Atome bracbte alsbald eine anscbaulicbe
Vorstellung iiber die Ursache dieser Verscbiedenbeiten mit sicb: die
Atome zieben sicb je nacb ibrer Natur mit verscbiedener Kraft an.
Mit dieser Moglicbkeit, die Ergebnisse der Erfabrung kurz und
anscbaulicb auszudriicken, nabm die Ermittelung und ZusammenstoUung
der bierber gehorigen Tbatsacben bald eine wicbtige Stelle in der cbe-
miscben Forscbung ein. Nacbdem scbon Glauber und Boyle Reiben
cbemiscb abnlicber Stoffe angegeben batten, von denen jeder den anderen
aus bestimmten Verbindungen zu verdrangen vermag, batte Stabl zu
Beginn des acbtzebnten Jabrbunderts zablreicbe derartige Verwandt-
scbaftsreiben aufgestellt. So setzt er gelegentlicb der Besprecbung der
Salze im allgomeinen ibr Verbalten folgendermassen auseinander^).
„Ibrem eigenen Wesen nacb sind die Salze einer fliissigen Konsistenz
mittelmasstg flucbtig und korrosiviscb oder angreifend, lassen sicb auch
in Wasser aufiosen.
„Nacbdem sie aber auf verscbieden erdigte Konkreta fallen, und die-
selben benagen, darnach entstehen daher auch verscbiedene Arten derer
Salze. Davon die gemeinsten sind, und die man natiirlicb findet, ge-
mein Salz oder Kocb-Salz, Salpeter, Alaun, Vitriol, Stein-Salz und Salmiak.
„Diese Arten der Salze sind in ibrer groberen Substanz nicbt anders
unterscbieden, als nacb den verschiedenen Arten der Erden, und ge-
\ Kopp, Gesch. d. Chemie II, 293.
') Herrn G. E. Stahls Chymia rationalis et experimentalis oder grfLndliche
der Natar und Vernunft gem&sse und mit Experimenten erwiesene Einleitung zur
Chymie. Leipzig 1720. S. 106.
Altere Geschichte der Affinit&tsbestimmungen. 19
mischten erdigten Korper, die sie benagt haben, und mit welchen sie in
eioe dichtere Substanz sind zusammen geronnen. Hiervon muss man
noch mcrken, das ein solcb erdigtes Konkretum die salinische Substanz
Tiel fester in sich ziehet, einwickelt und behalt, als ein anderes, daraus
denn dieses folgt, dass sie solches aucb leicbter oder schwerlicher wieder
Cahren lasse.
„Fo]gendcs mechanisches Experiment kann davon ein Exempel ab-
geben, welcbes man zur Erforschung dcs Wesens der Salze fleissig iiber-
legen muss. Solvire Silber in Aquafort, so wird solches das Silber
ganz in sich nehmen, und als ein heller Liquor erscheinen; in den
hellen und durchsichtigen Liquoren wirf diinne Kupfer-Bleche, so wird
das Aquafort selbige auflosen, und das Silber in Gestalt eines Pulvers
auf den Boden fallen lassen; diese griine und klare Solution giesse auf
Blei-Bleche, so wird es dieselben angreifen und das vorher aufgeloste
Eupfer fallen lassen; die klare Solution giesse ab und giess sie auf
Zink, so wird sie den Zink auflosen und das vorher aufgeloste Blei zu
Boden fallen lassen; in diese klare Solution thue Krebsaugen oder
Kreide, so wird es diese auflosen und den Zink fallen lassen; dann
giess in diese Solution Spiritum Urina, so wird es sich mit dem ver-
einigen, und die kreidigte Erde oder Krebsaugen gehen lassen; endlich
trSpfele wieder darein Oleum Tartari per deliquium, oder gemeine Lauge,
so nimmt es die in sich, und lasst das fliichtige Salz fahren.*'
2. Geof&oys Tabelle. Der von Stahl in grosser Klarheit aufge-
stellte Gedauke der Verwandtschaftsreihe hat dann lange Zeit die
Entwicklung der Affinitatslehre beherrscht. H. F. Geoffroy der altere
gab diesen Reihen eine Form, welche dauernd beibehalten wurde. An
den Kopf einer jeden Verwandtschaftsreihe stellte er einen bestimmten
Sloffi und darunter ordnete er alle Stoflfe, die zu jenem Verwandtschaft
batten, so an, dass die mit der grosseren Verwandtschaft begabten den
iafaog machten, und stufenweise die schwacheren folgten. Jeder in der
Tabelle namhaft gemachte Stoff verdrangt aus der Verbindung mit dem
Qberschriebenea gemeinsamen Bestandteil jeden nachfolgenden und wird
^on jedem vorausgehenden verdrangt. Auf S. 20 befindet sich eine ge-
trene Nachbildung jener ersten Verwandtschaftstafel; Uber ihre Bedeu-
taig und Benutzung hat Geoffroy in seiner ersten Mitteilung^) die fol-
gende Auseinandersetzung gegeben.
,Jn der Chemie beobachtet man gewisse Beziehungon zwischen ver-
sdiiedenen Stoflfen, welche machen, dass sie sich leicht mit einander ver-
' Mem. de TAcad. Roy. des Sciences, 1718, S. 202.
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I. Geschichte der Verwandtschaftslehre.
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Altere Gescbichte der Affinit&tsbestimmuDgen. 21
binden. Diese Beziebungen haben ihre Grade und ibre Gesetze. Man
beobachtet die Verscbiedenbeit der Grade darin, dass beim Vermiscbeh
mehrerer Stoffe, welcbe einige Neigung baben, sich mit einander zu ver-
binden, sich eine der Sabstanzen bestandig mit einer bestimmten anderen
aas alien iibrigen vereinigt
^Was die Gesetze dieser Beziebungen anlangt, so babe icb bemerkt,
dass wenn onter den Stoffen, welcbe diese Neigung sich zu verbind&n
besitzen, zwei verbunden waren, einige von jenen, wenn man sie beran-
bracbte und zumischte, sich mit der einen derselben verbanden, und
die andere austrieben, wahrend andere sich weder mit dem einen noch
der anderen vereinigten und sie nicbt trennten. Hieraus hat es mir
gescbienen, dass man mit geniigender Wabrscheinlichkeit scbliessen
konnte, dass die Stoffe, welche sich mit einem bestimmten Stoffe ver-
banden, mehr Vereinigungsbeziehung oder Verbindungsneigung zu diesem
besasseoy als die anderen, welche bei ihrer Annaherung vertrieben wurden»
Und ich babe geglaubt, dass man aus diesen Beobachtungen den fol-
geoden Satz ableiten konne, welcher sehr ausgedehnt gilt, wenn ich ihn
aach nicbt als allgemein hinstellen kann, da ich nicbt alle moglichen
Zosammenstellungen babe untersuchen konnen, um mich zu vergewissern,
dass sich nichts gegenteiliges findet:
„Jedesmal wenn zwei Stoffe, die einige Neigung, sich zu
verbinden haben, mit einander verbundon sind, und es kommt
ein dritter dazu, welcher mehr Bezichung zu einem von bei-
den hat, so yerbindet er sich mit ihm, und treibt den an-
deren aus^).
^Dieser Satz findet in der Chemie in sehr ausgedehnter Weise statt,
wo man sozusagen auf jedem Scbritte die Wirkung dieses Verhaltnisses
antrifft. Von dieser Eigenschaft hangt die Mebrzahl der verborgenen
BewegUDgcn ab, welche der Mischung der Stoffe folgen, und welche
ohne diesen Schliissel fast undurchdringlich sind. Da aber die Reihen-
folge dieser Beziebungen wenig bekannt ist, habe ich es fur niitzlich
gehalten, die der Stoffe aufzustellen, mit denen man gewohnlich in der
Chemie arbeitet, und aus ihnen eine Tabelle zu bilden, aus der man
^) Die Ursacbe, weshalb der seltsame Ausdruck „Beziehang^' (rapport) fQr
die cbemische Verbindongsneigang der Stoffe gebraucht wird, statt des friiber und
aoch Bpater benatzten ^Anziehong'*, liegt darin, dass um jene Zeit sich die 6e-
lehrten der franzdsiscben Akademie in einem beftigen Kampfe gegen die Newtonscbe
Tbeorie der allgemeinen ScbwereanziehuDg befanden, und es im Scbosse dieser
Akademie daher nicbt erlanbt war, von „Anziehungen** zu reden, wenn aucb auf
eiaem nicht-astronomiscben Gebiete.
22 I- Geschichte der Verwandtschaftslehre.
mit einem Blick die verschiedenen Beziehuugen ersehen kanii, welcbe
sie untereinander habeu.
„Heute stelle ich in dieser Tafel die verschiedenen Beziehungeii
zusammen, welche ich aus den Yersuchen und Beobachtungen anderer
Chemiker wie den meinen entnommen habe.
„Au8 dieser Tafel werden die, welche die Cbemie zu studieren be-
ginnen, sich in weniger Zeit eine richtige Vorstellung von den Be-
ziehnngen bilden konnen, welche die verschiedenen Stoffe untereinander
haben, und die Chemiker werden darin eine leichte Methode findeu,
urn zu entdecken, was in manchen ihrer Operationen geschieht, die
schwer zu entziffern sind, und was in den Mischungen erfolgt, die sie
aus verschiedenen Stoffen zusainmenstellen.
„Dio erste Reihe dieser Tafel enthalt die Stoffe, die man in der
Cbemie anzuwenden pflegt. Unter jedem dieser Stoffe sind die ver-
schiedenen Materien geordnet, die mit jenem nach Massgabe ihrer Be-
ziehung zu dem crsteu verglichen sind, sodass die nachstgelegene die
grosste Beziehung hat, und keine darauffolgende Substanz sie abscheiden
kann; vielmehr scheidet sie jede andere ab, welche mit dem ersten
Stoffe verbunden ist, um sich mit ihm zu vereinigen. So sind in der
ersten Reihe die sauren Geister die Stoffe, die ich mit den vier anderen
Arten der Stoffe vergleiche, die darunter angegeben sind: namlich die
festen alkalischen Salze, die fliichtigen alkalischen Saize, die absorbie-
renden Erden und die metallischen Stoffe^).
„Unmittelbar unter der Reihe mit den Sauren sind die festen alka-
lischen Salze angeordnet, weil ich keinen Stoff kenne, der jene austreibt,
wenn sie einmal mit den Sauren verbunden sind; wenn im Gegenteil eine
der drei Arten von Stoffen, die darunter angegeben sind, mit einer Saure
verbunden vorkommt, so giebt er scinen Platz an die festen alkalischen
Salze ab, wenn diese sich nahern, und giebt ihnen die Freiheit, sich
mit den Sauren zu verbinden.
,Jn der dritten Stelle sind die fliichtigen alkalischen Salze, welcbe
mebr Beziehung mit den Sauren haben, als die darunter befindlichen
erdigen oder metallischen Stoffe, aber weniger, als die dariiber befind-
lichen festen alkalischen Salze: so dass wenn eine dieser Substanzeu
mit einer Saure verbunden ist, sie diese austreiben und ihren Platz
einnehmen werden, indem sie sich mit den Sauren verbinden. Aucb
haben dieselben flUchtigen alkalischen Salze weniger Beziehung mit den
Sauren, als die festen alkalischen Salze: dies macht, dass sie keine
\j Uuter ,,alkalischeii Salzen^' sind meist die Carbonate verstanden.
Altere Geschichte der Affinit&tsbestimmungen. 28
Wirkung auf diese beiden Stoffe, wenii sie verbunden siud, ausiiben;
im Gegenteil, wenn die fliichtigen alkalischen Salze mit deu Sauren
Terbanden sind, so verlassen sie diese bei der Annaheruug der festen
alkalischen Salze and raumen ihuen den Platz eiii.
„Das gleiche konneii wir yon den absorbierenden Erden^) sagen, die
an yierter Stelle angefuhrt sind. Sie haben kcine Wirkung auf die mit
den Sauren yerbundenen festen oder fliichtigen alkalischen Salze, und
finden sich diese erdigen Stoffe mit den Sauren yerbunden, so treten
sie ihren Platz dem einen oder dem anderen dieser Salze ab, wenn
man diese heranbringt. Auch passen sie in Wahrheit besser zu den
Sauren, als die metallischen Stoffe, die sich darunter befinden; wenn
diese sich daher mit Sauren yerbunden finden, so treiben jene sie aus,
am ihren Platz eiuzunehmen.
„Keine der Substanzen, welche sich in einer der oberen Stellen yer*
zeichnet findet, tritt ihren Platz, wenn sie mit einer Saure yerbunden
ist, an die metallischen Substanzen ab, die darunter angegeben sind,
nnd jede yon ihnen yerdrangt die mit Sauren yerbundenen metallischen
Substanzen, um sich an ihren Platz zu setzen.
„Da die metallischen Substanzen nicht eine gleiche Neigung (con*
Tenaiice) zu den sauren Gcistorn haben, indem die Saure aus Meersalz
einige Metalle aufiost, welche die Salpetersaure nicht lost, etc., so habe
ich die drei mineralischen Sauren an den Kopf dreier folgender Reihen
gestellt; namlich die Salzsaure, die Salpetersaure und die Vitriolsaure,
und unter ihnen habe ich in jeder Reihe die yerschiedenen metallischen
Subst&nzen nach der Ordnung der Beziehungen angeordnet, welche ich
beobachtet habe
„Um nun zu zeigen, yon welchem Nutzen diese Tafel sein kann, um
zu erfahren, was in den yerschiedenen Gemengen der zusammengesetzten
Korper yor sich geht, und um yorauszusehen, was dabei geschehen muss,
wollen wir als Beispiel die Herstellung des Atzsublimats nehmen, welche
eine sehr gewohuliche Operation ist, wahreud ihre Theorie sehr wenig
bekanut ist.
„Diese Herstellung geschieht gewohnlich, indem man fast bis zur
Rotglut calcinierten d. h. dephlegmierten Vitriol, yerglUhtes Eochsalz
und ein salpetriges Quecksilbersalz nimmt, welches durch die Auflosung
des Quecksilbers in Salpetergeist und Abdampfen zur Trockne erhalten
wird. Man mischt diese drei Stoffe genau zusammen; im Augenblick
des Mischens begiunt man den Geruch des Salpetergeistes zu spiiren,
*) Absorblerende Erden sind die Erdalkalicarbonate, Thonerde u. dergl.
24 I- Geschichte der Yerwandtschaftslehre.
der sich in gelben Dampfcn erhebt. Thut man das Gemisch zur Destil-
lation in eine Retorte, so geht bei sehr massiger Hitze ein saurer Geist
liber, .wclcher zum grossten Teilo Salpetergeist ist, vermischt mit etwas
saurem Salzgeist, der ein scbwaches Konigswasser daraus macht. Yer-
mehrt man das Feuer, so erhebt sich in der Retorte eine weisse kry-
stallinische Salzmasse, und auf dem Boden bleibt eine rotliche Masse,
aus der man durch Auslaugen ein weisses Salz und eine rote metallische
£rde scheiden kann.
„Die Stoffe, die man bei diescr Operation erhalt, sind sehr ver-
schieden von denen, die man dazu gebraucht hat; wie wir gesehen haben.
„Der Vitriol, welcher gebraucht wird, ist ein Mittelsalz aus Vitriol-
saure und Eisen, welches letztere von dieser Saure aufgelost und mit
ihr sehr genau verbunden ist. Das Kochsalz ist auch ein Mittelsalz,
das aus Salzsaure und einer fest damit verbundenen absorbierenden Erde
besteht, und das salpetrige Quecksilbersalz bestcht aus Salpetersaure
und Quecksilber.
„Es ist zu untersuchen, welches das Verhaltnis der sechs Stoffe ist,
die diese drei Verbindungen bilden, um iiber die Art zu urteilen, in
der sie aufeinander wirken.
„Ich hebe hervor, dass diese drei Verbindungen mit drei verschie-
denen Sauren gebildet sind, von denen die eine, die Salzsaure, mit einer
absorbierenden Erde verbunden ist, wahrend die beiden anderen, nam-
lich die Vitriol- und die Salpetersaure, als Basen metallische Substanzen
haben. Aus der ersten Reihe meiner Tafel iiber die sauren Geister
finde ich, dass die Sauren im allgemeinen mehr Beziehung zu der ab-
sorbierenden Erde des Eochsalzos haben, als zum Eisen oder Queck-
silber, und aus der fiinften Reihe der absorbierenden Erden, dass die
Vitriolsaure insbesondere mehr Beziehung zu eben dieser Erde hat,
als die Salpetersaure und auch die Salzsaure, mit der sie verbunden
ist; daraus schliesse ich gemass meinem Satze, dass die Vitriolsaure ihr
Metall aufgeben muss, um sich mit der Erde des Kochsalzes zu ver-
binden, was in der That geschieht. Die Salzsaure entweicht also bei
dor Annaherung der Vitriolsaure, und wiirde sich, da sie von Natur
ilUchtig ist, in der Luft zerstreuen, wenn sie nicht auf die metallischen
Substanzen trafe, zu denen sie mehr Beziehung hat, als die andereu
Sauren, wie sich dies aus der funften Reihe der metallischen Stoffe er-
giebt. Sie greift also gleichzeitig das Eisen des Vitriols und das Queck-
silber der Salpetersaure an.
„Da diese Saure des Salzes mehr Neigung zum Quecksilber hat,
als die Salpetersaure, so zwingt sie diese Saure, das Quecksilber zu
Altere Geschichte der Affinit&tsbestimmuDgen. 25
Tcrlassen. Diese Salpetersaure ist frei geworden, und da sie nichts
findet, nm sich daran za halten, so zerstreut sie sich in der Luft und
lasst aus dem Gefasse gelbe odcr rotliche Dampfe entweichen.
»Zu gleicher Zeit, wo sich ein Teil der Salzsaure mit dem Queck-
silber verbindet, heftet sich ein anderer und grosserer Teil an das
Eisen, und wiirde dort gebunden bleiben, wenn nicht die Kraft des
Feuers, welches man vermehrt und auf einen ziemlich hohen Grad
wahrend der Destination bringt, eben diesen Teil der Saure zwange,
sidi von der eisenhaltigen Substanz zu trennen, die zu fix ist, um mit
der Saure aufzusteigen; die von neuem durch das Feuer in Freiheit
gesetzte Saure begegnet den Quecksilberteilchen, welche noch nicht
Tollig Yon der Salpetersaure getrennt waren, verbindet sich mit ihnen,
trennt sie YoUig Yon der Salpetersaure, die in gelben Dampfen entweicht,
wahrend durch die Verbindung der Salzsaure mit den Quecksilber-
teilchen sich ein Quecksilbersalz abscheidet, das fliichtig genug ist, um
sich zu erheben, oder (nach dem Ausdruck der Ghemiker) sich an die
Hohe der Retorte zu sublimieren; daher nennt man es Quecksilber-
sublimaf
Dieser Auseinandersetzung liegt ebenso wie den alteren von Glauber,
Boyle und Stahl ein systematischer Gedanke zu Grunde, der als „selbst-
verstandlich^* zunachst gar nicht ausgesprochen wurde, wenn er auch die
eigentliche Grundlage fur die Brauchbarkeit, ja die Moglichkeit solcher
Tabellen war. £r lasst sich dahin aussprechen, dass wenn ein Stoff A
starker ist als B, und B starker als C, dann auch A starker als C ist
Es ist dies keineswegs eine Notwendigkeit an sich, sondern das Zu-
treffen einer solchen Beziehung muss bereits als ein bestimmtes und
folgenreiches Naturgesetz angesehen werden.
Eine Reihe weitercr Auseinandersetzungen, welche sich an die eben
gegebene anschliessen, braucht nicht wiedergegeben zu werden, denn
die Torstehende zeigt bereits, dass es bei dem versuchten Schema nicht
ohne Willkiirlichkeiten abgeht. Auch scheint dies der Eindruck auf
die Zeitgenossen gewesen zu sein, denn zwei Jahre spater^) gab Geoffrey
»Erlauterungen*' zu seiner Tafel, um einige erhobene Einwande zu be-
seitigen. Insbesondere war bemerkt worden, dass der Kalk, den man
Qnter die absorbierenden Erden rechnete, die Salze des ilUchtigen Alkalis
(Ammoniaks) zersetzt, was er nach der Tabelle nicht thun sollte.
Geoffrey hilft sich dadurch, dass er den Kalk als ein „wahres festes
Alkali** betrachtet. „In der That kann der bittere und atzende Ge-
>) M^m. de TAcad. Royale 1720, S. 20.
26 I- Geschichte der Verwandtschaftslehre.
schmack nur von scharfen und spitzen Teilen herriihren, welche fahig
sind, die Fasern der Zunge zu verletzeu und zu zerreissen. Eine solcbe
Eigenschaft diirfen wir nicht den erdigen Teilen allein zuschreiben, da
diese ihrer Natur nach geschmacklos sind, und die man gewohnlich
poros und ohne Spitzen annimmt. Der Kalk atzt und lost die Korper,
die er beriihrt: dies ist nicht eine Eigenschaft der reinen Erde. Man
kann diese Atzwirkung nur erklaren, wenn man im Kalk dieselben
schneidenden Teilchen annimmt, welche in den alkalischen Salzen
anzuerkennen man keine Schwierigkeit macht" Als wahre absorbie-
rende Erden werden dann Kreide, Korallen, Krebsaugen und Kalk-
stein bezcichnet; dass auch sie die Ammoniaksalze zersetzen, wird
iiberseben.
Ebenso wenig geniigend ist die Erorterung anderer Einwande. So
wird bemerkt, dass beim Sublimieren von Salmiak mit Eisenrost ein Tell
des Ammoniaks ausgetrieben wird, was wiederum der Tafel widerspricht.
Zur Rechtfertigung betont Geoflfroy, dass er unter der Bezeichnung
metallische Substanzen nur die reinen Metalle, nicht ihre Erze oder
dergleichen verstehen wolle. Dass durch die Alkalien nicht die reinen
Metalle aus ihren Salzen gefallt werden, sondern ihre „A8chen", bleibt
wieder ausser Betrachtung. Auch spricht GeofiFroy die Vermutung aus,
dass die Wirkung von Eisenrost und Bleiglatte auf Salmiak unter Ent-
wicklung von fliichtigem Alkali von dcm Gehalt dieser Stoffe an festem
Alkali herriihren mochte. So verheerend wirkt alsbald die „Theorie"
auf das gesunde Urteil ihres Schopfers. Schliesslich verliert sich die
Abhandlung in eine Polemik gegen Stahl, den fiegriindor der ganzen Be*
trachtungsweise, der als solcher allerdings nicht von GeofiFroy genannt
wird, und dessen altere Rechte auf solche Weise den Augen der Zeit-
genossen und Nachkommen entschwanden.
Die Affinitatstabellen waren um die Mitte des vorigen Jahrhunderts
in allgemeinem Gebrauch. Sie.wurden bestandig erweitert und vervoU-
kommnet, und die ganze Entwicklung erreichte ihren Hohepunkt und
fand ihren Abschluss durch den schwedischen Chemiker Torbern Berg-
mann.
3. Bergmanns Verwandtschaftslehre^). Indem Bergmann die Ur-
sache chemischer Verbindungsvorgango mit der der allgemeinen Massen-
anziehung gleich setzt, erortert er zunachst nach BufiFon, (S. 9), wie die
Art der Wechsel wirkung gauz verschieden ist, je nachdem die Dimen-
sionen der Massen klein sind im Vcrhaltnis zu ihren Entfernungen, oder
^) Torberni Bergmann Opusc. phys. et chem. Ill, 291. Upsala 1783.
Altere Geschichte der Affinitlltsbestimmungen. 27
omgekehrt. Im letzten Falle, wo die Wirkungen kaum ausserhalb der
unmittelbaren Beriihrung merklich werden, sind sie um so kraftiger, je
besser die Beriihrung ist Daber wirken flussige Stoffe besser als feste,
UDd Dampfe besser als beide. (Letzteres ist unrichtig.)
Die Starke der gegenseitigen Anziehung lasst sicb noch nicbt in
Mass nnd Zahl ausdriicken, sondem es lasst sich nur sagen, in welchem
TOO zwei gegebenen Fallen sie grosser ist, so dass man Reihen der-
selben aufstellen kann.
Man kann verschiedene Arten der Anziehung unterscheiden. Zwi-
schen gleichartigen Teilchen wirkt die attractio aggregationis,
zwischen Terschiedeneu die attractio compositionis, welche, je nach-
dem sie auf nassem oder trockenem (feuerfliissigem) Wege wirkt, als
attractio solutionis und fusionis auftritt. Wirkt zwischen je
zweien yon drei Stoffen die Anziehung so, dass einer von ihnen aus der
Verbindung ausgeschlossen wird, so liegt attractio simplex electiva
oder einfache Wahlverwandtschaft vor; wirkt die Anziehung zwischen
2wei zusammengesetzten Stofifen so, dass die Bestandteile sich austauschen,
80 hat man attractio duplex, doppelte Wahlverwandtschaft. Die
beiden letzten sind bei weitem die wichtigsten.
Die Frage, ob es eine konstante Ordnung der Anziehungen gebe,
wird gestellt und bejahend beantwortet. Es sind zwar scheinbare Ab-
weichungen Torhanden, dieselben verschwinden aber bei sorgfaltiger
Priifung. Die einzige Ursache, welche die Verwandtschaften andert und
ihre Ordnung zuweilen umkehrt, ist die Warme.
Ist also ein Stoff A gegeben, Tvelcher sich mit StofiFen a, b, c ver-
binden kann, und wird, wenn auf die Verbindung Ac der StoflF b ein-
wirkt, A b gebildet und c wieder in Freiheit gesetzt, so hat b eine
grossere Verwandtschaft zu A, als c. Wird die Verbindung Ab ihrer-
seits Yon a zersetzt, so dass sich A a und b bildet, so ist die Ver-
wandtschaft von a zu A grosser, als die von b, und die drei Stoffe bilden
die Verwandtschaftsreihe a, b, c.
Indem nun die Werte der Anziehung zwischen A und a, b und c
Dait der Temperatur in verschiedeuem Masse sich andern, kann es ge-
schehen, dass ihre Reihenfolge sich umkehrt. Namentlich trifft dies ein,
wenn einer der Stoffe fliichtig ist; alsdann wird seine Verwandtschaft
mit steigender Temperatur immer geringer, wahrend sie bei nichtfliich-
tigen Stoffen als konstant angesehen werden kann. Die Warme muss
daher als eine zur Anziehung hinzutretende aussere Kraft betrachtet
werden, und es sind fiir jeden Stoff zwei Verwandtschaftsreihen auf-
zustelleu* von denen eine fiir den nassen Weg bei gewohnlicher
2H I- Geschichte der Yenrandtsclutftslehre.
Temperatur, die andere fur den trocknen Weg in der Schmelzhitze
giltig ist*).
Die gesetzmassigen ErscheiDungen der WahWerwandtscbaft werden
haufig durch scheinbare Ausnahmcn verdeckt. Bergmann unterscbeidet
mebrere Ai-ten von Anomalien. Die baufigsten sind die bei der dop-
pelten Wablverwandtscbaft auftretenden, wo die Stoffe sicb zuweilen
nicbt so ordnen, dass die mit den starkeren Verwandtscbaften begabten
sicb mit einander verbinden, wie die Tbeorie verlangt, sondern anders.
Der Autor sucbt einzelne Falle zu erklaren; es wiirde zu weit fuhren,
auf diese Erorteningen einzugeben.
Fernere Anomalien konnen entsteben, wenn einer der Stoffe wab-
rend der Reaktion sicb verandert. So greift arsenige Siinre die Nitrate
an, indem sie sicb wie ein „Scbwefel" verbalt, d. b. oxydiert wird. Findet
keine Ausscbeidung eines fasten oder gasformigen Stoffes statt, so bat
scbeinbar oft keine Vertreibung stattgefunden, weil man keine Ver-
anderung sieht. In solcben Fallen gewabren andere Kennzeicben, wie
Gerucb and Gescbmack baufig Auskunft. Dies sind die scbeinbaren
Ausnabmen durcb Loslicbkeit.
Zuweilen wirkt der binzugefugte Stoff nicbt austreibend auf einen
Bestandteil der binaren Verbindung, sondern vereinigt sicb mit dieser
zu einer dreifacb zusammengesetzten Verbindung, so z. B. Ammoniak,
Salzsaure und Quecksilber. Dies sind die Ausnabmen „ex copula trium
materium".
^) £ine andere Beobachtung liber die Ver&nderlichkeit der Verwandtschaft
mit den &u8seren Umst&nden wurde 1786 von John Elliot (Phil, trans. 1786, 155)
gemacht, welcher mittcilte, dass doppelte Zersetzungen gelegentlich in weingeistiger
Ldsung anders verlaufen, als in w&sseriger oder auf „trocknem Wege'*. So hatte
er beobachtet, dass Kalkseife durch kohlensaures Alkali nicht zerlegt wird, weder
in Wasser, noch durch Schmelzung; wird dagegen Alkohol als Ldsungsmittel an-
gewendet, so wird eine Alkaliseife und kohlensaurer Ealk gebildet. Ebenso ver-
h< sich Bleiseife gegen Kocbsalz; doch ist die Umsetzung immer sehr unvoll-
st&ndig. Auch 'Glaubersalz bewirkt eine (unvoUst&ndige) Umsetzung mit Bleiseife
in alkoholischer LOsung.
,,Professor Bergmann hat seine Tabellen in zwei Telle geschieden: die Affi-
nit&ten, wie sie auf dem n as sen und dem trocknen Wege stattfinden. Diese
Yersuche zeigen aber, dass die Affinit&ten auf dem nassen Wege in verschiedener
Art stattfinden, je nachdem man Wasser oder Alkohol anwendet. Yielleicht werden
&hnliche Unterschiede gefunden werden, wenn man andere Fltlssigkeiten benutzt,
und jede wUrde wahrscheinlich eine andere Tafcl liefern; denn es h&ngt viel von
der Anziehung ab, welche die Bestandteile selbst zu der angewandten FIflssigkeit
haben, wie ich oben zu zeigen versucht habe; dahor ist die FlQssigkeit als einer
der Bestandteile anzusehen/^
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Altere Geschichte der AffinitatsbestirihiMmgwv. j:,^-^ 29
Einc letzte Reihe von Ausnahmen entsteht endlich „ex determinata
alteratrias ingredientis abundantia*^ Man hat hier keine eigentliche Vor-
aasnahme der spater erkannten Massenwirkung zu suchen, soudern der
Paragraph enthalt die Erorterung der besonderen Verhaltnisse bei der
Bildang saurer Saize und dergleichen.
In eincm besonderen Abschnitt wird die Methode auseinander-
gesetzt, mittelst welcher die Reihenfolge der Affinitaten bestimmt wird.
Siod a, b, c, d, e verschiedene Stoffe, deren Anziehung zu einem Stoff A
man bestimmen will, so lost man die Verbindung A d in Wasser auf,
fiigt etwas von e hinzu und beobachtet den Erfolg^ der entweder sofort,
Oder erst nach Stunden, vielleicht erst beim freiwilligen Verdampfen zur
Trockne oder beim Zusatz von Weingeist eintritt. 1st ein Niederschlag
entstanden, so muss man ihn untersuchen, ob er wirklich die Verbindung
Aedarstellt Auch ist der Versuch mit grosseren Mengen von e zu wieder-
bolen. Besondere Massnahmen sind zu treffen, wenn e uuloslich ist.
In ahnlicher Weise ist das Verhalten der Verbindung Ad gegen
c, b und a zu erforscben, ferner das der Verbindungen A c, A b und A a
gegen die anderen Stofife. Enthalt die Reihe n Glieder, so sind n(n — 1)
Yersuche erforderlich, um die Reihenfolge zu ermittein; ferner ist mit
denselben Stoffen eine Anzahl entsprechender Versuche auf trocknem
Wege, in Tiegeln oder Retorten, auszufuhren.
Bergmann hat zwar die „Herculesarbeit** der von ihm auf 30000
berechneten Versuche zur vollstandigen Aufstellung der Affinitatstafeln
der beriicksichtigten 59 Stoffe nicht ausgefuhrt, aber immerhin ein sehr
reichliches Material zusammengetragen, welches cr in zahlreichen Tabellen
ubersichtlich niedergelegt hat In diese Einzelheiten einzugehen, ist
hier nicht der Ort.
An der Eritik der Verwandtschaftslehre, wie sie sich in Gestalt
der Yerwandtschaftstabellen darstellte, hat es indessen auch zu jener
Zeit nicht gefehlt. Gehler berichtet dariiber in der ersten Ausgabe seines
phjBikalischenWorterbuches^): „Daher hatte der Graf Yon.Buffon (Suppl.
a Iliist uat. I, Paris 1775) den Chymisten den Vorwurf gemacht, dass
sie ebensoriele besondere kleine Verwandtschaftsgesetzchen annahmen,
als es bei den Verbindungen und Trennungen der Korper besondere
Falle gebe; und Monnet (Traite de la dissolution des metaux, 1775)
batte das ganze System der Verwandtschaften ein schones Himgespinnst
geoannt, das mehr zum Vergniigen der chemischen Scholastiker, Schwatzer
vnd Tabellenmacher, als zur wahren Aufnahme der Wissenschaft diene
') Samael Traugott Gehlers physikalisches Wdrterbuch 4, 478. Leipzig 1791.
30 I- Geschichte der Verwandtschaftslehre.
— in welchem Tone auch schon Baron in seinen Noten zu Lemerys
Cours de chymie (Paris 1756) von don Verwandtschaften gesprochen
hatte. Macquer macht sich ein eigenes Gescbaft daraus, das Unanstan-
dige dieses Tones zu zeigen, und die Verwandtschaftslehre zu verteidigen.'^
Auf die gleichen Autoren beziehen sich aucb die erbitterten Ausserungen
von Morveau (a.a. 0. S. 75): „Ich darf es bier nicbt verheimlichen, dass
auch in der neuesten Zeit einige Chemiker, welche eine Reibe wohl-
geordneter Beobacbtungeh mit einem von der Einbildungskraft erzeugten
System verwecbseln, oder zu verwechsehi aflfektieren, sich des bitteren
Spottes uber die von ibnen so genannten Tabellendrechsler nicbt haben
enthalten konnen; aber dergleichen Bebauptungen verdienen in unserer
Geschichte nur Erwabnung, urn diejenigen, welche sich vielleicht in der
namlichen Yersuchung fiihlen, ihre Augen dem Lichte zu verschliessen,
auf die so wohlthatige Tugend der Bescheidenheit aufmerksam zu machen,
und es thut mir leid, dass der beriihmte Macquer solcbe Schriftsteller
seiner Aufmerksamkeit gewurdigt bat, welche gewiss sonst nicbts von
der ewigen Vergessenheit batten retten konnen, als eben seine Wiirdigung."
4. Zusatze. Die Bergmannschen Aufstellungen der einfachen und
doppelten Wahlverwandtscbaft wurden bald vermehrt ^). Von geringer Be-
deutung war die Hinzufiigung der vielfachen Wahlverwandtscbaft,
wichtig dagegen die Aufstellung der reciproken Wahlverwandt-
scbaft, welche Macquer 1778 einfiibrte. Sio findet statt, wenn bei
der doppelten Wahlverwandtscbaft geringe Verschiedenheiten der Um-
stande die Vorgange bald in einem, bald im entgegengesetzten Sinne
verlaufen lassen.
Affinitas producta liegt nach Gren (1794) vor, wenn ein Stoff A
zu einer Verbindung BC Verwandtschaft bat, obne solcbe zu den ge-
«
trennten Bestandteilen A oder B zu zeigen.
Endlich wurden Fourcroy und Vauquelin durch eine Reibe beobach-
teter Thatsachen zur Aufstellung eines eigentUmlich widerspruchsvoUen
Begrififs, der affinite disposante oder pradisponierenden Wahlver-
wandtscbaft gefUbrt. Sie ist wirksam, wenn ein chemischer Vorgang,
welcher zwischen vorhandenen StoflFen eintreten konnte, erst dann statt-
findet, wenn ein anderer Stoff hinzugefiigt wird, welcher zu einem der
moglichen Produkte Verwandtschaft hat. So erklarte man friiber die
Einwirkung der verdiinnten Schwefelsaure auf Zink. Das Zink kann bei
gewohnlicher Temperatur das Wasser nicbt zersetzen, um Zinkoxyd zu
bilden. Kommt aber Schwefelsaure dazu, welche zu dem (noch nicbt
^; Kopp, Gesch. d. Chemie II, 305.
Alt^re Geschichte der Affinit&tsbestimmungen. 31
Torhandenen) Zinkoxyd Verwandtschaft hat, so pradisponiert sie das Zink
zur WasserzersetzuDg, damit das entstehende Zinkoxyd die Verwandt-
schaft der Schwefelsaure befriedigen kaun.
5. Adhasion imd Affinitat. Einen allerdings erfolglos gebliebenen
Versuch, an die Stelle der blossen Reihenfolge in den Verwandtschafts-
tabellen bestimmte Zahlenwerte zu setzen, hat Guyton Morveau gemacht,
der fiir eine 1786 in Paris herausgegebene „EncycIopedie methodiquc
de chymie" einen Artikel iiber Adhasion und Affinitat*) ausarbeitete,
dessen Grundgedanke war, dass sich die Starke der chemischen Ver-
wandtschaft durch die Starke des Zusammenhanges zwischen den Stoffen
miisse messen lassen, welche diese Verwandtschaft zu einander haben.
Im dies auszufuhren, benatzte Morveau die sogcnannten Adhasions-
platten. Bereits 1713 hatto Brook Taylor bei Gelegenheit einiger Ver-
sucbe iiber das Aufsteigen von Wasser zwischen ebenen Platten Bestim-
mungen iiber das Gewicht gemacht, das zum Abreissen ebener Platten
Ton Fliissigkeiten erforderlich ist. Morveau Uberzeugte sich, dass nicht,
wie Lagrange behauptet hatte, der Druck der Luft die Ursache des Zu-
sammenhanges der Platte mit der Fliissigkeit war*), und fand gleich-
zeitig, dass je nach der Beschafifenheit der Fliissigkeit verschiedene Ge-
wichte dazu erforderlich waren. Dies geniigte, um die Oberzeugung in
ihni zu erwecken, dass er eine Methode zur Messung der chemischen
Verwandtschaft gefunden habe, „denn da die Kraft der Adhasion not-
wendig mit den Beriihrungspunkten im Verhaltnis stehen muss, und die
Menge der Beriihrungspunkte in der Adhasion eines fliissigen Eorpers
mit einem festen bei gleichen Oberflachen nur nach der verschiedenen
Gestalt') der Bestandteile verschieden sein kann, so fiihrt uns auch die
Abweichung in den Resultaten auf eine Ursache, welche mit der Ursache
der Verwandtschaften viel Ahnlichkeit hat, und unter diesen Umstanden
darch Gewicht oder Vergleichung zu bestimmen ware.
,4ch gestehe gern mit dem. beriihmten Kir wan, dass man diese
Methode zur Berechnung der Verwandtschaften nicht allgemein machen
bum; aber dieses Obel ist in der Natur der Sache gegriindet. Die
Methode selbst ist ohne Zweifel in alien den Fallen richtig, wo sie nur
anwendbar ist; sie fiihrt die Berechnungen auf einen sicheren, wenigstens
^) Deutsch in: Des Herrn Guyton Morveau . . . allgemeine und praktische
Gnindsatze der chemischen Affinit&t oder Wahlanziehung . . . herausgegeben von
Dr. S. F. Hermbst&dt, Berlin 1794.
**» Observations sur la Physique . . . de Rozier, I, 172. 1773.
') Man erkennt hier, in welchem Masse bereits die Hypothese Buffons (S. 9)
lis nnzwetfelhaftes Dogma angesehen wird.
32 I- Geschichte der Yerwandtschaftslehre.
einfachen Grund zuriick, und ihre Resultate miissen Lehrsatze unter-
stiitzen uDd berichtigen, welche man aus anderen Prinzipien gefolgert hat.
„Kurz, sie zeigt uns bis jetzt den vollstandigen Beweis von den
wichtigen Wahrheiten: dass Adhasion und Verwandtschaft von einer
und derselben Ursache abhangen, dass sie den namlichen Gesetzen unter-
worfen sind, und nur von oinander abweicheu, je nachdem durch die ver-
schiedene Figur der Korper, die einander anziehen, die Menge der
Beriihrungspunkte vermehrt oder vermindert wird."
£s ist nicht ohne Interesse, zu verfolgen, wie schnell in der vor-
stehenden Auseinandersetzung der Weg von der Vermutung einer Mog-
lichkeit bis zu der Behauptung der unzweifelhaften Richtigkeit des frag-
lichen Satzes zuriickgelegt wird. Morveau hat indessen (a. a. 0.) auch
den Versuch gemacht, seinen Satz experimentell zu begriinden^ indem
er gleich grosse Flatten von verschiedenem Material auf Quecksilber
schwimmen liess und das zum Abreissen erforderliche Gewicht be-
stimmte; er fand folgende Tabelle:
Gold
446 Gran
Silber
429 „
Zinn
418 „
Blei
397 „
Wismuth
372 „
Zink
204 „
Kupfer
142 „
SpiessglanzkOnig
126 „
Eisen
115 „
Kobalt
8 „
„Wenn man nun die Ursachen untersucht, worin diese betracht-
lichen Abweichungen begriindet sein mogen, so sieht man bald ein, dass
der Druck der Luft keinen Teil daran haben konnte, ¥reil er bei alleu
Yersuchen derselbe war. Auch die Glatte der Oberflachen tragt nichts
zur Yerstarkung der Anhangung bei . . . Die Abweichungen griindeu
sich endlich auch nicht auf verschiedene Dichtigkeit . . . Welcher Ord-
nung werden wir also diese Erscheinungen unterwerfen konnen? Die
Ordnung der Yerwandtschaften wird uns zur Regel dienen; d. h. im
gegenwartigen Falle die Stufenleiter der grosseren odor geringeren Auf-
loslichkeit der Metalle in Quecksilber. Das Gold amalgamiert sich am
schnellsten und behauptet auch den ersten Rang in der Adhasionstabelle;
Eisen und Kobalt sind in Quecksilber unaufloslich, und sind die letzten
in der Reihe.
„Aus diesor Uberoinstimmung, welche gewiss nicht ein Werk des
Zufalls ist, lassen sich Folgerungen herleiten, welche die Theorie der
Altere Geschichte der Affinit&tsbestimmungen. 33
chemiscfaen Erscheinimgen in ein grosses Licht setzen. Man sieht klar,
dass sie alle yon derjenigen allgemeinen Eigenschaft der Materle ab->
hangen, die wir Anziehung nennen; dass diese unveranderliche, immer
denselben Gesetzen unterworfene Eigenschaft nach den Entfemungen und
Naherungen, welche in der Mannigfaltigkeit der elementaren Formeu
ihreu Grand haben, verschiedene Wirkungen hervorbringt; dass bei der
Beriihrnng jeder Materie Adbasion stattfindet, dass die Adhasion die
erste Wirkung, oder besser, den ersten Augenblick der Verwandtschaft
ausmacht, dass die Verwandtschaft nichts anderes ist, als ein so hoher
Grad der Adhasion, dass er Tollige Auflosung der kleinsten einander
beriihrenden Teiie hervorznbringen vermag; mit einem Wort: dass man
die Verhaltnisse der Verwandtschaften durch die Verhaltnisse der Ad-
hasionen auszudriicken yermag."
Urn bei sich and seinen Lesern den Eindruck des Leichtsinnes in
den Scblassfolgerangen abzuschwachen, welchen die vorstehenden Dar-
legUDgen notwendig hinterlassen miissen, verfehlt Morveau nicht, zu be-
merken, dass noch sehr yiel geschehen miisse, urn die Theorie durch-
zufiihren. Es ist dies das bekannte Arsenal schlechter Hypothesen: zu-
erst die Versicherung, dass die aufgewiesenen Beziehungen „unmoglich
zufallige sein konnen", sodann der Wechsel auf die zuklinftig zu erhof-
fenden Ergebnisse der Theorie. In dieser letzten Beziehung lagen aller-
dings sehr mannigfaltige Versuche von Achard^) vor, welche ausdriick-
lich znm Zweck der Anwendung der Methode angestellt waren; indessen
laast eine weitlaufige Diskussion dieser Messnngen durch Morveau die
Sache schliesslich auf dem friiheren unbestimmten Standpunkte, und von
wirklichen Ergebnissen dieser Versuche in dem erwarteten Sinne ist
oicht die Rede.
Guyton Morveau hat indessen dennoch eine Zahlentabelle der che-
mischen Verwandtschaften aufgestellt« zu der er allerdings auf einem
ganz anderen Wege gelangt ist Von Elliot war 1782 ein Versuch ge-
nmcbt worden, bei der doppelten Zersetzung zweier Salze fiir die dabei
wirksamen Verwandtschaften Zahlen aufzustellen, welche die Bedingung
erfullen, dass ihre Summe fur die sich thatsachlich verbiudendon Stoffe
grosser wird, als fiir die sich trennenden. So setzt er die Kraft zwi-
schen Alkali und Schwefelsaure = 9, zwischen Silberkalk und Salpeter-
saore = 2, Salpetersaure und Alkali = 8, Schwefelsaure und Silberkalk
=4. Da 8 + 4>9 -|-2, so findet Zerlegung statt, und es bildet sich
salpetersaures Alkali und schwefelsaures Silber.
'; Chemisch-phyaiBche Schriften, S. 357. 1780.
OitwAld, Chemie n, 2. 3
34 I- Geschichte der Verwandtschaftslehre.
Nach dem gleichen Schema hat nun Morveau die folgende Tabelle
zusammengestellt (a. a. 0. S. 139), die nach ihm in der oben ange-
gebenen Weise die Zersetzungen yorausberechnen lasst.
Schwefel-
Salpeter-
Salz-
Essig*
Luft-
8&ure
8&ure
s&ure
saure
8&ure
Schwererde
66
62
36
28
14
Yegetab. Alkali
62
58
32
26
9
Mineralalkali
58
50
31
25
8
Kalk
54
44
21
19
12
Flacht Alkali
46
38
21
20
4
Bittererde
50
40
22
17
6
Alaonerde
50
36
18
15
2
Indessen erfiillen diese Zahlen doch nur ziemlich unvoUkommen
ihren Zweck; wie denn Morveau selbst sie mit den Worten begleitet:
„Nur vergesse man nicht, dass ich sie bloss fiir bypothetische, durch
Vergleich entstandene Bestimmungen ausgebe, welche ich mir zu ver-
andern und zu berichtigen vorbehalte, sobald ich dazu Golegenheit babe."
Diese Gelegenheit hat sich nicht gefunden; die ganze Idee der
Verwandtschaftstabellen iiberlebte das bier erreichte Eutwicklungsstadium
nicht lange, wcnn auch ihre Auslaufer sich nocb bis in die Spannungs-
reihe von Berzelius, ja bis in modeme thermochemische Ansicbten hinein
verfolgen lassen.
6. Versach einer Au&tellung von Verwandtsohaftsgesetzen. Um
ein Bild von dem damaligen Stande der Verwandtschaftslehre zu geben,
seien aus der Arbeit von Guyton Morveau die von ihm aufgestellten
Gesetze der Verwandtschaft mitgeteilt, von denen er freilich selbst
bemerkt, dass nur die wenigsten den Namen der Gesetze im strengsten
Sinne verdienen. Diese sechs Gesetze lauten:
I) Corpora non agunt, nisi fluida. Es giebt keine che-
mische Vereinigung, wenn nicht einer der Korper so fliissig
ist, dass seine kleinstcn Teilchen sich der Verwandtschaft
unterwerfen, welche sie von der Nahe zur Beriihrung bringt.
II) Die Verwandtschaft findet nur zwischen den kleinsten
integrierenden Teilchen der Korper statt. Hierzu wird bemerkt:
Dieses Gesetz gehort zu den allgemein angenommenen, und erfordert
keine weitere Erklarung.
III) Aus der Verwandtschaft eines Stoffes mit einem an-
deren darf man nicht auf die Verwandtschaft schliessen,
welche eine aus beiden Substanzen mit einem Obermasse der
einen zusammengesetzte Masse aussert. Die Bemerkung dient
dazu, um den Einwendungen zu begegnen, die auf Grund der Er«
Altere Geschichte der Affinitfttsbestimmungen. 35
scheioaiigen der Massenwirkung gemacht werden konnen. Letztere
waren damals nicht mehr unbekannt, wenn auch ihre gesetzmassige Er-
^Eissnng erst spater angebahnt wurde; schon Bergmann hatte eiuiger-
massen aof die bier vorkommenden „Ausnahmen*^ hingewiesen (S. 29).
IV) Die Verwandtschaft der Verbindung wirkt nur, inso-
fern sie die Verwandtschaft der Kobasion iiberwiegt.
V) Zwei Oder mebrere Korper, welche sich durch die Ver-
wandtschaft der Zusammensetzung mit einander verbinden^
bilden ein Ganzes, welches neue Eigenschaften besitzt, die
Ton den Eigenschaften, welche einem jeden dieser Korper
vor der Verbindung zukamen, vollig verschieden sind. An
diesen Satz fiigt Guy ton Morveau eine lange Auseinandersetzung, in
welcher er geschichtlich die Wandelung der Ansichten iiber diesen Gegen-
stand darlegt (vgl. S. 3). Noch Stahl war der Ansicht gewesen, dass
die Eigenschaften der Bestandteile in der Verbindung Yorhanden sein
miisseD, und umgekehrt aus den Eigenschaften der letzteren auf die
entbaltenen Bestandteile zu schliessen ist. Auch Macquer hat sich
prinzipiell zu der gleichen Meinung gehalten; er hat aber gleichzeitig
mit Nachdruck auf die haufig sehr starke Veranderung hingewiesen,
welche die Eigenschaften der Bestandteile in der Verbindung erfahren.
Bergmann hat den ersten Satz bereits im wesentlichen aufgegeben und
legt mehr Gewicht auf das Auftreten neuer, als die Erhaltung der alten
Eigenschaft; Morveau fuhrt eine ganze Reihe von Beispielen an, welche
den letzteren Umstand beweisen.
Vom Standpunkte der Atomistik, der jene Forscher alio anhingen,
wird man die Erhaltung der Eigenschaften in der Verbindung fiir
das Naturgemassere halten miissen. Denn schliesslich sind die Ele-
mente doch nur durch ihre Eigenschaften gekennzeichnet und von
einander unterschieden; nimmt man also an, dass in den Verbindungen
die Elements noch enthalten seien, so muss man auch ihre Eigen-
sdiafteu als erhalten voraussetzen. Durch eine lange Gewohnung an
den Widerspruch, den hier die Erfahrung gegen diese Voraussetzung
>eigt, ist das Bedenken, das in dieser Thatsache gegen die Atom-
I^Tpothese selbst liegt, so vollig aus dem Bewusstsein der Ghemiker
heraosgetreten, dass es im Gegenteil einige Muhe kostet, das Vorhanden-
%in eines Widerspruchs hier Uberhaupt zum Bewusstsein zu bringen.
Anch Horveau geht nicht darauf ein, zu erklaren, wie vom Standpunkte
der Atomistik ein solches Verhalten uberhaupt denkbar ist, sondern legt
das Gewicht ausschliesslich auf die Hervorhebung der Thatsache. Diese
Hinweise werden bis auf den houtigen Tag in den Einleitungen der
3*'
36 ' I- Geschichte der Verwandtschaftslehre.
chemischen Lehrbiicher wiederholt, auf den vorhandenen Widerspruch
gegen die meist gleichzeitig vorgetragene Atomhypothese wird dabei
niemals Kiicksicht genommen.
VI) Die Verwandtschaften erfordern einen gewissen Zu-
stand der Temperatur, welchc ihre Einwirkung langsamer
Oder schneller macht, vernichtet oder verstarkt. Dieser Satz
ist der Ausspruch der zuerst von T. Bergmann wissenschaftlich be-
rucksichtigten Veranderlichkeit der chemischen Vorgange mit der Tem-
peratur.
7. Die Massenwirkung. In der Entwicklung der Wissenschaft sind
entscheidende Fortschritte nicht allein dadurch bedingt, dass neue That-
sachen aufgefunden und neue Ideen ausgesprochen werden, sondern nicht
minder haufig dadurch, dass Annahmen, welche stillschweigend gemacht
wurden und als selbstverstandlich galten, in Frage gezogen werden^
Die alten Anschauungen liber die Natur und Wirkungsart der chemischen
Verwandtschaft batten in T. Bergmann ihre mustergiltige Darstellung
und Vollendung gefunden. Die Affinitatslehre schien abgeschlossen: da
wurde ihre ausdriicklich ausgesprochene und stets als zweifellos fest-
gehaltene Grundlage erschuttert und als unhaltbar erwiesen. Der neue
Gedanke, welcher die alteren Ansichten liber den Haufen warf, ist die
Erkenntnis von dem Einfluss der Men go auf das Ergebnis eines chemi-
schen Vorganges. Zuerst wurde dieser Gedanke von Wenzel ausge-
sprochen, ohne dass sein revolutionarer Charakter eingesehen worden
ware; obwohl dieser Forscher sogar das Grundgesetz der Massenwirkung
eingesehen hatte, unterliess er ganzlich, die entsprechenden Schliisse zu
Ziehen. Dieser weitere wesentliche Schritt wurde etwas spater durch
Claude Louis BerthoUet gethan.
8. Wenzels ^Lehre von der Verwandtschaft der Kdrper^S Im
Jahre 1777 erschien von dem friihereD Buchbindergesellen und spateren
sachsischen Staatschemiker Karl Friedrich Wenzel ein Work, Lehre
von der chemischen Verwandtschaft der Korper, in welchem
ein erster Ausspruch richtiger Gesetze der chemischen Verwandtschaft
enthalten ist. Dieses Werk war durch ein Versehen von Berzelius zu
einem Ruhme gekommen, der ihm nicht gebiihrt (I, 12): als Entdecker
der stochiometrischen Grundgesetze hatte er an Richters Stelle Wenzel
und als Quelle daflir das Werk genannt, von dem bier die Rede ist.
Zum Entgelt dafur ist es erst der neuesten Zeit vorbehalten geblieben,
ein wirkliches und erhebliches Verdienst Wenzels zu erkennen: wir
miissen ihn als den ersten Entdecker des Massenwirkungsgesetzes
bezeichnen.
Altere Geschichte der Affinit&tsbestimmungen. 37
Wenzels Buch*) beginnt mit einer Darlegung der allgemeinen Ge-
setze und Ursachen der chemischeu Verwandtschaft. Als hypothetische
Orsache der Verschiedenheiten, welche sich beziiglich dieser Eigenschaft
zeigen, nimmt er im Anschluss an Buffoii (S. 9) die verschiedeue Ge-
stalt der Korperteilcheu an, ohne indessen zu versucfaen, in bestimmten
Fallen diese Gestalt genauer zu ermitteln. Vielmehr gelangt er zu
seinem Schlusse durch eine Art Eliminationsverfahren: er betont, dass
keine andere Art der Vcrschiedenheit der Teilchen angebbar sei, als
die der Gestalt, um die thatsachlich vorhandene Mannigfaltigkeit dar-
zostellen. Die dieser Oberlegung zu Grunde liegende Voraussetzung,
dass die Ursache der Verschiedenheiten ausschliesslich auf mechanischem
Gebiete gesucht werden miisse, erscheint ihm ofifenbar so selbstverstand-
lich, dass er ihre Zulassigkeit gar nicht erst zu eroilem Anlass nimmt.
Um nun, nachdem er in fur ihn geniigender Weise die „Ursache"
der verschiedenen Verwandtschaftsgrade festgestellt hat, ihre Gesetze
zn ermitteln^ stellt Wenzel folgende Uberlegung an*): „Stollen wir uns
eine Anzabl Eorper, die sich alle mit eiuem gemeinsamen Auflosuugs-
mittel zu verbinden fahig sind, nach der Ordnung, wie ihre Verwandt-
schaft zu- oder abnimmt, vor, so erblicken wir z. B. bei den alk^^ischen
Salzen, Erden und Metallen mit der Salpetersaure folgende Reihe. Die
Salpetersaure aussert eine grosso Verwandtschaft zur Schwererde, eine
geriogere zum Gewachsalkali und Mineralalkali, eine noch geringere mit
der Kalkerde, dem Ammoniak, der Talkerde, den Metallen u. s. w. Dieses
lehrt die Erfahrung, aber man befindet sich in keiner geringen Ver-
legenheit, wenn man, ohne vorher die Ursache der Verbindung iiber-
haupt recht einzusehen, den Grund von dieser Ordnung angeben soil;
denn man mag jene Reihe betrachten, wie man will, so sieht man, dass
sich die Verwandtschaft weder nach dem Verhaltnis der Dichtigkeit der
Korper untereiuander selbst, noch nach ihrer iibereinstimmenden Dich-
tigkeit mit dem Auflosnngsmittel, noch nach der Menge, in welcher ein
jeder, wie in der Folge soil gezeigt werden, aufgelost wird, noch nach
ihrer Harte oder dergleichen richtet, weil in jedem dieser Falle ganz
anders geordnete Reihen zum Vorschein kommen, davon keine mit der
Erfahruug iibereinstimmt.
„Wir haben aber schon bemerkt, dass sich eine jede Verbindung
der Korper, wegen der Figur ihrer Teilchen, auf statische Gesetze
^) Die obenstehenden Angaben beziehen sich auf die dritte (wortgetreue)
^osgabe des Buches, welcho durch D. H. Grindel, Apotheker zu Riga, besorgt
^nrde (Dresden, 1800).
*) § 25, S. 27, a. a. 0.
L
88 I- Geschichte der Verwandtschaftslehre.
griindet, und da ist erwiesen^ dass die Bewegung einer Last urn so
langsamcr erfolgt, je geringer die Kraft im Vergleich mit der Last
wird. Wenden wir nun diesen Satz auf gegenwartigen Vorfall an, so
konnen wir uns eine Anzahl Korper als verschiedene Lasten, und ihr
gemeinschaftliches Auflosungsmittel als eine Kraft vorstellen, die auf die
eine gesch winder oder langsamer, als auf die andere wirkt. Es folget da-
her, dass je schneller das gemeinschaftliche Auflosungsmittel mit einem
Korper sich vereinige, desto grosser muss auch,der Grad der Verbindung
seiu, und daraus entspringt dieses Gesetz: Die Verwandtschaft der Korper
mit einem gemeinschaftlichen Auflosungsmittel ist umgekehrt, wie die
Zeiten der Auflosung.
„Da8S sich dieser Satz sehr wohl mit der Erfahrung vertragt, er-
hellt daraus: man lasst sich von dem reinsten Silber, Kupfer, Blei und
deneu iibrigen Metalleu kleino Cylinder drehen, die ganz genau gleicbe
Hohen und Grundflachen haben, und uberzieht sie alle mit einem ge-
schmolzenen Bernstein, oder anderen festen Lack so, dass von jedem
nur die eine Flache frei bleibt, worauf das gemeinschaftliche Auflosungs-
mittel wirken kann. Von dicsem Auflosungsmittel wagt man soviel
gleiche Teile ab, als man Cylinder hat, und setzet alle diese kleinen
Gefasse in ein grosses, das mit Wasser angefiillt ist, damit alle in
einerlei Grad der Warme bestandig erhalten werden konnen. Man legt
darauf die Cylinder in die kleinen Gefasse, und setzt sie alle eine be-
liebige Zeit, jedoch keinen langer, als den anderen, der Wirkung des
Auflosuugsmittels aus, welches man nach einer guten Uhr wohl be-
merken muss. Es kommt hier nicht darauf an, ob sich viel oder wenig
von den Cylindern auflose, sondern man hat nur Sorge zu tragen, dass
das Auflosungsmittel gleich stark ist, und bei gleichem Grad der Warme
in gleicheu Zeiten auf gleiche Flachen wirkt. Wenn dieses so genau
als moglich ist beobachtet worden, und man wagt die nach der Auf-
losung iibrig gebliebenen und von Uberzuge befreiten Reste der Cylinder,
so kann man nicht nur durch Rechnung finden, wie lange die ganze
Auflosung eines Cylinders unter den gedachten Bedingungen gedauert
hatte, wenn zugleich von dem Auflosungsmittel nur gerade so viel, als
zur giinzlichen Auflosung eines jeden dieser Metalle erfordert wird, ware
angewcndet worden, sondern man sieht daraus auch offenbar, dass sich
die Verwandtschaft der Korper mit dem Auflosungsmittel genau nach
den Zeiten der Auflosung ricbtet.
„Es ist hierbei aber noch zu erinnern, dass man zugleich bei dieser
Untersuchung auf die Bedingungen zu sehen hat, unter welchen ein
jcdes Metall aufgelost wird; denn wenn man z. B. einen Cylinder von
Altere Geschichte der Affinit&tsbestimmungen. 39
Blei mit einem yon Zink, Silber, Wismuth u. s. w. in eiue starke Sal-
petereaure zugleich legen wollte, so wiirde sich zwar ein Toil vou diesen,
nicbts aber von jenem auf losen, well nur eine sehr schwache Salpeter-
^ure zar Auflosung des Bleis erfordert wird. Daher ist es notig^ dass
man den znm Blei bestimmten Anteil dieser Saure nach Befinden mit
Tier Oder sechs Teilen Wasser verdunnen, aber auch diesem Metall
dafur gerade um so viel langer Zeit lassen muss. Denn wenn eine
Siuire in einer Stunde eine Drachme von Zink oder Kupfer auflost, so
brancht eine halb so starke Saure zwei Stunden dazu, wenn namlich
die Flachen und die Warme in alien diesen Fallen gleich bleiben/'
An diese Auseinandersetzungen schliesst Wenzel die Erorterung ge-
wisser Widerspriiche, welche sicb gegen seine Ansichten daraus ergeben,
dass in manchen Fallen zwischen denselben Stoffen die Verwandtschaften
im entgegengesetzten Sinne wirken. So treibt z. B. Schwefelsaure die
Salpetersaure aus dem Salpeter beim Destillieren aus; giesst man aber
Salpetersaure auf „yitriolisierten Weinstein'* (Kaliumsulfat), so krystal-
lisiert nach einiger Zeit Salpeter aus, „yon welcbem sich die Vitriol-
saore, wenn man sich einige Miihe geben will, fa^jb ganz rein wieder
absondert**. Zur Erklarung solcher Ausnahmen weist Wenzel auf die
Mitwirkung des „Feuers'* bin, dessen Verwandtschaft sich als Zusatz-
glied zu den andercn Verwandtschaftswerten geltend mache. Man wiirde
irreu, wenn man hier eine Yorausnahme des spater von Berthollet ent-
wickelten Gesichtspunktes vermuten wollte, dem zufolge die durch die
Warme bewirkte Anderung des Aggregatzustandes im Sinne einer Ent-
femung eines der Stoffe aus dem Reaktionsgebiete wirksam ist. Wenzel
betrachtet vielmehr das Feuer wie eine Materie, die ahnlichen Yer-
vaudtschaftsgesetzen unterlicgt, wie die wagbaren Stoffe. Es ist dies
eine AufFassung, die um jene Zeit allgemein verbreitet war, und ins-
besondere in Lavoisier einen eifrigen Vertreter gefunden hatte.
Der iibrige Teil von Wenzels Buch ist mit Bestimmungen der Ge-
wichtsverhaltnisse^ in welcben die verschiedenen Sauren sich mit den
Basen zu Salzen vereinigen, angefullt.
In den vorstehenden Darlegungen Wenzels ist der Ausspruch zweier
wichtigen Gesetze enthalten. Zuerst ist der Gedanke, die^Grossc der
cbemiscben Verwandtschaft aus der Geschwindigkeit entsprechender Yor-
gange unter iibereinstimmenden Bedingungen zu erschliesseii, voUkommen
sachgemass und hat in unserer Zeit nicht nur seine Bestatigung, sondern
auch vielfaltige praktische Anwendung gefunden. Ferner aber ist in den
^tangefiihrten Worten ein uuzweideutiger Ausspruch des Gesetzes der
chemischen Massenwirkung enthalten. Der Satz» dass die Starke
40 I- Oeschichte der Verwandtschaftslehre.
der chemischen Wirkung proportional der Konzentration des
wirkenden Stoffes ist, darf als das allgemeinste Gesetz der chemi-
schen Verwandtschaft bezeichnet werden, und Wenzel als der Entdecker
desselben.
Allerdings darf nicht verschwiegeu werden, dass Wenzel iiber die
experimentelle Ausfuhrung seines Planes keinerlei Nachncht giebt, so
dass es zweifelhaft erscheint, ob er wirklich Versuche iiber den Gegen-
stand angestellt hat. Andererseits geht er so weit aaf die zu beachtenden
Einzelheiten ein, dass es doch den Eindruck macht, als hatte er sich
praktisch mit der Sache beschaftigt, und sei nur nicht zu so iibereinstim-
menden Ergebnissen gekommen, dass er sie hatte veroffentlichen mogen.
Ein Wort verdient noch der Weg, auf welchem Wenzel zu der
von ihm angegebenen Methode gelangt ist. Wie aus den Satzen auf
S. 37 crsichtlich, ist es die mechanische Analogic, welche ihn zu der
Veimutung gefiihrt hat, dass die chemischen Geschwindigkeiten ebeuso
ein chemisches Kraftmass abgeben, wie die mechanischen Geschwindig-
keiten ein mechanisches Kraftmass. In diesem Falle hat sich die Ana-
logic als richtig einwiesen, doch hat sich gerade in diesem Gebiete
spater herausgestellt, dass eine Weiterfuhrung der Analogic (z. B. auf Be-
schleunigungen) zu ganz falschen und unbrauchbaren Ergebnissen fiihrt.
Diese Erscheinung, dass eine falsche Theorio lichtige Resultate giebt, be-
gegnet dem Geschichtsforscher in der Wissenschaft sehr oft. Sie riihrt
daher, dass fur die Aufstellung solcher Analogien meist wirkliche t)ber-
oinstimmungen gewisser Seiten der verglichenen Verhaltnisse don Anlass
gegcben haben. Wird nun die Analogic fortgefiihrt^ so ist immer eine
gewisse Wahrscheinlichkeit dafiir Yorhandcn, dass auch an den neuen
Punkten die Ubereinstimmung besteht^ und dann ist das entsprechende
Ergebnis richtig. Friihcr oder spater kommt allerdings unfehlbar eine
Stellc, wo die Ubereinstimmung authoren muss, und dann fiihrt die Ana-
logic in die Irre. Dass dieses letztere Ereignis mit Notwendigkeit ein-
treten muss, lasst sich mit Sicherheit sagen; leider besteht aber kein Au-
halt dafiir, wann und an welcher Stelle es eintreten wird, und die
Ermittelung dieser Stelle verbraucht haufig viel mehr wissenschaftliche
Energie, als vorher durch die Benutzung der Analogic erspart war,
Somit erscheint die Anwendung solcher Analogien wissenschaftlich nur
fiir die Zwecke der Forschung, als Fiihrer zu neuen experimentellen
Fragen, nicht aber zu Zwecken der Systematik oder der Lehre ge-
rechtfertigt.
9. Claude LouIb BerthoUet. Wahrend Wenzel zwar das Prinzip der
Massen wirkung richtig ausgesprochen, es aber nicht weiter zur Er-
Altere Geschichte der Affinit&tsbestimmangeo. 41
klaning chemischer Vorgange oder zur Kritik der iiblichen Ansichten
fiber die Wirkuiigsweise der chemischen Verwandtschaft benutzt hat,
sind diese beiden wesentlichen Schritte zur wissenscbaftlichen Ver-
wertaug des Grundgedankens in fiir jene Zeit sehr hervorragender Weise
dorch C. L. BerthoUet getban worden. Berthollet bat wabrseheinlich
den Gedanken unabbangig von Wenzel erfasst; ausgestaltet batte er ibn,
als er nacb einer ziemlich ausgedebnten praktiscben und wissenscbaft-
lichen Tbatigkeit Napoleon bei seinem abenteuerlichen Zuge nacb
Egypten begleitet batte, und bei seinem Aufentbalte in Eairo, wo er
wegen der Gefabr durcb feindliche Araber nicbt vor die Tbore geben
konnte, Musse fiir wissenscbaftlicbe Dberlegungen fand. Seine erste Ab-
handlang fiber die cbemiscbe Verwandtscbaft, die seine neuen Gedanken
bereits Yollstandig entbalt, bat er zuerst dem „egyptiscben Institut" im
Juli 1799 vorgelegt, das von den Napoleon begleitenden Gelebrten ge-
bildet worden war^).
Nacb eincr Darlegung der Ansicbten Yon Bergmann als der ent-
wickeltsten, sagt BertboUet: „Befgnianns ganze Vorstellungsart beruht
anf der Voraussetzung, dass die Wablverwandtscbaft eine unverander-
liche Kraft von solcher Bescbaffenheit sei, dass ein Stoff, der einen
anderen aus einer Verbindung abgescbieden hat, nicht wieder selbst
dorch den verdrangten Stoff abgescbieden werden konne. . . Icb babe
mir Torgenommen, in dieser Abbandlung zu beweisen, dass die Wahl*
Terwandtscbaften nicbt als absolute Krafte wirken, vermittelst deren
ein Stoff geradezu aus seiner Verbindung verdrangt werden konnte;
sondem dass in alien Zusammensetzungen und Zersetzungen, welcbe eine
WirkuDg der Wablverwandtscbaft sind, sich die Basis der Verbindung,
d. h. der Stoff, auf welchen zwei andere Stoffe mit entgegengesetzten
Kraften wirken, zwischen diesen beiden Stoffen teilt, und dass das Ver-
kaltnis der Teilung nicht bloss von der inneren Starke der Verwandt-
scfaaften, sondern auch von der vorbandenen Menge der wirkenden Stoffe
abbftDgig ist, so dass zur Hervorbringung gleicber Grade der Sattigung
die Menge ersetzen kann, was der Verwandtschaft an innerer Kraft
ahgeht
'; Die AbhandluDg ist in dem Bd. Ill der Memoiren des ,,Nationaliiistituts''
■od in dnem besonderen Abdruck (Paris, an IX) erschienen; auch findet sich ein
iOOToUiUndiger) Abdruck in den B&nden 86, 37 und 88 der Annales de chimie.
Ia dentscher Sprache wurde diese Abhandlung nebst zwei kleineren aber &hnliche
6««en8t4nde 1802 durch E. G. Fischer (Berlin bei G. C. Nauck) herausgegeben
^ darch aosfahrliche , recht gute Anmerkungen dem Yerst&ndnisse der Leser
>^ gebracht. Leicht zug&nglich ist sie gegenw^rtig als Bd. 74 der ,,Klassiker
^ exakten Wissenschaften", Leipzig 1896.
42 I* Gescfaichte der Verwandtschaftslehre.
„Wenn ich behaupte, dass die Kraft der Verwandtschaft durch die
Menge ersetzt warden kann, so folgt daraus, dass die Wirksamkeit eiaes
Stoffes nach der Menge geschatzt werden muss, die crfordorlich ist, um
einen bestimmten Grad der Sattigung hervorzubringen. Ich nenne diese
Menge die chemische Masse eines Stoffes and sehe sie als ein Mass der
Sattigungskapazitat an/'
Um diesen Satz durch unmittelbare Yersuche zu beweisen, teilt
BerthoUet eine Reihe yon Erfahrungen mit. So wird schwefelsaurer
Baryt durch Einkochen mit konzentrierter Kalilosung teilweise zersetzt,
da der mit Alkohol zur Entfeniung des Kalis ausgezogene Riickstand
stark aJkalisch (von Baryt) reagiert und beim Ausziehen mit Wasser
schwefelsaurcs Kali crkeuuen lasst Ebenso konnte schwefelsaures Kali
(zum kleinen Teil) durch Kalk, oxalsaurer Kalk durch Kali oder durch
Salpetersaure, phosphorsaurer Kalk durch Kali u. s. w. zerlegt werden,
was alles im Widerspruche mit der altcren Ansicht steht. „Wenn man
den zersetzenden Stoff nur in geringer Menge anwendet, so erfolgt keine
merkliche Wirkung. Wenn ich aber schwefolsauren Baryt wiederholt
mit neuen Mengen Kali behandelte, und jedesmal vorher den abgeschie-
denen Baryt und das gesattigte Kali durch Auslaugen hinwegschaff^te,
so kam ich bald dahin, die Zersetzung beinahe voUstandig zu machen.
Die Wirkung ist also desto grosser, je grosser die Menge des Stoffes ist,
den man zur Zersetzung anwendet.*' Auch an einer Reihe praktischer
Erfahrungen der Technik zeigt BerthoUet die AUgemeingiltigkeit des Ge-
setzes Yon der Beziehung zwischen Menge und chemischer Wirkung.
Dieser einfache Grundsatz erleidet indessen bestimmte Einschraii-
kungen, welche durch den Aggregatzustand der Stoffe gegeben sind.
,,W^enn Stoffe, die auf einander wirken, ihre ganze Kraft aussern sollen,
so ist notig, dass alle Teile das ihrige zur allgemeinen Wirkung bei-
tragen. Sie miissen sich daher im Zustande der Fliissigkeit befindcn.
Deim wenn alsdann auch nicht alle Teile glcichzeitig wirken soUten,
so konnen doch die Teile, die am meisten, und die am wenigsten ge-
wirkt haben, leicht in den Zustand einer gloichformigen Sattigung ge-
langen, besondors wenn man Warme und Schiitteln zu Hilfe nimmt.
Wofern sich kein Niederschlag bildet, gelangt die ganze Mischung bald
zu einem ganz gleichformigen Zustande ....
„Wenn derjenige Stoff, durch den man auf eine Verbindung wirken
will, unloslich ist, so ist klar, dass nur ein geringer Teil davon wirken
kann. Denn nur die beriihrten Oberflachen sind es, die wirken konnen,
und sie konnen nur auf die Teile der Fliissigkeit wirken, die sich in
ihrem W^irkungsraume befinden. . . • Hat der Stoff . . . einige Auflos^-
Altere Geschichte der Affinit&tBbestimmuDgen. 43
barkeit, so hangt seine Wirksamkeit teils Yon den aufgelosten, teils von
den festen Teilen ab. Hieraus folgt aber, dass er nicht im Verhaltnis
der ganzen angewendeteu Mouge wirkt/' £s wird nun weiter auseinander-
gesetzt, wie sich demgemass die Falle gestalten, wenn ein unloslicher
Korper durch den Vorgang in losliche, oder umgekehrt, wenn losliche
io unloslicbe Korper iibergehen. „Darau8 folgt, dass wenn ein fliissiger
Stoff auf einen festen wirkt, oder wenn sich bei der Operation ein Nieder-
schlag bildet, die Wirksamkeit der Fliissigkeit oder ihre cbemische
Masse nicht darch ihre Gewichtsmenge, sondern durch den Grad
ihrer Konzentration bestimmt wird. Die Grenze der Konzentration
&idet sich da, wo die Fliissigkeit nicht weiter wirken kann, weil der
Widerstand der entgegenwirkenden Kraft gross genug geworden ist, um
ihr nichts mehr von der Basis der Verbindung abzutreten/^
Ausser der Unloslichkeit nimmt BerthoUet noch die „Kohasions-
kiaft" des festen Korpers in Anspruch, „welche seine Teilchen zusammen-
halt", und er legt Gewicht darauf, die beiden Dinge zu unterscheiden.
Worin der Unterschied eigentlich besteht, tritt aus den Darlegungen
keineswegs klar hervor, und wir konnen Yon einem Eingehen darauf
absehen.
Neben den Einfliissen des festen Zustandes auf das Gleichgewicht
siiid Ton BerthoUet noch die des gasformigen in Betracht gezogen
worden, die in ahnlicher Weise abandernd in das unmittelbare Ergebnis der
Wirkung der Verwaudtschaft eingreifen. „Wenn ein Stoff im Augenblicke
seiner Abscheidung aus einer Verbindung in den elastischen Zustand
iibergeht, so tragt der ganze^ in Gasgestalt entwicheue Teil nichts mehr
zam Widerstande bei, und dieser Teil wirkt nicht mehr durch seine
chemische Masse. Der entgegengesetzte Stoff kann dann eine Yollstan-
dige Zersetzung bewirken, und man wird keine grossere Menge davon
anzawenden brauchen, als gerade unmittelbar zu der Verbindung, in
welche er gebracht worden soil, notig ist, oder man wird wcnigstens
nor einen geringen Uberschuss anzuwenden haben/' BerthoUet zeigt,
vie sich hierdurch verstehen lasst, warum konzentrierte Schwefelsaure
stts Kochsaiz alsbald Salzsaure entwickelt, wahrend verdiinnte ohne merk-
liche Wirkung ist. „Man muss daher, wenn ein Stoff im gasformigen
Zostande ist, seine Elastizitat als eine Kraft ansehen, welche den Ver-
vandtschaften fliissiger Stoffe entgegen wirkt/'
Aof die gleichen Verhaltnisse wird der Einfluss der Temperatur
zorackgeftihrt. Es werden zwei FaUe unterschieden: wo .der Einfluss
der Erwarmung auf alle betciligten Stoffe annahernd gleich gross ist,
^iinstigt die Warme die gegeuseitige Einwirkung, indem sie die Koha-
44 I- Oeschichte der Verwandtschaftslehre.
sionskraft vermindert. „Wenn aber von zwei auf einander wirkenden
Stoffen der eine durch die Warme viel starker ausgedchnt wird, als der
andere» so muss man die Elastizitat, die er erlangt, als eine Kraft an-
sehen, welche der Verwandtschaft entgegenwirkt, die ihn an den anderen
Stoff zu binden strebt. Diese Kraft kann so stark sein, dass sie allein
hinreicht, eine bestehende Verbindang zu zerstoren.'* Als Beispiel wird
sachgemass die Zersetzung des Calciumcarbonats in der Hitze angefiihrt.
„Es ist eine Folge von dieser Wirkung des Warmestoffes, dass aJle
feuerbestandigen Sauren die fliichtigen aus ihren Verbindungen bei hin-
langlich erhobter Temperatur austreiben . . . Wenn daher ein Stoff einea
anderen durch die Hilfe der Warme aus seiner Verbindung vertreibt,
darf man nicbt schliesseu, dass er auch bei gewohnlicher Temperatur
eine starkere Verwandtschaft babe, sondem man hat den bei der er-
hohten Temperatur ausgeschiedenen Stoff nnr in die Lage versetzt, in
welcher sich ein Stoff bei gewohnlicher Temperatur befinden wiirde, der
bier die gleiche Elastizitat besasse."
Als eine weitere Ursache, welche Trennungen hervorbringen kann,
die den gewohnlichen Verwandtschaftserscheinungen nicht entsprechen,
behandelt Berthollet die Eff lorescenz. Er war hierzu durch die
Vorgange an den egyptischen Natronscen geflihrt worden, wo durch die
Wechselwirkung zwischen dem Galciumcarbonat des Bodens und vor-
handenem Kochsalz unter Beihilfe der Luftkohlensaure sich Natrium-
sesquicarbonat als Ausbliihung abscheidet. Da es sich bier auch nur um
die Storung des Gleichgewichts dur^k Festwerden eines Bestandteiles
handelt, so braucht hierauf nicht weiter eingegaugen zu werden.
Die Wirkung der Auflosungsmittel sieht Berthollet in der Besei-
tigung der Kohasion bei den loslichen Stoffen, wodurch deren Verwandt-
schaft sich unbehindert bethatigen kann. Dabei macht er aufmerksam,
dass man die chemische Wirkung des Losungsmittels nicht vernach-
lassigen darf: „Man muss also die Wirkung des Losungsmittels als eine
fremde Kraft betrachten, die maji in die Wirkung von zwei oder mehreren
Stoffen eiumischt. Sie muss die Wirksamkeit der Stoffe durch Uber-
waltigung des Widerstandes der Kohasionskraft oder Elastizitat und
durch Vervielfaltigung der Beriihrung mehr befordem, als sie diese
durch ihre eigentiimliche Wirkung schwacht." Im Falle, dass kein Nieder-
schlag entstcht, betrachtct Berthollet die Gcsamt wirkung des Losungs-
mittels als Null, weil die einzelnen Wirkungen sich nahe oder ganz auf-
heben. Bei Nicderschliigen muss die mit der Ausscheidung verbundeno
Veranderung zwischen Losungsmittel und Gelostom nach Massgabe des
Massenwirkuugsgcsetzes in Betracht gezogen werden. Auch kann, wenn
Altere Geschichte der Affinit&tsbestimmungen. 45
ein loslicher und ein sehr unloslicher Bestandteil in einem Niedcrschlage
ferbunden sind, durch das Wasser eine Trennung beider bewerkstelligt
werden. Als Beispiel wird das Quecksilbersulfat angefiilirt, welches durch
Wasser in einen sauren und einen basiscben Bestandteil gespalten wird.
Auch bemerkt Berthollet ganz richtig, dass eine vollstandige Trennung
der bciden, eben wegen der Gesetze der Massenwirkung, dabei nicbt
stattfindety sondern die in Losung gehende Schwefelsaure Quecksilber,
ond der Niederschlag Schwefelsaure enthalt, nur in entsprechend ver-
schobenen Verhaltnissen.
Ebenso sachgemass findet sich die begrenzte gegenseitige Auflosung
zweier Fliissigkeiten geschildert, z. B. Ather und Wasser. „Das Wasser
kaim nur eine gewisse Menge Ather auflosen, so wie es eine bestimmte
Menge eines Salzes auflost 1st das Verhaltnis des Athers grosser, so
ist die Wirksamkeit des Wassers zu sehr gescbwacbt, als dass es die
gegenseitige Anziehung der Teilchen des Athers iiberwinden konnte; da-
her entsteht ein Widerstand des Athers gegen das Wasser: er erhalt
sich abgesondert und lost Wasser auf bis zu dem Punkte, wo die beiden
entgegengesetzten Krafte gleich sind, und wie viel sich von jeder der
beiden Auflosungen bildet, hangt Yon dem Verhaltnisse ab, in welcbem
beide Stofife Torhanden sind/'
Zum Schlusse des Abschnittes wird eine gute Parallele zwischen
der Wirkung der Warme, insofern sie Vergasung veranlasst, und der
Wirkung der Losungsmittel gezogen.
Nach diesen Voraussetzungen ist es natUrlich, dass Berthollet die
bis dahin geiibten Methoden, die Wahlverwandtschaft zn messen, nicht
anerkennen kann. Denn um das Ergebnis irgend einer Umsetzung fest-
zustellen, muss man mindestens einen der entstandenen Stoffe absondern;
indem man aber dies thut, verandert man bestandig das Verhaltnis der
ubrigbleibenden Stoffe, und dadurch auch das chemische Gleichgewicht
sviacben ihnen. Man sieht, dass dies ein prinzipieiler Einwand ist; an
die Moglichkeit, auch ohne Abscheidung eines Bestaiidteiles die Anord-
DQDg der Stoffe in homogener Losung zu erfahren, war zu jener Zeit
J^aam zu denken. Dagegen glaubte Berthollet in deu Mengen, in welchen
sich die Stoffe gegenseitig bis zur Neutralitat sattigen, ein solches
Mass zu finden. Der Gedanke ist eine Konsequenz von seinen Grund-
^schauungen iiber die Ursache der Verwandtschaft, die er in der all-
gemeiuen Schwere suchte; wir wissen jetzt, dass er irrtumlich ist.
Eine grosse Cberlegenheit zeigen BerthoUets Ansichtcn in der An-
gelegenheit der „doppelten Wahlverwandtschaften" bei der gegenseitigen
Cmsetzung zweier Neutralsalze. Hier lasscn sich alle die mannigfaltigen
L_
46 I* Geschichte der Verwandtschaftslehre.
Tabellen auf den einfachen Grundsatz zuriickfiihren, dass, wenn irgend
eines der moglichen Salze unter den vorhandenen Umstanden unloslich
ist, es sich bilden wird. „Man durchlaufe alle bekannten Zersetzungeii,
welche man der zusammengesetzten Wahlvcrwandtschaft zuschreibt, nnd
man wird sehen, dass die Erscheinungen, welche man von einem Ober-
schusse gewisser Yerwandtschaftskrafte iiber die entgegengesetzten ab-
geleitet hat, allezeit von solchen Stoffen herriihren, welche die Eigen-
schaft besitzen, entweder einen Niederschlag, oder ein Salz, das sich
durch Krystallisation abscheiden lasst, zu bilden . . . Die Kalkerde, die
Talkerde, der Baryt, die Strontianerde bilden mit der Kohlensaure un-
auflosliche Salze. Alle aufloslichen Yerbindungen dieser Erden miissen
daher, wenn man sie mit kohlensauren Laugensalzen mischt, eine Zer-
setzung erfahren, deren Ergebnis die Niederschlagung der kohlensauren
Salze dieser Erden ist . . . Dampft man daher cine wasserige Flilssig-
keit ab, in welcher sich mehrere Salze befinden, so sondern sie sich nach
der Folge ihrer Loslichkeiten ab; und dies ist das Gesetz, nach welchem
sich etwaige Vertauschungen der Basen vorausbestimmen lassen. Da sich
aber die Loslichkeit der Salze mit der Temperatur andert, so ist dieser
Umstand bei der Beurteilung in Betracht zu ziehen. Wenn man sal-
petersaures Kali mit salzsaurem Natron mischt, so krystallisiert in der
Kalte salpetersaures Kali aus; beim Eindampfen in der Hitze scheidet sich
dagegen salzsaures Natron aus. Es findet also ein Wechsel der Basen
statt, denn salpetersaures Natron ist in der Kalte etwas loslicher, als
salpetersaures Kali, und andererseits ist umgekehrt salzsaures Kali in
der Warme etwas loslicher, als salzsaures Natron."
Ganz ahnlich werden die Wirkungen der Warme auf fltichtige Salze
bestimmt; auch das Effloreszieren wird von BerthoUet als eine ahnlich
wirkende Ursache herangezogen.
Ein ganzes Kapitel widmet BerthoUet dem Begriffe der resul tie-
rend en Verwandtschaft Mit diesem Namen bezeichnet er die Ver-
wandtschaft,' die von einer Verbindung bethatigt wird, verglichen mit
den Verwandtschaften der Bestandteile dieser Verbindung. Der Begriff
ist ganz nach der Analogic der chemischen „Krafte" mit den mechani-
schen gebildet, und hier ist ein Punkt, in welchem diese Analogic gar
nicht mehr zutreffend ist, und deshalb unseren Forscher in die Irre
fiihrt. Im Gegensatze zu den friiheren Kapiteln enthalt dieses nichts
von allgemeiner Bedeutung; es hat nur dadurch einiges Interesse, dass
es erkennen lasst, wie auch ein so selbstandiger Geist, wie BerthoUet,
sich durch eine solche Analogic zu gezwungenen und im Grunde nichts-
sagenden „Erklarungen" verleiten lasst.
A) tore Geschichte der Affinit&tsbestimmungeD. 47
An dicso erste Hauptabhandlung schliessen sich zwei kleinere, die
nichts grnndsatzlich neues, sondern nur Anwendungen der auseinander-
gesetzten Betrachtungen aaf einige verwickeltere Falle bringen.
Die gleichen Gedanken, welche BerthoUet in den eben erwahnten
Abhandlungen ausgesprochen nnd entwickelt hat, bilden den Inhalt seines
berdhmten, zwei Jahre spater erschienenen Hauptwerkes in zwei Banden,
des Essai de statique chimique (Paris, an XI — 1803). Dies Buch bat
das Schicksal mancber bedeutenden Werke gebabt, viel gelobt und wenig
gelesen zu werden. Indessen darf aucb zugestanden werden, dass die
altere Abhandlung in ihrer nnmittelbaren Beziebung auf das Experi-
ment, und in der lebhafteren Sprache der neuen Entdeckung viel an-
genehmer zu lesen ist, als der Essai in seiner „abgeklarteren'S aber da-
dnrch auch eintonigeren und, kurz gesagt, langweiligeren Darstellungs-
weise. Inhaltlicb sind beide nicbt sehr verscbieden; nur ist auf den
mehr als tausend Seiten des Essai naturgemass eine sebr viel grossere
Anzahl einzelner Thatsacben unter die gleicben Gesichtspunkte gebracbt.
b seiner Gesamtbeit stellt das Werk etwas wie eine pbysikaliscbe
Ghemie im beutigen Sinne dar, wie sie sicb aus dem Umfange der da-
mals bekannten Tbatsacben zusammenstellen liess, und beim eingeben-
deren Studium findet man eine nicbt geringe AnzabI feiner Beobacb-
tongen und Bemerkungen, Ton denen mancbe nocb beute von Belang ist.
10. SohlckBale der Bertholletsohen Theorie. Es ist eine der merk-
wfirdigsten Erscbeinungen in der Entwicklungsgescbicbte der Cbemio,
dsss, trotzdem die grosse Bedeutung der von Bertbollet ausgesprocbenen
Ideen sofort anerkannt wurde, diese dennocb keinen Boden fanden und
keine Frucht trugen. Das einzige, was icb bieriiber ausfindig gemacbt
habe, ist eine kleine Scbrift von Scbnaubert^), in welcber Einwendungen
gegen die Giltigkeit der Versucbe erboben wurden, auf welcbe Bertbollet
seine Ansichten gestiitzt batte. Sie konnten leicbt widerlegt werden*).
Gleichzeitig batte Scbnaubert aucb eigene Versucbe angestellt, welcbe
an der wechselseitigen Fallung der Metalloxyde aus ibren Salzen die
Richtigkeit der alten Ansicbten erweisen soUten. Diese Versucbe wurden
Ton Gay-Lussac auf Bertbollets Veranlassung wiederbolt und erweitert*)
^ itihrten diesen zu einer allgemeineren Auflfassung der bier vor-
liegenden Erscbeinungen.
Zunacbst zeigt Gay-Lussac, dass Eisenoxyd durcb Eisenoxydul aus
' Unters. der Yerwandtschaft der Metalloxyde zu den S&uren, nebst einer
Mfang der neuen Bertholletschen Theorie. Erfurt 1803.
^ Ann. de chimie, 49, 1, an XII (1804).
»;i Ann. de chimie, 4d, 21, an XII (1804).
I
48 I* GeBchichte der VerwaDdtschaftslehre.
seinen Salzen vollstandig gefallt wird; Zinkoxyd fallt das erstere, da-
gegen nicht das zweite; ebenso verhalt sich Kupferoxyd. Rotes Qaeck-
silberoxyd fallt die salzsaureu Salze der meisten Metalle. Silberoxyd
fallt Kupferoxyd u. s. w. Die Reihenfolge ist eine solche, dass ein Oxyd,
welches die Sauren besser neutralisiert, d. h. dessen Salz eine scbwachere
saure Reaktion bat^ solche verdrangt, welche die Fahigkeit der Neu-
tralisation in geringerem Grade besitzen. Den Vorgang fasst Gay-Lussac
dabei so auf, dass das besser neutralisierende Oxyd die in dem Salze
des anderen vorhandene freie Saure fortnimmt und dadurch etwas vom
zweiten Oxyd in der FlUssigkeit unloslich macht; dieses fallt nieder,
die Losung erhalt ihre urspriinglicbe Saure, und der Vorgang wieder-
bolt sich, bis alles Oxyd des urspriinglichen Salzes gefallt und die
Losung in ein Salz des hinzugefiigten verwandelt ist
Besonders wird noch betont, dass die Verwandtschaft des Metalls
zum Sauerstoff mit der relativen Starke seines Oxyds nichts zu thun hat.
Weiteres ist aus jener Zeit iiber die Theorie von Berthollet nicht
ausfindig zu machen gewesen, und wir werden alsbald an der Geschichte
der Affinitatsmessungen sehen, wie lange es dauerte, und wie schwer es
hielt, bis die fundamentale Thatsache der Massenwirkung iiberhaupt dem
allgemeinen Bewusstsein der Chemiker gelaufig wurde.
Zwei Ursachen zeigen sich bei naherer Untersuchung wirksam.
Erstens hatte sich Berthollet in allzu weiter Ausdehnung seiner Grund-
anschauungen zu Behauptungen iiber eine allgemeine Unbestandigkeit
der Verbindungsverhaltnisse zusammengesetzter Stoffe verleiten lasseu,
welche ihm von Proust Schritt fiir Schritt widerlegt wurdeu (I, 6);
durch den Nachweis dieses Irrtums wurde bei yielen auch die Wert-
schatzung der richtigen Ideen BerthoUets herabgesetzt.
Entscheidender aber ist wohl der Umstand, dass zu jener Zeit
andere und naherliegende Aufgaben in der Ghemie entstanden, deren
Losung in erster Linie vorgenommen wurde. Mit der Gesamtheit der
Intelligenz, welche zu einer Zeit einer Wissenschaft in ihren Vertretern
zu Gebote stebt, yerhalt es sich, wie mit der Intelligenz eines einzelnen
Menschen: sie ist von geringerem oder grosser em, jedenfalls aber be-
schranktem Umfang und bei der Losung drangender grosser Probleme
findet eine Zusammenfassung statt, welche eine zeitweilige Vemach-
lassigung anderer Aufgaben bedingt
Nun wurde in demselben Jahre, in welchem die Statique chimique .
erschien, Daltons erste Atomgewichtstabelle veroffentlicht. Kurze Zeit
darauf begann Borzelius seine wichtigen Arbeiteii auf diesem Gebiot,
und alsbald wandte sich die gesamte Forschung der Grundlegung der
Altere Geschichte der Affinit&tsbestimmungen. 49
stochiometrischen Hauptgesetze und dem Ausbau der Atomhypothese
zu. Alle diese Arbeiten standen den eigentlichen Affinitatsproblemen
so fern, und ihre Resultate waren dem erwahnten Irrtom BerthoUets
80 entgegengesetzt, dass es nicht Wunder nehmen kaun, wie der an-
fanglich so bedeutende Eindruck jener Ideen alsbald verschwand, ohne
Spuren zu hinterlassen.
Nach der Erledigung des Notwendigsten, was die Atomgewichte
und die mit ihnen in nachster Beziehung stehenden Angelegenheiten
anlangt, war dann in der organischen Gbemie ein neues Forschungs-
gebiet aufgethan, dessen'Aufgaben sich in naturgemasser Weise an die
eben bearbeiteten anschlossen. Cberall aber herrscbte neben dem 6e-
setz der konstanten und multiplen Proportionen das Streben nacb einer
scharfen Systematik Yor; man gewohnte sich derart an den Mangel all-
mablicher t)bergange, dass dieser Denkweise schliesslich die altere
Bergmannsche Verwandtscbaftslehre mehr konform war, als die von
BerthoUet. Die AfOnitatslehre erfuhr so allmahlich eine regressive Meta-
morphose. In der Einleitung zur fiinften Auflage seines Handbuches
(1852) erklart L. Gmelin die Massenwirkung fiir nur scheinbar und
fdhrt eine Reihe von experimentellen Griinden gegen sie an; er fasst
seine Anschauung folgendermassen zusammen: „Es bleibt BerthoUet
„das grosse Verdienst, die Affinitatslehre scharfsinnig gepriift und von
^iner neuen Seite betrachtet, und auf den Einfluss der Eohasion und
„Elastizitat auf die Af&nitatsausserungen die Aufmerksamkeit gelenkt
„ZQ haben. Aber er legte ein zu geringes Gewicht auf die Affinitats-
vgrosse und ein viel zu grosses auf die Menge, in welcher die Stoffe
^einwirken, und auf den Einfluss der Kohasion und Elastizitat. Er
«nahm mit Unrecht an, ein sich in fester Gestalt ausscheidender Stoff
ntrete aus der chemischen Wirkungssphare, die Stoffe seien nach alien
»moglichen Verhaltnissen mit einander verbindbar und ein Stoff ver-
„teQe sich zwischen zwei anderen im Verhaltnis ihrer chemischen
»Mas8e." Man wird nicht fehl gehen, wenn man die vorstehenden Worte
als Ausdruck der t)berzeugung der Mehrzahl der damaligen Chemiker
betrachtet
Auch darf man nicht annehmen, dass etwa ein nationaler Gegen-
aatz die Ursache von Gmelins Ausserungen war. Ganz ahnliche Ge-
sichtspunkte wurden beispielsweise von Dumas in seiner Philosophic de
chimie geltend gemacht, dem man eine Unterschatzung der Leistungen
seiner Landsleute sicherlich nicht vorwerfen kann. Dumas woUte Ber-
thoUets Ansichten iiber die Teilung nur fiir Sauren und Basen von an-
nahemd gleicher Starke gelten lassen. In anderen Fallen soUten „die
Ostwald, ChemlA H, 2. 4
50 I* Geschichte der Verwandtschaftolehre.
starken Yerwandtschaften ihre Neigung befriedigen, wahrend sie die
schwacheren sich uBter einander ordnen lassen'*. Diese ganz in der Luft
stehende ABsicht hat bis in die neueste Zeit ihre Vertreter.
11. Die Wiederbelebtmg der Theorie von Berthollet. Die ein-
gehendere Kenntnis chemischer Vorgange, die namentlich zu analytischen
Zwecken studiert wurden, hat allmahlich wieder auf die Beachtung der
von Berthollet aufgestellten Beziehungen znriickgefuhrt. Stets festge-
halten warden sie Yon Gay-Lussac^), dessen wissenschaftliche Entwick-
lung noch unter dem Einfiuss jener Ideen stattfand, und der durch
personlichen Verkehr mit ihrem Schopfer unmittelbar in sie eingefuhrt
worden war, doch vermochte die Autoritat seines Namens nicht sie den
Fachgenossen annehmbar zu machen. Den Irrtum BerthoUets, dass die
Affinitat der Sauren durch ihre Sattigungskapazitat gemessen werde,
hat Gay-Lussac auch schon eingesehen. Dass etwas von der besonderen
Natur der Sauren Abhangiges die Teilung einer Base bestimmt, er-
lauterte er durch folgenden Versuch'). Wenn man zu einer mit Lakmus
schwach gefarbten Losung von Borax langsam Schwefelsaure setzt, so
bleibt die Farbe blau, bis aller Borax in Biborat verwandelt ist. Von
diesem Punkte ab wird der Lakmus weinrot, wie durch Borsaure allein;
die Fai'be bleibt so, und geht erst in zwiebelrot (die fiir Schwefelsaure
charakteristische Farbe) iiber, wenn ein Oberschuss von Schwefelsaure
da ist, selbst wenn man in der Warme arbeitet, um alle Borsaure in
Losung zu halten. Hiernach ware es ungenau zu sagen, dass das Natron
sich zwischen den beiden Sauren geteilt habe; oder aber, wenn die Tei-
lung wirklich stattgefunden hat (was thatsachlich Gay-Lussacs Meinuug
war), so sind die Anteile dermassen ungleich, dass der der Schwefelsaure
unverhaltnismassig viel grosser ist, als der der Borsaure, und dass die
Affinitat jener zum Natron sehr viel grosser ist, als die der Borsaure.
In der Folge hat dieser Versuch, namentlich in dor noch iiber-
zeugenderen Form, dass ein Zusatz von Borsaure zu neutralem Natrium-
sulfat mit Lakmus nur die weinrote, nicht die zwiebelrote Farbe her-
vorruft, sehr haufig als Beweismittel gegen die Zulassigkeit von Ber-
thollets Ansichten iiberhaupt dienen miissen.
Im Anschluss an die alten Versuche von Schnaubert und Gay-
Lussac (S. 47) hat dreissig Jahre spater J. Persoz, Professor in Strass-
burg, sich mit der Frage der Verdrangung eines Oxyds durch ein
\) Ann. ch. ph. 30, 291. 1825. Die wichtigsten Stellen sind bereits (II, 1, 781)
angefilhrt.
*) Ann. chim. phys. 49, 325, 1832.
Altere Geschichte der AffinitatsbeBtimmungen. 51
anderes aus den Salzen beschaftigt^). Er kam im allgemeinen zu 9en
gleichen Ergebnissen, yervoUkommnete seine Yersuche aber durch die
genauere Bestimmung der Reihenfolge einer grosseren Anzahl von Oxyden.
Zanachst teilte er diese in zwei Gruppen: die durch Thonerde
fallbaren, und die es nicht sind. Von der zweiten Gruppe fand er die
Reihenfolge in salzsaurer Losung wie folgt, indem das starkste Oxyd
Torangebt:
Magnesia
Kobaltoxyd
Nickeloxyd '
Quecksilberoxyd
Ceroxydul
Zinkoxyd
Manganoxydul
Eisenoxydal
Uranoxydul
Eapferoxydol.
Die Stellung der beiden letzten war schwierig zu bestimmen, wegen
der leichten Oxydierbarkeit der Losungen. Fiir die Nitrate gilt die Reihe:
Magnesia
Silberoxyd
Kobaltoxyd
Nickeloxyd
Ceroxydul
Zinkoxyd
Manganoxydal.
Fiir die schwach basischen Oxyde ergaben sich folgende Reihen:
In Salpeters&ure In Salzs&ure
Beryllerde Zinnoxydul
Thonerde Beryllerde
Uranoxyd Thonerde
Chromoxyd Uranoxyd
Quecksilberoxydul Chromoxyd
Quecksilberoxyd Eisenoxyd
Eisenoxyd Zinnoxyd
Wismuthoxyd. Wismuthoxyd
Antimonoxyd.
Als besonders auffallig betont Persoz in dieser Tafel die Stellung
des Qaecksilberoxyds. Wahrend es sich in Salpetersaure als eine ausserst
schwache Base erweist, gehort es in salzsaurer Losung zu den starksten.
So werden Zink- und Manganchloriir durch Quecksilberoxyd zersetzt,
wibrend die Nitrate der beiden Metalle unverandert bleiben. „Haben
*} Ann. chim. phys. 58, 108. 1835.
52 I* Geschichte der Verwandtschaftslehre.
diese Erscheinungen die Fahigkeit der Oxyde, die Sauren ungleich zu
neutralisieren, als alleinige Ursache? Ich glaube es nichf Zu einer
ErklaruQg dafiir ist Persoz freilich nicht gekommeu, und sie ist in der
That erst auf Grund der letzten Erkenntnisse iiber die elektrolytische
Dissociation der verschiedenen Losungen moglich geworden.
Zum Schlusse giebt Persoz, ahnlich wie es schon von Gay-Lussac
geschehen war, eine Reihe praktischer Anwendungen dieser Thatsachen
fiir die Analyse und fiir die Praparatente^hnik, auf die bier nicht ein-
zugehen ist
12. Die Arbeiten von H.Bo8e. Viel spater sehen wir einen Analytiker,
H. Rose, sich den Ideen BerthoUets nahem. Schon im Jahre 1842 hatte
er gezeigt^), dass die Sulfide der Erdalkalimetalle, wie sie durch Reduk-
tioQ der Sulfate mit Kohle erhalten werden, durch stufenweise wachsende
Wassermengen in der Weise zerlegt werden, dass sich Hydroxyd bildet.
Die entsprechende Schwefelmenge bleibt mit einem Teii unzerlegten
Sulfids bei gewohnlicher Temperatur zu Sulfhydrid verbunden; kocht
man die Losung, so entweichen mit dem Wasserdampf grosse Mengen
Schwefelwasserstoff. Diese Wirkung, bei welcher die geringe Affinitats-
grosse des Wassers nach Massgabe seiner Menge yerstarkt erscheint,
leitete ihn auf die Erforschung ahnlicher Phanomene bin, uud nach
zehn Jahren, 1852, erschien eine Reihe Yon Arbeiten, die die That-
sachen der Massenwirkung, und zwar besonders des Wassers, zur Evidenz
brachten.
Rose weist zunachst') auf die grossartigen Wirkungen bin, welche
zwei mit so schwachen Affinitaten ausgestattete Eorper, wie das Wasser
und die Eohlensaure, bei der Umbildung der Erdoberflache ausiiben.
Stoffe, welche im Laboratorium nur durch die kraftigsten Reagentien
aufgeschlossen werden konnen, wie Feldspath und Granat, unterliegen
ohne weiteres der Verwitterung, d. h. der Zerlegung durch Eohlensaure
und Wasser. Im Laboratorium lassen sich diese Erscheinungen nicht
verfolgen, da nur bei Anwendung sehr grosser Mengen dieser Stofifo
und in sehr langer Zeit die Wirkungen eintreten; man wird indeesen
Hoffnung haben, ahnliche Erscheinungen an Verbindungen aufzufinden,
die durch schwachere Verwandtschaften zusammengehalten werden.
So lasst sich z. B. eine Zerlegung des ncutralen schwefelsauren
Ealis durch Wasser nicht beobachten, wohl aber eine solche des sauren
Sulfats. Eine siedende, nicht gesattigte Auf losung von saurem schwefel-
') Pogg. 55, 415. 1842.
«) Pogg. 82, 545. 1851.
Altere GeBchichte der AffinitfttsbestimmungeD. 53
saoren Kali KHSO^ giebt beim Erkalten Krystalle, welche nach der
Formel 3K*S0* + H^S0* + aq zusammengesetzt sind. Krystallisiert
maa diese Substanz um, so erhalt man nichts als neutrales Sulfat. Hier
ist die fortschreitende Abspaltnng der Schwefelsaure aus dem sauren
Sulfat infolge der „Verwandtschaft'' zwischen Schwefelsaure und Wasser
klar ersichtlich. Gleiche Thatsachen zeigten sich beim sauren Natrium-
snlfat Rose macht bei dieser Gelegenheit auf eine altere Beobachtung
Ton Heamann und Wittstein aufmerksam, nach welcher saures Natrium-
solfat, auf Fliesspapier in feuchter Luft liegend, sich allmahlich in ein
Polyer yon neutralem Sulfat verwandelt. Das hygroskopische Salz zieht
die Luftfeuchtigkeit an und zerfallt unter dem Einfluss des Wassers
in neutrales Sulfat, welches zuriickbleibt, und in freie Schwefelsaure,
welche sich in die Unterlage zieht. Hier ist die voUstandige Umwand-
long moglich, weil die abgeschiedene Schwefelsaure entfemt wird, und
ihrerseits keine Massenwirkung ausiiben kann, andernMls fande die
Zerl^ung nicht vollstandig statt, wie man auch aus den Losungen der
saoren Sulfate nicht direkt neutrales Salz durch Auskrystallisieren er-
halt, sondem intermediare Yerbindungen, die erst nach Entfemung
der schwefelsaurehaltigen Mutterlauge beim Umkrystallisieren neutrales
Snlfat geben.
An diese Yersuche, welche sowohl die Massenwirkung des Wassers
wie die der Schwefelsaure zur Anschauung bringen, schliesst sich eine
Reihe von Ermittelungen liber den Einfluss, den die Gegenwart des
Wassers bei der Bildung der Salze schwacher Basen hat. Die bekannten
FaUnngen der Antimon-, Wismuth- und Quecksilbersalze durch Wasser
er&bren hier eine den Anschauungen der Zeit entsprechende Interpre-
tation. Es tritt hier keine unmittelbare Spaltung in basische und saure
Salze ein, sondem das Wasser wirkt selbst als schwache Basis, es ent-
zieht entsprechend seiner Menge dem neutralen Salze Saure und scheidet
basisches Salz ab; ist letzteres in Wasser oder yerdiinnter Saure unloslich,
wie z. B. das Wismuthoxychlorid, so kann man durch geniigende Yer-
mehnmg der Wassermenge alles Salz in den Niederschlag bringen, so
da» die Losung nichts als yerdiinnte Saure enthalt.
Den dritten und grossten Teil dieser Arbeiten bilden endlich Unter-
sodmngen fiber den Einfluss des Wassers auf die Bildung solcher Salze,
deren Bestandteile durch schwache Affinitaten zusammengehalten werden,
ii^besondere der Carbonate und Borate der Schwermetalle. In die
EiBzelheiten dieser ausgedehnten Arbeiten einzugehen ist hier nicht der
Ort; das allgemeine Ergebnis ist, dass mit zunehmender Menge des
^^SQDgswassers in zunehmendem Masse die Saure an der Yerbindung
I
54 I* Geschichte der Verwandtschaftslehre.
luit der Basis gehindert, und durch Wasser (gegenwartig wiirde man
, Hydroxy! sagen) verdrangt wird.
Auch in den nicht auf diesen bestimmten Gegenstand gerichteten
zahlreichen anderen Arbeiten Roses finden sich haufig Bemerkungen
und Beobachtungen, welche auf das Vorhandonsein von Massenwirkungen
hinweisen. Einzelne derselben werden alsbald erwahnt werden; auf alle
einzugehen, wiirde zu weit fuhren. Es soil nur nochmals betont werden,
dass fur die Wiederbelebung der Bertholletschen Ideen H.Rose in erster
Linie zu nennen ist.
13. Versuohe vonB.Bunsen. Um die Wirkung der chemischen Ver-
wandtschaft in moglichst reiner Form zu studieren, wahlte R. Bunsen ^)
Reaktionen zwischen Gasen. Er vermischte WasserstoflF mit Kohlenoxyd
und einer solchen Meuge Sauerstoff, dass dieser nicht geniigte, um die
verbrennbaren Gase vollstandig zu oxydieren und analysierte nach er-
folgter Verbrennung den Riickstand, um zu erfahren, wie sich Wasser-
stoff und Kohlenoxyd in den Sauerstoff geteilt haben.
Das Ergebnis seiner Versuche, die nicht sehr zahLreich waren, wich
von dem, was das BerthoUetsche Gesetz voraussehen liess, in sehr auf-
fallender Weise ab. Die verbrennlichen Gase teilten sich in den Sauer-
stoff nicht nach Massgabe ihrer Mengen, so dass das Verbaltnis der
Verbrennungsprodukte mit dem der beiden brennbaren Gase kontinuier-
lich zu- und abnahm, sondern so, dass die entstehenden Mengen Kohlen-
saure und Wasserdampf in einfachen rationalen Volum- und also auch
Atomverhaltnissen standen. ,,Bildet sich auf diese Art neben einenoi
Atom der Verbindung A + B ein Atom der Verbindung A + B', so lasst
sich die Masse des Eorpers B gegen die von B' bis zu einer gewissen
Grenze vermehren, ohne dass jenes Atomverhaltnis dadurch eine Ande-
rung erleidet. Wird aber diese Grenze uberschritten, so springt das
Atomverhaltnis plotzlich von 1:1 auf 1:2, 1:3, 2:3 u. s. w. um. Die
Masse des einen Eorpers lasst sich nun wieder ohne Anderung dieses
letzteren Atomverhaltnisses vermehren, bis eine abermalige Grenze er-
reicht wird, wo dasselbe von neuem in ein anderes iibergeht, u. s. f."
Fiir dies iiberraschende Ergebnis fiihrt Bunsen weiter an, dass
auch die Zerlegung des Wasserdampfes durch gliihende Kohle ein Ge-
menge giebt, in welchem Wasserstoff, Kohlenoxyd und Kohlensaure in
einfachen rationalen Verhaltnissen (4:2:1) stehen. Ebenso wurde bei
der Verpuffung von Cyan mit ungeniigendem Sauerstoff N:CO:CO* wie
3:2:4 gefunden.
^) L, A. 85, 137. 1853.
Altere GeBchichte der Affinit&tsbestimmungen. 55
Dieses Resultat wurde scheinbar durch Versuche von Debus ^) be-
st&tigt, welcher Gemenge von Ealk- uod Barytwasser durch geringe
Mengen von Eohlensaure teilweise fallte, und das Verhaltuis beider
Basen im Niederschlag bestimmte. Ahnliehe Versuclie wurden unter An-
wendung von Alkalicarbonaten statt der Eohlensaure ausgefiihrt. Debus
schloss aus seinen Zahlen, dass auch hier ein gleiches Gesetz wirksam
sei, wie bei Bunsens Gasversuchen, doch lasst sich bei unbefangener
ProAuig des Versuchsmaterials erkennen, dass er durch ein Vorurteil —
er war zur Zeit Bunsens Assistent — verleitet worden ist Thatsachlich
findet die vorausgesetzte Rationalitat der Verhaltnisse nicht statt
Auch in den Yersuchen Bunsens ist in neuerer Zeit Yon Horstmann *)
eine Fehlerquelle entdeckt worden, die in der Anwendung feuchter
Gase liegt Bei Vermeidung derselben konnte er keine sprungweise
Anderung im Verhaltnis der Verbrennungsprodukte wahrnehmen, und
Bunsen selbst hat darauf) dies Ergebnis bestatigt.
14. Weitere Einzelbeobaohtnngen. Fiir die Richtigkeit der Ber-
thoUetschen Anscliauungen sucht F. Margueritte^) auf folgende Weise
Bestatigungen zu briugen. Wenn man ein Gemenge you Chlomatrium
imd Kaliumchlorat mit Wasser behandelt, so geht von letzterem viel
mehr in Losung, als der Loslichkeit des Salzes selbst entspricht; dies
wird darauf zuriickgefuhrt, dass sich Chlorkalium und Natriumchlorat
bildet, welche beide viel loslicher sind. Ebenso lost eine gesattigte
Losang Yon Kaliumchlorat neue Mengen des Salzes, wenn Chlomatrium
in derselben aufgelost wurde. Femer wird eine Losung Yon Ghlor-
ammonium, welche schwach sauer reagiert, stark alkalisch, wenn man
Barjom-, Strontium- und Calciumcarbonat hinzufiigt, entsprechend der
Bildung alkalisch reagierenden Ammoniumcarbonats; gleichzeitig lasst sich
in der Losung das Metall des angewandten Carbonats, offenbar als Chlorid
gelost, nachweisen.
Ein drittes Beispiel ist, dass gesattigte Losungen Yon Ghlorammo-
niom durch Zusatz einer geringen Menge Yon festem Ammoniumnitrat
ge&llt werden. Das findet nicht mehr statt, wenn man Kaliumchlorat
in der Chlorammoniiunlosung aufgelost hat, weil ein Teil desselben in
Ammoniumchlorat iibergegangen ist.
Gypslosung wird Yon Alkohol gefallt. Setzt man Yorher Chlor-
unmonium, Natriumnitrat oder ein ahnliches Neutralsalz zu, so findet
') L. A. 85, 103; 86, 156; 87, 238. 1853.
*^> L. A. 190, 228. 1878.
*) Gasom. Math. 2. Aufl.
*) C. r. 38, 304. 1854.
56 !• Geschichte der Verwandtschaftslehre.
die Fallung uicht mehr statt, well ein Teil des Galciumsulfats in los-
liches Ghlorid oder Nitrat iibergegangen ist.
Einzelne ahnliche Beobachtungen sind von A. Reynoso^) und Cb.
Tissier*) mitgeteilt worden. Kupfersulfat wird von Traubenzucker nicht
reduziert, Kupferacetat dagegen sehr leicht. Wenn man zu einer heissen
Losung Yon Kupfersulfat Traubenzucker setzt, und dann ein Acetat (von
Kali, Natron, Kalk, Magnesia, Zink, Kobalt, Nickel, Mangan) hinzufiigt,
so erfolgt alsbald Reduktion, zum Beweis, dass Kupferacetat sich gebildet
hat. Ganz ahnlicli verhalt sich Kupfernitrat und Kupferchlorid.
Tissier giebt an, dass Losungen von Kupfersulfat ohne Wirkung
auf Aluminium sind, wahrend Kupferchlorid dies sofort angreift. Setzt
man irgend ein Ghlormetall zu Kupfersulfatlosung, so erfolgt alsbald ein
Angriff. Ebenso verhalt sich Alaunlosung. Auch diese £rscheinungen
weisen auf eine Umsetzung bin.
15. Zersetzung nnldslicher Salze dnroh Idsliohe. Von Dulong
ist zuerst im Jahre 1813') eingehender die bis auf Marggraf zuriick-
reichende Thatsache studiert worden, dass man Baryumsulfat nicht nur
auf trocknem Wege, durch Schmelzen mit Kaliumcarbonat in Baryum-
carbonat verwandeln kann, sondern auch durch Kochen mit einer wassrigen
Losung desselben, also auf nassem Wege. Dulong stellte fest, dass diese
Fahigkeit der Pottaschelosung begrenzt ist; lange bevor sie ganz in
Kaliumsulfat verwandelt ist, hort ihre Wirkung auf den Schwerspath
auf. Das kohlensaure Natron verhielt sich ahnlich, war aber, in aqui-
valenter Menge angewandt, weniger wirksam. Umgekehrt verwandelt
eine Losung von Kalium- oder Natriumsulfat kohlensauren Baryt sehr
schuell in schwefelsauren.
Rose nahm 1855 dieselbe Frage auf^) und erweiterte das Beob-
achtungsmaterial, indem er die Menge der loslichen Carbonate zu be->
stimmen versuchte, welche zur voUstandigen Umwandlung des festen
Sulfats in das Garbonat erforderlich ist. Doch sind seine quantitativeo
Ergebnisse unsicher, da er den Einfluss der Zeit Ubersehen hatte, und
die Reaktion viel zu kurze Zeit dauem liess. Er schreibt diese Er-
scheinung zum Teil einer chemischen Verwandtschaft zwischen den los-
lichen Sulfaten und Garbonaten zu, und zeigt, dass das Alkalicarbonat
voUstandig wirkungslos ist, wenn man demselben von vornherein eine
gewisse Menge Alkalisulfat zusetzt. Beim Schmelzen in der Gliihhitze
') C. r. 41, 278. 1855.
«) C. r. 41, 312. 1855.
») Ann. de chimie, 82, 275. 1813.
*) Fogg. 94, 481. 1855 und ebenda 95, 96; 284 und 426. 1855.
Altere Geschichte der Affinit&tsbeBtixnmuDgen. 57
verhalten sich die Stoffe ganz ahnlich, doch geniigen schon relativ ge-
linge Mengen Alkalicarbonat, urn die Zersetzung YoUstandig zu machen ^).
Bei Strontium- und Calciumsulfat liessen sich derartige reciproke
Beaktionen nicht wabrnehmen. Die Zerlegung der Sulfate durch los-
lidie Carbonate erfolgt viel leichter, als beim Baryumsulfat, wahrend
die entgegengesetzte Reaktion nicht stattfindet, ausser bei Anwendung
einer siedenden Losung you Ammoniumsulfat, wo Ammoniumcarbonat
nnter Aufbrausen entweicht, wahrend Calciumsulfat zuriickbleibt. Wie
diese beiden Sulfate yerhalt sich auch Bleisulfat, wahrend Baryumchro-
mat sich dem Baryumsulfat ahnlich yerhalt, nur noch langsamor und
schwieriger zersetzt wird; dem letzteren Salz schliesst sich auch das
Calciumoxalat an.
Rose ist in Bezug auf die Erklarung dieser Vorgange nicht sicher,
er nimmty wie erwahnt, Verwandtschaften zwischen den verschiedenen
Salzen an. Doch schreibt er ganz richtig die yollstandige Zersetzung
der SolfEkte yon Calcium, Strontium und Blei wesentlich ihrer Loslichkeit
za, and legt dar, dass die teilweise Zersetzung beim Baryumsulfat daher
ruhrt, dass das entstandene losliche Sulfat bald anfangt seinerseits auf
das gleichfalls entstandene unlosliche Carbonat einzuwirken, wodurch
wieder unlosliches Sulfat zuriickgebildet wird.
Zwei Jahre spater yeroffentlichte Malaguti*) eine Arbeit iiber den-
selben Gegenstand, in welcher er mit grosser Klarheit das Wechselspiel
der entgegengesetzten Beaktionen als Ursache der Erscheinungen dar-
legt Wenn z. B. Schwerspath durch kohlensaures Kali zerlegt wird, so
bildet sich zunachst nur Baryumcarbonat und Ealiumsulfat. Zwischen
diesen aber erfolgt, sowie sie sich gebildet haben, die entgegengesetzte
Beaktion, doch zunachst nur schwach und langsam, weil weniger yon
ilinen yorhanden ist. AUmahlich geht die erste Reaktion mehr und
mehr voran; sie yerlangsamt sich gleichzeitig, weil die wirkenden Stofife
dabei sich vermindern, wahrend aus demselben Grunde die Geschwin-
digkeit der entgegengesetzten Reaktion zunimmt. Wenn beide entgegen-
gesetzten Reaktionsgeschwindigkeiten gleich geworden sind, bleibt der
Znstand bestandig ^).
Die Einzelheiten der experimentellen Bestimmungen zeigen deutlich,
nut welchen Schwierigkeiten derartige Untersuchungen yerbunden sind,
M Bose erw&hnt bei dieser Gelegenheit, dass Baryumsulfat sich merklich in
^^toore 158t, und dass diese LOsang sowohl durch Chlorbaryum wie durch
Sekvefelsfture gef&llt wird. Doch findet er die naheliegende Erkl&rung dieser
^chf&lls aof MassenwirkuDg beruhenden Erscheinungen nicht.
*) A. ph. ch. (3) 51, 328. 1857. ») a. a. 0. 337.
L
58
I. Gescliichte der Verwandtschaftslehre.
bei welchen feste Stoffe mitwirken. So erganzen sich keineswegs die
ZersetzuDgskoeffizienten (vgl. S. 60) zu 100, wie es sein mlisste, wenn
die Zersetzung vollstandig ist und die entstandenen Stoffe vergleichbax
sind. Dagegen fiiidet Malaguti folgende Beziehung: Das Verhaltnis der
Zersetzungskoeffizieuten zweier Salzpaare ist reciprok dem Verhaltnis
der Zersetzungskoeffizienten der Saize mit vertauschten Sauren und
Basen. So wurde gefunden:
Salze
BaHPO* + Na»CO»
BaHPO* -f K*CO»
BaCO» -f Na*HPO*
BaCO» + K«HPO*
BaCO* 4- Na«SO*
BaCO' -f K«SO*
BaSO* + Na«CO»
BaSO* + K*CO«
fBaCO» + Na»CrO*
|BaCO» + K*CrO*
fBaCrO* + Na*CO»
\BaCrO* + K«CO»
Eoeffizient
25-4
46-8
509
27-8
71-8
600
18-73
2217
76-0
790
24-0
207
Verh<niB
0-534
1
0-556
1-197
1
1184
0-962
1
0-836
Ahnliche Ergebnisse wurden an 26 derartigen Doppelpaaren er-
halten, dcren Zersetzungskoeffizieuten ich, da sie gelegentlich Anwendung
finden konnen, bier zusammenstelle.
Salzpaar
Koeffizient
Salzpaar Eoeffizient
BaHPO* + K«CO»
46-8
BaCO» -f K^HPO*
27-8
PbCO» + K«C«0*
15-0
PbC*0* 4- K*CO»
923
BaSO* + K«CO»
222
BaCO» 4- K«SO*
60-0
PbC*0* + K^CO»
93-3
PbCO» 4- K*C*0*
150
3 Ag«C05 + 2 Na'PO*
92-7
2 Ag»PO* 4- 3 Na«C0»
4-4
3 CaCO» + 2 Na«PO*
392
2 Ca»PK)« 4- 3 NaKJO»
7-5
SrCO» -f Na'HPO*
450
SrHPO* 4- Na*CO»
24-6
CaCO» 4- Na^HPO*
39-2
CaHPO* 4- Na*CO»
254
PbC«0* + K«SO*
6-0
PbSO* 4- K«C*0*
832
3 PbCO* + 2 Na^PO*
64-7
2 Pb»P«0« 4- 3 Na«C0»
7-4
BaSO* + Na»CO»
18-7
BaCO» 4- Na»S0*
71-8
PbC*0* + K«CO»
933
PbCO» 4- K«C«0*
15-0
Pb»P*0« + 3 K*C*0*
353
3 PbC*0* 4- 2 K»PO*
53-0
BaCO> + Na«CrO*
76-0
BaCrO* -f Na«CO»
24-0
CaCO» + K*HPO*
410
CaHPO* 4- K*CO»
332
CaC*0* + Na«CO»
85-1
CaCO» 4- Na*C*0*
18-0
BaCO» 4- K«Cr0*
79-0
BaCrO* 4" K*C0»
207
BaHPO* + Na«CO»
254
BaCO» 4- Na«HPO*
50.0
CaC^O* + K'COs
794
CaCO^ 4- K*C*0*
23-0
Wie man sieht, ist in den seltensten Fallen die Zersetzung derart
normal, dass die Koeffizienten reciproker Salzpaare, die neben einander
Altere Geschichte der AffinitAtsbestimmungen. 59
gcstellt sind, aJs Summe 100 ergeben. Dem entsprechend hat die von
Malaguti aufgcstellte BeziehuDg nur insofern Bedeutung, als in ihr ein
Teil dieser Unregelmassigkeiten eliminiert wird; auf eine weitere Er-
orterung derselben kann verzichtet werden. Der Autor hat noch Bicht
erkannt, dass das schliessliche Gleichgewicht gar nicht von der abso-
laten oder relativen Menge der ausgeschiedenen festen Stoffe, sondern nur
Ton dem Verhaltnis der in derLosung befindlichen Salze abhangt,
wie das zehn Jahre spater von Guldberg und Waage gezeigt wurde,
und so hat er trotz seiner vielfach richtigen Gesichtspunkte keine voUige
Klarheit in das von ihm bearbeitete Problem bringen konnen.
16. G^enseitige Zersetzung loslioher Salze. BorthoUet hat seine
Theorie weseutlich auf das Verhalten mehrerer Salze, welche gleich-
zeitig in Losung sind, gegriindet. f)ber den Zustand derselben in der
LosDDg selbst hatte er freilich nicht die Moglichkeit, Aufschluss zu ge-
wiunen, wenn alles gelost blieb, weil die gewohnliche Analyse nur die
Mengen der Bestandteile, nicht aber ihre Anordnung angeben kann, und
er schopfte seine Vorstellungen aus dem folgeweisen Auskrystallisiereu
Terschiedener Salze beim Verdunsten gemengter Losungen. Dies Ver-
&hren ist dem, iibrigens schon von Berthollet selbst erwahnten £in-
wande ausgesetzt, dass die krystallisierenden Salze keinen Aufschluss
fiber die Anordnung in der Losung selbst geben, weil sie moglicher-
weise erst im Augenblick des Festwerdens entstehen.
Die Schwierigkeiten, den Zustand in derartigen gemengten Salz-
15sangen festzustellen, sind in der That sehr gross. Nachstehend ist
fiber einige altere Versuche, experimentell in dies Gebiet einzudringen,
Bericht erstattet.
Ein Verfahren, welches J. Malaguti*) erdachte, urn diese Frage zu
beantworten, ist zwar ebensowenig einwurfsfrei, doch ist es im Stande,
wenigstens die Thatsache der teilweisen Umsetzungen zwischen Neutral-
salzen wahrscheinlich zu machen und eine wichtige Beziehung, welche
dabei obwaltet, zu erweisen.
Es wurden zwei Salze mit vei'schiedenen Sauren und Basen ge-
Dommen, die beide in Wasser loslich sind, von denen aber nur eines
in Alkohol sich losen kann, und bei deren doppeltem Austausch wieder
ein in Alkohol unlosliches Salz entsteht. Die Losungen wurden gemengt
und durch einen Uberschuss von Alkohol niedergeschlagen; im Nieder-
schlage lasst sich dann die stattgehabte Verteilung durch die Analyse
feststellen. Man kann gegen dies Verfahren einwendcn, dass es nicht
die Anordnung der Stoffe in der wasserigen sondern in der alkoholischen
») A. ch. ph. (3) 37, 198. 1853.
60 ^' Geschichte der VerwaDdtschafcslehre.
Losung erkcnneu lasst Dies muss zugegeben werden, doch ist das, was
bewiesen werden soli, uamlich das Stattfinden eines bless teilweisen
Austausches, von diesem Einwande unabhangig.
Malaguti nennt die auf 100 Teile des urspriinglichen Salzes be-
zogene Menge desselben, welche eine Umsetzung erfahren hat, den Zer-
setzuDgskoeffizienten fur das fragliche Salzpaar. Da er die Stoffe
immer in aquivalenten Mengen anwandte, so gilt derselbe Koeffizient
auch fur das zweite Salz des untersuchten Paares. Die nachstehende
Tabelle giebt die Resultate des Autors.
Salze
C
C
C + C
2 K A + PbN«0«
920
9-0
99-0
2 KCl + ZnSO*
84-0
176
101-6
BaA« + PbN*0«
77-0
22-0
990
2 NaCl + ZnSO*
720
29-0
1010
BaA* + 2 KNO»
720
27-0
990
2 KA + SrN«0«
670
26-0
930
SrA* + PbN«0«
65-5
330
98-5
2 KA + Na«SO*
62-0
36-5
985
2 KCl + MnSO*
580
425
100-5
2 KCl + MgSO*
56-0
43-0
99-0
2 NaCl + MgSO*
545
45*8
1003
Mit A ist CH^ COO, das Anion der Essigsaure bezeichnet. Unter C
steht der Zersetzungskoeffizient des bezeichneten Salzpaares, unter C
der des reciproken Paares mit verwechselten Sauren und Basen. Der
Autor hat nicht betont, dass die beiden sich nahezu zu 100 erganzen;
ich habe unter C + C die entsprechenden Summon hinzugefugt; bis auf
das Paar 2KA + SrN*0^ wo moglicherweise die Zahl 26-0 durch einen
Druckfehler entstellt ist, iibertreffen die Abweichungen von 100 nicht
die zu erwartenden Versuchsfehler.
Dies Ergebnis beweist jedenfalls, dass, wio auch das Verhaltnis
der Verteilung in der wasserigen Losung war, diese ganz unabhangig
von der urspriinglichen Anordnung der Sauren und Basen ist.
Die Schliisse, welche Malaguti aus seinen Zahlen zieht, dass nam-
lich Yorherrschend die starken Sauren sich mit den starken Basen ver-
einigen, mogen dahin gestellt blciben, da toils die Unterlage derselben,
die Schatzung der „Starke'^ unsicher ist, toils die Ergebnisse sich koines*
wegs durchweg in Ubereinstimmung mit diesem Satze befinden.
17. Die Arbeiten von Biot. Unter den Mannern, die sich in einer
friihen Periode mit dem damals ausserordentlich schwierigen Problem
der Gesetze der chemischen Verwandtschaft beschaftigt haben, darf der
beriihmte franzosische Physiker Biot nicht vergessen werden. Wiewohi
Altere Geschichte der AffinitHtsbestimmungen. 61
seine Arbeiten, die er in zahllosen einzelnen Mitteilungen veroffentlicht
and Tiber die er wiederholt zusammenfassende Bericbte abgefasst bat,
eine Anzabl richtiger und belangreicber Gesicbtspunkte enthielten, und
er seinerseits das moglicbste tbat, um die Aufmerksamkeit der Gbemiker
aaf sie binzulenken, so baben sie docb weder seinerzeit, nocb aucb
spater einen uacbwcisbaren Einfluss auf die Entwicklung der Anscbau-
nngen und Eenntnisse der Af&nitatslebre geiibt. Infolgedessen sind sie
gegenwartig so gut wie vollig vergessen, und selbst in franzosiscben
Lebrbiicbern und Abbandlungen findet man kaum jemals einen Hinweis
auf diese Untersucbungen zur „mecbaniscben Gbemie", wie er sie nannte.
Die Untersucbungen nabmen ibren Ausgang von seinen Arbeiten
uber die Drebung der Polarisationsebene durcb Fliissigkeiten. Nacbdem
er diese anfangs vom rein pbysikaliscben Standpunkte aus verfolgt
batte, trat ibm bei Gelegenbeit einer Untersucbung Uber die Drebung
wasseriger Losungen von Weinsaure die Tbatsacbe entgegen, dass die
Drebung nicbt einfkcb proportional dem Gebalt an Saure war, sondern
Dacb einem verwickelteren Gesetz sicb anderte. Da er friiber bei der
Untersucbung anderer Stoffe, insbesondere des Robrzuckers, keine solcbe
Abweicbung gefunden batte, so schloss er, dass bier eine chemiscbe
Verbindung zwiscben der Saure und dem Wasser eingetreten sein miisse.
Auf diese Weise sab er sicb im Besitze eines Mittels, die um jene Zeit
oiilosbar erscbeinende Aufgabe zu losen, dass er das Vorbandensein
and moglicberweise aucb den Betrag eines cbemiscben Vorganges in
einem bomogenen Mittel bestimmen konnte, obne eines der gebraucb-
lichen Mittel cbemiscber Analyse anzuwenden, und obne iiberbaupt auf
das Gemiscb einen cbsmiscb yerandemden Einfluss auszuiiben.
Biot fublte lebbaft die Bedeutung dieses Fortscbrittes und wablte,
am aucb den Gbemikern diese Bedeutung klar zu macben, das in frii-
heren Jabrbunderten iiblicb gewesene Mittel, die Facbgenossen zur Lo-
Bung einer entsprecbenden Aufgabe einzuladen^). Diese spracb er fol-
gendennassen aus: „Wenn Krystalle von reiner Weinsaure bei Tempera-
turen zwiscben 22® und 26** in verscbiedenen Mengen Wasser gelost
werden, tritt dann eine Verbindung oder ein Gemiscb ein? d. b. bat
das wirklicbe System der beiden Stoffe in dieser wasserigen Losung
molekulare Eigenscbaften , welcbe von den Zusammensetzungsverbalt-
nissen abbangen, oder nicbt? und wenn es erstere bat, kann man das
physikaliscbe Gesetz aussprecben, welcbes diese fur jedes gegebene Ver-
haltnis der beiden Stoffe ausdriickt oder definiert?"
*) C. r. 1, 66. 1835.
L
62 I- Gescldchte der Tcrwrnndtorhafldelire.
Gleicbzeitig legte Biot ein Terai^eltes Schraben bei dem
der Akademie nieder, das die Antwort aof die Frage enthielt and das
in der eraten DezemberBitzong (die Mitteilaag war am 24. August 1835
lorgdegli worden) geoffoet werden sollte.
Wie za erwarten war, fand sich keine Antwort Ton anderer Seite;
Biot selbst scheint anch zn nngedoldig gewesen zn sein, am den selbst-
gestellten Termin abznwarten, and trng bald daraaf ^) der Pariser Aka-
demie eine Abhandlang Yor, die sich aof eine naheli^ende, nor be-
dentend yerwickeltere An^gabe bezieht, namlich den Einflass der Borsaare
aaf die Drehang der Weinsanrelosangen. Um die Frage za entscheiden,
ob diese Wechselwirknng, die sich alsbald darch eine Andernng des
Drehyermogens yerrat, nach bestimmten Yerhaltnissen stattfindet, oder
nicht, braacbt man, wie er darl^t, nnr za einer stets gleichen Losaiig
von Weinsaare wachsende Mengen Borsaare za setzen and die Dreh-
angen za beobachten. Tragt man diese gegen die Borsanremengen in
ein Koordinatensystem, so hat man ein vollstandiges Bild der chemi-
schen Vorgange, die im Inneren der Fiiissigkeit stattfinden. Wie that-
sachlich die Verhaltnisse in diesem Falle sind, wird allerdings vorlanfig
nicbt mitgeteilt.
Die Eroffnang jenes versiegelten Schreibens, die zur bestimmten
Zeit stattfand, enthielt die Mitteilang, dass die molekalare Drehang
der Weinsaare in wasseriger Losmig mit der Wassermenge zunimmt^
and zwar proportional derselben, so dass die auf die Mengeneinheit der
Weinsaare bezogene spezifische Drehang durch eine Formel von der
Gestalt A -{- Be dargestellt werden kann, wo e das Verbaltnis der Saure
zam Wasser ist. Demgemass sei die Losung der Weinsaare in Wasser
keine einfacho Mischung, sondern eine chemische Verbindung; da weiter
bei kcinem einzigen Mischungsverhaltnis ein Sprung in dem Werte der
DrehuDg nachgewiesen werden konnte, so schloss er weiter, dass es sich
hier um eine Verbindung in unbestimmten Yerhaltnissen handele, indem
in jeder Losung sich zusammeugesetzte Molekeln aus Weinsaure und
Wasser bilden, in demselben Verhaltnisse, in welchem beide Molekeln
in der Losung vorhanden sind.
t)ber diese beiden Gegenstande, die wasserigen Losungen der Wein-
saure allein, und die, welche ausserdem noch Borsaure enthalten — die
Borsaure iibt einen sehr bedoutenden Einfluss auf das Drehvermogen
der Losung aus, obwohl sie selbst nicht drehend ist — hat dann Biot
im Laufe von 25 Jahren eine grosse Anzahl langerer und kiirzerer
*) C. r. 1, 177. 1835.
Altere Geschichte der Affioit&tsbestimmungea. 63
Abhandlungen in den Comptes rendus, den Memoiren der Akademie
Ton Paris und den Annales de chimie et physique veroffentlicht. Es
braacht fiber sie nicht im einzelnen berichtet zu werden» da er alle
seine Ergebnisse schliesslich in einer umfassenden Abhandlung uber-
sichtlich dargestellt hat'), aus der das wesentlichste uachstehend mit-
geteilt ist
Bezeichnet man mit (a) die spezifische, d. h. auf die Masseneinheit
bezogene Drehung, so ist, wie schon angegeben, die der Weinsaure durch
die Formel
(a) = A + Be
darstellbar, wo e das Gewichtsverhaltnis zwischen Saure und Wasser,
A and B Konstanten sind; A hat die einfache Bedeutung der Drehung
der wasserfreien Saure, denn es wird (a) = A fur e^O, und Biot
konnte sich auch iiberzeugen, dass die Drehung amorpher geschmolzener
Weinsaure dem Werte A entsprach. Im librigen ist A sehr von der
Temperatur abhangig, indem es oberhalb 22*5^ positiv, bei dieser Tem-
perator Null und unterhalb negativ ist. Die Anderung ist nicht pro-
portional der Temperatur, sondern nimmt mit steigender Temperatur
langsam ab. Der Wert von B ist von der Temperatur unabhangig und
positiv; es giebt also unterhalb 22-5® fur jede Temperatur eine Kon-
zentration, bei der die Drehung Null ist.
Aus dem Gesagten folgt, dass die Drehung einer Schicht von be-
stimmter Dicke (nicht die spezifische Drehung), wenn man von der
koDzentriertesten Losung ausgeht, erst zu- Mud dann abnehmen muss,
da sie fiir eine unendlich verdiinnte Losung naturlich gleich Null wird.
Bei einer bestimmten Konzentration wird also die Drehung ein
Maximum. £s liegt nahe, bei diesem Werte nach einfachen stochio-
metrischen Yerhaltnissen zwischen beiden Bestandteilen zu suchen; doch
macht Biot hierzu die entscheidende Bemerkung, dass wegen der Ver-
anderlichkeit des Koeffizienten A und der Temperaturkonstanz von B
dieses Maximum sich mit der Temperatur stetig verschiebt und somit
k&n&c bestimmten Verbindung entsprechen kann. Es verdient dies be-
sonders hervorgehoben zu werden, da der Irrtum, den Biot vermieden
hat, spater von vielen begangen worden ist.
Von der Betrachtung dor binaren Mischungen geht nun Biot zu
der der ternaren zwischen Wasser, Weinsaure und Borsaure fiber. Wie
scbon bemerkt, andert der letzte Stoff die Drehung bedeutend; daneben
tritt noch eine andere merkwfirdige Erscheinung ein. Weinsaure zeigt
') Ann. chim. phys. (3) 59, 206. 1860.
n
64 I. Geschicbte der Verwandtschaftslehre.
eine anomale Rotationsdispersion; wahrend bci fast alien Stoffen die
Drehung mit wachsender Scbwingungszahl oder abnehmender Wellen-
lange zunimmt, so dass die roten Strablen am wenigsten, die violetten
am starksten gedreht werden, fallt bei der Weinsaure die kleinste
Drebung auf die griinen Strablen, und sowobl die mit grosserer, wie
die mit geringerer Wellenlange dreben starker. Sowie man nun Bor-
saure zu den Losungen der Weinsaure setzt, verscbwindet diese Ano-
malie und das Verbalten wird das gewobnlicbe.
Mit Recbt scbliesst Biot hieraus, dass eine so grosse Veranderung
des optiscben Verbaltens das Stattbaben eines cbemiscben Vorganges
zwiscben Weinsaure und Borsaure nacbweist. Da aber aucb in diesem Falle
bei der Untersucbung wecbselnder Gemiscbe an keiner Stelle eine plotz-
licbe Anderung der Drebung beobacbtet werden konnte, so scbloss er
weiter auf das Yorbandensein einer cbemiscben Verbindung in unbe-
stimmten Verbaltnissen^) und stellte sicb die Aufgabe, die Gesetze sol-
cber Verbindungen an diesem Beispiele zu studieren.
,,Wabrend vieler Jabre babe icb micb vergeblicb bemiibt, die Auf-
gabe zu losen. Icb batte in dieser Absicbt eine grosse Zabl von bor-
weinsauren Losungen verscbiedenen Gebaltes bergestellt und fiir jede
die Dicbte und die Drebung ermittelt, obne dass icb im Stande gewesen
ware, eine stetige BeziebuDg der spezifiscben Drebungen aufzufinden,
so eigensinnig scbienen sie mir mit den Yerbaltnissen der drei ver-
einigten Stoffe sicb zu andern. Erst im Jabre 1835 nahm icb die
Arbeit auf einem metbodiscben Wege vor, auf dem icb zum Ziele ge-
langte. Um die Aufgabe zu vereinfacben, babe icb zunacbst solche
Gemiscbe untersucbt, in denen zwiscben Weinsaure und Wasser ein
konstantes Verbaltnis bestand, wabrend die Borsaure in veranderlichen,
stetig zunebmenden Mengen genommen wurde, bis an die Grenze ihrer
Loslicbkeit bei der Arbeitstemperatur. Jedes der Gemiscbe konnte daher
als ein und dasselbe „Wassertartrat" verbunden mit wecbselnden Mengen
Borsaure angeseben werden, wodurcb sie den binaren Losungen ahnlich
warden, die icb bisber studiert batte."
Das Ergebnis dieses vollkommen ricbtigen Planes war, dass hier
die Verbaltnisse etwas verwickelter lagen, als bei den einfacb wasserigen
^) Um sich ein Bild davon zu xnachen, wie es mOglich ist, dass zwei an sich
nicht aktive Stoffe» wie Wasser und Bors&ure, bei Gegenwarc von Weins&ure aktiy
werden kdnnen, bemcrkt er: ,,£8 ist so, wie zwei Stabe von weichem Eisen, die
jedem magnetischen Einflusse entzogen sind, kelnerlei Fernewirkung zeigen, w&hrend
sich diese Eigenschaft alsbald in ihnen entwickelt, sowie man sie gleichzeitig in
die N&he eines Magneten bringt, dessen Einfluss sie entstehen l&sst'*
Altere Geschichte der Affinit&tsbestimmungen. 65
Losangen: statt der geradlinigen Abhangigkeit zeigte sich eine nach der
Form einer rechtwinkligen Hyperbel. Ist ff der Anteil Borsaare im 6e-
samtgewicht der Mischnng, so gilt die Formel
vo A, B und C drei Eoeffizienten sind, die in jeder Reihe, die aus
einer bestimmten Weinsaurelosung bergestellt ist, besondere Werte
haben. Fiir A ergiebt sich alsbald die einfache Bedeutang, da (a) = A
for ^ = 0 wird; A ist also die Drehung der reinen Weinsaurelosung.
Es brauchen also nur die Werte B und C fiir jede Reihe bestimmt zu
werden; sie nehmen mit zunehmendem Wassergehalt ab.
Wie Yon diesen Messungen aus der Ubergang zu dem allgemeinen
Falle zu machen sei, ist eine Aufgabe, welche Biot nach seinem Bericht
wieder lange vergeblich zu losen gesucht hat. „Endlich gelangte ich
nach 15 Jahren fruchtloser Versuche im Jahre 1850 dazu, diesen Schritt
zu thun, nach einer Methode, auf die ich friiher hatte verfallen sollen.
Diese besteht darin, zuerst solche Losungen zu betrachten, die als
Wassertartrat mit wechselnden Mengen Borsaure angesehen werden
konuen; alsdann solche, die Borsauretartrate mit wechselnden Mengen
Wasser sind. Dieser Handgriff der Reduktion ist ahnlich dem der Geo-
meter bei der Untersuchung gekriimmter Blachen, indem sie sie durch
zwei Reihen paralleler Ebenen schneiden, die zu einander senkrecht
stehen.'^
Das Ergebnis dieser Betrachtungsweise war ungemein einfach: ver*
diinnt man eine gegebene Mischung von Weinsaure und Borsaure mit
wachsenden Mengen Wasser, so andert sich die Drehung linear mit dem
Anteil Wasser in der gesamten Menge, ganz wie bei der reinen Wein-
saure, und die Drehung ist wieder darstellbar durch eine Formel
(a) = a + be,
wo e wieder den Bruchteil Wasser in der Losung darstellt; a ist natiir-
lich die Drehung der wasserfreien Substanz.
Was die Werte dieser Koeffizienten anlangt, so nimmt a schnell
mit wachsender Borsauremenge zu, wahrend b aus positiven Werten in
negatiYe iibergeht, wenn die Borsauremenge wachst. Die beiden Koef-
fizienten lassen sich aus zwei Reihen yon Messungen der im vorigen
Abschnitt beschriebenen Art berechnen, indem man auf zwei Kurven,
welche die Drehungen zweier verschiedenen „Wassertartrate" bei wech-
seinder Borsaure darstellen, fiir das ins Auge gefasste Verhaltnis zwi-
schen Borsaure und Weinsaure die Werte aufsucht und zwischen diesen
Ottwald, Chemie n, 2. 5
66 I* Gescbichte der Yerwandtschaftslehre.
die Drehungen fiir alle anderen Werte des Wassergehaltes e linear
interpoliert*). Ist der Gehalt an Borsaure etwa ^/^q der Weinsaure,
80 wird der Koeffizient b gleich Null und die Drehung ist unabhangig
von der Verdiinnung.
Eine dritte Abteilung der Abhandlung hat die Vorgange ztim
Gegenstande, welche das Schmelzen der Weinsaure begleiten. Man er-
halt dabei eine amorpbe Masse, die entweder die gleiche Zusammen-
setzung hat, wie die Weinsaure, oder 1 bez. 1-5 Atome Wasser weniger.
In Wasser aufgelost zcigen alle diese geschmolzenen Massen die gleiche
Drehung, wie unveranderte Weinsaure; setzt man aber Borsaure dazu,
so wird sie erstens zunehmend langsamer aufgelost, je mehr Wasser
die Saure beim Schmelzen verlorcn hatte, und ausserdem sind die Dre-
hungen in gleicher Reihenfolge geringer. Im Laufe der Zeit vermehren
sich die Drehungen, um schliesslich mit denen einer unveranderten
Weinsaure unter gleichen Verhaltnissen identisch zu werden.
Was die Deutung der Erscheinung anlangt, so ware, wie Biot be-
merkt, die nachstliegende Annahme die, dass ein Teil der Weinsaure
so verandert ist, dass er seine Yerbindungsfahigkeit mit der Borsaure
verloren hat, so dass nur der unveranderte Teil die Erhohung der
Drehung mit Borsaure zeigt. Doch halt Biot eine solche Auffassung
fiir nicht zulassig, da solche Losungen auf Zusatz von mehr Borsaure
alsbald eine Vermehrung der Drehung zeigen, also noch Yerbindungs-
fahigkeit mit dieser besitzen. Diese Bemerkung ist aber nicht stich-
haltig, denn wenn in der That die Losung aus einem Gemisch von un-
^) Man stellt sich die Gesamtheit der spezifischen Drehungen am besten als
eine Fl&che vor, deren horizontale Koordinaten x und y gleich dem Verh<Dis
zwischen Wasser uod Weins&ure, bez. zwischen Bors&ure und Weins&ure gemacht
werden, wSLhrend als dritte Eordinatez die spezifische Drehung eingetragen wird. Dann
liegen die ersterw&hnten hyperbolischen Kurven in Ebenen parallel der xy-£bene,
da sie fur konstantes x ausgeftlhrt sind. Denkt man sich zwei solcher Enrven
fiir verschiedene x- Werte eingetragen und Ebenen parallel der xz-Ebene dorch-
gelegt, so giebt die geradlinige Verbindung beider Schnittpunkte den Verlauf der
spezifischen Drehung fQr konstantes y, d: b. fiir konstantes Yerhaltnis zwischen
Weins&ure und Bors&ure und wechselnde Wassermengen an. Bewegt man eine Gerade
so l&ngs der beiden Kurven, dass sie immer der xz-Ebene parallel bleibt, so er-
h&It man die Fl&che, welche die spezifische Drehung far alle Yerh<niBse der
drei Bestandteile darstellt. Diese Gerade steigt fttr kleine y -Werte an, wena
man sie im Sinne der x-Achse verfolgt, die Ansteigung nimmt mit zunehmendem y
ab; bei einem bestimmten Werte von y wird die Gerade der xy-Ebene parallel,
und weiterhin senkt sie sich gegen diese Ebene. Biot selbst hatte leider vers&umt,
dies Yerhalten an der r¨ichen Darstellung eingehendcr zu schildem, wiewohl
er auf die Mdglichkcit einer solchen Darstellung hingcdeutet hat.
Altere Geschichte der Affinit&tsbestimmangeii. 67
yeraDderter und veranderter Weinsaure besteht, von denen nur die erste
mit Borsaure aich verbinden kann^ so muss nach dem friiheren die
Drehnng dieses ersten Teils gleichfalls stetig zunehmen, wenn man die
Borsauremenge vermehrt, ganz wie es die Beobachtung ergeben hat.
£in letzter Teil von Biots Arbeit bezieht sich auf die Anderung
der Drebung, welche neutrale . Tartrate dorch deu Zusatz von freiem
Alkali erfahren. Die Drehung nimmt stark ab und kann durch Null
ins Negative gebracht werden; Verdtinnung mit Wasser stellt die Rechts-
drehung wieder ganz oder teilweise her. Doch begniigt er sich mit
di^en Andeutnngen, und Uberlasst die Ausarbeitung des Problems der
Zokunft.
Aus der Gesamtheit dieser Forschungen hatte sich schon zu jener
Zeit manches wichtige Resultat ziehen lassen konnen; insbesondere sind
8ie ausgezeichnete Belege fur die Thatsache der Massenwirkung. In-
dessen war Biot Physiker und Mathematiker und deshalb wenig ge-
eignet, die chemische Bedeutung seiner Beobachtung sachgemass zu
verwerten. Andererseits lagen diese Fragen zu der Zeit der Veroffent-
lichong dieser Arbeiten ganz ausserhalb des Interessenkreises der Che-
niker, welche zudem damals die Massenwirkung iiberhaupt zu leugnen
geaeigt waren (S. 49); schliesslich war der untersuchte Fall derartig
Terwickelt. dass seine Deutung im chemischen Sinne auch heute noch
nicht durchgefuhrt worden ist, wiewohl die Grundlagen dafiir gegen-
w'artig wohl zuganglich waren. Die eingangs geschilderte Gleichgiltig-
keit der Zeitgenossen, wie der Spateren gegen diese wertvoUen Arbeiten
findet so ihre Erklarung.
18. Die Entdeoknng des Gesetses der BeaktionsgeBohwiiLdig-
keiten. Ganz vereinzelt zwischen den mannigfaltigen unzulanglichen
theoretischen und experimentellen Versucben, in das Gebiet einzudringen,
welche bisher und auch noch weiterhin den Inhalt der Geschichte der
Verwandtschaftslehre bildeten, steht eine Arbeit, welche, wenn auch auf
einen einzelnen Fall beschrankt, doch nach beiden Seiten bin oinen ent-
Bcheidenden Fortschritt gebracht hat. Ein sonst in der Wissenschaft an
keiner Stelle hervorgetretener Forscher, Ludwig Wilhelmy, hat 1850 in
einer Arbeit „iiber das Gesetz, nach welchem die Einwirkung der Sauren
aaf den Rohrzucker stattfindet*' ') nicht nur ein experimentelles Muster
geliefert, wie der Zeitverlauf eines chemischen Vorganges studiert werden
'^ Pogg. Ann. 81, 413. 1850. Elassiker der exakten Wissenschaften, Nr. 29.
^pzig} 1891. — An letzterer Stelle finden sich biographische Mitteilungen fiber
^nihelmy tod der Hand seines Freandes Quincke.
5*
68 L Geschichte der Verwandtschaftslebre.
muss, sondern er hat gleichzeitig die tbeoretische Fassung and Losiing
der Aufgabe in einer fiir alle Zukunft massgebenden Weise durcbgefiihrt.
Wilhebny ist sicb bewnsst, dass der von ihm untersacbte Fall „ge-
wiss nur ein einzelner Reprasentant einer grosseren Reibe von Erscbei-
nungen sein wird'S und fasst demgemass seine Aufgabe allgemein auf,
indem er die vorbandenen Veranderlicben, Natur und Menge der Saure,
Menge des Zuckers, Temperatur samtlicb einzeln variirt, um das Gesetz
ibres Einflusses kennen zu lemen. Er gelangt dabei zur Aufstellung
und Nacbweisung des Gesetzes der Massenwirkung, namlicb dass die in
einer gegebenen Zeit umgewandelte Menge proportional der jeweilig
vorbandenen Menge ist.
Zunacbst wird die Frage gestellt, ob nur der Zucker eine Anderung
erleidet, oder ob gleicbzeitig die Saure beim Vorgange gebunden wird.
Da im zweiten Falle beide Stoffe eine Anderung ibrer Menge erleiden,
so setzt er eine Gleicbung an, nacb welcber die Gescbwindigkeit von
dem Produkt der beiden wirkenden Mengen abbangt, und vergleicht
die Ergebnisse dieses Ansatzes mit der Erfahrung. Es ergeben sicb ent-
scbeidende Widerspriicbe und soniit folgert er, dass die Saure bei der
Inversion keine Yeranderung erfabrt.
Nacb diesem Ergebnis kann der einfacbere Ansatz versucbt werden,
dass die Yeranderung des Zuckers in einer gegebenen Losung nur von
seiner eigenen Menge abbangt.
JLs sei . . . dZ der Zuckerverlust in dem Zeitelement dT und zwar
nebme man an, derselbe sei bestimmt durcb die Formel
--|^ = MZS,
worin M den mittleren Wert der unendlicb kleinen Quantitat der Zucker-
einbeit bedeutet, welcbe im Zeitelement durcb die Einwirkung der vor-
bandenen Saureeinbeit umgewandelt wird. (Z ist die Menge des Zuckers,
S die der Saure.)
Obige Gleicbung giebt durcb Integration
X
log Z = —A
MSdT
0
oder da, wie bereits gezeigt, S konstant, andererseits aucb M unab-
bangig ist von Z und daber zugleich von T, welches spater noch durch
Yersuche nachgewiesen werden soil:
logZ = — MST + C.
Fur T = 0 ist Z = Zo, mithin
logZo— logZ = MST.«
Altere Qeschichte der Affinit&tsbestimmungeu. 09
Damit ist zum ersten male der Verlauf eines chemischen Yorganges
in mathematische Form gefasst, und die Zukunft hat die Yoraussicht
Wilhelmys, dass es sich um eine allgemeine Beziehung handele, iiber
Erwarten bestatigt: das aufgestellte Gesetz gilt fur samtliche Yorgange,
bei denen es sich um die chemische Anderung eines einzigen Stoffes
handelt, es ist, um einen spater eingefiihrten Ausdruck zu braucben, das
allgemeioe Gesetz der Yorgange erster Ordnung.
Als spezifische Eonstante, welche das Mass der Reaktionsgeschwin-
digkeit bildet, tritt der Koeffizient M auf, dessen Definition bei Wilhebny
allerdings nicht ganz durchsichtig ist; die Feststellung, inwiefem er yon
den versduedenen Umstanden beeinflusst wird, bildet den weiteren Inhalt
der Arbeit.
Wilhelmy zeigt zunachst, dass M von der Zeit unabhangig ist, iii-
dem er die Anderung der Drehung einer mit Saure versetzten Zucker-
losuDg bei konstanter Temperatur im Laufe der Zeit beobachtete; die
Grosse — jP, ^^ — anderte sich proportional der verlaufenen Zeit
Da sich gleichzeitig die Zuckermenge wahrend der Reaktion bis zum
Yerschwinden yermindert hat, so ist auch die Unabhangigkeit des M
von der Zuckermenge bewiesen. Auch erhielt Wilhelmy durch Yersuche
mit yerschiedenen anfanglichen Zuckermengen das gleiche Ergebnis^).
Beziiglich des Einflusses der Sauremenge ergaben sich yerwickeltere Yer-
haltnisse, die Wilhebny durch eine Exponentialformel darzustellen yer-
sucht Die Temperatur hat einen sehr bedeutenden Einfluss; Wilhelmy
versQchte auf Grund molekularhypothetischer Annahmen eine Formel,
die ihm zwar geniigenden Anschluss an die Erfahrung gab, deren Eoeffi-
zientenwerte aber yon den theoretisch geforderten sehr weit yerschieden
waren. Dagegen fand Wilhelmy gleichzeitig das sehr wichtige Resultat,
dass der Temperatureinfluss bei den yerschiedenen untersuchten Sauren
iiberall der gleiche war, so dass die bei einer Temperatur bestimmten
Verhaltnisse der Koeffizienten bei alien anderen Temperaturen die gleichen
bUeben.
Die Natur der Saure erwies sich yon sehr grossem Einflusse auf
die Geschwindigkeit, doch finden sich keine Andeutungen, diese Yer-
schiedenheiten mit anderen Eigenschaften der Sauren in Beziehung zu
setzen.
^) Dies Resultat ist nur in seinem ersten Telle genaa, wenn der verschwin-
dende Rohrzacker dorch eine entsprechende Menge Invertzncker ersetzt wlrd. Ist
das nicht der Fall, so nimmt die Geschwindigkeit mit steigender Zuckermenge
etwas zn.
70 I- Geschichte der Verwandtschaftslehre.
Die Abhandlung Wilbelmys, die wir jetzt als die Grundlegung der
chemischen Dynamik bezeichnen miissen, blieb nicht nur zur Zeit ihrer
Veroffentlichung ganz unbeachtet, sondern aucb lange nachber, als die
gleichen Probleme wieder bearbeitet wurden. Erst 1884 wurde auf ihre
grundlegende Bedeutung bingewiesen^), welcbe seitdem allgemein aner-
kaont worden ist.
19. L5wenthal tmd Lenssens »,ohemi80he Untersuohnngen^. Wah-
rend Wilhelmys Arbeit die mathematische Gesetzmassigkeit des einfach-
sten Falles chemischer Reaktionsverlaufe in vollkommen befriedigender
Weise erledigt hatte, war sie fiber die spezifiscb cbemische Frage nach
dem Zusammenhange des charakteristiscben Koeffizienten mit der Natur
der Saure hinweggegangen. Diese Liicke wurde etwas spater durcb eine
sehr bemerkenswerte Arbeit yon Lowentbal und Lenssen') ausgefiillt,
welcbe eben diese Frage zum Gegenstande hat, die gleichfalls unter
allgemeineren Gesichtspunkten aufgefasst wird.
Der Untersuchung liegt der richtige Satz zu Grunde, dass die Grosse
der Zuckerinversion mit der Affinitat der Saure, die sie bewirkt, in Be-
ziehung steht. Indessen sind die folgenden Worte alles, was die Yer-
fasser hieriiber aussem: „Um die Wechselwirkung der Sauren, Basen
und Salze zu verfolgen, ist ein trefifliches Mittel durcb die Umwandlung
des Rohrzuckers in Glykose gegeben. Eine jede Saure wirkt umwan-
delnd, je nach ihrer Aciditat jedoch verschieden. Man kann aus der
Menge der Glykose, die sich bei gegebener Zeit und Temperatur aus
einer konstanten Menge Rohrzucker bildet, auf die Menge einer be-
stimmten Saure die sichersten Schliisse Ziehen/*
Dass eine tiefere Begriindung dieser Annahme urn jene Zeit nicht
moglich war, braucht kaum bervorgehoben zu werden, da damals irgend
ein Yerfahren, um die Affinitatsgrosse der Sauren zu messen, nicht be-
kannt war. Nach einer Richtung batten indessen die Yerfasser ihre
Ergebnisse schon damals verbessern konnen. Das Gesetz, nach welchem
die Inversion in der Zeit erfolgt, war schon durch Wilhelmy (S. 68) be-
kannt gemacht worden, und es ware moglich gewesen, die Wirkung eines
bestimmten Gemisches durch die entsprechende Inversionskonstante genau
zahlenmassig auszudriicken. Die Arbeit von Wilhelmy scbcint indesseu
den Yerfassern vollig unbekannt gewesen zu sein; sie sind dadurch ge-
zwungen, sich mit einer blossen Bestimmung des Grosser oder Kleiner
bei yergleichbaren Yersuchen zu begniigen. Auch geben sie an» dass
«) Ostwald, Joum. f. pr. Ch. 29, 385. 1884.
•) Joum. f. pr. Ch. 85, 321. 1852.
Altere Geschichte der Affinit&tsbestimmungen. 71
sie nicht im Stande gewesen sind, konstante Temperaturen auf hiulang-
liche Zeit zu erhalten, and auch dadarch zu dem System der Parallel-
Tersucbe gezwungen worden sind.
Die Zahl einzelner Thatsachen, welche Lowenthal und Lenssen nach
ihrer Methode feststellten, ist sehr bedeutend. Sie bestatigten zunachst
Wilheboys Ergebnis, dass uiter gleicben Umstanden die invertierte Zucker-
meuge dem Saaregehalte annahernd') und dem Zuckergebalte ziemlicb
genau proportional ist und mit steigender Temperatur sehr scbnell
znnimmt.
Aquivalente Mengen yerschiedener Sauren zeigten folgendes Ver-
haiten: Chlor-, Brom- und Jodwasserstoffsaure, Cblorsaure und Salpeter-
saure haben die grosste Wirkung, die bei alien gleich ist. Schwacher
wirken der Reibe nach Schwefel-, Phosphor-, Oxal- und Essigsaure. Zwei
Saaren mit einander vermischt (es wurde Salzsaure mit Schwefelsaure
genommen) wirken gleichzeitig, ohne sich zu storen.
Neutralsalze inyertieren den Zucker nicht. Wohl aber erhohen sie
die Wirkang ihrer freien Sauren, so dass z. B. ein kochsalzhaltiges 6e-
misch von Zucker und Salzsaure schneller invertiert wii'd, als dasselbe
Gemisch ohne Kochsalz. Bei viel Saure und wenig Salz verschwindet
der Einfluss*). Die Natur des Metalls des Salzes hat einen Einfluss, der
iodessen nicht gross ist. Die Erscheinung tritt bei alien starken ein-
basischen Sauren (den obengenannten) auf, doch mit yerschiedener Starke;
Jodide wirken mehr als Bromide, und diese mehr als Chloride. Eine
ganz ahnliche Starkung der Wirkung konnte beziiglich der Chlorbildung
darch Einwirkung der Salzsaure auf Bleihyperoxyd beobachtet werden.
^) In Bezug auf den Einflnss der S&uremenge scheinen einige Fehler bei der
Mesfiung unterlaufen zu sein, welche die Yerhaltnisse verwickelter erscheinen
liessen, als sie in Wirklichkeit sind.
*) Die Verfaaser stellten sich aach die Frage, ob die Zeit einen Einfluss auf
diese Beschleanigung durch Neutralsalze habe, und gelangten zu dem Ergebnis,
data es der Fall sei; und zwar so, dass mit zunehmender Zeit die Beschleunigung
Tenchwinde. Dies Ergebnis ist natOrlich eine Folge ihrer Beobachtuugsmethode,
die niir auf den Gesamtbetrag der Inversion RQcksicht nimmt. Da bei alien in-
vertierenden Stoffen schliesslich die Inversion eine voUst&ndige ist, so verschwinden
oatorgemastt alle Unterschiede mit der Zeit, nicht nur der hier besprochene. Sie
Utten vergleichbarere Zahlen erhalten, wenn sie nicht die in gleichen Zeiten in-
Tenlerten Mengen, sondem die zur Inversion gleicher Mengen erforderlichen Zeiten
ftls Maasstab genommen h&tten, was freilich die Erhaltung einer einigermassen kon-
■tanten Temperatur voraussetzt. Aus demselben Grunde sind ihre Angaben tLber
dgsk £infla88 der Temperatur auf die Beschleunigung durch Neutralsalze falsch.
An einer Stelle (S. 338) machen sie auch eine dahinzielende Bemerkung, begehen
&ber alsbald wieder einen Fehler in der Beurteilung der Yerhaltnisse.
72 I- Geschichte der Verwandtschaftslehre.
Die Salze der Sesquioxyde invertieren den Zucker, und zwar ver-
haltnissmassig starker bei grosserer Verdiinnung. Daraus wird richtig
geschlossen, dass die Salze durch das Wasser zersetzt werden, so dass
freie Saure abgespalten wird. Auch steht damit im Einklange, dass ein
Gemisch yon Salzsaure und Eisenchlorid schwacher wirkt, als der Summe
der beiden Einzelwirkungen entspricht: die Saure wird durch einen Teil
des abgespaltenen Eisenoxyds neutralisiert Wie Eisenchlorid verhalt
sich Aluminiumchlorid.
Borsaure venniDdert die Wirkung der Salzsaure, wirkt also neutra-
lisierend auf sie^).
Zinnchlorid yerhalt sich in wasseriger Losung, wie eine aquivalente
Salzsaurelosung, ist also durch das Wasser voUig gespalten.
Schwefelsaure verhielt sich gegen ihre Neutralsalze entgegengesetzt
wie die starken einbasischen Sauren: ihre Wirkung wurde verzogert.
Sogar schwefelsaure Thonerde wirkt in solchem Sinne. Die Wirkung
ist nicht an aquivalente Mengen gebunden, yielmehr ist der relative
Einfluss des neutralen Sulfats um so grosser, je geringer seine Menge ini
Verhaltnis zur Schwefelsaure ist. Zweiwertige Baseu wirken ahnlich
wie einwertige, so dass eine Tendenz zur Bildung eines sauren Salzes
(die auf die einsaurigen Basen beschrankt sein miisste) nicht zu er-
kennen ist.
Ahnlich wie die Schwefelsaure verhalt sich die dreibasische Fhos-
phorsaure. Das Mononatriumphosphat invertiert so gut wie gar nicht,
und schon sehr kleine Mengen des gewohnlichen Binatriumphosphats
driicken die Inversionsgeschwindigkeit der freien Phosphorsaure sehr
stark herab.
Aquivalente Mengen der mehrbasischen Sauren wirken in uach-
stehender Reihenfolge: Schwefelsaure, Phosphorsaure, schweflige Saure,
Arsensaure.
Lowenthal und Lenssen begriinden auf diese Erfahrungen einen
wesentlichen Unterschied der ein- und der mehrbasischen Sauren, indem
die ersten durch ihre Neutralsalze gesteigert, die letzteren geschwacht
werden. Es ist dies ein Irrtum, der erst sehr spat bei einer umfassen-
deren Untersuchung dieser Verhaltnisse erkannt worden ist; er ware
schon hier vermieden worden, wenn nur eine schwache einbasische Saure,
z. B. Essigsaure, bei Gegenwart ihres Neutralsalzes untersucht wor-
den ware.
^) Dieser Versuch ist inzwischen nicht wiederholt worden. Wahrscfaeinlich
liegt eine Beeinflussung des Z ackers, und nicht eine der Salzs&ore dorch die Bor-
s&ure vor.
Altere Geschichte der Affinit&tsbestimmungen. 73
Damit schliessen diese merkwiirdigen und in ihrer Zeit fast einzig
d&stehenden Versuche ab. Sie sind damals weder fortgesetzt, noch von
anderer Seite beacbtet worden: ein Beispiel dafur, in welcbem Masse
aoch wichtige und folgenreiche Thatsacben unbeacbtet bleiben konneu,
wenn die allgemeinen Interessen der Zeit solcben Fragen nicbt zuge-
wandt sind.
Das gesamte Interesse der Cbemiker jener Tage konzentrierte sicb
auf die Probleme der organiscben Gbemie, und da zwiscben diesen und
dem bier bearbeiteten Gebiete ein Zusammenbang nicbt ersicbtlicb war,
so wurden diese neuen Tbatsacben ebenso unbeacbtet gelassen, wie mancbe
aodere nicbt minder merkwiirdige dieses Gebietes.
20. Untersnchungen von Gladstone. Durcb Arbeiten, welcbe im
Jahre 1855 beginnen^), bat J. H. Gladstone die bis dabin sebr be-
grenzten Hilfsmittel zur Erkennung des Zustandes bomogener Losungen
erheblicb erweitert. Zunacbst benutzte er die Far be gewisser Salze.
Miscbt man bekannte Mengen verscbiedener Eisensalze und Sulfocyanide,
so entstebt das blutrote Eisenrbodanid. „Docb wurde nie alles Eisen
in dasselbe yerwandelt, und es zeigte sicb, dass die umgewandelte Menge
abhing von der Natur der mit dem Eisenoxyd verbundenen Saure und der
mit dem Scbwefelcyan verbundenen Base^ und dass es nicbt darauf an-
kam, ?de Basen und Sauren vor ibrer Miscbung verbunden wareu, wenn
nor dieselben Mengen in Losung gebracbt wurden.^'
Wenn man gleicbe Mengen eines Eisenoxydsalzes und eines Rbo-
danids miscbte, und dann bekannte Mengen eines der beiden Stoffe
hinzusetzte, so wucbs immer der Gebalt an rotem Salz, und zwar im
G^ensatz zu Bunsen und Debus stetig und nicbt spruugweise.
Bei Anwendung aquivalenter Mengen von salpetersaurem Eisenoxyd
und Rbodankalium entstanden nur 134 Prozent der moglicben Menge
Eisenrbodanid, und selbst bei Anwendung von 375 Aq. Rbodankalium
blieb immer nocb eine merklicbe Menge des Nitrats unzersetzt. Fremde
Salze vermindem gleicbfalls die Menge. des Eisenrbodanids.
Abnlicbe Besultate wurden mit dem gallussauren, mekonsauren,
PTTomekonsauren, komensauren und essigsauren Eisenoxyd, so wie mit
der Losung von Berlinerblau in Oxalsaure erbalten. AUe entspracben
den Gesetzen von BertboUet.
Sogar eine Reibe von Yerwandtscbaftszablen fiir die Affinitat der
Saoren zum Eisenoxyd, verglicben mit dem Kali, giebt Gladstone. Wenn
») Phil. Mag. (4) 9, 535. 1855, auch J. pr. Ch. 67, 1. 1859. AusfQbrlich
Hulo*. Traas. 1855, 179.
74 I* Geschichte der VerwandtschaftBlehre.
Rhodanwasserstoff gleich 1 gesetzt wird, so ist Salpetersaure = 4» Salz-
8aure = 5, Schwefelsaure = 7 , Gallussaure = 10, Pyromekon-, Mekon-
und Essigsauro = 30, Bromwasserstoff-, Eomen- und Citronensaure = 100
und Ferrocyanwasserstoff = 170. Die Tabelle ist oflfenbar ganz irrtiim-
lich und hat nor historisches Interesse.
Audere Verbindungen, welche Gladstone fiir denselben Zweck be-
nutzte, waren das rote Goldbromid und das gleichgefarbte Platinjodid.
Das blaue Eupfersulfat nahm mit verschiedenen Chloriden die
griine Farbe des Kupfercblorids an. Manganoxyd lost sich in Schwefelsaure
und Phosphorsaure mit roter, in anderen Sauren mit brauner Farbe;
Schwefelsaure oder Phosphorsaure andern die Farbe des Chlorids und
umgekehrt Salzsaure die des Sulfats. Ahnliches zeigt das griine Chlorid
und das purpurne Fluorid des Molybdans.
Weiter wurde die Fluorescenz des sauren Chininsulfats benutzt^
welche durch Chloride, Bromide oder Jodide verandert wurde; anderer-
seits macht Schwefelsaure die Losungen von salzsaurem Chinin fluores-
cierend. Gleiches wurde mit Chinidin und Aesculin beobachtet
Gladstone fasst die Ergebnisse dieser Arbeit in folgende Regeln
zusammen:
1. Wenn zwei oder mehre binare Verbindungen vermischt werden,
so dass alle entstehenden Produkte Freiheit haben, auf einander zu
wirken, so tritt jedes elektropositive Element in Verbindung mit jedem
elektronegativen und zwar in bestimmten, konstanten Verhaltnissen.
2. Diese Verhaltnisse sind unabhangig von der Art und Weise, in
welcher urspriinglich die verschiedenen Elemente angeordnet sind. Sie
sind ferner nicht nur die Resultate der verschiedenen Anziehungskrafte
zwischen den verschiedenen Substanzen, sondern hangen auch von der
Masse jeder der anwcsendeu Substanzen ab.
3. Eine Veranderung in der Masse einer der binaren Verbindungen
zieht eine Anderung im Betrag jeder anderen der binaren Verbindungen
nach sich, und zwar in regelm^ssig fortschreitendem Verhaltnis. Plotz-
liche Obergange treten nur ein, wenn eine Substanz mit einer anderen
sich in mehr als einem Verhaltnis zu verbinden vermag.
4. Das Gleichgewicht der Verwandtschaften ordnet sich meistens
in sehr kurzer Zeit, aber in maiichen Fallen erreichen die Elemente
den Endzustand erst nach Stunden.
5. Ganz verschieden werden die Erscheinungen, wenn Fallung, Ver-
fliichtigung, Krystallisation und ahnliche Wirkungen eintreten, weil dann
durch die Entfernung der Substanzen das zuerst hergestellte Gleich-
gewicht wieder aufgehoben wird.
Altere Qeschichte der Affinit&tsbestimxnungen. 75
6. Es ist daher ein griindlicber Irrtum, wenn man die relative
Starke der Verwandtschaft durch Fallung bestimmen will, oder wenn
num eine quantitative analjtische Methode auf die Farbe einer Losung
begronden will, in welcher zugleich farblose Salze anwesend sind, oder
wenn man eine so allgemeine Kegel aufstellen woUte, wie: die starkste
Saore verbindet sich mit der starksten Base.
Zn diesen Satzen bringen spatere Arbeiten^) Belege, die ich nicht
im einzelnen wiedergeben kann. Doch soil erwahnt werden, dass die
voD Rose unerklart gelassene Fallung der salzsauren Auflosung von
Barynmsulfat (S.57) durch Chlorbaryum und Schwefelsaure ihre richtige
Deotnog findet
Femer wird der zweite der oben gegebenen Satze an vielen Ver-
SQchen erhartet'). So zeigten Losungen aus aquivalenten Mengen Rho-
dankalium, Ealiumnitrat und Eisensulfat gleiche Farbung, wie die Zu-
sammenstellung Rhodankalium, Ealiumsulfat und Eisennitrat u. s. w.
Yon weiteren, fur denselben Zweck benutzten Methoden soil noch
die der Diffusion und der Zirkularpolarisation erwahnt werden. Ein
Gemenge von gleichen Aquivalenten Chlomatrium und Baryumnitrat
lasst seine Bestandteile in solchen Anteilen diffundieren, dass das Chlor
weder dem Natrium, noch dem Baryum aquivalent ist; es miissen also
notwendig alle vier moglichen Salze in der Losung vorhanden sein.
Graham hat friiher ahnliches gefunden.
Die Messung der Zirkularpolarisation gewahrte endlich die Mog-
licbkeit quaiititativer Messungen. Nicotin ist linksdrehend, wahrend das
saLssanre Salz fast inaktiv ist. Eine Nicotinlosung, welche — 14^ ab-
lenkte, wurde mit der aquivalenten Menge Ghlorammonium versetzt. Die
Ablenkung fiel auf — 10-5^, so dass ein Viertel des Nicotins die ent-
^rechende Menge Ammoniak verdrangt hatte und in salzsaures Salz
iberg^aogen war. Auch Cblornatrium gab eine Reduktion, die aber
nel schwacher war. Der Schluss, dass Natron starker ist, als Ammo-
niak, ist richtig, der Zahlenwert dieses Verhaltnisses aber ist sehr falsch.
Gladstone weist hier auf die Moglichkeit hin, Zahlentabellen der
relativen Affinitat zu ermitteln.
Weinsanre gab sehr verwickelte Ergebnisse, die aufzuklaren ihm
nicht gelang.
21. nntersaohungen von A. Chiosynski. Ein Yersucb, die Gesetze
der chemischen Massenwirkung zu erkennen, welchen A. Ghiczynski unter
M J. pr. Ch. 69, 257. 1856, aus Journ. Chem. Soc. 9, 144. 1856.
*) J. pr. Ch. 88, 449. 1863, aus Journ. Chem. Soc. 15, 302. 1862.
76 I- Geschichte der Yerwandtschaftslehre.
Loth. Meyers Leitung ausfiihrte*), misslang wegen ungeeigneter Wahl
des Yersuchsmaterials. Es wurden konstante Mengen Phosphorsaure mit
wechselnden Mengen Ghlorcalcium und Chlormagnesium gemischt und das
Ganze mit Ammoniak im Uberschuss gefallt. Dabei entstand ein Nieder-
schlag, welcher samtliche Phosphorsaure, verbunden mit wechselnden
Mengen Yon Ealk, Magnesia und Ammoniak enthielt. Jc mehr Kalk von
Tornherein zugegen war, um so mehr erschien davon auch im Niederschlag,
und umgekehrt Doch machte sich die Anomalie geltend, dass haufig
mehr von den Basen im Niederschlag vorhanden war, als der Bildung
der normalen Phosphate entsprach, und dadurch sind die Eigebnisse
unklar und einer genauen Berechnung unzuganglich geworden.
Die theoretischen Gesichtspunkte sind wesentlich die von Berthollet.
Doch erkennt der Autor gleichfalls, dass die Meinung, die Starke der
chemischen Yerwandtschaft sei proportional der Sattigungskapazitat,
unhaltbar ist und modifiziert sie derart, dass er die in Aquivalenten aus-
gedriickten Mengen mit einem Faktor multipliziert, den er den Ver-
wandtschaftskoeffizienten nennt, um die chemische Masse in Ber-
thoUets Sinne zu erhalten. Diese Verwaudtschaftskoeffizienten setzt
Cbiczynski mit der Menge als veriinderlich an, und findet, dass sie fiir
Magnesia wie fiir Kalk dieselbe Funktion der Menge sind.
Wenn Chiczynski, statt die urspriinglich vorhandenen Mengen Kalk
und Magnesia mit denen im Niederschlag zu vergleichen, seine Rech-
nung auf die Mengen bezogen hatte, welche nach erfolgter Fallung in
der Fliissigkeit geblieben sind, so hatte er sich der Erkenutnis der
wahren Beziehungen viel eher genahert. Denn ersichtlicher Weise findet
das chemische Gleichgewicht zwischen den Stoffen nicht mit jenen ur-
spriinglichen Mengen statt, sondern ist durch das Verhaltnis der Stoffe
nach erfolgter Fallung bestimmt.
22. Untersuohungen von Berthelot und Fean de St. Gilles. Durch
das sehr eingehende Studium der Bildungsvorgange der zusammen-
gesetzten Ester aus Sauren und Alkoholen, welches Berthelot und Pean
de St Gilles 1862 bis 1863*) ausfuhrten, wurde die Eenntnis der
Vorgange bei chemischen Verbindungen erheblich gefordert. Dazu
eignete sich die genannte Reaktion aus mehreren Griinden ganz be-
sonders. Einmal erfolgt sie so langsam, dass man sie in alien ihren
Stufen untersuchen kann, sodann ist diese Untersuchung ausserst leicbt
und schnell auszufiihren, indem ein einfacher acidimetrischer Titrir-
») L. A. Suppl. 4, 226. 1866.
') A. ch. ph. (3) 65, 385. 1862; ebenda 66, 5. 1862; ebenda 68, 225. 1863.
Altere Geschichte der Affinitfttsbestimmungen. 77
Tersuch ansreicbt, den Zustand des Systems zu bestimmen, uud endlieh
stellt der untersuchte Vorgang den erst spater als typisch erkannten
Fall einer reciproken Reaktion dar,*d. h. eines Vorganges, bei dem
die Umsetznngsprodukte der vorfaandenen Stoffe ihrerseits im Stande
sind, eine entgegengesetzte Reaktion hervorzorufen, bei welcber wieder
die nrspriinglichen Stoffe entstehen. Im vorliegendeu Falle setzt sich
Alkohol and Saure in Ester und Wasser urn, nnd nmgekehrt bildet sich
ans einem Gremenge von Ester und Wasser bald Saure und Alkohol.
Die Verbindung geht langsam und progressiv vor sich.
So batten sich Ton einem Oemenge aquivalenter Anteile von Alkohol
und Essigsanre bei 6^ bis 8^ nach einem Tage 0-9, nach 3 Tagen 2*7»
nadi 72 Tagen 26-0 Proz. zu Ester yereinigt.
Die Verbindung ist niemals vollstandig. Bei gewohnlicher
Temperatur waren von einem gleichen Gemenge nach 276 Tagen 53*7 Proz.
in Ester iibergegangen. Bei 100^ betrug die Menge nach 150 Stunden
66^ Proz^ bei 260<> nach 100 Stunden 69-8 Proz.
Die Menge des gebildeten Esters strebt einem Grenzwert
za. Es gab ein Aquivalent Alkohol und ein Aquivalent Benzoesaure
bei 200<> nach 5 Stunden 49-0, nach 20 Stunden 66*3, nach 48 Stunden
66-5 Proz^ welche Zahl auch bei langerem Erhitzen sich nicht anderte.
Wenn man umgekehrt einen Ester mit der aquivalenten Menge
Wasser zusammenbringt, so lassen sich ganz ahnliche Satze aussprechen:
Die Zersetzung zu Alkohol und Saure geht progressiy vor sich, sie ist
oie vollstandig, sondern strebt einem bestimmten Grenzwert zu. Dieser
Grenzwert ist, wenn entsprechende Mengen von Esta: und Wasser an-
gewandt werden, identisch mit dem durch Wechselwirkung von
Saure und Alkohol erhaltenen.
Auf die Geschwindigkeit der Esterbildung hat die Temperatur
einen sehr grossen Einfluss. Wahrend zwischen 6® und 9® zur Um-
wandlung von 30 Proz. des Gemisches 95 Tage erforderlich waren, ist
bei 100^ dieser Zustand schon nach weniger als 5 Stunden erreicht.
Bei noch hoheren Temperaturen geht der Vorgang noch weit schneller
Tor sich; vergleichbare Zahlen haben die Autoren nicht beigebracht.
Abnliches gilt fur die Zersetzung der Ester mit Wasser, nur dass
diese viel langsamer verlauft Die Verhaltnisse werden hier gleichzeitig
Tttwickelter, weil die moisten Ester mit Wasser sich nicht zu homo-
genen Losnngen vereinigen.
Der Druck hat keinen merklichen Einfluss auf den Vorgang; zwei
gleiche und gleichzeitig beschickte Rohren wurden gleichzeitig erwarmt,
wabrend in einer von ihnen ein Druck von 60 bis 80 Atmospharen
78 I- Geschichte der Verwandtschaftslehre.
unterhalten wurde. Die in Ester umgewandelten Mengen erwiesen sich
als innerhalb der Versuchsfehler gleich.
Dagegen ist das Volum, Welches dem Gemenge zu Gebote stelit,
von grossem Einfluss, insbesondere bei hoheren Temperaturen, wo die
StofFe Dampfform annehmen. Es warden zwei Proben des Alkobol-
Essigsauregemisches 10 Stunden auf 200^ erhitzt, wobei die eine in
einer zugeschmolzenen Rohre sich befand, so dass jedes Gramm den
Raum Yon 2-6 ccm zur Verfiigung hatte. Die andere Probe kam in
einen luftleeren Eolben^ wo fiir jedes Gramm 1351 ccm yorhanden
waren. Die erste Probe hatte den Grenzzustand mit 65*2 Proz. Ester
erreicht, in der zweiten waren nur 10 Proz. Ester entstanden. Gleiches
gilt far die Zersetzung von Estern mit Wasser. Der Grenzzustand wird
in gasformigen Systemen verschoben, indem sich mehr Ester bildeu
kann, als in fliissigen.
Der gleiche &folg wird hervorgebracht, wenn das Gemenge mit
einem indifferenten Losungsmittel verdiinnt wird. Die Autoren be-
nutzten Benzol, and fanden eine erhebliche Verminderang der Reak-
tionsgeschwindigkeit. Ebenso verhalt sich Ather, nur dass er in noch
hoherem Masse verlangsamend wirkt.
Die Untersuchungen iiber den Einfluss der Natur der Saure and
des Alkohols ergaben folgendes. Werden mit demselben Alkohol ver-
schiedene Sauren derselben homologen Reihe zusammengebracht, so
nimmt die Geschwindigkeit der Esterbildung mit steigendem Molekular-
gewicht der Saure ab. Versuche mit anderen Sauren ergaben, dass
Weinsaure schneller als Citronensaure, und diese schneller als Essig-
saure wirkte. Bei den verschiedenen Alkoholen lasst sich ein Einfluss
des Molekulargewichts in der homologen Reihe nicht erkennen, dagegen
verhalten sich Alkohole, die verschiedenen Reihen angehoren, ver-
schieden.
Auf die sehr mannigfaltigen Beziehungen bei der Wechselwirkung
von Sauren und Alkoholen in verschiedenen Verhaltnissen kann ich hier
nur hinweisen, da spater sich wiederholt ein Anlass geben wird, auf
sie zuriickzukommen.
Berthelot schliesst an diesen Teil der Experimentaluntersuchung
eine theoretische Studie iiber die Geschwindigkeit der Esterbildung^).
Diese ist bemerkenswert als einer der altesten Versuche, in dies 6e-
biet mit mathematischen Hilfsmitt^ln einzudringen, doch war das Pro-
blem verwickelter, als der Autor es ansetzt, und daher geniigen die
») A. ch. ph. (3) 66, 110. 1862.
Altere Geschichte der Affinit&tsbestimmuDgen. 79
Ergebnisse nicht. Indessen soil auf die priuzipiell ricbtige Formulieruog
der grundlegenden Annabme besonders hingewieaen werden, dass nam-
lich die in jedem Augenblicke gebildete Estermenge pro-
portional dem Produkt der wirkenden Stoffe und umgekehrt
proportional dem eingenommenen Raume ist. Nur in der An-
wendang zeigen sicb Fehler, insofern als Berthelot die Esterbildung
vie eine einseitig verlaufende Reaktion auffasst und berechnet, wabrend
doch aus seinen eigenen Versucben bervorgeht, dass, sowie die vier
Stoffe Alkohol, Saure, Ester und Wasser gleicbzeitig vorhanden sind,
auch gleicbzeitig die entgegengesetzen Reaktionen, Bildung von Ester
und Wasser, und Ruckbildung you Alkobol und Saure erfolgen.
Die dritte Abbandlung^) bat den oben erwahnten Grenzwert der
Verbindung zwischen Saure und Alkobol zum Gegenstande. Es wurden
folgende Tbatsacben festgestellt.
Die Grenze eines gegebenen Gemenges ist von der Temperatur
nahezu unabbangig. Yon einem Gemenge gleicber Aquivalente Bern-
steinsaure und Alkobol waren z. B. verbunden:
nach 90 Stunden bei 100« 65-2 Proz. •
„ 5 „ „ 180« 652 „
„ 26 „ „ 200« 65.7 ,,
„ 28 „ „ 2100 66-0 „
Die Grenze ist aber abbangig davon, ob das Gemenge homogen bleibt.
Scheidet sicb Wasser aus, so wird mehr Ester gebildet, und sorgt man,
dass es ganz entfernt wird, so wird die Verbindung des Alkobols und
der Saure vollstandig.
Femer nimmt der Grenzwert zu, wenn ein grosserer oder geringerer
Teil der Miscbung gasformig wird, dagegen bleibt er fast unverandert,
wenn die Volumvergrosserung durch ein indifferentes Mittel, z. B. Ace-
ton, erfolgt.
Der Einfluss der cbemischen Bescbaffenbeit der Saure und des
Alkobols auf den Grenzwert ist gleichfalls sebr gering, wie die nach-
stehende Tabelle zeigt.
Grenze
Athylalkohol
mit Essigs&ure
66-9
)*
„ Butters&ure
69-8
n
„ Valerians&ure
67-6
»>
„ Stearins&ure
72-0 (nngefthr)
>t
„ BenzoeBfture
67-0
Methylalkohol
„ Essigs&nre
675
It
„ Valerians&ure
65-9
»t
„ Benzoesfture
64-5
*) A. ch. pb. (3) 68, 225. 1863.
80 I- Oeschichte der Verwandtschaftslehre.
Grenze
Amylalkohol mit
Essigs&ure
68-9
»♦ »>
Butters&are
70-7
» »>
Yalerians&ure
70-5
» >»
Benzoes&ore
70-0
Athal „
Essigs&are
710
If 91
Valerians&nre
72.0
Menthol ,,
Essigs&ure
600
Eamphol „
»
714
Benzylalkohol „
ti
633
Cholesterin „
ji
613
AthyleD glycol ,,
68-8
Glycerin „
j>
693
»» >»
Valerians&ure
714
Erythrit „
Essigsaure
69-5
Alkohol „
Bernsteins&ure
65-5
»» »>
Brenzweins&ure
67.2
j» »
Eorksfture
657
»» >»
Sebacyls&nre
664
»> >»
Weins&ure
66-6
Methylalkohol „
Bernsteins&ure
661
Amylalkohol „
11
65-2
Alkohol ,,
Gitronens&ure
666
Wenn auf eine bestimmte Menge einor Saure steigende Mengen
Alkohol genommen warden, so steigt der Grenzwert an, um schliesslich
bis auf 100 zu gelangen. Die nachstehende Tabelle gewahrt eine Uber-
sicht dieser Verhaltnisse; n ist die Zahl der Aquiyalente Alkohol auf
ein Aquivalent Essigsaure.
n
Grenze
n
Grenze
n
Grenze
0.2
19-3
15
779
120
932
0-45
39-0
2-0
82-8
190
95.0
050
42.0
2.8
85.6
60-0 •
100-0
0.67
546
40
88.2
1-00
665
54
90-2
Fiir andere Sauren und Alkohole ist das Verhaltnis fast das gleiche.
Die Zahlen zeigen auf das deutlichste die Zunahme der Wirkung mit
der Masse; ihre theoretische Berechnung wird spater gezeigt und durch*
gefiihrt werden.
Setzt man von vornberein etwas fertigen Ester dazu, so wird die
Umsetzung vermindert und die Grenze herabgedriickt, indem das Gleich-
gewicht schon friiher eintritt Das gleiche gilt fur einen Zusatz von
Wasscr. Die Autoren bestimmen die Grenzwerte fiir eine grosse Zahl
von Verhaltnissen verschiedener Sauren. Soweit diese Ergebnisse fur
die Verwandtschaftslehre Interesse haben, werden sie spater Erwahnung
finden.
Altere Geschichte der Affinitatsbestimmungen. gi
In ueuerer Zeit hat N. Menschutkin^) diese Arbeiten fortgesetzt.
£s ergaben sich dabei bestimmte Beziehungen zwischen den Reaktions-
geschwindigkeiten und der Konstitution der Sauren und Alkohole, und
zwar in dem Sinne, dass die primaren, sekundaren und tertiaren Ver-
bindungen zunehmend geringere Gescbwindigkeit der Esterbildung auf-
wiesen.
23. Die DisBooiatioiisersoheinniigen. Dass bei hoherer Temperatur
viele Stoffe sicb zersetzen, ist eine den Chemikern yon alters her ge-
laufige Erscheinung. Dass bei hinreichend hohen Temperaturen vermut-
lich alle Verbindungen" in ihre Elemente zerfallen, ist eine Meinung, die
gleichfalls immer Vertreter gefunden hat, wiewobl sie nicht richtig ist.
Wurde doch selbst ^der Vorschlag gemacht*), aus der Temperatur, bei
welcher die Zersetzung stattfindpt, auf die Starke der chemiscben Ver-
wandtscbaft, welche die Elemente der Verbindung zusammenbalt, einen
RUckschluss zu ziehen.
Mit dem Studium der Gesetze, welchen der Zerfail chemischer
Verbindungen in der Warme unterworfen sind, befassten sich indessen
erst H. de Sainte- Claire Deville und seine Schiller. Der erste be-
schrankte sich wesentlich darauf, die Thatsache des Zerfallens bei ver-
schiedenen Stoffen nachzuweisen, bei denen man bisher kein solches
vermutet hatte, und die fundamentale Erscheinung festzustellen, dass
innerhalb weiter Temperaturgrenzen das Zer fallen nur teilweise ein-
tritt, und erst voUstandig wird, wenn man eines der Zersetzungsprodukte
in dem Masse, wie es sich gebildet, entfernt.
Um den teilweisen Zerfail des Wasserdampfes bei starker Rotglut
nachzuweisen^), brachte er in ein auf diese Temperatur erhitztes Por-
zellanrobr ein Schiffchen mit Bleiglatte, welche im geschmolzenen Zu-
6taude im Stande ist, Sauerstoff aufzunehmen, der beim Erstarren unter
Spratzen entweicht Wenn ein schneller Strom von Wasserdampf iiber
das Bleioxyd streicht, so nimmt dasselbe gleichfalls Sauerstoff auf, und
in den kalteren Teilen des Rohrs finden sich Anfliige von metallischem
Blei, welches durch den freigewordenen Wasserstoff aus dem Oxyd re-
dnziert ist. Ahnlich yerhalt sich, wie Regnault schon friiher gezeigt
hatte, metallisches Silber.
In einer spateren Mitteilung^) zeigte er, dass man auch durch
Difiosion den Wasserstoff aus glUhendem Wasserdampf isolieren konne.
») L. A. 195, 334. 1879 u. ff.
•) Gmelin, Handb. I, 129. 1852.
«) C. r. 45, 857. 1857.
*) C. r. 56, 195. 1863.
Oitvald, Chemle. 11,2. 2. Aufl. 6
82 !• Geschichte der Verwandtschaftslehre.
Indessen ist die Zersetzung immer nur geringfugig, so dass sie keinen
wesentlichen Einfluss auf die Dampfdichte, welche von Deville und
Troost bei Rotglat bestimiDt wordeu war, ausiibt.
Deyille nimmt daher an, dass nur ein bestimmter, von der Tem-
peratur abhangiger Teil des Wassers zersetzt wird und stellt in Ana-
logie mit der Dampfspannung den Begriff einer Dissociationsspan-
nung auf, indem er auf die allgemeine Ahnlichkeit beider Erscbeinungen
hinweist. Dieselbe hat sich spater als viel welter gehcnd bewahrt, als
Deville seiner Zeit absehen konnte.
Spatere Mitteilungen^) bringen weitere Versuche iiber die Zerlegung
bestandiger Verbindungen durch die Warme. Die Wiedervereinigung
der Produkte wurde dadurch teilweise verhindert, d^s in der Achse des
weissgliiheuden Porzellanrohres, durch ^elches die Gase geleitet wurden,
ein diinnes Silberrohr gefuhrt wurde, durch welches ein bestandiger
Strom von kaltem Wasser floss. Dadurch wurden die an dies Rohr ge-
langenden Gasteilchen so plotzlich abgekiihlt, dass ein Teil unverbunden
blieb. So konnte der Zerfall der Eohlensaure, des Eohlenoxyds, der
schwefligen Saure und Cblorwasserstoffsaure nachgewiesen werden.
Deville hat die Gesamtheit seiner Versuche, sowie die Schluss-
folgerungen, welche er aus ihnen ziehen zu miissen glaubte, in einem
eigenen Werke*) niedergelegt. Er polemisiert darin auf Grund seiner
Beobachtungen sehr heftig gegen den Begriff der Massenwirkung; spater
wird indessen gezeigt werden, dass gerade die Dissociationserscheinungeu
sich der allgemeinen Theorie der Massenwirkungen als besonderer Fall
auf das beste unterordnen und eines dor schlagendsten Beispiele fiir
diese gewahren; eine von Deville veroffentlichte Versuchsreihe gestattet
sogar eine recht angenaherte Berechnung, und erweist sich als den 6e-
setzen der Massenwirkung gehorsam.
24. Das G^setz des Dissooiationsdraokes. Devilles Schiller Debray»
welcher zuerst das Zerfallen eines festen Stoffes in einen festen und
einen gasformigen untersuchte, fand die vom Erstgenannten wiederholt
betonte Analogie mit dem Dampfdrucke so weitgehend, dass dasselbe
Gesetz bei beiden Erscbeinungen die Beziehung zwischen Druck, Tern-
peratur und Stoffmenge beherrscht. Bei einer bestimmten Tem-
peratur ist der Druck des durch Dissociation abgetrennten
gasformigen Bestandteils konstant und unabhangig von der
zersetzten Menge, also auch unabhangig von dem Raume, welcher
dem Zersetzungsprodukt dargeboten wird, wenn nur mindestens soviel des
*) C. r. 56, 729; ebenda 59, 873; ebenda 60, 317. 1863—65.
') Lemons sur la dissociation. Paris, Hachette. 1866.
Altere Geschichte der Affinit&tsbestimmungen. 83
urspriinglicheii StofFes vorhanden ist, dass der gegebene Raum bis zu
dem fraglichen Drucke gefdllt werden kann.
Dieses Gesetz, dessen Cbereinstimmung mil dem der Verdampfung
einer Fliissigkeit voUkommen ist, gilt ausschliesslich fur den gegebenen
Fall, und nicbt fur die Dissociation eines Gases oder Dampfes in gas-
formige Bestandteile. Es ist von Debray zuerst am kohlensauren Kalk^)
dargelegt worden. Spatere Versuche*) haben freilich erwiesen, dass
dieser Vorgang keineswegs so einfach ist, wie ihn Debray darstellt.
Doch bat dieser spater in den krystallwasserhaitigen Salzen^) ein voUig
zatreflTendes Beispiel gefunden. Gleichzeitig und unabhangig von Debray
hat G. Wiedemann die Konstanz des Dissociationsdruckes bei krystall-
wasserhaitigen Salzen erwiesen, so dass das Gesetz eines von der Menge
nnd dem Raum unabhangigen Dissociationsdruckes fiir derartige Falle
ausser Zweifel gestellt worden ist.
Genaueres iiber den Nachweis desselben wird in dem Kapitel iiber
die Theorie der chemischen Gleichgewichte mitgeteilt werden.
25. Die Energie in der Verwandtschaftslehre. Ebenso wie die an-
deren Gebiete der messenden Naturwissenschaften durfte die Chemie,
insbesondere die Verwandtschaftslehre, eine entscheidende Forderung
Ton der Anwendung des Energiegesetzes erwarten. Diese Anwenduug
erfolgte indessen sehr spat; zwar hatte Mayer der chemischen Energie
alsbald eine Stelle in seiner ersten Tafel der Energien angewiesen, wie
denn der leitende Gedanke bei seiner Entdeckung durch die physio-
logisch-cbemischen Vorgange im menschlichen Korper gegeben worden
war; an eine eingehendere Untersuchung dieser Energieart hat er in-
dessen nicbt gedacht. Auch Helmholtz beschaftigt sicb in seiner „Er-
haltung der Knift'* nur beilaufig mit den chemischen Erscheinungen,
insofem sie Beziehungen zu den galvanischen und physiologischen haben;
eine Anwendung des Erhaltungsgesetzes auf das Gebiet der rein che-
mischen Vorgange und ein Versuch, Gesetze dieses Gebietes aus dem
^emeinen Gesetze abzuleiten, wie ihm das bei den mannigfaltigsten
physikalischen Erscheinungen so glanzend gelungen war, findet sich
nicht vor.
Den ersten Versuch, die Grosse der chemischen Verwandtschaft mit
Hilfe der inzwischen entwickelten Begriffe der Thermodynamik zu be-
stimmen, finden wir nicht friiher als 1854 in Julius Thomsens „Grund-
n C. r. 64, 603. 1867.
«) Wcinhold, Pogg. 14d, 221. 1879 und Raoult, C. r. 92, 189. 1881.
"i C. r. 79, 890. 1874.
6*
84 I. Geschichte der VerwandtschaftslehTe.
ziige eines thermocheraischen Systems" angestellt ^). Diese Darlegungen
sind fur die wissenschaftlichen Anschauungeu eines sehr langeii Zeit-
raumes massgebend geworden, so dass es recht und billig erscheint, sie
bier eingehender mitzuteilen; sie lauten:
„Mit dem Ausdruck Affinitat bezeichnet man die Kraft, welcbe die
Bestandteile einer Verbindung zusammenbalt.
„Soll eine Verbindung zersetzt werden, sei es entweder direkt durch
den Einfluss der Warme, des Lichtes, der Elektrizitat u. s. w., oder
durch einen hinzugefiigten Korper, £(o muss die Affinitat iiberwunden
werden; es ist ein Kraftaufwand notig, dessen Grosse von der Starke der
Affinitat abhangig ist.
„Denken wir uns einerseits eine Verbindung zersetzt in ihre Be-
standteile, andererseits diese Bestandteile wieder zu der urspriinglichen
Verbindung vereinigt, so haben wir zwei ent^egengesetzte Prozesse, deren
Anfang und Ende umgekehrt gleich sind. Es ist also einleuchtend, dass
die Grosse der Kraft, welche erforderlich ist, um eine bestimmte Ver-
bindung zu zersetzen, der gleich sein muss, welche entwickelt wird, wenn
die fragliche Verbindung sich wieder aus ihreu getrennten Bestand-
teilen bildet.
„Die Grosse der Kraft, welche sich bei der Bildung einer Verbin-
dung entwickelt, konnen wir nun nach einem absoluten Masse messen:
sie ist gleich der Warmemenge, welche bei der Bildung der Verbindung
entwickelt wird.
„Um also eine Verbindung zu zersetzen, um die Affijiitat zu iiber-
winden, ist eine B[raft notwendig, deren Grosse durch die Warmetonung
gemessen werden kann, die bei der Bildung der Verbindung aus ihren
fraglichen Bestandteilen hervortritt.
„Die Affinitat zweier Korper zeigt sich durch das Vermogen, sich
unmittelbar mit eiiiander verbinden zu konnen; findet die Vereinigung
statt, so entwickelt sich die entsprechende Warmemenge.
„Wenn dagegen keine Affinitat, oder vielmehr eine Abneigung zwi-
schen den Korpern besteht^ ist eine Verbindung direkt nicht herzustellen.
Es ist dazu eine Kraft erforderlich, deren Grosse der Abneigung der
Elemente entspricht. Sind aber einmal solche Verbindungen auf Um-
wegen dargestellt, so sind sie leicht und direkt zersetzbar; sie ahneln
dem Kegel, der auf seiner Spitze steht, und der durch den geringsten
Stoss aus seiner Stellung fallt. Die Zersetzung geschieht unter Ent-
') Pogg. 92, 34. 1854.
Altere Geschichte der AMnit&tsbestlmmungen. 85
wicklung einer Kraft, deren Grosse der gleich ist, welche bei der Bil-
dujttg der Verbindung latent wird.
„Wenn eine Verbindung durch eiuen anderen Korper, einfach oder
ZQsammengesetzt, zersetzt wird, so dass sich dadurch neue Verbindungen
bilden, oder vorber gebundene Korper aus ibren Verbindungen ausge-
scbieden und durch andere vertreten werden, dann gescbieht dieses aus
dem Grunde, weil sich dadurcb starkere Affinitaten befriedigen; denn in
der Chemie gilt das Recbt des Starkeren, die starkeren Affinitaten
werden sich stets geltend macben.
„Um aber die scbwacberen Affinitaten zu iiberwinden, ist ein ge-
ringerer Kraftaufwand erforderlich, als die Grosse der Kraft, welcbe sich
durch Befriedigung der starkeren Affinitaten entwickelt; es muss also
bei eintretender Zersetzung eine Entwicklung von Kraft stattfinden.
„Da aber die chemische Kraft, indem sie sich entwickelt, unter ge-
wohnlichen Umstanden sich als eine Warmeentwicklung zeigt, so folgt,
dass jede chemische Zersetzung dieser Art von einer Warmeentwicklung
begleitet sein wird.
„Fa8sen wir aber diesen Satz mit den vorhergehenden zusammen,
so erhalten wir den folgenden allgemeinen Scbluss:
»Jede einfache oder zusammengesetzte Wirkung von rein
chemischer Natur ist von einer Warmeentwicklung begleitet.
„Es ist in der Chemie, wie in der Mechanik; nur dann ist eine Be-
weguug eines Systems von Korpern moglich, wenn die Summe samt-
Ucher statischen Momente mit Riicksicht auf die Bewegungsrichtung
positiv ist."
Die Ansichten, welcbe sich bier ausgesprochen finden, sind das
wissenschaftliche Glaubensbekenntnis der Chemiker in dieser Frage bis
in das letzte Jahrzehnt geworden, und es ist daher notig, der geschicht-
lichen Entwicklung vorgreifend, bereits bier einige kritische Bemerkungen
aozukniipfen. Vor alien Dingen fallt die vorhandene Verwechselung zwi-
schen Kraft und Energie auf; die chemische Affinitat wird wie eine
Kraft im engeren Sinne, wie eine Intensitatsgrosse betrachtet; als ibr
Mass soli aber eine Energie, die Warmetonung, dienen. Es ist bereits be-
toot worden, dass Mayer und Helmholtz, die beide das Wort Kraft in dem
Sinne der Elnergie brauchen, sich dariiber ganz klar sind, dass es sich
nicht um die Grosse handelt, fur welcbe das Parallelogramm der Krafte
goltig ist, sondern um eine andere, die wir jetzt Arbeit oder Energie
uenneD, und deren mechanische Bedeutung ihnen voUkommen bewusst ist.
Die Erfahrung hat aber in ausgiebigstem Masse gezeigt, dass die Nach-
folger in diesen damals so ungewohnten Gedankenbahnen sich vielfach
86 !• Geschichte der Verwandtschaftslehre.
diese Klarheit nicht haben verschaffen konnen, und bis auf den heutigeu
Tag zieht sich in Laienkreisen der gleiche Irrtum fort, den wir Thomsen
hier begehen sehen.
IndQSsen konnte doch ein Satz aufgestellt werden, nach welchem bei
alien chemischen Vorgangen Warme entwickelt wird, wenn man auch
den Satz nicht auf Grund der nicht zutreffenden mechanischen Ana-
logien mehr begriinden kann; und in der That geht Thomsen alsbald
an die Beantwortung der Frage, wie weit sein Satz mit den bekannten
Thatsachcn iibereinstimmt. £r bemerkt, dass die unter Warmeaufnahme
erfolgende Losung der Salze in Wasser einen Widerspruch zu bilden
scheine. „Ich glaube aber behaupten zu konnen, dass diese Wirkungen
nicht von rein chemischer Natur sind; deun nur da, wo sich die StoflFe
nach bestimmten Proportionen, nach Aquivalentzahlen verbinden. sehe
ich chemische Wirkungen, und nur solche werde ich betrachten, um die
Theorie an der Erfahrung zu priifen." Auf diese Weise hat Thomsen
allerdings den Einwand vorlaufig erledigt, aber nicht durch iiberzeugende
Griinde, sondem durch eine willkiirliche Bestimmung.
Die Yorgange, die Thomsen im Sinne seines Prinzips pnift, sind
zunachst die Oxydation der Metalle durch dampfformiges und flussiges
Wasser unter Abscheidung von Wasserstoflf. Er findet, dass nach der
Warmetonung Zink und Eisen den W^asserdampf zersetzen miissen, Blei,
Kupfer, Quecksilber und Silber dagegen nicht, was auch mit der Erfah-
rung ubereinstimmend ist; umgekehrt miissen die Oxyde der letzteren
Metalle durch Wasserstoff zersetzt werden, und die der ersteren nicht.
Hier liegt ein Widerspruch vor, indem Eisenoxyd leicht durch Wasser-
stoff reduziert wird. Thomsen bemerkt dazu, dass (damals) die Warme-
tonung bei der Bildung des Eisenoxyds nicht bekannt war, so dass die
Reduktion des Oxyds moglich crscheine, wahrend die vorige, auf das
Oxydul gefiihrte Rechuung einen Oberschuss zu Gunsten des Oxyduls
ergab. Dadurch konnte aber offenbar nur die Reduktion des Oxyds zu
Oxydul erklart werden, nicht aber die zu Metall, und so bleibt der
Widerspruch imaufgeklart*). In der That haben auch die spateren ge-
') £s ist sehr bemerkenswert, dass Berzelius Aber diese Verh<nisse vOUig
im klaren war; in seinem Lehrbuche (3. Aufl. Ill, 424) bemerkt er: „Man wiirde es
yielleicht ftir einen Widerspruch halten, dass das Eisenoxydul auf der eineo Seite
durch das GlQhen des Metalls in Wasserd&mpfen gebildet, und auf der andoren
von Wasserstoffgas reduziert wird, da beides bei derselben Temperatur stattfindet;
aber dieses h&ngt von dem von Berthollet entdeckten Gesetze ab, dass die Wirk-
samkeit einer Verwandtschaft sowohl vom Grade der Verwandtschaft selbst, wie
von der Menge des einwirkenden Kdrpers herrHhrt, wobei also das Eisen durch
einen Strom Wasserdampf oxydirt und durch einen Strom Wasserstoffgas reduziert
Altere Geschichte der Affinitatsbestimmimgen. g7
naueren UntersuchuDgen erkennen lassen, dass es sich hier um einen
Fall handelt, wo die beiden entgegengesetzten Reaktionen gleichzeitig
erfolgen konnen, je nach dem MeDgenverhaltnis des Wasserstoffs und
Wasserdampfs, und wo somit jedenfalls die eine der beiden unter Warme-
ferbranch stattfinden muss.
Auch fiir die daraaf angestellte Recbnung, welche Metalle das fiiissige
Wasser zersetzen werden, ergiebt sich ein solcher Widerspruch. Thomsen
findet, dass dies durch Kalium, Natrium und Zink erfolgen muss, nicht
aber durch Eisen, und fiihrt an, dass Berzelius die Zersetzung des fliis-
sigen Wassers durch Zink unter Wassersto£fentwicklung beobachtet habe.
Aber die gleiche Eigenschafb kommt auch dem Eisen zu, welche sie nach
der thermochemischen Theorie nicht haben sollte.
Wir sehen hier schon beim ersten Anfange der thermochemischen
Verwandtschaftslehre die Widerspriiche gegen ihre Voraussetzungen auf-
treten, die sich in ihrer ganzeu spateren Geschichte wiederholen. Und
gleichzeitig erkennen wir die Wendung, vermittelst deren dieser Wider-
spruch beseitigt werden soil: die Einschrankung der Giiltigkeit des Grund-
satzes auf ^ein chemische" Vorgange. Dass der Begriff eines „rein che-
mischen Vorganges" selbst jedenfalls willldirlich ist, und dass auch, wenn
er zugegeben wird, der beabsichtigte Zweck nicht erreicht wird, macht
sich fireilich auch schon bei diesem ersten Anfange geltend; die Uber-
zeugUDg von der theoretischen Richtigkeit des Grundsatzes ist aber noch
iriel zu gross, als dass eine unbefangene Priifung moglich ware.
Die weiteren Betrachtungen Thomsens beziehen sich auf die Zer-
setzung der verschiedenen Sauren durch Metalle; die auf Grund der
Messungen von Favre und Silbermann berechneten Warmetonungen geben
ihm lauter Bestatigungen der Theorie. Hierbei kommen einige Gedanken
zur Geltung, die spater von anderen als eigene vorgebracht worden sind.
So betont Thomsen, dass bei der Verdiinnung der konzentrierten Salz-
saure eine ziemlich betrachtliche Warmemenge frei wird; es konne also
vird, well die Prodakte der Oxydation und Reduktion immer weggefClhrt werden
ond der Yerwandtschaft der Dachfolgenden Masse nicht entgegenwirken. Ganz
uiders wftrde sich dieses in einem verschlossenen Gef&sse yerhalten, worin das
Gts Dicht durch neues Gas ersetzt wird. Da wiirde die Oxydation oder die Re-
dakUoQ immer partial 1 sein und aufhdren, wenn Wasserstoffgas und Wasserdampf
vd der einen Seite, und metaliisches und oxydiertes Eisen auf der anderen Seite
^ch in einem solcben Verh<nisse befanden, dass sie sich das Gleichgewicht halten."
Bis auf die letzte Bemerkung, die dagegen verstOsst, dass bei festen Stoffen keine
Maasenwirkung Yorhanden ist, muss die Darlegung als vollkommen zutreffend be-
2dchaet werden.
88 !• Geschichte der VerwandtschaftBlehre.
ein Metall starke Salzsaure zersetzen, welches schwache nicht zersetzen
kann, wenn seine Reaktionswarme zwischen den beiden entsprechenden
Werten liegt. Auf ahnliche Weise erklart er, warum gasformiger Chlor-
wasserstoff durch Sauerstoff zersetzt wird, wahrend umgekehrt Chlor-
wasser (im Licht) Wasser unter Sauerstoffentwicklung zersetzt: im zweiten
Falle ist die Reaktionswarme um die Auflosungswarme des Chlorwasser-
stoflfs in Wasser grosser.
Ahnliche Betrachtungen werden fur Schwefelsaure und Salpeter-
saure angestellt, wobei insbesondere die grosse Wirkung der letzteren
gegen Metalle auf die geringe Zersetzungswarme in Sauerstoflf und Stick-
oxyd zuriickgefuhrt wird. Hier tritt auch zuerst der vielbenutzte Be-
gri£f der Hilfsreaktion, wie man ihn nennen kann, auf. ,3el^^iintlich
losen sich Legierungen von Platin und Silber in Salpetersaure, Legie-
rungen von Kupfer und Zink in Schwefelsaure. wahrend Platin und
Kupfer sich im freien Zustande uicht in diesen Sauren losen. Man
nennt diese Wirkung eine Kontakt wirkung; die Erscheinung findet aber
wohl ihre Erklarung auf folgende Weise. Sowohl durch Losung des
Zinks wie des Silbers in der fraglichen Saure wird Warme entbunden;
sind nun aber diese Metalle mit anderen vereinigt, z. B. hier mit dem
Platin und dem Kupfer, so tritt die Legierung als ein selbstandiges Me-
tall auf, dessen Losungsfahigkeit von der Zusammensetzung abhangig ist.
Die W^arme, die sich durch das eine Metall, ware es im freien
Zustande, entwickeln wiirde, wird zur Losung des anderen
verwendet."
Hierbei bleibt unklar, warum nur die durch das andere Metall cut-
wickelte Warme diese Eigenschaft haben soil, wahrend auf andere Weise
zugefiihrte Warme sie nicht hat.
Ein weiteres sehr ausgedehntes Kapitel widmet Thomsen einer
anderen Anwendung seines Grundsatzes, namlich zur Bestimmuug von
Reaktionswarmen solcher Vorgange, die nicht unmittelbar gomessen worden
sind. Indem er solche Vorgange mit anderen in Beziehung setzt, die
thermisch bekannt sind, gelangt er aus der Kenntnis der moglichen Re-'
aktionen zu der Bestimmung von Grenzwerten, zwischen denen die ge-
suchte Zahl liegen muss. So handelt es sich beispielsweise um die Bil-
dungswarme der Schwefelsaure. Diese muss kleiner sein, als die aller
Stofife, welche auf Kosten des Sauerstoffs der Schwefelsaure sich bilden
konnen; andererseits muss sie grosser sein, als die aller Stoffe, welche
Schwefel oder schweflige Saure zu Schwefelsaure oxydiren konnen. Auf
diese Weise gelingt es ihm, zwei ziemlich nahe Grenzwerte zu finden,
zwischen denen der gesuchte Wert liegen muss, die Richtigkeit des
Altere Geschichte der Affinit&tsbestimmungen. 89
Grundsatzes natiirlich vorausgesetzt. Die weitere Durchfiihrung dieses
Gedankens braucht bier nicbt gescbildert zu werden.
Scbliesslicb bescbaftigt sicb Tbomsen mit den Verbindungen, die
luter Warmeaufnahme aus ihren Bestandteilen gebildet werden, wie
Schwefelkohlenstoff und Cyan, und die dennocb bei hoherer Tempe-
ratur sich freiwillig bilden. Hier bilft er sicb mit dem Hinweis,
dass uns die spezifiscben Warmen der Stoffe unbekannt sind, und
dass wir daber nicbts dariiber aussagen konnen, ob sie aucb bei der
hoben Bildungstemperatur Warme verbraucben. Tbatsacblicb ist letz-
teres der Fall; diese Stoffe ergeben daber allerdings unzweifelbafte
Widersprticbe gegen den Grundsatz. Umgekebrt muss er verlangen, dass
aUe Stoffe, die sicb freiwillig zersetzen, dies unter Warmeentwicklung
thuD. Er weist dies an einigen Beispielen, wie Gblorstickstoff u. s. w.
nach; docb ist aucb bier bekannt, dass, zumal bei boherer Temperatur,
viele freiwillige Zersetzungen erfolgen, bei den en umgekebrt Warme auf-
genommen wird.
Die Abbandlung, die trotz ibrer Irrtiimer macbtig anregend gewirkt
hat, schliesst mit einem „Fortsetzung folgt^^; indessen dauerte es nicbt
weniger als fiinfzebn Jabre, bis diese Fortsetzung erscbien, und zu dieser
Zeit war die Frage durcb die entscbeidende Arbeit von Guldberg und
Waage in ein ganz anderes Stadium getreten.
26. Erdrtemngen von Sohrdder yan der Kolk. Ein weiterer Ver-
sach, die Gesetze der inzwiscben entwickelten Tbermodynamik auf die
Verwandtscbaftslebre anzuwenden, liegt yon dem Hollander Schroder van
der Kolk vor^). Ein entscheidender Fortscbritt lasst sicb allerdings
aucb bier nicbt nacbweisen, indessen entbalten die Darlegungen einige
richtige Gedankenansatze, die nur nicbt zur Entwicklung gelangt sind.
Schroder beginnt mit einer Besprecbung der Dissociationsversuche
Ton Deville, und ziebt aus ibnen den Scbluss: ,,Wenn Korper bei Er-
hitzung unter Warmeentwicklung in einen anderen Zustand iibergehen,
tritt der vorige Zustand bei nacbfolgender Abkiihlung nicbt wieder ein.''
Der Satz wird an einer Reihe von Beispielen erlautert, und etwaige
Ansnahmen werden als wabrscbeiulicb nur scbeinbar biugestellt. Indessen
bemerkt er alsbald: „Die chemiscbe Affinitat zwischen den Molekiilen
(die sich Schroder ganz als eine mechanische Anziebungskraft denkt)
konmit selbstverstandlicb mit in Betracht, und diese lasst sich so stark
denken, dass sie die fur die Verbindung geforderte Energie der ausseren
Umgebung entzieht." Als Beispiel fiir eine solcbe Wirkung werden zu-
treffenderweise die Kaltemiscbungen angefubrt.
«> Pogg. 122, 439. 1864; ebenda 131, 277. 1867.
90 I- Geschichte der Yerwandtschaftslehre.
Stellt sich Schroder somit auf einen Standpunkt^ welcher iiber die
rein thermische Affinitatstheorie Thomsens hinausgeht, so halt er ihn
doch bei seinen spateren Erorterungen nicht fest, dergestalt, dass er in
seiner zweiten Abhandlung die Ausnahme bei den Kaltemischungen flir
vermutlich nur scheinbar erklart. Der Irrtum riihrt daher, dass er
den Satz von Clausius, dass die Warme nie von selbst von niederer zu
hoherer Temperatur iibergeht^ auf die chemischen Vorgange anzawendeu
sucht, dabei aber iibersieht, dass der Satz nur fur vollstandige Kreis-
prozesse Geltung hat, und keineswegs fur einzelne Zustandsanderungen.
Eine jede Verdampfung einer Fliissigkeit in einem ungesattigten Raume
beweist ja das Gegenteil. Es ist niitzlich, auf diesen Fehler schon hier
hinzuweisen, wo er zum ersten male begangen wird; spater hat er sich
sehr oft wiederholt, und in ihm hat man meist die theoretische Stiitze
jenes Grundsatzes gesehen, dass alle chemischen Vorgange unter Warme-
entwicklung erfolgen miissten.
Dazwischen finden sich wieder klare Auseinandersetzungen gegen
die thermische Affinitatslehre. „Im allgemeinen hat man die Verbin-
dungswarme als ein Mass der chemischen Afiinitat betrachtet; wenn aber
auch die Versuche im ganzen genommen bei starkeren Yerbindungen
eine grossere Verbindungswarme zeigen, so stellen sich doch viele und
fremdartige Abweichungen heraus, die fortwahrend diesen Satz als yoU-
kommen bewiesen anzunehmen verhinderu." Und nun fiihrt Schroder
eine ganze Anzahl durchaus zutreffender Beispiele an, in denen chemische
Vorgange freiwillig unter Warmeaufnahme erfolgen. „Es folgt aus dem
obenstehenden, dass Affinitat und Verbindungswarme unmoglich aus
einander abzuleiten sind; es handelt sich hier namlich um zwei ganz
ungleichartige Grossen/* Und spater, nach einer Darlegung der mecba-
nistischen Theorie der chemischen Vorgange: „Die zwischen zwei Atomen
wirkende Kraft kann nach dieser Betrachtung abhangig sein: 1) von
der Natur der beiden Atome; 2) von der Richtung; 3) von der Ent-
fernung; 4) von der Einwirkung der benachbarten Atome. Die Wir-
kung der Athermolekiile, Schwingungszustande und elektrische Wirkungeo
gehoren iiberdies zu den Daten, iiber welche man zur Erklarung der
chemischen Erscheinungen verfiigen kann.
„Diese Gesamtkraft ist mit dem Namen Affinitat belegt worden.
Diese kann also zwischen zwei Korpern je nach Umstanden sehr ver-
schieden sein, so wie sie bekanntlich sich mit der Temperatur andert.
„Ware aber auch die Wirkung aller einwirkenden Krafte genau be-
kannt, so folgte daraus keineswegs, dass wir die chemischen Erschei-
nungen voraussagen konnten, da die Aufgabe eine ausserst verwickelte
Altere Geschichte der Affinit&tsbestimmungen. 91
8ein wiirde. Schon fur das viel einfachere Theorem der drei Korper
fehlt bisher die allgemeine Losung.
„Noch weit sch?neriger scheint die umgekehrte Aufgabe zu sein, aus
den bekannten chemiscben Erscheinungea die bedingenden Krafte abzu-
leiten. Es kann also nicht wundern, dass diese Molekularwirkungen bis-
her fast voUig iinbekannt sind, und dass der Begriff der Affinitat ziem-
lich vag ist
„Voa desto grosserem Werte scheint deshalb die Anwendung des
Theorems der mechaniscben Energie auf die chemiscben Erscheinungen
zu sein. Hier kommt vor allem die Verbindungswarme in Betracht
welche als Mass der bei der Verbindung verlorenen Energie betrachtet
werdeu kann, und also eines Produkts, dessen einer Faktor die Affinitat
ist und der andere die unter der Wirkung dieser Kraft auftretende
molekulare Stellungsanderung. Es ist also die Affinitat keineswegs der
Verbindungswarme proportional zu setzen/'
Es ist an diesen Betrachtungen zunachst das unbedingte Zutrauen in
die mechanistische Hypothese bemerkenswert, welches um jene Zeit alle
Gemiiter erfiillte. Trotz der voUig berechtigten hoffnungslosen Schilde-
ning der Schwierigkeiten, in welche die Hypothese, die chemiscben Vor-
gaoge seien mechanische, den Forscher schon bei seinem ersten Schritte
stiirzt, kommt dem Verfasser gar nicht der Gedanke, dass eine solche
Theorie unniitz ist und daher keine Existenzberechtigung hat, sondem
er ergiebt sich in das Schicksal wie in etwas Unabanderliches.
Was die Betrachtungen iiber die Afiinitat anlangt, so ist an ihnen
als wesentlich zu bezeichnen, dass diese Grosse hier nur als ein Faktor
der chemiscben Energie betrachtet wird. Hierin liegt in der That ein
Fortschritt, wenn auch die Zerlegung nicht richtig vorgenommen ist und
auf einer voUig hypothetischen Grundlage ruht. Doch ist auch dieser
kleine Fortschritt den Zeitgenossen unzuganglich geblieben.
27. I>a8 „dritte Prinzip^. Etwa um die gleiche Zeit beginnt die Be-
schaftigung M. Berthelots mit thermochemischen und Affinitatsfragen, und
wir wenden uns daher sachgemass zu den Ansichten dieses Forschers.
Wenn diese auch wie die eben besprochenen nur noch geschichtliche Be-
deatung haben, da sie nicht nur schon friiher von mehreren Forschern
bestritten, sondern auch letzter Zeit^) von ihrem Autor nach langem
Kampfe formell aufgegeben worden sind, so haben sie doch so lange eine
grosse, wenn auch nur kiinstlich erzwungene Rolle gespielt, dass unsere ge-
schichtliche Darstellung ohne ihre Beriicksichtigung unvollstandig ware.
*^ C. r. 118, 1378. 1894.
92 I* Geschichte der Verw&ndtschaftslehre.
Macht sich doch sogar die merkwiirdige Erscheinung geltend, dass in der-
selben Zeitschrift (den Comptes rendus der Pariser Akademie), in welcher
die Lossagung des Autors stattgefunden hatte, fortlaufend Arbeiten er-
scheinen, in denen dieser Irrtum fortgefuhrt wird, als ware nie ein
Zweifel an der wissenschaftlichen Zulassigkeit des Satzes erhoben worden.
Der erste Ausspmch eines derartigen Satzes durch Berthelot ist
1867^) erfolgt; er lautet: „Ich glaube, dass man folgendes allgemeine
Prinzip aussprechen kann: dass jede chemische Reaktion, die eine erheb-
liche Warmemenge entwickeln kann, notwendig und unmittelbar erfolgt,
wenn sie den nachstehenden Bedingungen geniigt, von denen nur die erste
fundamental ist:
„1' Die Reaktion muss zu denen gehoren, die ihr Ende in sehr
kurzer Zeit nach dem Beginn erreichen.
„2. Die Reaktion muss zu denen gehoren, die von selbst bei der
Anfangstemperatur des Versuches beginnen. Die durch diese Bedingung
ausgeschlossenen Reaktionen erfolgen dem Prinzip gemass, wenn man
ihr Eintreten veranlasst hat, etwa durch eine Temperaturerhohung oder
auderweit.
„3- Schliesslich miissen die ursprunglichen und die entstehenden Stoffe
zu demselben Typus gehoren, d. h. gleichen chemischen Funktionen ent-
sprechen. — Ich fiihre diese Bedingung ein, um die Voraussicht der That-
sachen zu erleichtern; doch scheint sie mir nicht unumganglich zu seiu.
„Dies Prinzip umfasst alle schnellen Reaktionen, die von selbst
zwischen Gasen erfolgen, sowie die Mehrzahl der Vorgange auf nassem
Wege, wie die doppelten Zersetzungen der Salze, die Verdrangungeu
der Metalle durch Metalle, der Saureu durch Sauren, der Basen durch
Basen etc.^). Es beherrscht die Gesetze von Berthollet; denn es ergiebt
die gleichen Vorausbestimmungen in den Fallen, wo diese Gesetze sich
bestatigen, und lasst die Falle voraussagen, in denen diese Gesetze nicht
zureichen, wie z. B. bei der Verdrangung des Jods, eines festen Stoflfes,
durch Chlor, einen gasformigen, oder bei der Losung der unloslicheu
Salze schwacher Sauren durch starko Sauren u. s. w "
Die Notiz schliesst mit der Darlegung einiger Falle, in denen sich
das Prinzip bestatigt hat.
Wie man sieht, handelt es sich zunachst um einen Satz von ziem-
») C. r. 64, 413. 1867.
') ,yDer Fall, in welchem sich ein Stoff in Gasgestalt entwickelt, verlangt eine
besondere Untersuchung, ebenso gewisse F&lle der Verflassigung und Diffusion.
Diese Untersuchung ist fQr diesen Ort zu lang; sie best&tigt das Prinsip im all-
gemeineo und pr&zisiert es.**
Altere Geschichte der Affinit&tsbestimmangen. 93
lich eingeschrankter Bedeutung, da er sich nur auf schnelle Reaktioneu
beziehen soil, welche Bedingung fiir fundamental erklart wird. Im Laiife
der Zeit ist Berthelot dazu gelangt, dem Satze einen immer weiteren
nad weiteren Inhalt zuzuschreiben, bis er ihn fiir ein ganz allgemeines
Prinzip erklart hat. Diese weiteren Stufen kennzeichnen sich folgender-
massen. Im Jahre 1869^), also zwei Jahre nach der ersten Veroffent-
lichung, wird der oben gegebene Text mit geringen Abanderungen wieder-
holt, insbesondere wird wieder das grosste Gewicbt auf die Bedingung
gdegt, dass der Vorgang ein schnell verlaufender sein muss. Die Ver-
allgemeinerung des Satzes verbot sich insbesondere dadurch, dass fiir
die TOQ Berthelot selbst eiugehend untersucbte Bildung des ameisen-
saoren Natrons aus Natron und Kohlenoxyd (NaOH + CO = NaCOOH)
aus den vorhandenen Zahlen sich eine bedeutende Wiirmeabsorption
berechnete, wahrend doch dieser Vorgang selbst bei gewohnlicher Tem-
peratur und bei volliger Dunkelheit erfolgt*).
Im folgenden Jahre werden neue Versuche iiber die Bildung der
Schwefelmetalle zur Stutze des Prinzips herangezogen'), wobei dessen
Beschrankung auf schnell verlaufende Vorgange von neuem betont wird.
Gleichzeitig verwahrt sich Berthelot dagegen, dass etwa ein ahnlicher
Satz von Dumas ausgesprochen worden ware, wie Deville eben behauptet
hatte*); ebenso stellt er jede derartige Ausserung von seiten Chevreuls
und Favre und Silbermanus, auf welche Deville gleichfalls hingedeutet
hatte, in Abrede, „um jedem Verdacht einer heimlichen Entlehnung zu-
Torzukommen'*.
Von Thomsons friiherer Veroflfentlichung hatte Berthelot anscheiuend
bis zu dieser Zeit keine Kenntnis; auch dauerte es noch einige Zeit,
bis dieser den Satz als sein Eigentum in Anspruch nahm^). Er that
es im Jahre 1873, und rief dadurch eine heftige Entgegnung Ber-
thelots hervor, in welcher dieser seinen Standpunkt dem Satze gegen-
iiber merkbar veranderte. Wahrend er friiher unbedingt an seiner
Prioritat den von Deville Genannten gegeniiber festgehalten hatte, woUte
er nunmehr*) in dem Satze selbst nichts wesentlich neues sehen. Er
^) Ann. chim. phys. (4) 18, 103. 1869.
^) Spfttere Versuche haben die Irrtdmlichkeit der hier benutzten Zahl von
F&Tre nnd Silbermann ergeben (II, 1, 400); thats&chllch erfolgt der Vorgang unter
ziemlich bedentender W&rmeentwicklung, wie ans den sp&teren Messungen yon
Tbomsen and Berthelot selbst (a. a. 0.) hervorgeht, so dass dieser Einwand fortfailt.
•) C. r. 71, 303. 1870.
*) C. r. 71, 205. 1870.
■) Ber. 6, 423. 1873.
*. Ball. 80C. chim. 19, 485. 1873.
94 I* Geschichte der Verwandtschaftslehre.
fiihrt ihn in der Fassung Thomsens an und fahrt dann fort: „Ich weiss
nicht, ob ich mich tausche, aber dieser Ausspruch scheint mir weder
original, noch der Gesamtheit der Thatsachen entsprechend. Dass cr
original 8ei, ist schwerlich anzunebmen: denn es ist eine Wabrheit, die
seit einem Jabrbundert in der Wissenscbaft banal ist, dass im allge-
meinen die chemiscbe Wirkung von Warmeentwicklung begleitet ist.
Aber diese Warmeentwicklung findet nicbt immer statt, and es kann
zuweilen aucb eine Warmeabsorption bei rein cbemiseben Vorgangen
entsteben, d. h. bei solcben, die weder von Aggregatzustandsanderungen,
nocb von Zersetzungen begleitet sind, die von einer einfacben Tempe-
raturerbobung berriibren." Und nun legt Bertbelot dar, wie erst durch
seine Art der Erklarung der vorbandenen Widorspriicbe gegen das
Prinzip dieses seinen wabren Wert erhalten babe. Sein Satz lautet:
„Jede Anderung, die obne Dazwiscbenkunft einer fremden
Energie erfolgt, strebt zu der Bildung des Stoffes oder des
Systems von Stoffen, welche die grosste Warmemenge ent-
wickeln. Dies Prinzip ist von dem Tbomsens verscbieden; zuerst, weil
es die eigene Wirkung des Losungsmittels und die dadurcb bervorge-
bracbten Gleicbgewicbte aussondert, wie icb das ausfiihrlicb auseinander-
gesetzt babe; ferner weil es bestimmt, welcber von mebreren Vorgangen,
die gleicbzeitig moglich sind, vorwiegend stattfinden muss. Mein anderes
Prinzip (S. 92) ist gleicbfalls verscbieden, weil es sicb nicbt nur darauf
bescbrankt, anzugeben, ^dass die cbemiscbe Wirkung von Warmeent-
wicklung begleitet sein muss*S obne uns wissen zu lassen, ob sie tbat-
sacblich stattfindet, wabrend es gerade der Gegenstand meines zweiten
Prinzips ist, die Falle vorausseben zu lassen, in welcben der Vorgang
notwendig erfolgt^). Diese beiden Priuzipien sind also mit dem von
Tbomsen nicbt identiscb, weder in ibrem Ausdruck, nocb in ibren Fol-
gerungen."
Ein unbefangenes Urteil wird allerdings zuzugeben bereit sein, dass
diese Prinzipien in ibrer Auffassung einige Verscbiedenbeiten gegen
das von Tbomsen aufweisen; aber der Unterscbied ist nur einer der
Entwickelung (die obnedies nacb einer falscben Ricbtung stattgefunden
bat), nicbt aber einer des Wesens, und alles, was Bertbelot Tbomsen
gegeniiber in Ansprucb nebmen kann, ist, dass er fur die Widerspruche,
welcbe die Erfabrung gegen das Prinzip erkennen lasst, eine bypothe-
^) Dies ist nicht rich tig, denn an der fraglichen Stelle werden nur gewisse
F&lle aufgeziihlt, in welchen schnelle Reaktionen erfolgen; wodurch diese bedingt
sind, wird nicht erOrtert.
Altere Geschichte der AffinitAtsbestimmungeD. 95
tiscbe M^klarung'* aofgestellt hat, mit deren logischer Begriindung es
allerdings nicht znm besten steht.
Diese Erklarung, welche in friiheren Verd£PentlichuDgen uur an-
gedeutet war^ bildet 1875 den Gegenstand einer besonderen Abhand-
luDg'), in velcher auch zum ersten male die Bezeicbnung „dritte8 Prinzip
der Thermochemie oder Prinzip der grossten Arbeit** auftritt Hier
lantet der Aussprnch desselben: „Jede chemische Anderung, die
ohne Mitwirkung einer ausseren Energie verlauft, strebt zur
Bildung des Korpers oder des Systems von Korpern, welche
die meiste Warme entwickeln." Und zur Begriindung des Prinzips
wird hinzugefiigt: „Man kann die Notwendigkeit dieses Prinzips be-
greifen, wenn man bemerkt, dass das System, welches die grosstmogliche
Warmemengc entwickelt hat, in sich nicht mehr die erforderliche Energie
besitzt, um eine neue Umwandlung zu bewerkstelligen. Jede neue An-
derung erfordert eine Arbeit, welche nicht ohne die Mitwirkung einer
aasseren Energie bewirkt werden kann."
Dass diese Begriindung befriedigend ist, kann* freilich nicht gesagt
werden. Sie ware es, wenn man behaupten diirfte, dass niemals ein
Vorgang moglich ist, bei dem in einem Gebilde auf Kosten seiner
Warmeenergie irgend eine andere Energieform entsteht. Nun sind aber
solcbe Vorgange, wie z. B. die Verdampfuug, durchaus moglich, und
damit fallt die Grundlage des Prinzips. Eine „fremde Energie*', etwa
Warme aus der Umgebung, ist hierfiir keineswegs erforderlich, denn
das System kiihlt sich zunachst einfach ab; die Zufuhr der Warme aus
der UmgebuDg kann nicht friiher stattfinden, als nachdem die Abkiih-
IttDg eingetreten war, und dadurch die Warmeleitung zu beginnen An-
lass hat
Um nun in den vielen Fallen, wo die Ergebnisse der unmittelbaren
Beobachtung dem Prinzip entgegen sind, dessen Geltung aufrecht er-
balten zu konnen, hebt Berthelot verschiedene Umstande hervor, welche
es Terdecken konnen. Es sei fiir viele Reaktionen eine „einleitende
Arbeit" erforderlich, ohne die sie nicht stattfinden, wie z. B. der elek-
trische Funke im Knallgas; fehlt diese einleitende Arbeit, so kann ein
Vorgang, der eigentlich nach dem Prinzip eintreten miisste, nicht statt-
finden; welche Vorgange einer solchen Einleitung bediirfen, und welche
nicht, bleibt unerortert Diese einleitende Arbeit sei auch die Ursache,
dass viele chemische Vorgange mit einer begrenzten Geschwindigkeit
▼erlaufen. Femer konnte die Reaktion von nachfolgenden und voraus-
gehenden Wirkungen begleitet sein, welche Warme verbrauchen. Solche
^ Ann. chim. phys. (5) 4, 52. 1875.
96 I* Geschichte der Verwandtschaftslehre.
Wirkungen pbysikalischer Natur treten z. B. ein, wenn man ein Bicar-
bonat in konzentrierter Losung durcb Saure zersetzt; die gasformig
werdende Kohlensaure verbraucht hierzu so yiel Warme, dass die posi-
tive Warmetonung der Hauptreaktion dadurch verdeckt und iu eine
negative verwandelt wird. Man miisse also alle Reaktionen auf gleiche
Aggregatzustande beziehen.
Solcbe Nebenreaktionon konnten aber auch chemischer Natur
sein, und bier weiss sicb Berthelot nicht so leicht zu belfen. „Die
Diskussion solcher Verwickelungeu ist baufig schwierig und erfordert
eine tiefere Kenntnis der chemischen Vorgange, obne die man die Kegel
nicht mit Sicherheit anwenden kann. Icb werde versuchen, ihren Sinn
am Studium der wesentlichsten Falle zu erlautern: diese beziehen sich
auf die freiwillige Zersetzung der anfangs gebildeten Stoffe, und auf
die chemischen Gleichgewichte."
Der erste Fall stellt sich folgendermassen dar. Es bildet sich zu-
nachst gemass dem Prinzip der Stoff, der die meiste Warme entwickelt,
dann aber zerfallt er unter Warmeabsorption, und diese kann grosser
sein, als der erste Wert, so dass insgesamt eine Abkiihlung eintritt.
Die logische Schwache des dritten Prinzips tritt bier grell zu Tage,
denn es wird zur Erklarung des Widerspruchs gegen das Prinzip ein
Vorgang herangezogen, welcher nach dem Prinzip gar nicht statt-
finden darfl Denn wenn der erstgebildete Stoff unter Warmeabsorp-
tion zerfallt, so strebt er sicherlich nicht zur Bildung des Stofifes,
welcher die meiste Warme entwickelt, sondern im Gegenteil zu der
Bildung von Stoffen geringerer Warmeentwicklung.
Fiir den zweiten Fall haben wir einen ahnlichen Vorgang zu denken.
Ein Stoff zerlegt einen anderen unter Warmeabsorption, ohne dass eine
nachtragliche Zersetzung des erstgebildeten Stoffes anzunehmen ist.
Dann kann man den ersten Stoff in zwei andere gespalten annehmen,
welche im Gleichgewicht stehen, und von denen der eine unter Ent-
wicklung, der andere unter Verbrauch von Warme reagiert. Dem Prinzip
gemass reagiert nur der erste Anteil, da nur er Warme entwickelu
kann. Dadurch aber ist das Gleichgewicht zwischen den beiden An-
teilen gestort; es bildet sich eine neue Menge des ersten Anteils (und
zwar den gemachten Voraussetzungen gemass notwendig unter Warme-
xverbrauch) und diese Menge kann wieder dem Prinzip gemass reagieren,
und so fort. Ist der Warmeverbrauch fiir die Spaltung grosser, als die
Warmeentwicklung bei der Reaktion mit dem ersten Anteil, so findet
insgesamt wieder ein Warmeverbrauch statt, obwohl die Hauptreaktion
dem Prinzip gemass unter Warmeentwicklung erfolgt ist
Altere Geschichte der AffiniUtsbestimmungen. 97
Diese weuiger iibersichtliche Art des Schliessens ist es insbesondere,
welche Berthelot in der Folge immer wieder anwendet, um Reaktionen
mit Warme?erbrauch zu ,,erklaren". Der logische Fehler ist bier yon
ganz gleicher Beschaffenheit, wie im vorigen Falle; auch hier wird an-
genommoD^ dass eine Reaktion (die Spaltung) freiwillig eintritt, obwobl
sie nicht zur Bildung des Korpers mit der grossten Warmeentwicklung
fiihrt, also dem Prinzip entgegen ist, und damit wird „bewiesen*', dass
der Vorgang eigentlicb dem Prinzip gemass stattfiadet. Es ist dies
eine Operation von gleicher Ordnung, wie die beriibmte Selbstbefreiung
Miinchhaasens aus dem Sumpfe durch kraftiges Ziehen am eigenen Zopfe.
Es hat dem Gesagten gegeniiber ein gewisses Interesse, das am
Sdilusse der Abhandlang gegebene Schema kennen zu lernen, wie das
dritte Prinzip in einem gegeben Falle anzuwenden ist.
„Wir entwerfen znnachst die Liste aller zwischen den vorhandenen
Elementen moglicben Reaktionen: d. h. solcher, die ohne vorgangige
Arbeit moglich sind, unter den Bedingungen und bei der Temperatur
des Versaches; wir schreiben zu jeder die entsprechende Warmeent-
wicklung: das gegebene System der vorgelegten Verbindungen wird nur
eine gewisse Zahl dieser Umwandlungen erfahren konnen, namlich solche,
welche Warme entwickein, und solche, welche durch eine fremde, im
System anwesende Energie^) hervorgerufen werden kann.
„2. Da alle diese Vorgange zu erfolgen bestrebt sein werden, jeder
mit seiner eigenen Geschwindigkeit, so wird das Ergebnis nach einer
bestimmten Zeit ein Gemenge verschiedener Verbindungen sein, deren
Verhaltnisse von diesen Geschwindigkeiten abhangen werden.
„Sind diese Verbindungen ausser stande auf einander zu reagiereu,
infolge Ton Nebenumstanden, die sich auf die vorbereitende Arbeit
beziehen, welche die chemische Reaction bestimmen, so bleiben sie ge-
mischt; dies tri£Pt sehr oft in der organischen Cbemie zu.
„3. Sind aber die Nebenbedingungen , welche die chemischen Vor-
gange ermoglichen, erfuUt, so werden die Verbindungen auf einander
r^gieren, um das bestandigste System zu bilden.
„Dies bildet sich nach dem dritten Prinzip jedesmal, wenn keine
fremde Energie» die zu einem vollstandigen oder teilweisen Zerfall (d. h.
einem Gleichgewicht) fuhrt, gleichzeitig mit den chemischen Verwandt-
schafteu sich bethatigt, die in dem urspriinglichen System wirken. Ist
V „Fremde, im System anwesende Energie" ist kein Druckfehler, sondern
vihtlich nbersetzt.
Oitwald, Chemie. n,2. 2.Aufl. 7
98 I* Oeschichte der Yerwandtschaftslehre.
ein Gleichgewicht vorhanden, so wirkt das Prinzip auch mit, aber ge-
mass den friiheren Darlegungen.
„Sind daher die oben definierten Bedingungen erfiiUt, so werden
wir Bchliesslicb die nachstehende Schlussfolgerung ziehen konneD, welche
sehr allgemein uDd auf eine Menge von Erscheinungen anwendbar ist:
„Jeder chemische Vorgang, welcber ohne Mithiilfe einer einleiten-
den Arbeit und oboe Dazwiscbenkunft einer fremden Energie eintreteo
kann, crfolgt notwendig, wenn er Warme entwickelt.
„Die Voraasbestimmung der chemiscben Vorgange ist bierdurch auf den
rein physikalischen nnd mecbanischen Begriff der grossten Arbeit zuriick-
gefiihrt, welche durch die moleknlaren Wirkungen geleistet werden kann/^
Wir braucben bloss den Leser aufzufordern, nacb diesem Rezept
irgend eine chemiscbe Reaktion, z. B. die Oxydation des Eisens durch
Wasserdampf zu untersuchen, und darnacb die wirklicb stattfindenden
Vorgange vorauszubestimmen, um sich die ganze Unsicherbeit und Un-
bestimmtheit dieser Vorscbrift zum Bewusstsein zu bringen.
In den zwanzig Jahren, die nacb diesem Ausspruche des „dritten
Prinzipes" vergaiigen sind, hat Berthelot eine ausserordentlich grosse
Zahl der verschiedenartigsten Reaktionen von diesem Gesichtspunkte
aus untersucbt, und immer, wenn auch oft in der gezwungensten Weise,
eiuQ Ubereinstimmung der Thatsachen damit berauszurechnen gewusst.
Man muss die grosse Summe von Miibe und Scharfsinn bedauern, die
bei dieser hoffuungslosen Arbeit verloren gegangen sind; noch bedenk-
licher hat die grosse Willkiir gewirkt, die mit der Anwendung so un-
bestimmter Grundsatze notwendig verbunden war. Kamen auch ziem-
licb bald (s. w. u.) die Fachgenossen, welche etwas tiefer in die Frage
einzudringen vermocht batten, zu der Uberzeugung von der Unrichtig-
keit dieses Prinzips, so hat doch das wohlerworbene Ansehen seines
Erfinders, das von den Landesgenossen mit alien Mitteln gesteigert wurde,
den viel grosseren nicht-kritischen Teil des chemiscben Publikums,
damnter zahlreiche Lehrbucbsautoren, lange Zeit auf dem falscben Wege
fcstgehalten. Dadurch ist es erklarlicb, dass die unter dem Einflusse
dieser Ansichten stebenden franzosischen Forscher an der neuesten Ent-
wicklung der chemiscben Affinitatslebre, wolche in den letzten Jahren
einen so bedeutenden und oindringenden Fortschritt erfahren hat, fast
keinen Anteil genommen haben. Wogen der grossen Verbreitung des
Irrtums gerade in den weiteren Kreisen der Chemiker ist es auch not-
wendig gewesen, auf die Geschichte und Kritik desselben so weit ein-
zugehen, und sich nicht mit der Feststellung der Thatsache zu begniigen,
dass hier ein Irrtum vorlag.
iltere Geschichte der AffiDit&tsbestimmungeo. 99
Was die Bekampfung dieser Ansichten anlangt, so sind hier die
Nameu Rathke, Potylitzin u. a. zu nennen. Die erhobenen Einwendungen
hatten zuoachst, so richtig sie waren, kein praktisches Ergebnis, denn
die oben gekennzeichneten Auswege waren iiumer gangbar, wenu einmal
wieder die experimentellen Thatsachen gegen die Tbeorie sprachen.
Thatsachlich beseitigt wurde wie iinmer die falsche Ansicht nicht durch
den Nachweis ihrer Irrtiimlichkeit, sondem durch die Ansbilduiig der
richtigcn. Diese geschah aber auf dem Wege der Thermodynamik, bez.
der Energetik, und in der Geschichte dieser Entwicklung ist gleich-
zeitig die Geschichte der UberwinduDg des »,dritten Prinzips'^ enthalten.
28. Das bewegliche Gleichgewicht. Die alteren Anschauungen liber
das Wesen der Verwaodtschaft und den Vorgang der chemischen Ver-
binduDg fussen alle auf der Annahme, dass die fraglichen Krafte sich
in ein statisches Gleichgewicht setzen. Bergmann liess die Verwandt-
schaften wie zwei Krafte nach entgegengesetzter Richtung an einem
Pankt angreifen; die grossere bringt die Bewegung in ihrem Sinne zu-
wege und iiberwindet so die geringere vollstandig. Berthollet bevorzugt
das Bild mehrerer, in yerschiedener Richtung wirkender Krafte; zu den
entstehenden Resultanten tragt jede von ihnen nach Massgabe ihrer
Grosse und Richtung bei; keine wirkt ausschliesslich, und keine ist ganz
unwirksam. Fiir die den Kraften zukommende Eigeuschaft der Rich-
tung ist allerdings in den chemischen Erscheinungen nichts analoges
Torhanden.
Eine ganz abweichende Vorstellung findet sich zuerst in einer un-
^oUendet gebliebenen Abhandlung von Gay-Lussac (11,1,781), und dann
nnabhangig hiervon in zwei Abhandlungen von A. Williamson ^) iiber die
Theorie der Atherbildung auseinandergesetzt. Schon friihere Forscher
batten die Auffassung ausgesprochen, dass die Wirkung der Schwefel-
saure bei der Bildung des Athylathers darin besteht, dass diese zuerst
mit dem Alkohol sich zu Athylschwefelsaure verbindet, und dass diese
dann mit neuem Alkohol sich in Ather, Wasser und Schwefelsaure um-
setzt, worauf dieselben Reaktionen von neuem beginnen. Williamson ver-
allgemeinerte die Idee des wechselseitigen Umtausches. Geht ein solcher
bei ungleichartigen Atomen oder Atomgruppen vor sich, so muss er um so
leicbter bei gleichartigen stattfinden. „Wir werden auf diese Weise zu
der Annahme gefiihrt, dass in einem Aggregat von Molekeln jeder Ver-
bindung ein fortwahrender Austausch zwischen den in ihr enthaltenen
Elementen vor sich geht. Angenommen z. B. ein Gefass mit Chlorwasser-
^) L. A. 77, 37. 1851.
100 I* Geschichte der Yerwaodtschaftslehre.
stoff wiirde durcb eine grosse Anzahl von Molekeln von der Zusammen-
setzung CIH ausgefiillt, so wiirde uns die Betrachtung, zu der wir gelangt
sind, zu der Annabme fiihren, dass jedes Atom Wasserstoff nicht in
rubiger Gegeneinanderlagerung neben dem Atom Cblor bleibt» mit dem es
zuerst verbunden war, sondern dass ein fortwabrender Wecbsel des Platzes
mit anderen Wasserstoffatomen stattfindct. Natiirlicb ist dieser Wecbsel
fiir uns direkt nicbt wabrnebmbar, weil ein Atom Gblorwasserstoff wie das
andere ist; aber angenommen, wir miscbten Salzsaure mit schwefelsaurem
Kupferoxyd (unter dessen Atomen ein abnlicher Platzwecbsel stattfindet),
so werden die basiscben Elemente, Wasserstoff und Kupfer, ibren Platz-
wecbsel nicbt auf denjenigen Kreis von Atomen bescbranken, mit denen
sie zuerst verbunden waren. Der Wasserstoff wird sicb nicbt bloss von
einem Atom Cblor zum anderen bewegen, sondern aucb abwecbselnd ein
Atom Kupfer vertreten, indem sicb Scbwefelsaure und Kupfercblorid
bildet. Auf diese Weise sind zu jeder Zeit, wenn wir eine Miscbung
untersucben, die Basen unter den verscbiedenen Sauren geteilt, und in
gewissen Fallen, wo die Verscbiedenbeit der Eigenscbaften der ent-
sprechendcn Molekeln sebr gross ist, findet man, dass die starkeren
Sauren und starkeren Basen fast ganzlicb zusammen verbunden bleiben
und die scbwacberen Sauren sicb mit den scbwacberen Basen vereinigen.
Dies ist woblbekannt fiir eine Miscbung von Scbwefelsaure und saurem
Boraxsalz, und bildet eine wicbtige Bestatigung unserer Fundamental-
annabme, dass, je grosser die Verscbiedenbeit in den Eigenscbaften, um
so scbwieriger der abwecbselnde Austauscb der Molekeln seL"*)
Williamson zeigt weiter, wie die Reaktionen beinabe oder ganz
ausscbliesslicbe werden, wenn eines der Produkte sicb durcb Ausscbei-
dung in fester Form dem fortwabrenden Austauscb entziebt, wie z. B.
bei der Einwirkung von Salzsaure auf Silbersulfat Er betont die enge
Beziebung seiner Ideen mit denen von BertboUet, und tritt fiir diesen
seinen Zeitgenossen gegeniiber ein. Die Abhandlung scbliesst mit den
Worten:
„Die Gbemiker baben in den letzten Jabren mit der Anwendung
der atomistiscben Tbeorie eine unsichere und, wie ich glaube, unbe-
griindete Hypotbese verkniipft, namlicb die, dass die Atome im Zustand
der Rube seien. Icb verwerfe diese Hypotbese tmd griinde meine An-
sicbten auf die breitere Basis der Bewegung der Atome,"
Unabbangig von Williamson bat einige Jabre spater R. Clausius*)
abnlicbe Vorstellungen entwickelt, um die Erscbeinungen der Ellektrolyse
»} L. A. 77, S. 46.
«) Pogg. 101, 338. 1857.
Altere Geschichte der Affinit&tsbestimmungen. 101
za erklaren. £r hatte auf Grundlage der schon friiher ausgesprocheneu
Hypothese^) iiber den molekularen Zustand der Gase und Fliissigkeiten die
Molekeln beider in lebhafter Bewegung befiudlich angenommen (II,1»536)
und fiigte nun die weitere Annahme hinzu, dass bei diesen Bewegungen
mehr oder weniger haufig Zustande eintreten, bei welchen die Molekeln
teilweise getrennt werden und ihre Bestandteile austauschen konnen.
Dieser Austausch braucbt nicht, wie Williamson andeutet, bestandig alle
Molekeln zu treffen, sondern Clausius erortert, wie die Annahme, dass
Dur dann und wann eine Molekel gespalten werde, wahrend die anderen
imverandert sich bewcgen, ausreicht, um die fraglichen Erscheinuugen
zn erklaren. Auch entspricht die neuere Annahme der Beobachtung,
dass mit «teigender Temperatur der Austausch lebhafter wird, indem
die grossere lebendige Kraft der Molekularbewegung eine haufigere Spal-
tung der Molekeln ermoglicht. Durch die Abhandluug wurde ausser der
Williamsonscheu Idee des Austausches die neue Idee der Yerschieden-
beit der Zustande unter den Molekeln bei gleichbleibender Temperatur
eingefubrt.
29. Fflftuiidlers Beitrfige zor chemischen Statik. Die von Clausius
entwickelte Hypothose iiber die Aggregatzustande ist von ihrem Autor
nur zur Erklarung der Elektrolyse benutzt worden. Dass eine ganze
Reihe chemischer Erscheinuugen sich aus denselben Gesichtspunkten an-
schanlicb darstellen lassen, hat L. Pfaundler gezeigt').
Zunachst zeigt er, dass die Annahme, die zusammengesetzten Mole-
keln zerfallen bei irgend einer Temperatur vermoge ihrer immer starkeren
Bewegungen in ihre Bestandteile, zur Erklarung der Dissociations-
erscheinungen nicht ausreicht. Dann miisste namlich der Zerfall an
eine bestimmte Temperatur gebunden sein; unterhalb dieser waren alle
Molekeln unzersetzt, oberhalb alle zersetzt. Dagegen verlauft die Dissocia-
tion meist 80, dass die Zersetzung bei niederen Temperaturen unmerklich
ist', mit steigender Temperatur allmahlich zunimmt, um schliesslich nach
Dnrchlaufung eines grosseren oder geringeren Temperaturintervalls ihr
Maximum, dem yollstandigen Zerfall entsprechend, zu erreichen. Dagegen
gewahrt die Annahme, dass nicht alle Molekeln in gleichen Zustanden
sich befinden (I, 209), sondern einzeln mehr oder weniger vom Mittel-
zostande abweichen, die Moglichkeit einer Erklarung. Die Dissociation
trifft bei den niederen Temperaturen, wo sie eben beginnt, nur einige
wenige Molekeln, welche sich am lebhaftesten bewegen. Steigt die Tem-
peratur, so geraten mehr und mehr Molekeln in eineri Bewegungszustand,
*) Pogg. 100, 353. 1857.
^ Pogg. 131, 55. 1867 and Jubelband 182. 1874.
102 I- Geschichte der Verwandtschaftslehre.
in welchem sie zerfallen kdnnen, und so voUendet sich schliesslich bei
fortlaufendem Erbitzen die Dissociation. Bleibt dagegen die Temperatur
in irgend einer Hohe konstant, so stellt sich bald ein Gleichgewicht
her, indem zwar fortwahrend Molekehi zerfallen, gleichzeitig aber aus
den Bruchstiicken derselben wieder die urspriinglichen Molekeln sich neu
bilden konuen; bei einem bestimmten Verhaltnis unveranderter und zer-
fallener Molekeln werden in derselben Zeit eben so viele'zersetzt, wie
neugebildet, und der Zustand ist stationar.
Diese Betrachtung ist ebenso auf die Dissociation gasformiger, wie
auf die fester Stoffe anwendbar. Zerfallt z. B. kohlensanrer Kalk in
der Hitze in einem geschlossenen Raume, so wird solange Kohlendioxyd
sich entwickeln, bis die Menge der in der Zeiteinheit frei werdenden
Molekeln CO^ gleich der geworden ist, welche in derselben Zeit beim
Auftreffen auf den entstandenen Kalk gebunden werden. Dieser Zustand
hangt nicht von der absoluten Menge der entbundenen Kohlensaure,
sondern von der Haufigkeit des Auftreffens ihrer Molekeln auf den Kalk
ab; er wird daher durch die in der Raumeinheit vorhandene Kohlen-
sauremenge, d. h. durch die Dichte und daher auch durch den Druck
bestimmt
Ganz ahnlich fallen die Erklarungen fiir die Zustande des chemi-
schen Gleichgewichts und die Massenwirkungen aus. Auch sie griinden
sich auf die Annahme, dass die Molekeln eines gleichtemperierten Stoffes
sich nicht alle in gleichem Zustande befinden, und gestatten daher ein-
zusehen, wie bei gleicher Temperatur cntgegengesetzte Reaktiouen, wie
die Zerleguug des Wasserdampfes durch Eisen und die Reduktion der
Eisenoxyde durch Wasserstoff stattfinden konnen. Auch hier tritt ein
stationarer Zustand ein, der aber kein statisches, sondern ein dynami-
sches Gleichgewicht ist, kein Gleichgewicht der Krafte, sondern eines
der entgegengesetzten Vorgange.
Da dies Gleichgewicht abhangig ist von der Anzahl der Molekeln,
welche die direkte und welche die cntgegengesetzte Reaktion hervor-
rufen, so leuchtet ohne weiteres ein, dass es von der relativen Menge
der verschiedenen Stoflfe abhangen muss, da eine Verbindung urn so
leichter und massenhafter entsteht, je reichlicher das Material zu ihrer
Bildung vorhanden ist. Das ist die anschauliche Erklarung der chemi-
schen Massenwirkung.
Im allgemeinen kann man alle Reaktionen als reciprok ansehen.
Nur wenn auf irgend eine Weise einer oder der andere der gebildeten
Stoflfe sich aus der Wirkungssphare der anderen entfernt, so kann die
cntgegengesetzte Reaktion nicht stattfinden, und der Vorgang verlauft
Altere Geschichte der Affinit&tsbestimmungen. 103
aosschliesslich in einem Sinne. Dies tritt eiu, wenn einer der Stoffe
sich z. B. aus einer Losung als fester Korper niederscblagt, oder wenn
er als Gas entweicht. Das ist die Erklarung des von Berthollet for-
mulierten fiinflusses von Kohasion und Spannung.
Die schon oft hervorgehobene Anschaulichkeit der molekularen Be-
trachtungsweise bewahrt sich auch bier, indem sie die von Bertbollet
in ziemlich abstrakter Weise deduzierten Wirkungsformen der cbemiscben
Affinitat in nnmittelbarster Weise abzuleiten und ihre Wabrscheinlicb-
keit oder Notwendigkeit darzulegen gestattet.
In der zweiten der obeu zitierten Abhandlungen bat Pfaundler
diese Betrachtungen dahin erweitert, dass er allgemein, wie scbon von
Horstmann gescbeben war, den zweiten Hauptsatz der mecbanischen
Warmetbeorie als bestimmend fiir die moglicben und wirklicben Zu-
staode aofstellt. Anwendungen bat er indessen davon nicbt gemacbt.
Auf den dort durchgefiibrten geistreicben Vergleicb mit dem „Kampf
urns Dasein" nnter den Molekeln sei bier verwiesen.
Allerdings sind von Pfaundler nur die gUnstigen Seiten der kine-
tischen Hjpotbese entwickelt worden. Dass sie aucb aucb ungiinstige
hat, trat spater in dem Punkte bervor, dass die Erklarung der Unab-
hangigkeit der Dissociationsdruckes von der Menge des zersetzten Stofifes
(S. 82) bei mebreren festen und einem gasformigen Anteile auf allerlei
Schwierigkeiten stiess. Noch bodenklicber ist der Umstand, dass nacb
der kioetiscben Hypotbese alle Verbindungen bei steigender Tomperatur
mebr und mebr zerfallen miissten, da die Bewegungen innerbalb der
Molekeln beftiger werden. Dem gegeniiber kennen wir im Cyan, Ace-
tvlen und anderen Stoflfen Verbindungen, deren Bestandigkeit mit stei-
gender Temperatur grosser und nicbt geringer wird.
Bisher bat man bei dem grossen und fast aberglaubiscben Anseben,
das die kinetiscbe Hypotbese geniesst, derartige Widerspriicbe mit Still-
8chweigen iibergangen.
Indessen mebren sicb in letzter Zeit die Stimmen, welcbe auf die
Unfracbtbarkeit hinweisen, die diese mit soviel Hingabe gepflegte Hypo-
Aese nach Erringung ihrer ersten Erfolge gezeigt hat, und von der
ihre Bebandlnng durch die bervorragendsten Vertreter der matbe-
matiscbeu Pbysik sie nicht hat beilen konnen. Einer kiinftigen Zeit
werden viele auf Grund dieser Hypotbese entwickelte Ansicbten von
ahnlicber Beschaffenbeit erscbeinen, wie uns gegenwartig die mecba-
nistiscben Veranscbaulicbungen chemiscber Vorgange in Lemerys (S. 4)
viel&ch aufgelegtem und seinerzeit iiberaus hocbgeschatztem Lebrbucbe.
104 I- Geschichte der Yerwandtschaftslehre.
Drittes Eapitel.
Neuere Geschichte der Affinitfttslehre bis 1886.
1. Gtildberg und Waage. Aus der Darstellung des Entwicklungs-
ganges, welchen die Yerwandtschaftslehre bis 1867 genommen hat, geht
hervor, wie zunachst das Interesse an dem thatsachlichen Nachweis der
MassenwirkuDg in einzelnen Fallen haftet. Mit der eingehenderen Kennt-
nis chemischer Vorgange macht sich die Oberzeugung geltend, dass die
Yon der Menge abhaugigen teilweisen und reciproken Reaktionen viel
haufiger sind, als angenommcn wurde, und schliesslich entwickeln sicb
theoretische Vorstellungen, welche dies Verhalten als allgemein Toraus-
sehen lassen, und die von Bergmann als Normalfall angesehene aus-
schliessliche Reaktion als einen jedesmal durch bestimmte Umstande
hervorgerufenen Spezialfall des allgemeinen Reaktionsverlaufes ansehen
lehren. Gleichzeitig treten Bemuhungen auf, die Beziehung zwischen
der Menge und der entsprechenden chemischen Wirkung matbematisch
zu formulieren.
Den Abschluss dieser Bestrebungen und den Beginn einor neueii
quantitativen Periode der Affinitatslehre bilden die 1865 als Univer-
sitatsprogramm veroffentlichten Etudes sur les affinites chimi-
ques^) von C. M. Guldberg und P. Waage. Von denselben Autoren
war schon friiher*) in norwegischer Sprache eine auf denselben Gegen-
stand gerichtete Arbeit erschienen, in welcher sie indessen sich noch
nicht zu der Klarheit durchgearbeitet haben, welche die Studie vod
1867 auszeichnet. Zwolf Jahre spater^) fassten sie wiederum ihre Theorie
und die inzwischen mitgeteilten, auf die Yerwandtschaftslehre beziig-
lichen Arbeiten in eine Abhandlung zusammen, in welcher die Gesichts-
punkte von 1867 wesentlich unverandert beibehalten sind, und deren An-
wendbarkeit auf zahlreiche Falle bewiesen wird.
Die Grundlage der Theorie der Massenwirkung von Guldberg und
Waage ist der Satz, dass die chemische Wirkung der wirksameu
Menge proportional sei; letztere ist durch die in der Raum-
einheit enthaltene Menge gegeben. Es ist dies der Satz von
Wenzel (S. 39) und es sind im iibrigen Berthollets Anschauungen , die
hier ihre Formulierung erhalten.
') Christiania bei Bragger u. Christie. 1867.
») Vid.-Selsk. Forh. 1864.
») J. pr. Ch. (2) 19, 69. 1879.
Neaere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1886. 105
Wirkeo zwei Stoffe auf einander, so ist die Wirkung der Menge
jedes derselben proportional und wird Null, wenn eine der Mengen
Noll wird. Somit muss die Inteiisitat der Wechaelwirkung zweier Stoffe
dorch das Produkt beider wirksamen Mengen gemessen werden. Femer
ist die Wirkung von der Natur der Stoffe, der Temperatur, und anderen
Umstanden abhangig; diese Einfliisse konnen durch einen Koeffizienten,
der dem Produkt der wirksamen Mengen hinzugefugt wird, dargestellt
werden. Sind p und q die wirksamen Meugen, und k der erwahnte
Koef&zient, so wird die „Kraft** des chemischen Vorganges gemessen
dorch das Produkt kpq.
Wenn der chemische Vorgang von der Beschaffenheit ist, dass aus
den entstandenen Produkten wiederum die urspriinglichen Stoffe zu ent-
stehen vermogen, wie z. B. Natriumsulfat und Salpetersaure Natrium-
nitrat und Schwefelsaure geben, und umgekehrt aus den letztgenannten
Stoffen wiederum die ersten sich bilden konnen, so macht sich bei der
Reaktion eine entgegengesetzt gerichtete Kraft geltend, welche durch
eine ahnliche Formel k'p'q' ausgodriickt wird, in der p' und q' die
aktiven Mengen der neuentstandenen Stoffe, und k' ihr Wirkungskoef-
fizient ist. Wenn die beiden Krafte im Gleichgewicbt sind, so andern
sich die wirksamen Mengen nicbt mehr und es ist
k p q = k' p' q'.
Sind nun die urspriinglich vorbandenen Mengen der vier Stoffe, in
AquiYalenten gemessen (also die Gewichtsmengen dividiert durch die
Aqniralentgewicbte), P, Q, P' und Q', so werden sie im allgemeineu
nicht im chemischen Gleichgewicbt stehen, sondern es wird von P und
Q die Menge x in P' und Q' iibergehen, damit das Gleichgewicbt be-
steht Dadurcb gebt P in P — x und Q in Q — x iiber, wabrend P'
aof F+x nnd Q' auf Q'+x steigt; fiir alle Werte gilt dabei dasselbe
X, da dieselben, wie erwabnt, auf aquivalente Einbeiten bezogen sind.
For die wirksamen Massen baben wir im Zustande des Gleicbgewicbts
P — X Q-x P'+x Q^ + x
p=— -, q=-^, p =-— . q =— ^^
wo y das Gesamtvolum ist Setzen wir diese Werte in die erste Glei-
chong, so folgt
(P-x)(Q-x) = ^'(P'+x)(Q' + x).
Kese GleicbuDg gilt fiir jeden Wert von P, Q, P' und Q'. Hat man x
& irgend einen FaU experimentell bestimmt, so kann man ^ berechnen
106 .1* Geschichte der Verwandtschaftslehre.
und ist dann im Stande, fiir jeden beliebigen Anfangswert der vor-
handenen Stoffmengen die Grosse x und damit die Verteilung der Stoffe
nacb Eintritt des Gleicbgewichts voraus zu bestimmen.
Der prinzipieJle Fortscbritt dieser Cberlegungen gegen die friiberen
Versucbe, die Ideen BertboUets exakt zu forinulieren, li^t in der ein-
facben Einsicbt, dass der Zustand des Gleicbgewicbts durcb die nacb
Eintritt desselben vorbandenen Mengen der verscbiedenen Stoffe
bestimmt ist, und nicbt, wie bis dabin (und aucb gelegentlicb noch
viel spater) stillscbweigend angenommen wurde, durcb die urspriinglich
yorbandeuen Stoffmengen.
Die Versucbe, welcbe Guldberg und Waage zur Bestatigung ibrer
Forniel anfiibren, werden spater eingebend besprocben werden, wesbalb
bier von ibrer Diskussion abgeseben wird.
2. Nebenreaktionen and Stdmngen. Durcb ein zu grosses Ver-
trauen in die vollige Genauigkeit der Messungen von Bertbelot and
Pean de St. Gilles veranlasst, v^relcbe durcb die eben mitgeteilte ein-
facbe Formel nicbt vollstandig dargestellt werden, baben Guldberg and
Waage in der oben erwabnten ersten Abbandlung statt des Ausdruckes
kpq fur die Kraft der Affinitat einen anderen, kp™q**, benutzt, welcber
wie der einfacbere die Eigenscbaft besitzt, fur p = 0 oder q = 0 zu ver-
scbwiuden. In der Abbandlung von 1867 tragen sie den Abweicbungen
dadurcb Recbnung, dass sie zwiscben den urspriinglicben und den ent-
standenen Stoffen sekundare Krafte annebmen, welcbe sicb in positivem
oder negativem Sinne an dem Gleicbgewicbt betbatigen. Sie nennen
diese Krafte Wirkungskoeffizieuten und nebmen (wobl obne geniigende
Begriindung) an, dass sie nur wabrend der Reaktion tbatig sind. Nennt
man die zwiscben den Stoffen p und p', p und q', q und p\ q und q'
giltigen Koeffizienten a, b, c, d und die fiir die inversen Wirkungen
giltigen a', b', c', d', und setzt a' — a = a, b' — b = /9, c' — 0 = 7 und
d' — d = 6, so erbalten sie statt der obigen einfacben Gleicbgewicbts-
gleicbung'die verwickeltere
kpq = k'p'q' + app +/3pq' + 7p'q+rfqq.
Durcb die grosse Zabl von Koeffizienten lasst sicb diese Gleicbung viel
besser den Beobacbtungen anpassen; ein Beweis fiir die Zulassigkeit der
Einfiibrung dieser Wirkungkoeffizienten lasst sicb aber daraus nicbt
entnebmen, da es kein Mittel giebt, diese fiir sicb zu bestimmen.
In der Abbandlung von 1879 werden endlicb diese sekundaren
Krafte ganz ausser Betracbt gelassen. Dies Verfabren ist um so mebr
berecbtigt, als die inzwiscben bewirkte klarere Grundleguug des Massen-
Neuere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1886. 107
wirkungsgesetzes durch die Beziehung des Gleichgewichts auf die Gleich-
heit der entgegengesetzteu Reaktionsgeschwindigkeiten statt auf
die einer scharfen Definition entbehrenden chemischen Krafte aucb fur
die Beriicksicbtigung der sekundaren Wirkungen andere Ansatze erfor-
derlich macht, als von Guldberg und Waage benutzt wurden.
3. Die G^sohwindigkeit ohemischer Vorgange. Neben der Kennt-
nis der Bedingungen des cbemischen Gleichgewicbts ist fiir die cbemi-
sohe Mechanik die der Reaktionsgeschwindigkeiten yon grosster
Wicbtigkeit. Nacb dem versucbsweisen Ansatze Wenzels (S. 59) war
fiir eine bestimmte Klasse ohemischer Vorgange dies Problem schon 1850
dorch Wilhelmy^) gelost worden (S. 67), und 1862 hat Berthelot seine
Messungen iiber Esterbildung (S. 76) durch eine Formel darzustellen
gesucbt, die, obwohl auf richtige Prinzipien gegriindet, doch in der
8peziellen Form fehlerhaft geraten war. Harcourt und Esson batten
dann*) das Problem der chemischen Reaktionsgeschwindigkeit (des Ver-
haltnisses zwischen der umgewandelt^i Stoffmenge und der dazu er-
forderlichen Zeit) in allgemeiner Weise behandelt. Wenn aucb die
experimentelle Realisierung einfacher Falle des Reaktionsverlaufes nur
in ziemlich bescbrankter Weise gelang, so ist die von Esson ausgefiihrte
theoretische Grundlegung dieser Lehre sebr geniigend.
Guldberg und Waage haben ibrerseits in der Abhandlung von
1867 die allgemeine Gleichung fiir die Geschwindigkeit eines chemischen
Vorganges gegeben und sie auf einzelne Falle angewendet Wicbtiger
aber ist, dass sie zum ersten male die Beziehung zwischen der Reak-
tionsgeschwindigkeit und dem chemischen Gleichgewicht in Formeln
fassen. Im vorigen Kapitel ist gezeigt worden, wie Malaguti u. a. bereits
das chemische Gleichgewicht nicht statisch, sondern als Ergebnis gleicher
and entgegengesetzter Reaktionsgeschwindigkeiten aufgcfasst batten, und
wie Pfaundler durch Anwendung der Clausiusscben Theorie der Aggre-
gatzustaude auf chemische Vorgange zu der gleichen Vorstellung gelangt
ist Guldberg und Waage setzten ibrerseits die Reaktiongeschwindig-
dx
keit proportional der wirkenden Kraft, \ ==^T, wo v = -r-^, das Ver-
, a-tr
liiltDis der umgewandelten Menge d x zu der dabei verfiossenen Zeit
d(^ ist, wahrend T die „Kraft", T = kpq in dem bestimmten, oben er-
wahnten Falle, und q> einen Faktor bedeutet. Die Gleichung gilt fiir
eioseitig verlaufende Reaktionen; findet aber gleichzeitig aus den Pro-
') Pogg. 81, 413. 1850. — Elassiker der exakten Wissenschaften. Nr. 29.
*) Phil. Tran8. 1866, 193 und 1867, 117.
108 I* Geschichte der Verwandtschaftslehre.
#
dukten eine Ruckbildung der urspriinglichen Stoffe statt, so muss v =
g)(T — T') gesetzt werden, wo T' die „Kraft** der entgegengesetzten
Reaktion T'=k'p'q' darstellt. Es ist daher
v = <p(kpq — k'p'q');
tritt Gleichgewicht ein, so wird v = 0 und es entsteht die friiher
(S. 105) gegebene Gleichung.
Dieser Entwicklung haftet indessen der unklare BegrifiF der che-
raiscben „ Kraft** an, wenn deren Zeicben aucb aus der scbliesslichen
Formel verscbwiadet. Es ist daber zweckmassiger, wie zuerst von van't
Hoff^) geschaby diesen ganz fallen zu lassen, und die klar definierbare
Reaktionsgescbwindigkeit als Ausgangspunkt zu benutzen. Wird,
wie dies iibereinstimmend von Wenzel, Wilbelmy, Berthelot, Esson und
Guldberg angenomwen wurde, die Reaktionsgescbwindigkeit proportional
der wirksamen Menge der sicb umwandelnden Stoffe gesetzt, so gelangt
man unmittelbar zu denselben Gleicbungen, welcbe Guldberg und Waage
benutzt baben, und erbalt denselben Ausdruck fur das cbemiscbe Gleich-
gewicbt, obne durch Anwendung der cbemischen „Kraft" einen unge-
niigend definierten Begriff in die Entwicklung eingefiibrt zu baben.
Van't Hoff zeigt an den Versuchen von Bertbelot und Pean de St. Gilles,
wie die samtlicben Gleicbgewichtszustande zwiscben Alkobol, Saure, Ester
und Wasser sicb durcb eine Oberflacbe zweiten Grades darstellen lassen
— er nennt sie die „Grenzebene" (besser Grenzflacbe) — indem man die
Menge eines der vier Stoffe gleicb Eins setzt, wabrend die drei iibrigen
durch die wiederbolt angegebene Gleicbung kpq=k'p'q' in Beziebung
gesetzt werden. Setzt man p= 1 und betracbtet q, p' und q' als Ver-
anderlicbe, so stellt die Gleichung die fraglicbe Flacbe dar. Fiir jeden
Wert einer Veranderlichen giebt es eine unbegrenzte Anzabl von Wert-
paaren der beiden anderen Veranderlichen, die sicb als Durchscbnitt
einer Ebene, die der entsprechenden Coordinatenebene parallel ist, durch
die Grenzflacbe auffassen lassen. Durcb den Vergleich mit den Mes-
sungen Berthelots ergiebt sicb eine geniigende Dbereiustimmung.
In ihrer letzten Abbandlung haben Guldberg und Waage die er-
wahnte Betracbtungsweise des cbemischen Gleichgewichts aufgenommen')
und auf cbemiscbe Vorgange aller Art erweitert.
4. XJnlosliche StofTe. Die vorstehenden Eutwicklungen gelten fiir
den Fall, dass alle Stoffe ein homogenes Gemenge bilden. Scbeidet sich
*) Ber. 10, 669. 1877.
«) J. pr. Ch. (2) 19, 75. 1879.
Neoere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1886. 109
der eine oder andere Stoff in festem Zustande aus, so wird seine wirk-
same Masse kleiner.
Guldberg and Waage haben fiir die Behandlung dieses Falles gleich-
falls das richtige Gesetz gegeben, indem sie die wirksame Masse eines
festen Korpers in einer gegebenen Flussigkeit bei gegebener Temperatur
konstant annehmen. Der Satz findet sich schon 1867 angedeutet und
1879 strict ausgesprochen; er steht mit alien Erfahrungen in t)ber-
einstimmung^).
Daher nimmt die Gleichgewichtsgleicbung (S. 105) viel einfacbere
Formen an, wenn feste Stoffe sich an der Reaktion beteiligen. Fiir die
Einwirkung des Ealiumcarbonats auf Baryumsulfat z. B. wird in der
Gleichong kpq = k'p'q', wenn p Kalinmcarbonat, q Baryumsulfat, p'
Kaliumsulfat und q' Baryumcarbonat bedeutet, q und q' konstant und
die Qleichung geht iiber in
i = const.
P
d. h. onabhangig 7on der Menge der vorhandenen unloslichen Salze
fiudet chemisches Gleichgewicht statt, wenn zwischen der Menge des
Kaliumcarbonats and des Kaliumsulfats ein konstantes Verbal tnis besteht.
Goldberg und Waage haben dieses Ergebnis experimentell bestatigt.
Der Wert der Konstantcn, welche die wirksame Menge fester Stoffe
daistellt, ist wesentlich von ihrer Loslichkeit abhangig. Man nennt die
bier in Betracht kommenden Stoffe allerdings gewohnlich unloslich, doch
ist dieser Begriff nur relativ, und es giebt keinen Stoff, dem man
eine Yollige Unloslichkeit zuschreiben diirfte. Da wieder die Loslich-
keit dnrch die Natur des festen Stoffes bestimmt ist, und z. B. fiir
Salze TOD yerschiedenem Krystallwassergehalt und verschiedener Form
verschreden ausfallt (I, 1038 und 1060), so haben dieselben Umstande
Einfluss auf die wirksame Menge der sogenannten unloslichen Stoffe,
vie ich^) das in einem speziellen Falle ausfiihrlich gezeigt babe.
5. BestStigangen der Qoldberg-Waageschen Theorie. Die Prii-
fang der Guldberg -Waageschen Theorie in weiterem Umfange war zu
der Zeit, da sie aufgestellt wurde, eine schwierige Aufgabe. Sie Belbst
batten nur einen besonders einfachen Spezialfall mit zwei unloslichen
Stoffen experimentell zu behandeln gewusst, in Bezug auf den Haupt-
bi\ eines homogenen Gemisches samtlicher reagierenden Stoffe waren
sie auf die Esterbildungsversuche von Berthelot und Pean de St. Gilles
») VgL z. B. J. pr. Ch. (2) 19, 469. 1879.
•) J. pr. Ch. (2) 22, 256. 1880.
110 I* Geschichte der Verw&ndtschaftslehre.
angewiesen geblieben; die wichtigen Reaktionen zwischen Sauren, Basen
und Salzen in wasserigen Losungen waren unzuganglicb, well es an
Mttteln fehltc, ihre AnordDung in der Losung zu erforschen. Zwar hatte
schon 1843 SteinheiH) eine allgemeine Losong des Problems gegeben,
durch Messung irgend welcher physikalischer Eigenschaftea der Losungen
zu einer Kenntnis der Anordnung ihrer Bestandteile zu gelangen, und
K. Hofmann^) hatte versucht, auf diesem Wege einen Einblick in den
Zustand gemengter Salzlosungen zu gewinnen, doch versagt gerade in
diesem besonderen Falle infolge einer bestimmten Beziehung zwischen
den Konstanten die Metbode, und Hofmann gelangte nicht zum Ziele.
Die Ausbildung der von Gladstone (S. 73) angegebenen Verfahren hatte
gleichfalls die gesuchten Auskiinfte geben konnen, doch waren sie in
der Hand ihres Erfinders nicht liber die Anfange hinausgelangt und
wurden inzwischen von anderer Seite nicht aufgenommen.
Im Jahre 1869 zeigte J. Thomsen'), dass das Problem auf thermo-
chemiscbem Wege losbar ist. Da die Neutralisationswarme verschiedener
Sauren mit derselben Basis haufig verschieden ist, so kann man, wenn
man zwei Sauren gleichzeitig in aquivalenter Menge auf ein Aquivalent
der Basis einwirken lasst, aus der hierbei stattfindenden Warmetonung
crsehen, welche von den Sauren sich mit der Basis verbunden hat, oder
ob eine Teilung eingetreten ist Denn hat die erste Saure die Basis
ganz an sich genommen, so muss ihre Neutralisationswarme entwickclt
werden, und ebenso die Neutralisationswarme der zweiten Saure, wenn
diese die Basis erhalten hat. Ist aber eine Teilung der Basis zwischen
beiden Sauren eingetreten, so wird die Warmeentwicklung zwischen jenen
Werten liegen, und sich mehr demjenigen nahern, welcher der starkeren
Saure angehort.
Bei der wirklichen Ausfdhrung der Versuche verfuhr Thomsen frei-
lich nicht in der angegebenen Weise, die ich des bequemeren Verstand-
nisses wegen dargestelUt babe, sondern er liess auf das Neutralsalz der
einen Saure die andere Saure einwirken. Findet in diesem Falle keine
Verdrangung statt, so wird die Warmetonung Null sein; ist die Ver-
drangung vollstandig, so wird die Warmetonung gleich dem Unterschiede
beider Neutralisations warmen sein, und tritt eine Teilung ein, so ent-
steht ein zwischenliegender Warmeeffekt, aus dessen Grosse man das
Verhaltnis, nach welchem die Teilung eingetreten ist, berechnen kann.
») L. A. 48, 153. 1843.
«) Pogg. 133, 575. 1868.
•) Pogg. 138, 65. 1869. Einzelne Versuche nach gleichem Prinzip hatte
Thomsen bereits 1854 'Pogg. 91, 95) ausgef&hrt.
Of '' .-•
UNlVtfRSITY
\ , or
Neuere Geschichte der A ffi ii i 1 1 1 1 lulu m 1f tf WffT 111
Thomsen stellte nan derartige Versuche in grosser Zahl mit Salz-
sanre, Salpetersaure, Schwefelsaure und ibren Natronsalzen an, indem
er die relativen Mengen mannigfaltig abanderte. Die in jedem Falle
ans der Warmetonung berecbnete Veiiieilung der Base zwiscben den
Saaren stimmte innerbalb der Feblergrenzen mit der Guldberg-Waage-
schen Theorie iiberein.
Dieser ersten Bestatigung des Massenwirkungsgesetzes folgte sebr
lange kcine zweite. Erst im Jabre 1876 erbielt Ostwald, als er unter
Anwendung der spezifiscben Gewicbte statt der Warmetonungen die Ver-
suche von Tbomsen wiederbolte ^), ganz ubereinstimmende Resultate, und
konnte so aucb seinerseits innerbalb derselben Grenzen das fraglicbe
Gesetz bestatigen. In der Folge ist es vielfach auf andere Versuche an-
gewendet worden, and es wurde fast immer mit denselben in Uberein-
stimmung gefunden. Die spatere Entwicklung der Frage bat indessen
gezeigt, dass gerade im Falle der Wecbselwirkung zwiscben Salzen and
freien Saaren die von Guldberg und Waage angenommene Unverander-
bchkeit der Koeffizieuten k und k' nicht stattfindet, dass vielmebr diese
w
Koeffizienten sicb je nach den Umstanden mebr oder weniger mit den
aktiven Mengen der beteiligten Stoffe andern.
6. Anwendnng der Thermodynamik auf die Verwandtsohaffcs-
etBeheinnzigen. Wahrend der erste Hauptsatz der mechaniscben Warme-
theorie die Beziebungen zwiscben den verscbiedenen Formen der Energie
darstellt, und demgemass in seiner Anwendung auf cbemische Erscbei-
noogen die Tbermocbemie beberrscbt, driickt der zweite Hauptsatz eine
die Zustandsanderungen betreffende Notwendigkeit aus, und bat daber
sain chemiscbes Gebiet in der Verwandtscbaftslehre. Schon Clausius hat
auf diese Verwertung des zweiten Hauptsatzes bingedeutet^), ohne in-
dessen irgend welche Anwendungen zu machen. Ein Versuch bierzu liegt
Ton Schroder van der Kolk^) (S. 89) vor. Diesem aber scheint das voile
Verstandnis des Satzes gefehit zu haben, so dass das Ergebnis seiner
aosgedehnten Abbandlung ungeniigend ist
Mit Erfolg bat zuerst A. Horstmann die Thermodynamik auf cbe-
mische Vorgange, und zwar zunacbst speziell auf Dissociationserschei-
Qungen in Anwendung gebracht Diese namlich sind umkehrbare Vor-
gange, die, wenn sie zwiscben festen und gasformigen Stoffen erfolgen,
nach denselben Gesetzen stattfinden, wie die Erscheinungen der Ver-
^) Pogg. Erg. 8, 154. 1876.
•) Pogg. 116, 100. 1862.
•) Pogg. 122, 439. 1864 und 131, 277. 1867.
J
112 L Geschichte der Verwandtschaftslehre.
dampfung fliichtiger Korper. Fiir die letztere aber giebt der zweite Haupt-
satz die bekaimte Beziehung (II, 1, 499)
wo Q die Verdampfungswarme, a das Dampfyolaiu^), p der Dampfdnick
und T die absolute Temperatur ist. Bei der Anwendung auf Dissocia-
tionserscheinungen ist q die Verbindungswarme und p der Dissociations-
druck. Die Gleicbung gewahrt eine Beziehung zwischen diesen beiden
Grossen und lasst die eine berechnen, wenn die andere bekannt ist.
Horstmann hat in seinen ersten Abhandlungen*) den zweiten Haupt-
satz nur auf die Dissociationserscheinungen angewendet. In einer spa-
teren Arbeit^), die den zu engen Titel: Theorie der Dissociation
fiihrt, zeigt er, wie das Entropieprinzip auf alle Zustande des cbemi-
schen Gleichgewichts Anwendung finden kann^ indem jedesmal das
System Ton alien moglichen Anordnungen eine solche an-
nimmt, bei welcher die Entropie ein Maximum ist^). Da die
analytische Bedingung fiir den Eintritt eines Maximums dadurch ge-
geben ist, dass die Anderung der fraglichen Fuuktion gleich Null wird,
so formuliert sich die Bedingung fiir den Eintritt eines cbemiscben
Gleichgewichts, wenn S die Entropie und x den Bruchteil umgewaudelter
StofiFe bezeichnet,
<iS ^
= 0
dx •
In jedem einzelnen Falle muss S als Funktion von x dargestellt
werden. Horstmann fiihrt aus, wie dies fiir Gase, fliissige und feste
Stoffe geschieht, indem er sich dabei des von Glausius aufgestellten Be-
griffes der Disgregation ^) bedient Seine allgemeinen Ergebnisse sind
folgende.
Findet ein chemisches Gleichgewicht zwischen einem oder mehreren
festen und einem gasformigen Stoffe statt, so hangt dies nicht von den
relativen Mengen der beiden, sondern allein vom Drucke des Gases und
von der Temperatur ab, indem die Gleichung gilt
^) Genauer der Unterschied zwischen dem Yolum des Dampfes und dem der
FlUssigkeit; doch betr> letzteres meist weniger ale 0-001 des ersteren, so daaa
es ohoe Fehler vernachl&ssigt werden kann.
«) Ber. 2, 137. 1869; ebenda 4, 635. 1871 und L. A. Suppl. 8, 112. 1870.
») L. A. 170, 192. 1873.
«) Somit hat nicht, wie Helmholtz angiebt (Berl. Mitt 1883,373), Lord Ray-
leigh zuerst das Entropieprinzip auf chemische Yorg&Qge angewendet.
«) Pogg. 116, 79. 1862.
Neuere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1886. 113
WO Q die WarmetonaDg bei der YoUstandigen Verbindung, v das Volum
des Gases bei vollstandiger Zersetzung darstollt; R ist die Gaskonstante
und C eine andere Konstante. In der Formel sind nar T und y Yer-
anderlich, d. h. jeder Temperatur entspricht ein bestimmtes Volum, oder,
da Druck und Volum umgekebrt proportional sind, auch ein bestimmter
DmcL Dies ist das Gesetz Yon Debray.
Findet die Wirkung zwischen festen Stoffen und zwei Gasen statt,
wie z. B. die Yon DeYille untersuchte Rcaktion zwischon Eisen, Eisen-
oxyd, Wasserstoff und Wasserdampf, so gilt
Q _Rln|L_|.c = 0,
wo wieder Q die bei der Reaktion freiwerdende Warme, p^ und p, die
Partialdrucke der beiden Gase bedeuten. Auch hier sind diese Grossen
onabhangig Yon der Menge x des zersetzten Stoffes und nur eine Funk-
tion der Temperatur.
Fiir den Fall endlich, dass lauter Gase auf einander wirken, indem
z. B. eine Molekel eines Gases sich in y und s Molekeln zweier anderen
Gase dissociiert, wahrend m Molekeln eines Zersetzungsprodukts Uber-
schiissig sind» hat Horstmann die Formel
^ + r(i+, ^\ In-- — ^— t) + C = 0
T \ 2 — x + ni (1 — x + m)(l — x)/'
gegeben. Sie ist durch einen Rechenfehler entstellt und muss analog
den friiheren Gleichungen lauten
1 P,"P4*----
WO Pi, p^, die Drucke der bei der Reaktion entstehenden, Ps* P4....
die der Yerschwindenden Gase sind, und n^jUj ....ns,n4 die Molekular-
koeffizienten dieser einzelnen Stoffe sind.
Ganz ahnliche Gleichungen gelten fiir die Beziehung zwischen FlUssig-
keiten, insbesondere Losungen und festen Stoffen. Zwar war fiir diese
eine hypothesenfreie Bestimmnng der Entropie damals noch nicht aus-
fuhrbar; nimmt man mit Horstmann aber an, dass die Entropie you der
gegenseitigen Entfernung der Molekeln in derselben Weise, wie bei Gasen
abhangt, so gelangt man zu Ergebnissen, welche mit der Erfahrung
stimmeii ^). Fiir lauter geloste Stoffe ergiebt sich das Guldberg- Waagesche
''< Wie sich sp&ter durch die Forschungen van^t Hoffs gezeigt hat, ist diese
Anoabme Horstmanns Yollkommen richtig, and bei weiterer Yerfolgnng dieses 6e-
Oft tv aid, Chemle. 11,2. 2.Aufl. 8
1 14 I. Geschichte der Verwandtschaftslehre.
Gleichgewichtsgesetz^); fiir feste Stoffe gelangt man wiederum zu dem
Satze, dass ihre Menge den Endzustand nicht beeinflusst.
In alien Fallen wird der Zustand wesentlich von Q, der Reaktibns-
warme, bestimmt. Ist aber Q==0, oder sehr klein, so fallt das Glie^
^ fort, und das Gleicbgewicht hangt nicht mebr von der Temperatur
ab. Ersteres ist z. B. annahernd bei der Esterbildung der Fall, wo
auch Berthelot und Pean de St. Gilles das Gleicbgewicht von der Tem-
peratur fast unabhangig gefunden haben.
Die Yorstehcnde Grundlegung der Affinitatslehre durch den zweiten
Hauptsatz der Tbermodynamik ist von grosster Bedeutung und hat, nach-
dem sie lange wenig beachtet gowesen war, gegenwartig eine grosse und
glanzende Entwicklung erfahren*).
7. Andere Forsoher. Etwas spater als Horstmanns altere Arbeitcn
erschien eine Abbandlung yon Peslin^), in welcher gleichfalls auf die
Dissociation des kohlensauren Ealks die fiir die Verdampfung aus dem
zweiten Hauptsatze folgende Gleichung p = T u ~^ angewendet wird. Da
Peslin zu denselben Resultaten kommt, wie Horstmann, so kann die ge-
nauere Mitteilung bier unterbleiben. Das Gleiche gilt fiir eine etwa
gleichzeitige Mitteilung von Moutier*).
8. Die Arbeiten von W. Gibbs. Weit eingehender und umfassender,
als diese Ansatze, sind die Untersuchungen des amerikanischen Forschers
Willard Gibbs ^), welcher eine vollstandige Theorie der chemischen
Gleichgewichtszustande auf thermodynamischer Grundlage gegeben hat.
Die Bedeutung dieser meisterhaften Arbeiten ist lange Zeit nicht sach-
dankens h&tte der durch van*t Hoff bewirkte wichtige Fortschritt aaderthalb Decen-
nien frdher gemacht werden kdnneo.
«) L. A. 170, 205. 1873.
') Zur Zeit der ersten Auflage dieses Werkes (1885) war das noch nicht der
Fall, uDd der Abschnitt schloss mit den Worten: ,,Wenn auch die ideenreichen Ab*
handlungen Horstmanns noch nicht die entsprechenden FrQchte getragen haben, so
steht doch ausser Zweifel, dass der kUnftige Aufbau einer auf rein mechanische
Prinzipien gegrtindeten Affinitatslehre von ihnen ausgehen wird.*^ Der Fortschritt
der Wissenschaft hat diese Yoraussicht schneller best&tigt, als damals erwartet
werden konnte. Nur ist das Wort „mecbanische'^ in „energetische" umzuwandeln.
») A. ch. ph. (4) 24, 208. 1871. Die erste Abhandlung, in welcher Horst-
mann die oben erw&hnte Gleichung anwendet, ist im April 1869 (Ber. 2, 137) ver-
offentlicht.
*) C. r. 72, 759. 1871.
*) Trans. Connecticut Academy^ III. 1874 — 78. — Thermodynamische Studiea
von J. Willard Gibbs, deutsch von W. Ostwald. Leipzig 1892.
Neuere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1886. 115
gemass gewurdigt worden. Die Ursache dafur lag nicht nur in der
geringen ZugaDglichkeit der Zeitschrifb, in der sie erschienen waren,
sondern nicht minder in der sehr abstrakten» und wegen Riicksicht auf
grosstmogliche Allgemeinheit wenig durchsichtigen Gestalt, welche der
Verfasser fiir seine Darlegungen gewahlt hatte. So war es gekommen,
dass diese Arbeiten auch den auf gleiehem Gebiete thatigen anderen
Forschern fast ganz unbekannt geblieben waren, und dass ein grosser
Teil der in ihnen enthaltenen Gesetze und allgemcinen Beziehungen
spater von anderen Forscheni entdeckt worden ist, ohne dass sie
wussten, dass diese bereits bei Gibbs zu finden waren. Nocb heute
muss man sagen, dass nur ein Teil der Gedanken dieser ausserordent-
licben Arbeiten fiir die experimenteDe Forschung ausgenutzt worden ist,
and dass nocb grosse Schatze ungebobon der Verwertung barren.
Der Grundgedanke der Arbeit ist der, dass ebenso wie bei mecba-
nischen Gebilden eine Funktion aufgestellt werden kaun, welche ein
Gieichgewicht dadurch charakterisiert, dass ihre Variation yerschwindet,
anch bei thermodynamischen Gebilden solche Funktionen aufstellbar sein
miissen, welche eine ahnliche Kennzeichnung des Gleichgewichts ergeben.
Es ist dies derselbe Gedanke, den wir schon bei Horstmann angetroffen
baben, bei dem die Entropie diese Rolle spielt; bier linden wir ihn
aber dahin erweitert, dass je nach den vorhandenen Bedingungen die
Terschiedenen Ausdriicke, welche diese Eigenschaft haben, aufgestellt
werden, und dass nicht nur fiir solche Falle, bei denen Gase sich am
Gieichgewicht beteiligen, allgemcine Gesetze gegeben werden, sondern
die thermodynamische Behandlung chemischer Vorgange in voller Allge-
meinheit gelehrt wird.
Gibbs beginnt mit der Aufstellung des folgenden Grundsatzes, desson
beide Formen, wie er zeigt, gleichwertig sind:
Zuna Gieichgewicht eines abgesonderten Gebildes ist es
ootwendig und hinreichend, dass fiir alle moglichen Ande-
rangen in dem Zustande des Gebildes, bei welchen seine
Energie .. , . , . ... ,. v , , Entropie^
r. ^ . unverandert bleibt, die Anderung der „ . Mull
Lntropie Energie
, negativ .
Oder °.,. ist
pOSltlT
Um zu einer richtigen Anwendung des Satzes zu gelangen, muss
man Acht geben, dass er sich auf wirklicbe Gleichgewichtszustande be-
zieht, namlich auf solche Zustande, die durch unendlich kleine Ande-
niDgen der bestimmenden Grossen eine unendlich kleine Anderung er-
fahren. Es sind also sowohl explosive Vorgange, wie auch Zustande
8*
116 I. Geschichte der VerwandtBchaftslehre.
ausgeschlossen, welche durch sogenannte passive Widerstande nnver-
verandert erhalten werdeii.
9. Das ohemisohe FotentiaL Ist nan ein solches Gebilde ge-
geben, so gilt dafiir, wenn keine chemischen Vorgange stattfinden, die
gewohnliche thermodynamische Gleichung
d6=td^ — pdv,
wo t die absolute Temperatur, p der Druck, s die Energie und rj die
Entropie ist*). Finden chemische Vorgange statt, so ist die Energie
in jedem Augenblicke von der Zusammensetzung der einzelnen Teile
des Gebildes abhangig. Machen ^ir die Voraussetzung, dass die durch
pbysiscbe Tiennungsiiachen von einander abgesonderten Teile (Gibbs
fiihrt spater fur sie den Namen P has en ein) des Gebildes einzeln ho-
mogen sind, so wird irgend ein chemischer Vorgang darin besteben,
dass in verschiedenen dieser Phasen gewisse Stoffe zu-, in anderen ab-
nehmen. Bezeichnet man diese unendlich kleinen StofiFmengen mit m,,
iDj, m^ ... so wird die Anderung der Energie diesen Mengen propor-
tional sein, und der obigen Gleicbung sind noch entsprechende Glieder
hinzuzufiigen, so dass sie die Gestalt annimmt:
d€ = td^ — P^iv + A'i dnii + ^j dm^ -|- • • • + i"n d nin, (A)
wo die Grossen fi die Faktoren darstellen, mit denen die Stoffmengen
d m zu multiplizieren sind, urn die dem Ubergange derselben entsprechen-
den Energiemengen zu ergeben. Diese Gleichung wollen wir die Hanpt-
gleichung (A) nennen.
Fiir jede homogene Phase des Gebildes muss eine solche Gleichung
gelten, und soil dieses im Gleichgewichte sein, so muss gemass dem
eben aufgestellten Prinzip die Energieanderung d £ in jeder dieser Glei-
chungen Null sein, da dies fur ein abgeschlossenes Gebilde (dessen
Wande also starr und undurchdringlich fiir Warme und die vorhandenen
Stoffe sind) die Bedingung des Gleichgewichts ist. Diese Bedingung sagt
also, dass die Summe aller Anderungen der Entropie Ar/ zwischen den
verschiedenen Phasen, ebenso die Summe aller Anderungen des Volums
dv und der Stoffmengen dm gleich Null sein muss. Unterscheiden wir
durch Accente die einzelnen auf die vorhandenen Phasen beziiglichen
Gleichungen, so haben wir zunachst
t' drj' - p' d v' + ^i' dm/ + • • • + ^n' A uin
+ t" d rj" — p" d v" + ^1 " d m/' + . . . + ^n" d mn" (A)
+ etc ^0
^) Ich benutze in diesem Auszuge der Gibbsschen Arbeit absichtlich seine
eigene Bezeicbnungsweise, die von der sonst in diesem Bache gebrauchten ab*
weicht, urn dem Leser den tJbergang auf das Studiam des Originals zu erleichtern.
Neuere Geschichte der Affinit&tBlehre bis 1886. 117
uDd da die Summe aller d 97, d v und d m einzeln gleich Null sein muss,
80 ist dazu ,,notwendig und zoreichend^S ^&ss
t'
t"
t'"
p
P
p
Ih
=
fff
i««'
1**
fff
■^■■^ ■ •
•
•
• •
•
fff
• •
„Die ersten Gleichungen sprechen die Bedingungen des thermischen
und mechanischen Gleichgewichts aus, namlich dass die Temperatur und
der Druck dnrch die ganze Masse den gleichen Wert haben miissen.
In den letzten Gleichungen haben wir die charakteristischen Bedingungen
fiir das chemische Gleichgewicht. Wir nennen die Grosse fi das Po-
tential des entsprechenden Stoffes in der betrachteten bomogenen
Mane, und so konnen diese Bedingungen folgendermassen ausgesprochen
warden:
„Da8 Potential jedes Bestandteils muss durch die ganze
Masse konstant sein.^
Die Begri£fsbildung, welche Gibbs bier ausgefuhrt hat, ist fiir die
Entwickluiig der chemischen Affinitatslehre von der grossten Bedeutung,
denn sie ermoglicht die chemischen Vorgange analog den thermischen
und mechanischen zu behandeln. In der vorstehenden Entwicklung er-
kennen wir, dass die „Mengen'' m^, m^y . . . der StofiFe demselben Ge-
setze miterliegen, wie die Volume dor mechanischen und die Entropien
der thermischen Anderungen des gesamten geschlossenen Gebildes:
die Summe aller Anderungen muss Null sein, d. h. diese Grossen lassen
sich weder schaffen, noch vernichten. Ebenso teilen die Grossen fi, die
chemischen Potentiale, rait der Temperatur und dem Drucke die Eigen-
achaft, dass durch ihre Gleichheit in dem ganzen Gebilde das Vor-
handeoseiti des Gleichgewichts bedingt ist. Gibbs ist auf die charak-
teristischen gemeinsamen Eigenschaften dieser Grossen nicht eingegangen;
an fruherer Stelle haben wir (11,1,6 u. a.) diese beiden Arten Grossen,
welche die Faktoren der betreflfenden Energien sind, als Kapazitats- und
Intensitatsgrossen unterschieden, und ihre allgemeinen Eigenschaften
^ekennzeichnet^). Die Bedeutung des vorstehenden wissenschaftlichen
') Es iBt lehrreich, sich darUber klar zu warden, dass bier Gibbs die all-
gemeine Eigeoschaft der Inteo&it&tsgrdssen , dass ihr Wert durch ein ruhendes,
1 L im Gleichgewicht befindliches Gebilde gleich sein muss, aus anderen Vor-
ttaetzungeii abgeleitet hat, wahrend nach der fraher eingehaltenen Darstellung
118 L Geschichte der Yerwandtschaftslehre.
Fortschrittes, den wir Gibbs verdanken, lasst sich somit dahin au6-
sprechen, dass er als der erste die Faktoren der chemischen Euergie
bestimmt hat.
Yielmehr diese Eigenschaft als eine fundamentale in die Definition der Inten-
sit&tsgrCssen aufgeuommen worden ist. Prflfen wir die von Gibbs gemachten Vor-
aussetzungen, so erkennen wir, dass seine Gleichgewichtsbedingung, es mttsse bei
konstanter Entropie die Anderung der Energie gleich Null sein (S. 115), durch den
,,8elbstyerst&ndlichen*' Zusatz erg&nzt worden ist, dass aach die anderen Kapazit&ts-
grOssen, Yolum and Stoffmenge, konstant bleiben. Die Bedingung, dass die Kapa-
zit&tsgr6ssen konstant sind, ist aber nur ein anderer Ausdruck dafiir, dass das
Gebilde abgeschlossen sein soil, und die alJgemeine Bedingong des Gleichgewichts
lautet demnach dahin, dass ein abgeschlossenes Gebilde in Gleichgewicht ist, wenn
die Variation der Energie verschwindet, d. h. die Summe aller entstehenden and
verschwindenden Energiemengen Null ist. Dies ist aber nichts anderes, als das
fraher formulierte Gesetz der virtuellen Energie&nderungen (II, 1, S. 25), und es
wird ersichtlich, dass die Ableitung der Gleichgewichtsbedingung aus dem Entropie-
prinzip allein nur eine scheinbare ist, da neben der Konstanz der Entropie noch die der
anderen vorkommenden Energiekapazit&ten vorausgesetzt wird, die nur als „selb8t-
verst&ndlich'' nicht ausgesprochen zu werden pflegt. Nur durch den Umstand,
dass infolge der W&rmestrahlung und -leitung in einem geschlossenen Gebilde eine
Vermehrung der Entropie mOglich ist, w&hrend wir Yorg&nge, die mit einer Ver-
mehrung der anderen Kapazit&tsgrOssen verbunden sind, nicht kennen, ist uns das
Gesetz von der Erhaltung der Entropie (fdr umkehrbare Yorg&nge) nicht bo in
Fleisch und Blut dbergegangen, wie die entsprechenden anderen Erhaltungsgesetze,
und statt sie alle gemeinsam zu formulieren, pflegen wir nur das eine als Voraus-
setzung auszusprechen und die anderen stillschweigend mitzunehmen.
Das Yerh<nis ist somit dies, dass aus dem Gesetz der virtuellen Energie-
anderungen und dem der Erhaltung der Eapazit&tsgrdssen das Intensit&tsgesetz
abgeleitet werden kann, und ebenso jedes der beiden anderen Gesetze aus den
zwei ttbrigen. Die drei Gesetze stellen also nur zwei von einander abhftngige
Erfahrungsthatsachen dar.
Ferner ist zu bemerken, dass die von Gibbs gegebene Ableitung nur zum
einfachcn Intensit&tsgesetz, nicht zu dem der kompensierten Intensit&t (II, 1, 47^
gefQhrt hat.
Es liegt dies aber nur daran, dass Gibbs die Yoraussetzong gemacht hat,
dass die verschiedenen Intensit&tsgrdssen von einander vdUig unabh&ngig aind.
Giebt man diese Yoraussetzung auf, so lassen sich F&lle finden, in denen die
Gleichung (A) erfttUt ist, wenn auch die Gleichungen t' = t" = t'" . . . , p' =« p" =-
p'" ■—.... u. s. w. nicht stattfinden.
Um dies zu sehen, beschr&nken wir uns auf zwei Phasen mit zwei Energie-
arten, und bezeichnen die Intensit&ten mit i, die Kapazit&ten mit c. Dann haben
wir die beiden Gleichungen
1^ d c, + 1, d c^ = 0, 1^ d Cj + la d Cg — 0
nebst den Bedingungen
dc/ + dc," = 0 Oder dq'« — dc/'
und
dc4' + dc2" = 0 Oder dc4' = — dCj".
Neuere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1886. 119
Deiiken wir uns die HauptgleichuDg (A) (S. 116) iotegriert, indem
wir von einem Aiifangszustande ausgehen, fiir den wir die yorkommen-
den Werte mit Null bezeichnen konnen, so haben wir
e = t^ — pv + ^jmi +.«/2mj H |-.«^nmn
und differenzieren wir yoUstandig, so folgt
df ==td^ + ^dt — pdv — vdp + ^idmi -\- f/^dm^ -|-...
Wird hiervon die Hauptgleicbung (A) subtrahiert, so folgt eine
gleichfalls viel gebrauchte Beziehung
0 = ^dt — vdp + midjt^i + m^dfi^ H l-nind^n^ (B)
welche wir die Erganzungsgleichung (B) nennen wollen.
Nach Aufstellung der Hauptgleicbung wendet sich Gibbs zunacbst
zu der Eriedigung einiger besonderer Falle, um seiner Aufstellung
die grosstmoglicbe Allgemeinheit zu sicbern. Er betrachtet zuerst die
„m5glicben" Stoffe in dem Gebilde, d. b. solcbe StoiSFe, die sich zwar
aus den yorbandenen Bestandteilen bilden konnen, im Augenblicke aber
noch nicht yorbanden sind. Fiir derartige Stoffe kann d m nur positiye
Werte baben, und in Gebieten, wo der Stoff nur ein inoglicher Bestand-
teil ist, braucbt sein Potential nicbt gleicb dem in anderen Gebieten,
wu er ein wirklicher Bestandteil ist, zu sein, sondern darf nur nicht
kleiiier sein.
Ferner macht er einige Bemerkungen iiber die Wahl der Stoffe,
aof die man die Ausdriicke bezieht. Diese ist einigermassen willkiir-
lich; so kann man z. B. bei einem Gleichgewicht zwischen Wasserdampf
and einer Salzlosung das geloste Salz nach Belieben als wasserfrei oder
wasserhaltig auseben, weil das Salz nur gemeinsam mit Wasser in Frage
kommt; Wasser selbst muss dagegen notwendig als Bestandteil ange-
nommen werden, da die Dampfphase nur aus diesem besteht. Anderer-
seits darf man nicbt in diesem Falle an Stelle des Wassers Sauerstoff
nod Wasserstoff als Bestandteile behandeln, weil in dem betrachteten
Gleichgewicht keine Moglichkeit yorliegt, die Mengen dieser Stoffe un-
Macht man die Substitutionen , so ergiebt sich als Gleichgewichtsbedingung
(ii' — ii") dc/ + {hi — ij") dCj =- 0,
Qod die Annahme i^' = i/' und i,' =» i," ist nur ein mGglicher, aber kein not-
▼endiger Fall.
Die Gleichung ist fttr i/ ^ ij" und i^' ^ i^" der Ausdruck des Gesetzes der
kompeosierten Intenait&ten fttr zwei Eoergiearten, falls eine Maschinengleichung
ziischen dc^' und dc,' gegeben ist.
120 1- Geschichte der Verwandtschaftslehre.
abhaugig yon einander zu verandern. Ferner bestehen in gewisseu
Fallen Beziehungen zwischen den einzelnen Mengen, z. B. wenn die
Salzlosung mit krystallwasserhaltigem festem Salz im Gleicfagewicht
stebt. Betracbtet man bier wasserfreies Salz und Wasser als Bestand-
teile, so darf man nicbt das krystallwasserhaltige Salz als eincn dritten
unabbangigen Bestandteil einfubren^ denn zwiscben seiner Menge und
der Menge des wasserfreien Salzes bestebt eine feste Proportionalitats-
beziebung. Wenn man in solcben Fallen aucb derartige Bestandteile
in die urspriinglicbe Gleicbung eingefubrt bat, so lassen sie sicb durcb
die stocbiometriscbe Beziebung zwiscben ibnen und den anderen Be-
standteilen climiniereu, so dass scbliesslicb immer nur eine Gleicbung
zwiscben den unabbangigen Bestandteileu zuriickbleibt.
Aucb die Moglicbkeit der Bildui^g neuer Teile oder Pbasen in
einem Gebilde wird erortert und fubrt zu sebr scbwierigen Betracb-
tungen, aus denen sicb ergiebt, dass wenn eine solcbe Bildung unter
den Yorbandenen Umstanden fiir einen endlicben Betrag des neuen
Teils aucb moglicb oder notwendig erscbeint, dennocb die tbatsacblicbe
Bildung nicbt einzutreten braucbt. Denn in der sebr kleinen Menge^
die notwendig im ersten Augenblicke der Bildung von dem neuen Teile
Yorbanden ist, ist das Potential der Bestandteile keineswegs unabbangig
Yon der Menge der Pbase, wie allgemein fur die bisberigen Betracb-
tungen Yorausgesetzt wurde, sondern es macben sicb Energiegrossen als
Yon gleicber Ordnung geltend, die bei endlicben Mengen yerscbwinden,
wie z. B. die von der Oberflacbenspannung berriibrenden. Dadurcb wird
bedingt, dass solcbe neue Teile keineswegs notwendig auftreten, so wie
ibre Bedingungen gegebcn sind, sondern lange dariiber binaus fort-
bleiben konnen. Beispiele fiir diese Verbaltnisse sind die iibersattigten
Losungen, iiberbitzten Fliissigkeiten u. s. w. AUe diese Zustande werden
aber unmoglicb, sobald eine endlicbe Menge der neuen Pbase (festea
Salz, Dampf) mit dem Gebilde in Beriibrung gebracbt wird.
Wenn eine der Yorbandeneu Pbasen fest ist, so konnen ibre Be-
standteile nur gleicbzeitig in dem Yerbaltnis, wie sie im festen Korper
Yorbanden sind, in Losung geben; man betracbtet daber am besten
diese Verbindung als einen Bestandteil des Gebildes; im iibrigen bleiben
die Gleicbgewicbtsbedingungen unveranclert. Insbesondere folect bieraus^
dass ein fester Korper, dessen Zustand in aneinandergrenzenden Teilen
stetige Verscbiedenbeiten aufweist, mit einer bomogenen Fliissigkeit (oder
einem Dampf) nicbt im stabilen Gleicbgewicbt sein kann; Yielmehr
muss diese Beriibrung dabin wirkeu, dass sicb die Verscbiedenbeiten
ausgleichen.
Neuere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1886. 121
Sehr merkwiirilig sind die nun folgeoden Erorteruugen iiber die
Wirkungeu von Diaphragmen. Wenu man sich erionert, welche grosse
Bedeutung die Idee der halbdurcblassigen Scheidewande fiir die Ent-
wicklmig der Losungstheorie gebabt hat, so wird man mit Interesse
findeo, da88 der Begriff und die Theorie solcber Scheidewande sich bier
bereits dargelegt finden. Gibbs nimmt Diaphragmen an, welche einige
Bestandteile des Gebildes durchtrcten lassen, und andere uicht, und
findet, dass fiir die ersteren zunachst die Bedingung verschwindet, dass
der Druck in alien Phaseu gleich sein muss; er kann in den durch
die Scheidewand getrennten Phasen verschieden sein. Dies liegt in der
Annahme selbst begriindet und bedarf daher keiner besonderen Er-
orterung. Gleichzeitig ergiebt sich aber auch, dass das chemische
Potential derselben Stoffe ebenfalls in den durch das Dia-
phragma getrennten Phasen nicht gleich sein muss.
10. Fondamentalgleiohuiigen. Fiir viele Untersuchungen kann man
sich an Stelle der S. 116 gegebenen Gleichung abgekiirzterer Formen
bedienen, welche Gibbs Fundamentalgleichungen genannt hat. Sie treteu
aut wenn die Bedingungen der betrachteten Vorgange derart siud» dass
die Veranderlichkeit bestimmter Grossen ausgeschlossen ist, und ent-
stehen aus der urspriinglichen Gleichung, indem man die unveranderlich
bleibenden Anteile auf die linke Seite bringt. Ist demnach die ur-
sprungliche Gleichung
As = tdTi — pdv + /Midmi + ^,dmj-| (-^ndmo
Qod integriert
£ = t^ — p V + /t/i m, + ^, m, H h /"n mn,
so kann man die Funktionen bilden
ip =• f — t ^ = — p V + /t/^ mi + jMj mg H h i"n nin
£ = € — t ^ + p V = //j mj + //, mj, H h /f^n mn.
Die Funktion y) kann als Kraftefunktion fiir konstante
Temperatur bezeichnet werden. Denn fur zwei Zustande des Ge-
bildes bei gleicher Temperatur haben wir
tp — ip =£ — e — t(^ — 7] ),
Geht das Gebilde aus dem einem Zustande in den anderen auf
einem umkehrbaren Wege iiber, so ist die dabei abgegebene Arbeit W
^d anfgenommene Warme Q gegeben durch
s' — s" = y^ — Q.
122 I* Oeschichte der Verwandtschaftslehre.
Da aber Q = t (17" — tj)
so folgt ip' — tp" = W
oder fiir eine unendlich kleine Anderung
— dtp = dW.
Die Anderung der Funktion ^ misst also die von dem Gebilde
bei konstanter Temperatur nach aussen leistbare Arbeit. Es ist
dies eine der wichtigsten Fragen, die wir bezuglich des Verhaltens eined
Gebildes stellen konnen, und demgemass spielt die Fanktiou tp eiue
grosse Rolle. Sie ist wegen dieser Eigenschaft von Helmholtz, der sie
spater selbstandig gefunden hat, mit dem Namen der freien Energie
bezeichnet worden. Der Name freie Energie bezeichnet sehr gut das Wesen
der Grosse, nur muss er dahin erganzt werden, dass ^ die freie
Energie fiir isotherm e Vorgange, oder bei konstanter Tempe-
ratur ist.
Da ein Gebilde, welches samtliche bei einer bestimmten Tempe-
ratur nach aussen leistbare Arbeit abgegeben hat, sich freiwillig oicht
weiter verandern kann, so ist ein Zustand, bei welchem die Funktion ip
ein Minimum ist, ein Gleichgewichtszustand. Die Bedingung, dass ein
Gebilde im Gleichgewicht ist, kann also analytisch durch
(rfv)t>o
ausgedriickt werden, wobei der Index t bedeutet, dass alle Variationen 6
bei konstanter Temperatur erfolgen sollen. Gibbs beweist ausserdem
noch direkt, dass diese Bedingung mit der S. 115 ausgesprochenen
gleichwertig ist.
Ist Druck und Temperatur iiberall im Gebilde gleich, so kann in
ahnlicher Weise die Funktion g zur Definition des Gleichgewichts be-
nutzt werden, indem die Bedingung lautet
(<JS)t,p>_0.
Gleichzeitig ergiebt sich, dass die Grosse g (ebenso wie ^) fur jeden
Bestaudteil in den verschiedenen Phasen, die nebeneinander bestehen^
den gleichen Wert baben muss. Duhem (s. w. u.) hat sie das tbermo-
dynamische Potential genannt.
Die Funktion x endlich gilt fiir iiberall gleichen Druck, und kanu
in Analogie zu der Funktion \p die Warmefunktion fiir konstanten Druck
genannt werden, da man durch eine Betrachtung, die ganz analog der
oben gegebenen ist, sich iiberzeugen kann, dass ihre Anderung den Be-
trag der fiir irgend einen umkehrbaren Vorgang bei konstantem Druck
aufgenommenen Warme darstellt.
Neaere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1886. 123
*
11. Fotentiale. Die auf S. 116 gegebene Definition des Potentials
lasst erkennen, dass dieses als partielles Differential der Energie £ nach
der Menge des Stoffes, dessen Potential bestimmt werden soil, erscbeint.
Dem Begriff'e des partiellen Differentials gemass wird dabei voraus-
gesetzt, dass alle anderen Yeranderlicben ihren Wert beibehalten. Daraus
ergiebt sich die anscbaulicbere Definition: y^Nehmen wir an, dass zu
einer homogenen Masse eine unendlicb kleine Menge eines
Stoffes gesetzt wird, wobei die Masse homogen und ibre En-
tropie und ihr Volum unveraodert bleibt, so ist das Verhalt-
nis der Zunabme der Energie zu der Menge des binzugefiigten
Stoffes das Potential des Stoffes fiir die betracbtete Masse."
Wir erkennen in dieser Definition wiederum, dass das Potential
die Intensitatsgrosse der cbemiscben Energie ist; denn da die Menge
die Eapazitatsgrosse darstellt, so muss der Quotient der Energie durcb
die Menge die Intensitatsgrosse sein. Sebr zu beachten ist, dass dieser
Definition gemass einem Stoffe nicbt an sicb ein bestimmtes Potential
zukommt, sondern dass der Zustand, in welchem der Stoff erscbeint, das
Potential bestimmt. So ist das Potential des Wasserstoffs beispiels-
veise mit seinem Drucke und seiner Temperatur yerauderlich. Dagegen
bat es den gleicben Wert fiir gasformigen Wasserstoff und fiir in irgend
einem Losungsmittel gelosten Wasserstoff, falls das Losungsmittel bei
dem Druck und der Temperatur des Gases mit diesem gesattigt ist.
Denn nach dem fnndamentalen Intensitatsgesetz muss, damit Gleicbge-
vicht besteht, die Intensitatsgrosse, bier das Potential, in den ver-
schiedenen Pbasen, die mit einander im Gleicbgewicbt sind, gleicb
gross sein.
Femer siebt man, dass eine absolute Bestimmung des Potentials
fur einen gegebenen Stoff nicbt moglicb ist, auch wenn man seinen Zu-
stand Yollstandig definiert. Denn wenn der Stoff irgendwo auftritt, so
muss er an einem anderen Orte verscbwinden, und ebensowenig, wie man
den absoluten Energiebetrag bestimmen kann, ist dies fiir das Potential
moglicb. Wir baben es daber stets nur mit Potentialunterscbieden
zn thun, nnd wenn n Zustande eines Stoffes gegeben sind, so besteben
iwischen ihnen n — 1 Potentialunterscbiede.
Das Potential einer Verbindung, die aus mehreren Bestandteilen
besteht, lasst sich darstellen als die Summe der Potentiale der Bestand-
teile in dieser Verbindung. Dies ergiebt sicb, wenn man die oben ge-
gebene Definition des Potentials auf diesen Fall anwendet.
Um den wicbtigen Begriff nocb klarer zu stellen, giebt Gibbs noch
die beiden folgenden Definitionen:
124 L Geschichte der Yerwandtschaftslehre.
„Da6 Potential eines Stoffes in eiuer homogenen Masse
ist gleich der Menge mecbaniscber Arbeit, welcbe erforder-
lich ist, um die Einbeit des Stoffes aus einem Zustande, in
welcbem seine Energie und Entropie gleicb Null sind, durcb
einen amkehrbaren Vorgang in Verbindung mit der bomo*
genen Masse zu bringen, welcbe am Scblusse des Vorganges
ibr urspriinglicbes Volnm baben muss, und welcbe so gross
angenommeu wird, dass sie an keiner Stelle eine merklicbe
Anderung erleidet. AUe anderen fUr den Vorgang benutzten
Eorper miissen zum Scblusse in ibren urspriinglicben Zustand
zuriickversetzt sein, ausgenommen die, welcbe die Arbeit ge-
liefert baben, und von denen vorausgesetzt wird, dass sie
nur bierzu benutzt worden sind."
„Das Potential eines Stoffes in einer bomogenen Masse
ist gleicb der Arbeit, welcbe erforderlicb ist, um die Einbeit
des Stoffes durcb einen umkebrbaren Vorgang aus einem Zu-
staude, in welcbem y? gleicb Null und die Temperatur die-
selbe, wie die der gegebenen Masse ist, in Verbindung mit
dieser Masse zu bringen, welcbe amScblusse des Vorganges die-
selbe Temperatur und dasselbe Volum baben muss, und welcbe
so gross angenommen wird, dass sie nirgend eine merklicbe
Anderung orfabrt. Eine Warme- oder Kaltequelle von der
gegebenen Temperatur ist gestattet, ausserdem diirfen fremde
Korper nur unter den fruberen Bedingungen benutzt werden.^
Es wird kaum notig sein, bervorzubeben, dass aus dem Wortlaute
dieser Definition nicht zu scbliessen ist, das Potential sei eine Arbeit.
Es ist eine auf die Mengeneinbeit bezogene Arbeit, also vou der
Dimension einer Energie, dividiert durcb eine Sto£fmenge, welcbes ja
die ricbtige Dimension der cbemiscben Intensitatsgrosse ist
12. l&ber ooexistente Fhasen der Materie. Die Fhasenr^el. Uater
coexistent verstebt Gibbs solche Pbasen, dio nebeneinander bestehen
konnen, obne sicb gegenseitig zu andern, und er stellt die Frage auf,
wie viele coexistente Pbasen fiir eine gegebene Anzabl n Ton unab-
bangigen Bestandteilen moglicb sind. „Hat ein bomogener Korper n
unabbangig veranderlicbo Bestandteilc, so ist die Pbase dieses Korpers
offenbar n -f 1 unabbangiger Variationen fabig. Ein System von r coexi-
stierenden Pbasen, von denen jede n unabbangig veranderlicbe Bestand-
teile bat (Gibbs beweist spater, dass nicht notwendig jede Pbase alle Be-
standteile entbalten muss), ist n + 2 — r Variationen der Phase fahig.
Denn Temperatur, Druck und die Potentiale der wirklicben Bestandteile
Neuere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1886. 125
hsiheu in den verschiedenen Phasen gleiche Werte, und die Variationen
dieser Grossen sind daher vermoge der Erganzungsgleichung (B) (S. 1 19)
so yielen Bedingungen unterworfen, als Phasen Torhanden sind. Daher
wird die Zabl der unabhangigen Variationen der Werte dieser Grossen,
d. h. die Zahl der unabhangigen Variationen der Phase des Gebildes
gleich n -|- 2 — r sein."
„Daher ist, wenn r = n + 2, keine Variation der coexistent bleiben-
den Phasen moglich. Es scheint nicht wahrscheinlich, dass r jemals
grosser sein kann, als n + 2. Ein Beispiel von n = l nnd r = 3 ist
die Coexisteuz von fester, fliissiger nnd gasformiger Gestalt eines Stoffes
Ton unveranderlicher Zusammensetzung. Es ist nicht unwahrscheinlich,
dass im Falle des Schwefels und einiger anderor einfacher Stoffe mehr
als eine Triade coexistierenden Phasen vorhanden ist, aber es ist voUig
QQwahrscheinlich , dass es vier coexistente Phasen eines einfachen
Stoffes giebt."
In den vorstehenden Worten ist der Text einer Stelle gegeben, in
welcher Gibbs den Grund zu einer ausgcdehnten Reihe spaterer For-
schungen gelegt hat. Die hier von ihm ausgesprochene Rcgel iiber den
Zusammenbang zwischen der Anzahl der unabhangigen Bestandteile und
der Zahl der moglichen coexistierenden Phasen, die unter den Namen der
Gibbsschcn Phasenregel inzwischen beriihmt geworden ist, hat sichals
ungemein wertToU zur Entwirrung yerwickelter Gleichgewichtsbeziehungen
crwiesen and gewahrt ein vorziigliches Mittel, urn diese systcmatisch
aa&Qsuchen und darzustellen. Sie besagt, dass, wenn die Zahl der
Phasen die der Bestandteile um 2 iibertrifft, Temperatur, Druck, Po-
tentiale n. s. w. aller Bestandteile ganz bestimmte Werte haben miissen,
damit die Phasen nebeneinander bestehen bleiben; jede Veranderung
eines dieser Werte bringt notwendig das Verschwinden mindestens einer
der Phasen hervor. So konnen Eis, Wasser und Wasserdampf nur bei
O*') und 4-57 mm Druck nebeneinander bestehen; jede Auderung einer
dieser Grossen lasst eine der Phasen, oder beide, verschwinden.
Wird die Zahl der Phasen um eine vermindert, betragt sie also
irnr n-j- I9 so gewinnt das Gebilde einen Freiheitsgrad. Man hat dann
eine stetige Reihe von Temperaturen, Drucken und Potentialen, bei
deuen die Phasen nebeneinander bestehen bleiben, mit der Massgabe,
dass wenn eine dieser Grossen bestimmt ist, die anderen dadurch gleich-
faUs bestimmt sind. Das einfachste Beispiel ist hier wieder Wasser in
^ Genaucr -{-O-OOIS, wenn man als Nallpunkt die Schmelztemperatur des
£ues onter gew5hnlichem Luftdmck yersteht (vgl. 1, 1014).
126 I- Geschichte der Verwandtschaftslehre.
«
Beriihrung mit seinem Dampfe. Hier giebt es eine stetige Reihe toii
Temperaturen, bei denen beide Pbasen nebeneinander bestehen konnen;
fiir jedo.Temperatur ist aber ein und nur ein Wert des Druckes vor-
banden, der die Coexistenz moglich macbt. Ferner giebt es eine hochste
Temperatur, die kritiscbe, iiber welche hinaus zwei Pbasen iiberhaupt
nicht mehr vorbanden sind. Gleicbes gilt fur die Coexistenz von Wasser
und Eis, nur ist bier die Anderung des Druckes im Verbaltnis zu der
Temperatur ungeheuer gross (I, 1014); wieder giebt es eine hochste
Temperatur, oberbalb welcher die Eispbase nicht mebr bestandig ist,
der Scbmelzpunkt unter 4*57 mm Druck.
Um gleicb noch ein lebrreicbes anderes Beispiel zu betracbten, sei
die Dissociation des Calciumcarbouats untersucbt. Dieses zerfallt in
Kalk und Koblendioxyd; es scbeint also, dass drei Bestandteile vor-
banden sind. Indessen sind die drei nicht unabhangig von einander,
da sich Calciumcarbonat aus den beiden anderen bildet; es diirfen so-
mit nur zwei unabhangige Bestandteile angenommen werden. Die Zabl
der Pbasen 2 + 2 = 4 (z. B. fliissige und gasformige Kohlensaure nebeu
Kalk und Calciumcarbonat) ist nur bei einem bestimmten Werte von
Druck und Temperatur moglich, womit nicht gesagt werden soil, dass
iiberhaupt eine solcbe Kombination der vier Pbasen moglich ist. Sind
nur drei Pbasen vorbanden, z. B. Carbonat, Kalk und Kohlensaure, so
giebt es wieder eine Reihe von zusammongehorigen Drucken und Tem-
peraturen, bei denen sie nebeneinander bestehen konnen: die Disso-
ciationskurve des Calciumcarbonats.
Diese Andeutungen werden geniigeu, um von der Bedeutung der
Phasenregel eine vorlaufige Anscbauung zu geben; an spaterer Stelle
soUeu ihre Anwendungen ausfiihrlich erortert werden. Einige Worte
sind noch iiber den Beweis zu sagen, welchen Gibbs fiir seine Regel
gegehen hat. Man hat sich mit Recht iiber seine Schwierigkeit und
Dunkelheit beklagt und es scbeint in der That moglich, das £r-
gebnis auf anschaulichere Weise zu erlangen. Das Entscbeidende fiir
diese Zahlenregel ist die Anzahl der vorhandenen Energiearten; sie wird
durch die Anzahl der Glieder auf der rechten Seite der Grundgleichung
gegeben und ist n -|- 2. Denn es wird vorausgesetzt, dass in dem be-
trachteten Gebilde Warme, Volumenergie und chemische Energic vor-
banden sei, und zwar von letzterer so viole von einander unabhangige,
d. h. in einander nicht verwandelbare Formen, als verschiedene unab-
hangige Bestandteile anwesend sind (II, 1, 501). Sind also durch die
Existenz von n-\-2 Pbasen u -f- 2 Bedingungen gegeben, so ist das Ge-
bilde vollstandig definiert und es ist keine Veranderlichkeit moglich.
Nenere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1886. 127
Jede Pbase weniger bedingt dann einen Freiheitsgrad fur Veranderungen,
wie das eben entwickelt worden ist.
(iibbs zeigt nun, wie unter Benutzung der S. 119 gegebenen Er-
ganzQDgsgleichung sich bestimmte Beziehungen ableiten lassen. Haben
WIT fur einen einzigen Stoff zwei Phasen, so gelten die Gleichungen
v'dp = V dt + m' d^
v" dp = ^" d t + m" d^.
Eliminiert man d^, so folgt
(^m" v' — m' v") d p = (m" rj' — m' tj") dt (*)
Oder, wenn wir m' = m" = 1 setzen,
dp _v—v'_ Q
die bekannte Dampfdruckformel.
Fur den Fall, dass zwei Bestandteile in zwei Phasen vorhanden
sind, besteben zwei Freiheitsgrade; ist die Temperatur gegeben, so bleibt
oar einer iibrig. Man wird also beispielsweise bei gegebener Tempe-
ratur die Zusammensetzung eines Gemisches aus zwei fliichtigen Fliissig-
keiten stetig andern konnen, und es wird immer ein gleichfalls stetig
Teranderliches Dampfgemisch geben, welches mit jenem im Gleich-
gewicht ist. „Da aber Gleichung (*) in diesem Falle Geltung haben wird,
wenn mi':m2' = m^'':mg", so folgt, dass bei konstanter Temperatur
der Druck im allgemeinen ein Maximum oder Minimum ist^ wenn die
Zusammensetzung der beiden Phasen die gleiche ist."
Auch hier ist ein experimentell sehr wichtiger Satz in grosster
Eiirze und auf Grund eines nicht leicht verstandlichen Beweises aus-
gesprochen. D^r Gedanke ist der, dass wenn Dampf und Fliissigkeit
die gleiche Zusammensetzung haben (was durch die Proportion m^' : m^^' =
m/'rrnj" aasgesprochen ist), das Gebilde behandelt werden kann, als
enthielte es nur einen Bestandteil. Dann gilt die erwahnte Gleichung
(m" V' — m' V") dp = (m" r^' — m' ^") dt,
and ist die Temperatur konstant, also dt = 0, so muss auch dp = 0
sein (da der Ausdruck in der Klammer im allgemeinen nicht Null ist),
<l h. es muss der Druck p ein Maximum oder Minimum sein. Das
Gleiche gilt offenbar auch umgekehrt, d. h. bei kpnstantem Druck muss
die Temperatur ein Maximum oder Minimum sein; es hat mit anderen
Vorten yon alien Gemengen das den hochsten oder niedrigsten Siede-
ponkt, dessen Dampf die gleiche Zusammensetzung hat. wie die Fliis-
ngkeit
128 I- Oeschichte der Yerwandtschaftslehre.
Durch t)berlegungen, welche sicb an friihere Betracbtangen (1,644)
anschliessen , kann man sicb scbliesslicb von der Notwendigkeit dieser
Beziebung iiberzeugen. Denken wir una, dass wir cin Gemenge mit
bocbstom Siedepunkt baben, und es sieden lassen. Ware nun der
Dampf anders zusammengesetzt, als die Fliissigkeit, so wiirde durcb das
Sieden sicb die Zusammensetzung andern und dadurcb notwendig eine
Fliissigkeit entsteben, welcbe grosseren Dampfdruck bat, und ebenso
miisste die iiberdestillierende Fliissigkeit einen grosseren Dampfdruck,
d. b. einen niedrigeren Siedepunkt baben, als die urspriinglicbe Fliissig-
keit. Eine Fliissigkeit, die sicb so verbielte, konnte aber iiberbaupt
nicbt stabil sein; da es nun stabile Gemiscbe dieser Art giebt, so miissen
ibre Dampfe mit der Fliissigkeit gleicb zusammengesetzt sein.
Ein abnlicber Satz wird fiir den Fall dreier Bestandteile bewiesen,
wenn diese drei Pbasen bilden, und die Zusammensetzung einer der
drei Pbasen so ist, dass sie durcb Verbindung aus den beiden anderen
gebildet werden kann: es wird dann aucb bei konstanter Temperatur
der Druck oder bei konstantom Druck die Temperatur ein Maximum
Oder Minimum sein. „Die Reibe zusammengeboriger Werte von t und p,
fiir welcbe diese Bedingung erfiillt ist, trennt die zusammengeborigen
Werte von t und p, fiir welcbe drei coexistierende Pbasen nicbt mog-
licb sind, von denen, fiir welcbe es zwei Triaden coexistierender
Pbasen giebt/^
Diese Satze sind von grosser tbeoretiscber Bedeutung, da sie Aus-
kunft dariiber geben, welcbe Bedingungen erfiillt sein miissen, damit
sicb Gemenge wie einbeitlicbe Stoffe verbalten. Sie bilden insofern die
Grundlage fiir die allgemeine Tbeorie der cbemiscben Individualitat.
13. 'Ober die Bestandigkeit homogener Miissigkeiten. Die Frage,
ob bei gegebenen Umstanden eine bomogene Fliissigkeit bestandig ist,
wird dabin beantwortet, dass dies der Fall ist, wenn keine andere
Pbase aus den gleicben Bestandteilen moglicb ist, welcbe bei gleichen
Werten des Volums und der Entropie weniger Energie entbalt, als die
betracbtete.
Eine andere Form der Bedingung ist die folgende: „Wenn der
Druck der Fliissigkeit grosser ist, als der einer anderen Pbase aus den-
selben Bestandteilen, und von gleicber Temperatur und gleicben Werten
der Potentiale ibrer wirklichen Bestandteile, so ist die Fliissigkeit stabil
obne coexistierende Pbasen; ist der Druck kleiner, als der einer anderen
solcben Pbase, so ist die Fliissigkeit instabil; ist der Druck eben so
gross, als der einer anderen solcben Pbase, so wird die Fliissigkeit sicber
nicbt unstabil und aller Wabrscbeinlicbkeit nacb stabil sein, aber sie
Neuere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1886. 129
wird eine aus eiuer Gruppe coexistierender Phasen sein, zu der die
Phasen gleichen Druckes gehoren."
An diese Bestimmungen schliessen sich £rorterungeQ< iiber die Sta-
bilitat beziiglicb stetiger Anderangen der Phase und beziiglich der
Grenzen der Stabilitat, die keinen Auszug gestatten. Dasselbe gilt fiir
die geometriscben Veranscbaulichungen der bisher betrachteteu Verhalt-
uisse, insbesondere der Coexistenzbedingungen mebrerer Pbasen, und der
Leeer muss beziiglich dioser Teile, namentlicb des ungemein lehrreichen
letzteren, auf da8 Original verwiesen werden.
14. tfher den Wert der Potentiale, wenn die Menge eines Be-
standteilfi Behr klein let. Wird die Ergauzungsgleichung (B), S. 119, auf
eine homogene Masse angewendet, welche zwei unabhangige Bestand-
teile besitzt, und wird t, p und m^ konstant gesetzt, so ergiebt sich
\dmi/t,p,mi ^dm, /t,p,mj
und lasst man m^ in Null iibergehen, so folgt entweder
(^) =0(1) Oder (I^O =oo(II).
Betrachten wir den Fall, dass zu einer Fliissigkeit m^, dem Losungs-
mittel, eine sehr kleine Menge dm, eines anderen Stofifes gesetzt wird,
60 muss dm^ notwendig positiv und kann nicht negativ sein. Soil (I)
giltig sein, so miisste d^ = 0 sein, d. h. das Potential des Losungsmittels
sollte durch den Zusatz nicht geandert werden. Die Erfahrung lehrt
aber, dass es yermindert wird, denn war das Losungsmittel vorher mit
seinem Dampfe im Gleichgewicht, so ist es dies nach der Auflosung von
dm, nicht mehr, sondem der Dampfdruck ist kleiner geworden. Der
Di£ferentialquotient (I) wird also einen endlichen negatiyen Wert besitzen,
and 68 ist somit nicht die Gleichung (I), sondern es ist (II) richtig.
Setzen wir, um dies auszudriicken, den Wert des Diiferentialquo-
tienten ( -r-^ ) demgemass gleich , so ist A positiv und unab-
\dm,/t,p,mt ° "^ mi
hangig von m^; wird dies in die erste Gleichung gesetzt, so folgt
Oder ^din,/t,p.„..
\dlnm,/t,p,ni,
und das Integral ist, wenn die Constante in der Gestalt A In — eiugefuhrt
/E/j, = A In
Ottvmld, Chemie. 11,2. 2. Aufl.
mi
130 I* Geschichte der Yerwandtschaftslehre.
wo A und B positive, nur von Druck und Teraperatur abhangige Werte
siud. Da ferner wegen der Kleiiiheit von n32 im Verhaltnis zu m^^ auch
- als konstant angesehen warden kann, so kann man schreiben
m
V
m.
//, = AlnC — —.
wo C gleichfalls nur von Tetnperatur und Druck abhangt.
Das Potential der sehr kleinen Menge m^ des gelosten Eorpers ist
somit proportional dem natiirlicben Logaritbmus der Menge in der Volum-
einheit oder der Eonzentration. Fiir verscbwindendes m^ wird unter
diesen Umstanden sein Potential uegativ unendlicb^).
Fiir den Fall, dass zwei Bestandteile in geringer Menge im ^Ld-
sungsmitteP' vorbanden sind, gelten gleiche Betracbtungen, und man
kommt zu dem Ergebuisse, dass die Potentiate aller in geringer Menge
vorbandener Stoflfe sich einfacb superponieren. „Wir werden weiter unten»
wo wir zur Betrachtung der Eigenscbaften der Gase gelangen, seben,
dass diese Gleicbungen experimentell an einer sebr ausgedebnten Klasse
von Erscbeinungen bestatigt werden konnen, so dass wir gute Griinde
zu der Annabme baben, dass sie ein allgemeines Gesetz betreffs der
Grenzwerte der Potentiale darstellen.'*
Aucb die vorstebenden Darlegungen sind von sehr grosser Bedeu-
tung, denn sie entbalten einen wesentlicben Teil der beutigen Tbeorie
der Losungen, wie sicb aus der Anwendung der Gleicbungen beispiels-
weise auf den Dampfdruck des Losungsmittels alsbald ergiebt. Aller-
dings feblt bier nocb ein wesentlicber Punkt, dem die beutige Losungs-
tbeorie ibre Bedeutung verdankt: die Erkenntnis, dass die Konstante A
der Potentialgleicbung fiir cbemiscb vergleicbbare, „aquimolekulare**
') H< man dies mit der Definition auf S. 124 zusammen, so folgt, dass um
den letzten Rest eines gelOsten Stoffes aus dem Ldsungsmittel zu entfernen, far
die Einbeit der Menge unendlich viel Arbeit erforderlich ist. Daraus gebt weiter
bervor, dass wenn in zwei angrenzenden Pbasen einerseits ein Bestandteil vor-
banden ist, der auf der anderen Seite feblt, eine unendlicb grosse d. b. unwider-
steblicbe Tendenz dafiir vorbanden ist, dass der feblende Bestandteil sicb in die
Pbase, wo er feblt, bineinbegiebt. £s ist demnacb prinzipiell nicbt mOglicb, dass
zwei Pbasen neben einander im Gleicbgewicht sind, obne dass jeder Bestandteil
der einen aucb in der anderen vorbanden ist. An den Nacbweis aller derartigen
Bestandteile ist bei der sehr begrenzten Empfiudlicbkeit unserer analytiscben
Reaktionen nicbt zu denken.
£s soil scbon bier auf diese unmittelbaren Folgerungen hingewiesen werden,
die sicb aus dem Ansatze von Gibbs ergeben, da sie von grosser Bedeutung fOr
das Yerstandnis der cbemiscben Gleicbgewichte siud, wenn aucb Gibbs selbst sie
nocb nicbt ausgesprocben bat.
Neuere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1886. 131
Mengen der verschiedenen Stofife gleiche Werte hat. Diese Entdeckung
war Yan't HoflF vorbehalteu (1,671).
15. Ideale Qaae and Gasmischungen. Ein vollkommenes Gas ist
ein solches, bei welchem das Produkt aus Druck und Volum sich der
Temperatur proportional andert, und die Energie die gleiche Eigenscbaft
hat Durch Einsetzen dieser Definitionsgleichungen in die Hauptgleichung
erhalt man eine Fundamentalgleicbung fiir vollkommene Gase, die man
aof eine der S. 121 gegebenen Formen bringen kann. Die entsprechen-
dea Rechnungen gestalten sich bei Gibbs ein wenig uniibersichtlich,
weil er der Allgemeinheit wegen Eonstanten beibehalt, welche gewohii-
lich gleich Null gesetzt werden; die Ergebnisse sind zunacbst von dcm
nicht verschieden, was die Lehrbiicher der mecbanischen Warmetheorie
iiber die Gesetze vollkommener Gase zu bringen pflegen.
Aus dem experimentellen Gesetz von Dalton, dass, wenn verschiedene
teste oder fliissige Stofife in den gleichen Raum gasformige Stofife aus-
senden, der Druck in diesem Raume gleich der Summe der Drucke der
mit den einzelnen Stofifen im Gleichgewicht stehenden Gase ist, folgert
Gibbs das Summationsgesetz der Drucke fiir gemiscbte Gase, auch wenn
sie nicht mit Korpern anderen Aggrogatzustandes im Gleichgewicht sind,
and spricht es so aus: „Der Druck eines Gemenges versc&iedener Gase
ist gleich der Summe der Drucke der verschiedenen Gase, jedes der-
selben fiir sich bei derselben Temperatur und mit gleichem Werte seines
Potentials bestehend angesehen."
Driickt man diesen Satz durch eine entsprechende Formel aus, so
lasst sich zunacbst nachweisen, dass ein solches ideales Gasgemenge fiir
alle Vorgange, die seine Zusammensetzung nicht andern, sich wie ein
einheitliches Gas verhalt, und Gibbs fiihrt diesen Nachweis analytisch
durch. Insbesondere ergiebt sich dabei aucb, dass die Entropie des Ge-
menges sich ebenso als die Summe der einzelnen Entropien darstellen
lasst, die den Bestandteilen im gleichen Raume nnd bei gleicher Tem-
peratur zukommen. Das gleiche gilt fiir die Energie und fiir die drei
Fonktionen ^, x ^^^^ & Auch ergiebt sich, dass wenn das Gesetz vom
Sammendruck erfullt ist, die Gase im iibrigen keine idealen zu sein
braocben, damit die letzten Beziehungen gelten.
Eine weitere Folge ist, dass die aussere Arbeit, welche ein Gas-
gemenge bei konstanter Temperatur bei einem umkehrbaren Vorgange
tbnt, als die Summe der Arbeiten der einzelnen Gase, jedes mit seinem
Partialdruck gerechnet, sich darstellt, wie das schon von Lord Rayleigh ^)
gefimden war.
*) Phil. Mag. 49, 311. 1875.
9*
132 I- Geschichte der Verwandtschaftslehre.
Wenn eine Flussigkeit mit ihrem Dampf im Gleichgewicht ist und
man fiigt ein Gas hinzu, das yod der Flussigkeit uicht aafgenommen
wird, so bleibt uur unter der Bedingung das Gleichgewicht ungestort,
dass man auf irgend eine Weise den von dem Gase aasgeiibten Dnick
von der Flussigkeit fern halt. Geschieht dies nicht, so wird die Fliis-
sigkeit etwas zusammengedriickt, und dadurch yerandert sich ihr Po-
tential. Der Betrag dieser Anderung ist durch die Formel
Vdp/t,m ^dmj/t,p,m
gegeben, welche besagt, dass die Anderung des Potentials mit dem
Druck gleich der Anderung des Volums der FlUssigkeit mit der Menge
des aufgenommenen Dampfes d. h. gleich dem spezifischen Volum der
Flussigkeit g> ist, wobei die als Indices augegebenen Grossen konstaut
bleiben.
Nun ist die Anderung des Potentials eines Gases mit dem Druck
gegeben durch
d/c/ = atdlnp,
wo a die gewohnlich mit R bezeichnete Gaskonstante fur die Mengen-
einheit ist JDiese Gleichung gilt auch fUr die mit dem Gase oder
Dampfe im Gleichgewicht stehende Flussigkeit, da beide im Gleichge-
wicht gleiches Potential haben miissen. Bezeichnet man die auf die
FlUssigkeit bezuglicben Grossen mit dem Index 1, so gilt auch
at
d/Mi:=atdlnpi= — dpi=Vdpi,
Pi
at
wo V= — das spezifische Volum des Gases bei t und p^ ist
Nun folgt aus der obigen Gleichung
d^i = gpdp = Vdpi
Oder
Es nimmt somit der Dampfdruck einer FlUssigkeit zu, wenn diese
ausserdem einem anderen Drucke ausgesetzt ist. Doch ist die Zunahme
des Dampfdruckes sehr gering, da sie sich zum zugefugten FlUssigkeita-
druck verhalt, wie das spezifische Volum der FlUssigkeit zu dem des
Dampfes. So wUrde der Dampfdruck des Wassers bei 0® durch die
ZufUgung einer Atmospbare Druck sich um weniger als ein Tausendstel
seines Betrages andem.
In dem Falle, dass das Gas teilweise von der FlUssigkeit absorbiert
wird (welcher Fall nach den Darlegungen S. 130, Anm., als der allge-
Nenere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1886. 133
mein notwendige angeseben werden muss) ergiebt die Erganzungsgleicbung
(B)y S. 119, fiir konstante Temperatur
dp = 7id/^i + 7,d^,
wo y fur — , die Dicbte des Bestandteils , gesetzt ist; der Index 1
beziebt sicb auf das Losungsmittel und seinen Dampf, 2 auf das fremde
Gas. Werden ferner die auf die fliissige Pbase beziiglicben Grossen
mit einen TL) yersehen, wabrend die unbezeicbneten fiir die gasformige
Phase gelten, so baben wir aucb fiir die Fliissigkeit
dp = 7iWd^ + y,(^>d^„
woraus
(y^(L) _ yj d^, = (7, — 7,(1')) d^,.
Fiir ideale Gase und deren Gemiscbe gilt
and somit
Nun ist nacb dem Henryscben Absorptionsgesetz — — , das Ver-
haltnis der Dicbten des absorbierten Gases in der Losung und in der
gasformigen Pbase oder die Loslicbkeit (I, S. 613) konstant; wird es
gleich A gesetzt, so folgt
(L)
{
\ llclp, = (l-A)dp..
Es ist dpi die Anderung des Dampfdruckes des Losungsmittels,
dp, die Anderung des Gasdruckes. Ersterer wird also durcb die Gegen-
wart des loslicben Gases nicbt beeinflusst, wenn A = l ist, d. b. wenn
die Fliissigkeit ibr gleicbes Volum des Gases absorbiert. Dies inter-
essante Resultat konote an Losungeii von Koblendioxyd oder Stickstofif-
oxydul in Wasser, fiir welcbe nahe bei Zimmertemperatur A = l ist,
gepriift werden.
Da die Ergebnisse der letzten Darlegungen in einigem Wider-
spnicbe mit gebraucblicben Ansicbten steben, sieht sicb Gibbs ver-
anlasst, letztere einer Priifung zu unterzieben. Aus den Versucben von
iMlagnus and anderen (I, S. 641) ergiebt sicb namlicb, dass der Dampf-
dmck einer fliichtigen Fliissigkeit bei Gegenwart oines anderen Gases
134 I. Geschichte der Verwandtschaftslehre.
gewdhnlich kleiner gefunden wird, als fur sich, wahrend die Formel
auf S. 133 ihn grosser ergiebt, da das Potential der Fliissigkeit durch
die Kompression wachst Ohne sich auf eine Kritik der experimentellen
Seite der Frage einzulassen, begniigt sich Gibbs, zu zeigen, dass die
Annahme, das fremde Gas iibe durch seinen Druck keinen Einfluss
auf den Dampfdruck der Fliissigkeit aus, zu unmoglichen Folgerungen
beziiglich der Dichte der Fliissigkeit fuhrt. Es wiirde sich z. B. er-
geben, dass wenn Eis und Wasser gleichzeitig mit Wasserdampf im
Gleichgewicht sind, sie auch beide gleiche Dichte haben miissten, was
bekanntlich nicht der Fall ist.
16. Sohlnssfolgenmgen beziiglich der Potentiale fester und flus-
siger Edrper. Da man die Potentiale vollkommener Gase durch Grossen
darstellen kann, die der unmittelbaren Messung zuganglich sind, so hat
man darin ein Mittel, um auch fiir fliissige und feste Korper die Poten-
tiale solcher Bestandteile zu bestimmen, die in Gasgestalt bestehen
konnen. Denn kann man einen Zustand herstellen, in welchem der
fliissige oder feste Eorper mit seinem Gase im Gleichgewicht ist, so hat
der gemeinsame Bestandteil in beiden Zustanden dasselbe Potential, und
dieses ist daher der Messung zuganglich.
Folgt beispielsweise ein Gas in Beriihrung mit einer Fliissigkeit
dem Henryschen Absorptionsgesetze, so gilt die Beziehung
mi(i;)_ V^)
wo A, die Loslichkeit, eine Funktion der Temperatur ist. Die Indices
(L) beziehen sich auf die Fliissigkeit, (G) auf das Gas. Das Potential
eines Gases hat die Form
m,(^^
^ = B + Cln^^-,
wo B und C Temperaturfunktionen sind. Daher ist auch fiir die L6-
sung das Potential des gelosten Gases
m <^>
„Man wird bemerken, dass abgesehen von Unterschieden in der
Bezeichnung, diese Gleichung in der Form mit der Gleichung auf S. 130
aquivalent ist, welche durch Betrachtungen a priori iiber die wahrschein-
liche Beziehung zwischen der Menge eines kleinen Bestandteiles und seinem
Potential abgeleitet worden ist. . . . Beziiglich dieser Gleichung (uad
der entsprechenden auf ein Gemenge mehrerer Gase beziiglichen) konnen
wir bemerken, dass sie ... als giltig fur ideale Gase und Gasgemische
erwiesen sind, und zwar nicht nur fiir Bestandteile, die nur einen kleinen
Neuere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1886. 135
ADteil des Gemenges aasmacben, sondern ohne diese Einschrankung,
uDd aucb nicht bloss angenahert, sondern absolut. Es ist bemerkens-
wert, dass in diesem Fallo die Grossen A und C Funktionen der Tern-
peratur allein, und sogar unabbangig von der Natur der Gasmasse sind,
ausgenommen den besonderen Bestandteil, auf den sie sicb bezieben.
Da alle gasformigen Eorper nacb der allgemeinen Annabme sicb den
Gesetzen der idealen Gase bei geniigender Verdiinnung annabern, so
konnen wir diese Gleichungen als annahernd giltig fiir alle Gase an-
seheD, deren Dicbte binreicbcnd klein ist. Ist die Dichte der Gasmasse
sehr gross, die Partialdicbte des fraglicben Bestandteils aber sebr klein,
80 werden die Gleicbungen wabrscbeinlicb giltig bleiben, nur werden
die Werte von A und C nicht mebr ganz unabbangig vom Druck oder
TOQ der Zusammensetzung der Masse beziiglicb ibrer Hauptbestandteile
seio. Ebenso werden diese Gleichungen, wie wir oben geseben haben,
auf die Potentiale von solchen Stoffen in fliissigen Korpern anwendbar
seifl, deren Dichte in der Fliissigkeit sebr klein ist, wenn nur diese
Bestandteile im gasformigen Zustande bestehen konnen und dem Henry-
schen Gesetz folgen. Dies scheint darauf hinzudeuten, dass das durch
diese Gleichungen ausgedriickte Gesetz eine sebr ausgedehnte Anwen-
dung hat."
Noch deutlicher, als friiber (S. 130) ist bier der Grundgedanke der
modemen Losungstbeorie ausgesprochen , indem auch die friiher ver-
misste stochiometrische Beziehung der Konstanten durch die Heran-
ziehnng des Henryscben Gesetzes gegeben ist. Allerdings bat sicb Gibbs
mit den obigen Hindeutungen begniigt, und es ist schwer zu sagen, wie
lange diese noch latent gelegen batten, wenn nicht van't Hoff auf seinem
eigenen Wege diese Ergebnisse gefunden und zur Geltung gebracht hatte.
Es schliessen sicb hieran Betrachtungen iiber den Vorgang der
Vermischung zweier Gase, aus denen sicb, wie schon friiher Lord Ray-
leigh gefunden hat, ergiebt, dass die Entropie zunimmt, obwohl keine
(sichtbaren) Warmevorgange erfolgen. Diese Zunahme ist von der Natur
der Gase ganz unabbangig (vorausgesetzt, dass sie nicht chemisch auf
eitiaDder wirken) und betragt beispielsweise in dem Falle, dass zwei
pv
gleiche Volume mit einander vermischt werden, -^ln2, wo v das
• t
schliessliche oder gesamte Volum ist. Dies gilt indessen nur fiir den
I'all; dass zwei verschiedene Gase vermischt werden; sind beide Anteile
gleicher Natur, so ist die Anderung der Entropie Null.
Mit der Thatsache der Anderung der Entropie ist die andere
Thatsache eng verbunden, dass man durch den Vermischungsprozess
>
136 I- Geschichte der Verwandtschaftalehre.
Arbeit bei konstanter Temperatur gewinnen kann, und das8 umgekehrt
Arbeit dazu gehort, die Trennung zu bewirken. In dieser Uberlegung
liegt gleichzeitig die Aufklarung des Umstandes, in dem Gibbs eino
besondere Schwierigkeit empfindet, dass man sicb zwischen dem Falle
zweier gleicher Gase und zweier verschiedener einen beliebig kleinen
tlbergang denken kann, wahrend dessen die Entropieanderung vom Wcrte
Null plotzlicb auf einen endlichen Wert springen soUte. Haben z. B.
die beiden Gase das gleiche Molekulargewicht'), so besitzen im Sinne
dor kinetiscben Hjpothese die einzelnen Molekeln ganz dieselben dyna-
mischen Eigenscbaften, und in mecbaniscber Beziehung wiirde man den
Vermischungsvorgang zweier Volume Stickstoff nicht von dem eines
Volums Atbylen und eines Volums Stickstoff unterscbeiden konnen. Dem-
gemass ist aucb kein mecbanisches Mittel denkbar, um die Scheidung
der beiden Arten Molekeln auszufiibren. Dass die Scheidung doch mog-
lich ist, berubt auf dem Umstande, dass chemische Verschiedenbeiten
vorbanden siud, d. h. dass man durcb passende Reagentien das eine Gas
aus dem Gemenge entfernen kann, obne das andere zu beeinflussen. Eine
solcbe Abscbeidung aus dem Gemische wiirde aber mebr Arbeit erfor-
dern, als die aus dem unvermiscbten Zustande, entsprcchend dem Zu-
wachs der Entropie durcb das Mischen. Umgekehrt beruht alle Mog-
lichkeit, durcb den Mischungsvorgang Arbeit zu gewinnen, auf dem
Vorhandensein von Stoffen, welche solcbe verschiedene Wirkung auf
die im iibrigen ahnlichen Gase ausUben; sind solcbe Stoffe nicht vor-
banden, so fallt einerseits diese Moglichkeit fort, andererseits aber auch
die Moglichkeit, die Gase von einander zu unterscbeiden, d. h. die Gase
werden fur identisch erklart werden miissen.
Die allgemeinen Formeln fiir die Entropieandeining bei der Ver-
mischung beliebig vieler Gase in beliebigen Verhaltnissen finden sich
am Schlusse des Abschnittes von Gibbs mitgeteilt.
17. Die Phasen zerstreuter Energie eines idealen Gasgemisohes,
dessen Bestandteile in ohemisoher Weohselwirkung stehen. Das fiir
unseren Gegenstand unmittelbar wichtigste Kapitel seines Werkes hat
Gibbs unter dem obenstehenden Titel gebracht Als eine Phase zer-
streuter Energie hatte er bereits friiher eine solcbe Phase definiert,
welche weniger Energie besitzt, als irgend eine andere Phase bei gleicbem
Volum und gleicher Entropie. Mit Bezug auf die allgemeine Bedingung
des Gleichgewichts und der Bestaudigkeit (S. 115) bedeutet dies eine
^) Dies ist unter anderem bei den Gasen Stickstoffoxydul uod Kohlendioxyd
sehr nahe der Fall, ebenso bei Stickstoff und Athylen.
Neaere Geschichte der Affiiiit&tslehre bis 1886. 137
Phase, die auf keine Weise freiwillig in eine andere iibergehen kann,
also eine absolut bestandige Phase. Haben wir ein GemeDge verschie-
deoer Stoffe, die sich ohne passive Widerstande in einander umsetzen
konneD, so wird die Phase zcrstrcuter Energie immer den Zustand dar-
stellen, in welchem das Gebilde zur Ruhe kommt.
Es sei nun ein Gasgemenge gegeben, welches aus drei Bestand-
teilen besteht, Ton deneu der eine aus den beiden anderen chemisch
gebildet wird. Zwischen den drei Mengen G^, G^ and G3 wird dann
eine Beziehung bestehen
wo ^ und X^ echte Briiche sind, welche sich zu Eins erganzen, indem
diese Mengen der Bcstandteile G^ und Gg erforderlich sind, urn die
Eanfaeit der Verbindung zu bilden. Die Hauptgleichung ergiebt fur die
oben bezeichneten Bedingungen beziiglich des Volums und der Entropie
d € = ^1 d oij -|- //gd nij + ^3d xn^
mid nach der Kennzeichnung der Stabilitat muss die Energie fur die
betrachtete Phase zerstreuter Energie ein Minimum sein, d. h. d€>0.
Die Mengen dm^, dm^ und dm, sind proportional jL^, X^ und — 1, und
daher ist auch
Werden in diese Gleichung die Werte fur die Potentiale der drei
Case gesetzt, so eriangt man nach der Zusammenziehung der Konstanten
den folgenden Ausdruck
- mifiixn^^ A , B , ^ C
m8v/«i+/»«-i aj a, agt
in welchem die Grossen a die auf die Masseneinheit bezogenen Gas-
Xb.
konstanten und die Grossen j3 durcb die Beziehung j3 = — definiert
^3
sind; A, B und C sind Konstanten, you denen B und C besonders ein-
iiAche Bedeutung haben: B ist der Unterschied der Warmekapazitaten
der Bestandteile und der aus ihnen entstehenden Verbindung, also bei
ToUkommenen Gasen gowohnlich gleich Null, und C ist die Reaktions-
warme bei konstantcm Volum.
Die Gleichung sieht in der von Gibbs gegebenen Gestalt uniiber-
sichUicher aus, als in der gebrauchlichereu von Horstmann (mit der sie
identisch ist); es riihrt dies daher, dass Gibbs von dem stochiometrischen
lieaetz der rationalen Volumverhaltnisse bei Gasen keinen Gebrauch
nackt Die Scbliisse, die Gibbs aus seiner Gleichung zieht, sind ausserst
widbtig.
138 I- Geschichte der YerwaDdtschaftsIehre.
Ist zunachst ^j -h^^^^i d. h. verbinden sich dieGase unterVolum-
veranderung, so ist fur alle zusammengehorigen Werte der Mengen-
anteile m^, m^ uud m^ stets ein Volum moglich, bei welchem das Gre-
menge im Zustande zerstreuter Energie (d. h. im Gleichgewicht) ist,
indem die Gleichung befriedigt ist. Dies wird an einem Gemenge von
Wasserstoflf, Sauerstoff und Wasserdampf erlautert. „In einem derartigen
Zustande sind Vorgange, wie eine Explosion, oder eine Wasserbildung
durch die Einwirkung von Platin nicht moglich. Wird die Masse iiber
dies Volum hinaus ausgedehnt, so wiirde die einzige Wirkung eines kata-
lytischen Agens in oiner Zerlegung des Wassers in seine Bestandteile
bestehen. Dabei ist es allerdings moglich, dass ausser wenn die Menge
des Sauerstoffs und Wasserstoffs in Vergleich zu der des Wassers nicht
ausserordentlich klein ist, der Zustand zerstreuter Energie eine solche
Verdiinnung bedingt, dass diese ganzlich ausserhalb unserer Moglich-
keit der experimeiitellen Priifung liegt. . . .
„Wenn aber das zusammengesetzte Gas aus seinen Bestandteilen
ohne Verdichtung gebildet ist (d. h. wenn jjj -|- j9j = 1), so folgt aus der
Gleichung, dass die Beziehung zwischen m|, m, und m,, welche fur eine
Phase zerstreuter Energie notwendig ist, durch die Temporatur allein
(nicht durch das Volum) bedingt ist." Das heisst, das chemischo Gleich-
gewicht muss in einem solchen Falle (z. B. Chlor, Wasserstoflf und Chlor-
wasserstoff) unabhangig vom Druck oder vom Volum sein.
Ferner ergiebt sich, dass die unverbunden bleibenden Mengen der
Bestandteile bei konstantem Volum dann mit steigender Temperatur zu-
nehmen, wenn die Verbindung bei konstantem Volum von Warme-
entwicklung begleitet ist. Ebenso werden bei konstantem Druck die
Mengen der Bestandteile auf Kosten der Verbindung mit der Temperatur
zunehmen, wenn die Verbindung bei konstantem Druck unter Warmeent-
wicklung erfolgt. Ist B = 0, d. h. andert sich die Warniekapazitat nicht
durch den Verbindungsvorgang, so muss fiir einen unendlich kleinen W^ert
von t (beim absoluten NuUpunkt) eutweder m, oder m^ unendlich klein
werden, d. h. die Verbindung oder Zersetzung ist voUstandig. Bei unendlich
grossem t werden die Werte der m keineswegs Null oder unendlich, sondem
bleiben endlich. Dies Ergebnis, welches bedeutet, dass man keineswegs
solche chemische Verbindungen durch unbegrenzte Erhohung der Tempe-
ratur in ihre Bestandteile zerlegen kann, steht im grellen Widerspmche
mit der allgemein angenommenen Ansicht, dass dies moglich sei. Indessen
ist zu bemerken, dass diese Ansicht keineswegs das Ergebnis einer aus-
gedehnten Erfahrung ist, sonderu ihre Entstehung der atomistisch-kine-
tischen Hypothese verdankt, der zufolge bei steigender Temperatur die
Neaere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1886. 139
inoeren Bewegtingen der Atome in der Molekel mehr und mehr zu-
nehmen soUen, bis diese schliesslich notwendig zerfallt. Es ist bereits
bemerkt worden, dass die Existenz cbemiscber Verbindungen, die bei
steigender Temperatnr bestandiger werden, wobl bekannt ist; hierher
gehoren Cyan, Acetylen und andere Stoflfe, welche sicb unter Warme-
entwicklnng aus ihren Bestandteilen bilden, und wir sehen aus der
Gleichung, dass dies ein allgemeines Verhaltnis ist, das nur vom Zeichen
der Reaktionswarme abhangt.
Soli dagegen der Druck einen bestimmten endlicben Wert haben,
80 ergiebt sicb, dass beim absoluten NuUpunkt gleichfalls die Reaktion
ToUstandig sein muss, dass aber bei unendlicb bober Temperatur nur
dann ein endliches Gleicbgewicbt vorbanden ist, weun die Verbindung
ohne Volumanderung erfolgt; im anderen Falle findet eine ausschliess-
iiche Reaktion statt. Vorausgesetzt ist bier wie fruher, dass die Warme-
kapazitat der Verbindung gleich der Summe der Warmekapazitaten der
Bestaudteile ist.
Gibbs geht nun dazu iiber, die Gleichung auf den Fall beliebig
Tieler gasformiger Stoflfe zu erweitern. Die allgemeinere Gestalt, die er
erhalt, ergiebt sicb voUig abnlich der friiher erbaltenen, indem im Zahler
des Bruches unter dem Logarithmus die Gase auftreten, welcbe auf der
eioeo Seite der Reaktionsgleicbung stehen, und auf der anderen die
Gase, die sicb als Produkte der Wechselwirkung der erstgenannten bilden;
die Molekularkoeffizienten erscbeinen dabei als Potenzexponenten und
der Nenner sl^ der Gleichung auf S. 137 fallt fort Die Konstanten B
and C behalten ihre friihere, nur sacbgemass erweiterte Bedeutung. Da
▼ir spater die gleichen Ausdriicke in etwas bequemerer Gestalt ableiten
werden, so soli bier die Wiedergabe unterbleiben. Auch hier betont
Gfibbs, dass die Gegenwart reaktionsfremder Gase keinen Einfluss auf
das Gleicbgewicbt iibt.
Auch warden die verhaltnissmassig einfachen, fiir zwei Gase allein
giltigen speziellen Formeln hingescbrieben, die sicb aus den allgemeinen
^rgebeo; beziiglich dieser soil bier gleichfalls auf die spateren Teile dieses
Werkes verwieseh werden.
Gibbs schliesst dieses Kapitel mit der Erorterung des Falles ab, in
velchem das Grasgemiscb umwandelbare Bestaudteile enthalt, d. h.
tolchc Bestandteile, die sicb ohne Dazutreten eines anderen Stofifes in
^iuaoder yerwandeln konnen. Es ist dies beispielsweise bei der Um-
vandlang der beiden Arten des StickstoflFhyporoxyds, die wir mit den
fonneln NO* und N^O* bezeichnen, der Fall. Die zugehorigen Glei-
^ongen fallen voUkommen abnlich den bereits erwahnten aus; die
140
I. Geschichte der Verwandtschaftslehre.
wesentlichste Bedeutuug dicser Darlegung liegt darin, dass Gibbs bier
den einzigen Fall Yorfand, in welchem er seine Theorie an der Erfah-
rung priifen konnte. Denn iiber die Dichten dieses Stoffes in ibrer Ab-
bangigkeit von Druck und Temperatur lageu bereits Versucbe von Deville
und Troost, sowie Playfair und Wanklyn vor. Die gescbicbtlicb inter-
essante Tabelle, die den Vergleicb der Beobacbtong mit der Recbnung
giebt, lasse ich in abgekiirzter Gestalt folgen.
t ]
p D ber.
D beob.
Diff.
26-7 ]
L 2-676
265
— 0-026
354 J
L 2-524
2-53
+ 0006
39.8 ]
L 2443
2-46
+ 0017
496 1
L 2-256
2-27
+ 0014
60-2 ]
L 2-067
208
+ 0013
700 ]
L 1-920
192
0-000
80-6 ]
L 1801
180
0-001
90-0 ]
L 1-728
1-72
0-008
1001 J
L 1-676
1-68
+ 0-004
1113 ]
I 1641
1-65
+ 0-009
121-5 ]
I 1622
1-62
-0002
135-0 ]
L 1607
160
— 0-007
154-0 1
L 1-597
1-58
— 0-017
1832 ]
I 1-592
1-57
-0-022
Die vorstebenden Werte sind alle von Deville und Troost be-
stimmt; sie stimmen mit der Berechnung so gut, als man nur erwarteu
kann. Die ausserdem erwahnten Versucbe von Playfair und Wanklyn
sind etwas verwickelter zu berechnen, da sie bei Gegenwart von Stick-
stoff angestellt worden sind. Nun hatte allerdings Gibbs darauf hiu-
gewiesen, dass die Gegenwart eines indifferenten Gases keinen Einfluss
auf seine Gleicbungen ausiibt, wenn man nur den Teildruck der che-
miscb wirksamen Gase allein in Recbnung ziebt; indessen iibt diese
Gegenwart allerdings einen grosden Einfluss auf die Genauigkeit der
Beobachtung aus, dass durcb den Abzug der auf die Beimiscbung be-
ziiglicben Grossen von den gemessenen Werten des Druckes und der
Dichte die Versucbsfebler sicb in zuweilen sebr betrachtlicbem Masse
auf das Schlussergebnis haufen und dessen Wert sebr zweifelhaft macheii
konnen; solche Falle lagen aber bier mebrfach vor und es soil auf sie
und die Eritik der vorbandeneu Feblergrenzen nicbt eingegangen werdeu.
In einer spatereii Veroflfentlicbung*) hat Gibbs diesen Fall und einige
andere inzwischen beobachtete noch eingebender erortert.
18. Feste Edrper. Der nun folgende Teil der Untersucbung be-
^) Sillimans American Joum. of Science. 18, 1879.
Neuere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1886. 141
zieht sich auf das Verhalten fester Korper, welche irgend welchem
Zwang unterliegen, durch den ihre Gestalt verandert wird. Das
weseDtliche Ergebnis ist, dass ein derart in Ansproch genommener
Korper nicbt mit einer und derselben Flussigkeit im Gleicbgewicht sein
kann; vielmebr wiirde die Flussigkeit fur die zu den verscbiedenen
Haaptspannungsricbtungeu normalen Ebenen entweder verscbiedene Zu-
sammensetzung oder verscbiedenen Druck baben miissen, wenn sie den
iesteu Korper unyerandert lassen soil. Daraus folgt weiter, dass wenn
man einen irgendwie gezwangten Korper in seine gesattigte Losung ein-
senkt, dieee Losung an einigen Stellen iibersattigt, an anderen unge-
sattigt in Bezug auf den dort vorbandenen Zustand des Korpers sein
wird; dieser wird sicb daber an einigen Stellen auflosen, an anderen
abscheiden, bis scbliesslich alle Zwangszustande an der Oberflacbe ver-
schwunden sind.
19. OberflfiohenspanzLimg. Weiter widmet Gibbs einen sehr aus-
gedebnten Teil seiner Arbeit den an den Unstetigkeitsflacben auftreten-
den Erscbeinungen, und gelangt so zu einer Tbeorie der Kapillaritat.
Der Grundgedanke ist bier, dass in Gebilden, die aus beterogenen
Teilen besteben, eine Energiegrosse vorkommt, welcbe der Grosse der
Beriibrungsflacbe zwiscben den beterogenen Phasen proportional ist: die
Oberflacbenenergie. In der Schicbt, die der Trager dieser Energie ist,
und die man zwar als sehr dunn, aber docb keineswegs als unendlicb
donu ansehen muss, befindet sicb die Materie in einem anderen Zu-
stande, als in den bomogenen Teilen der Pbase. Da aber auch fiir
diese Scbicht die Gleicbbeit der Temperatur und des Potentials gelten
musB, so ergiebt sicb, dass zur Erfullung der letzteren Bedingung die
Konzentration der einzelnen vorbandenen Stoffe in der Grenzscbicbt im
allgemeinen eine andere sein wird, als in den bomogenen Pbasen. Denn
man darf keineswegs annehmen, dass in diesem Zustande die Gleicbbeit
des Potentials bei der gleicben (relativen oder absoluten) Konzentration
eintreten wird, wie in den angrenzenden Pbasen, ebensowenig, wie dies
beispielsweise fiir das Gleicbgewicbt zwiscben Fliissigkeit und Dampf
der Fall ist
Die Beriicksichtigung der Trennungsflacbe ergiebt fiir die Haupt-
gleichung der bier befindlicben Stoffe ein Glied von der Gestalt ods
mehr, als in der friiberen, obne Riicksicbt auf die Oberflacbenenergie auf-
gestellte Gleichung. Hierin bedeutet c die Oberflacbenspannung und ds
die Anderung der Trennungsflacbe. Fur das Gleicbgewicbt ergiebt sicb
doidi einfacbe Betracbtungen die Gleicbung
ads — p'rfv' — p"dv"= 0,
L
142 I* Geschichte der Verwandtschaftslehre.
wo die Drucke nnd Volume p und t; sicb auf die beiden fliissigen
Massen beziehen.
„Diese Gleichung bat ofFenbar dieselbe Gestalt, als wenn eine
Membran obne Starrbeit und mit der allseitig gleicben Spannung 6 an
der Teilungsflacbe existierte. £s kann somit die besondere Lage, welche
wir fiir diese Flacbe gewahlt baben, die Spannungsflache und o die
Oberflacbenspannung beissen. Bewegen sicb alle Telle der Spannungs-
flacbe gleichformig urn die normale Entfernung dN, so baben wir
c)s = (Ci + Cj,)sdN, du'=s(JN, rfv"= — sdN,
woraus /in , «
a(ci + C8) = p' — p",
wo die Eriimmungen c, und C2 (die Reziproken der Hauptkriimmungs-
radien) positiv gerecbnet sind, wenn ihre Mittelpunkte auf der Seite
liegen, auf welcbe sicb p' beziebt. Dies ist die Bedingung, welcbe statt
der Gleicbbeit des Druckes (S. 117) fur beterogene fliissige, mit einander
in Beriibrung stebende Massen eintritt, wenn wir den Einfluss der Un-
stetigkeitsflacben beriicksicbtigen."
Diese Gleicbung, welcbe besagt, dass durcb die Oberflacbenspan-
nung zwiscben den beterogenen Pbasen ein Druck entstebt, der dieser
und der Kriimmung proportional ist, entbalt das bekannte Grundgesetz
der Kapillaritatserscbeinungen.
Eine bierauf folgende Untersucbung iiber die experimentelle Be-
stimmung der Fundamentalgleicbungen fiir Unstetigkeitsflacben erortert
die Moglicbkeit, die massgebenden Grossen dieser Form der Energie
aus Messungen zuganglicber Grossen abzuleiten. Im allgemeinen er-
scbeint diese Aufgabe als kaum angreifbar; indessen bringt eine An*
merkung eine Andeutung fiir solcbe Versucbe. Bei ebener (oder wenig
gekriimmter) Flacbe und konstanter Temperatur gilt fiir ein System, wie
z. B. Quecksilber und Wasserdampf die Beziebung
dm da
"ds""""" d^tT'
wo dm die auf der Flacbe ds befindlicbe Wassermenge, also F die
Dicbte des Wassers pro Flacbeneinbeit, Aajdfi die Anderung der Ober-
flacbenspannung c des Quecksilbers mit dem Potential fi des Wasser-
dampfes ist. Letzteres kann man unter Voraussetzung der Gasgesetze
aus der Beziebung dp = 7d// bestimmen, wo 7 die Dicbte des Wasser-
dampfes, dm/dv, ist^). Durcb Einsetzen in die obige Gleicbung folgt;
^) Diese Gleichung, sowie die vorige, ergiebt sich unmittelbar dorch die An*
wendung des Prinzips der virtuellen Energie&nderungen auf das Gleichgewich^
Neuere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1886. 143
h. aus der Beobachtung der Veranderung, die die Oberfiachenspan-
uuDg des Quecksilbers in Beriihrung mit Wasserdampf durch die An-
dernug des Druckes erleidet, lasst sich die Oberflachendicbte des an
der Grenzflache kondeusierten Wassers bestimmen. Es ist, beilaufig be-
merkt, mit grosster Sicberheit zu erwarten, dass man auchauf diesem Wege
die sogenannten molekularen Dimensiouen wiederfinden wird, denn diese
sind iD der Mebrzahl der Falle nichts anderes, als die Dimensionen,
innerhalb deren der von der Oberflache abhangigo Teil der gesamten
Energie den anderen Formen derselben gegeniiber so gross wird, dass
er nicht vernachlassigt werden kann.
Neben diesen unn)ittelbar anscbaulichen £rorterungen finden sich
ia diesem Telle der Abbandlung Doch sebr scbwierige Untersuchungen,
die sich auf die geuaue Definition der Lage beziehen, welche man der
mathematischeu Trennungsflache zu geben hat, um auf sie die der Flache
aogehorigen Energie-, Entropie- u. s. w.- Grossen zu beziehen. Wie Gibbs
selbst bemerkt, sind diese Erorterungen ohne Einfluss auf die Bestim-
uiong der Oberflacheneuergie und der Oberfiachenspannung, und ebenso
ohne Einfluss auf alle Fragen, die sich auf die Gestalt der Flache be-
ziehen. Es siud mit anderen Worten wesentlich Schwierigkeiten, die sich
oicht aof mess bare, sondern auf willkiirlich definierte Grossen be-
ziehen, und wir konnen daher von ihrer Betrachtung absehen.
Uber die Stabilitat der Unstetigkeitsflachen erhalt Gibbs nach einer
gleichfalls sehr sorgsamen Untersuchung das Ergebnis, dass die Be-
dingung der Gleichheit der Temperatur und der Potentiale in den sich
beruhrenden Phasen erfullt sein muss. Ferner ergiebt sich, „da8S in
einem stabilen Gebilde jede Spannungsflache eine kleinste Flache fiir
koDstante Werte der Volume, welche sie teilt, sein muss, wenn die an-
deren Begrenzungsflachen dieser Volume, sowie der Umfang der Span-
uangsflache als fest angesehen werden". Wird weiter bestimmt, dass
vahrend der Anderung die Temperatur und die Potentiale konstant sein
soUen (was bei Vorgangen, die sich auf Fliissigkeitsmengen, nicht auf
Hautchen beziehen, als erfullt angesehen werden kann), so erhalten wir
den Satz: „Die Summe der Produkte der Volume der Massen mit ihren
fcncken, vennindert um die Summe der Produkte der Flachengrossen
der Unstetigkeitsflachen mit ihren Spannungen, muss ein Maximum sein.^
^*ueben chemischer und Oberfl&chenenergie; die Faktoren der letzteren sind be-
kttntlich Oberfl&chenspannung und Fl&chengrCsse.
144 I* Geschichte der Yerwandtschaftslehre.
Gibbs legt alsbald dar, wie diese Bedinguug allgemein ausreicbend ist,
da man auch kleine Massen durch gedachte Verbindung mit beliebig
grossen Massen derselben Art mittelst enger Robren ohne Unstetigkeits-
flachen auf den geforderten Zustand bringen kann.
Indem wir einige Paragraphen mebr abstrakten Inhaltes iibergebeD,
die sich auf die Moglicbkeit der Bildung einer neuen Phase innerhalb
einer bomogenen Flussigkeit uud einer dritten Phase an der Beriih-
rungsfiache zweier vorbandenen bezieben, sowie einen Abschnitt iiber
die recbnerische Ersetzung der in den Gleicbungen vorkommenden Poten-
tiale durch Druckgrossen, gelangen wir wieder zu einem wichtigen Eapitel,
den thermiscben und mecbanischen Beziehungen fiir die Ver-
grosserung einer Unstetigkeitsflache. Ist nur ein einziger Be-
standteil vorhanden, so muss bei isothermer Ausdehnung der Flacbe um
die Einheit eine Warmemenge zugefiibrt werden^ die Q genannt warden
soil; dementsprechend nimmt daboi die Entropie um den Betrag Q/t zu
und Gibbs leitet auf Grund eines friiberen Ausdruckes die Beziebung ab^)
do da
dt dint*
welche die Warmetonung Q in Beziebung bringt mit der Anderung der
Oberflacbenspannung mit der Temperatur. Die Voraussetzung ist dabei,
dass die Menge von Fliissigkeit und Dampf dieselbe bleibt, oder, was
praktisch dasselbe ist, dass das Gesamtvolum sich nicht andert
Einen ganz analogen Ausdruck erbalt man, wenn die Flacbenver-
grosseruug bei konstantem Druck ohne Warmezufuhr oder adiabatisch
vorgenommen werden soil. Dabei muss die zur Ausdehnung erforder-
licbe Warme durch Kondensation von Dampf bescbafft werden, und die
dazu erforderliche Arbeit W ergiebt sich zu
«, d (J d (J
W = — p . -— = —
dp dlnp'
wahreud die Arbeit zur blossen Oberflacbeuvergrosseruug fur die Flachen-
einheit natiirlich gleich dem numerischen Werte der Oberflachenspan-
nung c ist.
Fiir den Fall zweier Stoffe werden Gleicbungen erhalten, die formell
mit den oben gegebenen iibereinstimmen, in der Bedeutung der vor-
kommenden Differeutialquotienten dagegen abweicben. In dem ersten
Falle geniigt die Bedingung, dass der Druck und die Temperatur kon-
^) Auch dlese GleichuDg ergiebt sich unmittelbar aus der Anwenduag des
Prinzips der virtuellen Energie&Dderungen.
Neaere Gescbichte der Affinit&tslehre bis 1886. 145
slant bleiben sollen, nocb nicht, um die Warmemenge Q zu bestimmen;
es mosste dazu auch noch die Gleichheit der Volume verlangt werden.
loa Falle zweier Stofife braucht diese letztere Bedingung nicht gestellt
za werden, da dorch die Bedingung konstant bleibeuden Druckes (und
Temperatur) der Yorgang bereits eindeutig bestimmt ist
EbensOy wie 8ich bei der Yergrosserung einer Grenzflache zwischen
Phasen aus zwei Bestandteilen die Temperatur und der Druck bei
schneller (adiabatischer) Ausdehnung andern muss, so wird sich auch
die Oberflachenspannung selbst andern, indem ihre Zusammensetzung
nicht sofort die sein wird, welche sich bei unendlich langsamer Aus-
dehnung herstellt. Es riihrt dies daher, dass im allgemeinen die Zu-
sammensetzung in der Grenzschicht eine andere sein muss, als in den
beiden angrenzenden Phasen, und sich bei schneller Ausdehnung daher
nicht alsbald in der richtigen Zusammensetzung herstellen kann. Ist
die Zusammensetzung der Grenzschicht nicht sehr von der der Phasen
yerschieden, so wird ein solcher Ausgleich nur unmerkliche Zeit bean-
spruchen; dagegen wird die frisch gebildete Flache eine sehr abweichende
(and zwar grossere) Spannung haben konnen, wenn einer der vorhan-
denen Stoffe wesentlich in der Oberflache konzentriert ist. Dies ist bei-
spielsweise bei den „Yerunreinigungen" der gewohnlichen Wasserober-
flacben der Fall, und eine schnelle und moglichst ausgiebige Yergrosserung
der Oberflache wird daher die Einfliisse solcher Yerunreinigungen auf-
zuheben geeignet sein.
Ganz ahnliche Yerhaltnisse gelten fur Phasen aus drei oder mehr
Stoffen. Auch bier sind alle moglichen Geschwindigkeiten des Aus-
gleiches „adiabatischer" Ausdehnungen moglich.
Zum Schlusse dieses Teiles wird bewiesen, dass die Gegenwart einer
Spur eines Stoffes mit grosserer Oberflachenspannung, als der Haupt-
bestandteil niemals eine erhebliche Yergrosserung der Oberflachenspan-
nung bewirken kann, dagegen sehr wohl die Anwesenheit einer Spur
eines StoflFes mit kleiner Spannung eine Yerkleinerung. Ein solcher Stoflf
wird stets die Neigung haben, in die Oberflache zu gehen, und dort seine
Spannung zur Geltung zu bringen. —
Der Fall, dass sich zwischen zwei Phasen eine Schicht befindet, die
for einen Bestandteil (oder mehrere) nicht durchlassig ist, erledigt sich
sehr einfach durch die Bemerkung, dass alsdann fiir diesen Bestandteil
die Bedingung gleichen Potentials in den durch eine seiche Schicht ge-
trennten Phasen nicht erfiillt zu sein braucht. Die Potentiale auf den
beiden Seiten der Schicht miissen daher als unabhaugige Grossen be-
handelt werden.
Ofttvald, Chemie. n,2. 2.Anfl. 10
146 I- Geschichte der Verwandtschaftslehre.
Auf Orund der bisherigen Betrachtungen gelangt Gibbs nun dazu,
die allgemeinen Oleichgewichtsbedingnngen fiir heterogene Gebilde auf-
zustellen, bei denen die Wirkung der Schwere uud der Oberflachenspan-
nung berucksichtigt sind. Auf die Wiedergabe dieser Untersuchungen
soil nicht eingegangen werden; ebensowenig auf die Erorterungen iiber
die Moglichkeit der Bildung neuer Unstetigkeitsflachen oder neuer Phasen
an den Stellen des Zusammentreffens mehrerer vorbandener Unstetig-
keitsflachen. Ebenso soUen die Betrachtungen iiber das Yerhalten von
Fliissigkeitshauten nur kurz erwahnt werden. Das wesentliche hier-
bei ist, dass eine Haut aus einer Fliissigkeit mit geringer Menge eines
Bestandteils, der vorwiegend in der Oberflache sich befindet, die Er-
scheinung der Elastizitat zeigen muss. Das heisst, die Spannung wird
nicht von der Grosse der Flache unabbangig sein, wie die einer Fliissig-
keitsmasse, sondern sie wird mit steigender Flache zunehmen. Es riihrt
dies daher, dass die Menge des in der Fliissigkeit befindlichen „aktiven*^
Bestandteils nicht mehr praktisch unendlich gross ist im Verhaltuis zu
den Oberschiissen, die zur Bildung neuer Oberflache verbraucht werden.
Dadurch wird die Gesamtfliissigkeit armer an diesem aktiven Bestand-
teil, und daher auch die Oberflache, was notwendig eine Steigerung der
Spannung zur Folge haben muss.
20. Unstetigkeitsflachen zwisohen fasten und fl^sigen Korpem.
An der Grenzflache eines festen und eines fliLssigen Korpers finden ahn-
liche Vorgange statt, wie an den bisher allein betrachteten Grenzflachen
fliissiger und gasformiger Stoffe, denn es wird auch hier zur Bildung
einer gegebenen Oberflache eine Energieanderung stattfinden miissen, die
der Grosse dieser Oberflache und einer Grosse o proportional sein wird,
die der Oberflachenspannung analog ist. Ganz gleich darf diese Grosse
mit der friiher betrachteten nicht angesehen werden; jene kann der bei
der Dehnung der Flache um die Einheit zu leistenden Arbeit numerisch
gleich gesctzt werden, wahrend sich hier die Arbeit nur auf die Bil-
dung dieser Flache beziehen kann, da der Begriff der Dehnung weg-
fallen muss.
Bei der Anwendung dieser Betrachtungen auf das Gleichgewicht
isotroper Eorper mit einer losenden Fliissigkeit ergiebt sich nichts neues.
Anders verhalten sich Krystalle. Hier muss man annehmen, dass die
Grosse c eine unstetige Funktion der Richtung der Flache ist, der-
gestalt, dass sie bei bestimmten Lagen der Flache eine Anzahl scharfer
Minima besitzt. Die Untersuchung des Gleichgewichts eines Krystalls
mit einer gesattigten Losung fuhrt dazu, dass fur jede Flache des Kry-
stalls der DifFerentialquotient
Neuere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1886. 147
cl2'(tfs)
dv
den gleichen Wert haben muss. Dabei ist dv die Volumanderung des Kry-
stalls bei der Verschiebung einer Flache parallel sich selbst, wahrend
die iibrigen unverandert bleiben. Fiir konstantes Volum hat daber die
Anderung der Oberflachenenergie d2J{CB) den Wert Null, oder diese
selbst ist ein Minimum^).
Die UntersuchuDg des Einflusses der Schwere auf das Gleichgewicht
fahrt zu dem einfacben Ergebnis, dass die Tendenz zu wachsen in den
oberen Schichten der Losung grosser ist, als in den unteren, wenn daa
Wachsen des Krystalls Ausdehnung bedingt, und umgekehrt.
Femer wird der sehr bemerkenswerte Satz abgeleitet, dass die Auf-
loBung eines kleinen Krystalls in einer grossen Menge einer mit ihm im
Gleichgewicht stehenden Fliissigkeit keine Volumanderung bewirkt, wenn
der Dnick konstant bleibt und keine Warme zu- oder abgefiihrt wird.
Das heisst, die Temperaturanderung bei der Auflosung in der (nahezu)
gesattigten Losung kompensiert gerade die Volumanderung bei dem tlber-
guige des Krystalls in den gelosten Zustand; findet die Losung also unter
Volmnyerminderung statt, so muss eine Erwarmung eintreten, und um-
gekehrt.
Den Schluss des Kapitels bildet die Darlegung einer anderen Art
der Betrachtung, welche in einfacherer Gestalt zu den gleichen Ergeb-
nissen fiihrt.
21. Theoiie der Voltaschen Ketten. Als letzten Teil der grossen
Arbeit finden wir das Kapitel: Abanderung der Gleichgewichts-
bedingungen durch elektromotorische Kraft. Theorie eines
*} Diese Theorie, die spater auch von Curie (I, 939) entwickelt worden ist,
scheint im Stande zu sein, in genugender Weise Rechenschaft von dem grossen
EinfloBse zn geben, welcfaen sogenannte indifferente Zusatze so h&ufig auf den
Hibitua eines Krystalls baben. Da die Oberfl&cbenspannuDgen der verscbiedenen
Flichen in BerQbrong mit der gesattigten L5sung im allgemeinen verscbieden sind,
80 sind auch die Anderungen, welche diese Spannungen durch Yer&nderung der
Usong erfahren, im allgemeinen als yerscbieden und keineswegs dem ursprQng-
lichen Werte proportional anzuseben. Daraus folgt aber mit Notwendigkeit eine
relatiTe Anderung der Fl&chenausdebnung, d. b. eine Anderung des Habitus. Man
'ird darauB waiter folgem kdnnen, dass Stoffe, welche die Entstebung bestimmter
Flichen beg&nstigen, sich vorwiegend an solchen Fl&cben verdichten, und umge-
kehrt £ine ezperimentelle Prtlfung dieser Folgerung w&re nicbt ganz leicbt,
icheint indessen nicbt ausserhalb des Bereicbes der Mdglicbkeit zu liegen. (£ine
Meranf bezQgliche Arbeit, die freilich die Hauptfrage noch unentschieden l&sst^
Jst inzviachen 7on St. Berent, Ztscbr. f. Kryst. 26, 529. 1896, verOflfentlicbt worden.
Anm. bei der Korrektnr.)
10*
148 I* Geschichte der Verwandtschaftslehre.
Yollkommenen elektrochemischen Apparats. lu diesem Eapitel
finden sich die Gruiidlagen fiir die allgemeine energetische Behandlung
der Yoltaschen Ketten gelegt, wie sie friiher (II, 1^ 808) ausfuhrlich auf
Grund der inzwischen erweiterten Anschauungen entwickelt worden ist.
Gibbs fasst sein Ergebnis folgendermassen zusammen: „Wenn alle Be-
dingungen des Gleichgewichts einer galyanischen oder elek-
trolytischen Zelle erfiillt sind, so ist die elektromotorische
Kraft gieich dem Unterschiede der Werte des Potentials fur
jedes Ion oder scheinbare Ion an der Oberflache der Elek-
troden, multipliziert mit dem elektrochemischen Aquivalent
dieses Ions, indem das grossere Potential eines Anions an der-
selben Elektrode sich befindet, wo das grossere elektrische
^Potential ist; das Umgekehrte gilt fiir das Ration."
Wahrend die Bedeutung dieses Ergebnisses fiir die Theorie der
Yoltaschen Ketten hier nicht Gegenstand der Erorterung sein kann, muss
auf seine Bedeutung fiir die Theorie der chemischen Verwandtschaft hin-
gewiesen werden. Der Satz sagt nicht weniger, als dass das che-
mische Potential fiir elektrochemisch aquivalente Mengen der an den
Elektroden auftretenden oder verschwindenden Stoflfe durch ihr elek-
trisches Potential daselbst gemessen werden kann. Es ist mit anderen
Worten die elektromotorische Kraft einer umkehrbaren Kette das Mass
fiir die chemische Affinitat des in der Kette beim Stromdurchgang statt-
findenden Prozesses.
Eine weitere Anwendung macht Gibbs von seiner Gleichung auf die
Theorie der elektrokapillaren Erscheinungen (11,1,922). Endlich legt er
ausfuhrlich dar, dass die Theorie der elektrochemischen Ketten yon
Tliomson (II, 1, 554), wonach die elektromotorische Kraft einfach der
Warmetonung proportional sein soli, sowohl mit den thermodynamiscben
Schlussfolgerungen, wie auch mit einer Anzahl Erfahrungen im Wider-
spruch steht. Diese Darlegungen enthalten einen grossen Teil dessen,
was spater von Helmholtz (11,1,556) entwickelt worden ist; bei den un-
giinstigen Bedingungen fiir das Bekanntwerden der vorliegenden Arbeit
(S. 114) haben indessen diese Darlegungen keinen Einfiuss auf die nachste
Entwicklung der Angelegenheit gewonnen, und wir haben nur nachtrag-
lich feststellen konnen, dass neben so vielem Neuen und Fruchtbaxen,
was diese unvergleichliche Arbeit enthalt, auch die entscheidendea Ge-
danken und Schliisse in diesem letzten Gebiete nicht fehlen.
22. Die freie Eneigie. Unabhatigig von den alteren Arbeiten von
Horstmann und Gibbs hat Hermann von Helmholtz die Frage nach der
Arbeitsfahigkeit chemischer Vorgange und ihren allgemeinen thermo-
Neuere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1886. 149
djnamischen Bedingungen behandelt. Seine Arbeiten nahmen ihren Aus-
gangspunkt von elektrochemischen Erwagungen, und zwar von dem Wider-
sprnch aus, in welchen er gelangte, als er die von ihm zuerst fur richtig
gehaltene Aquivalenz zwischen chemischer und elektrischer Energie
auf die Erscheinnngen der galvanischen Polarisation anzuwenden ver-
sochte. Er nnterwarf deshalb einen besonders einfachen Fall der Yolta-
scfaen Eette, das Eonzentrationselement (II, 1^ 824), einer genaueren
Untersttchung, indem er auf einem anderen, von jener Yoraussetzung
nnabhangigen Wege dessen elektromotorische Kraft berechnete. In der
so orhaltenen Gleichung trat die Warmetonung des vorbandenen cbemi*
sdien Vorganges, namlich der Yerdiinnung der konzentrierteren Losuug,
nicht (oder vielmehr nur als ein sekundares Glied) auf, und Helmholtz
war durch diesen Widerspruch gezwungen, den bier oder dort be-
gangenen Febler aufzusucben. Er fand ihn in der Annahme der Pro-
portionalitat zwischen elektromotorischer Kraft und chemischer Warme-
tonuDgy und musste daher diese aufgeben. Dies fuhrte aber, da die
dektrische Energie frei verwandelbar im Gegensatz zur Warmeenergie
ist^ za dem Schlusse, dass auch die anderen Wirkungen der chemischen
Yerwandtschaft nicht durch die entsprechende Warmetonung zu messen
sind, sondern durch eine passend gebildete andere Energiegrosse. Denn
die altere thermochemische Yerwandtschaftslehre, wie sie durch Thomsen
begriindet und durch Berthelot allgemein durchzufiihren versucht wurde,
kommt (S. 85) auf den Satz zuriick, dass bei jedem chemischen Yor-
gange, der freiwillig verlauft, die Energie abnehmen (und sich ah Warme
entwickeln) miisse. Helmholtz stellt sich die Frage, ob es nicht that-
sachlich eine Energiegrosse gebe, von der man eine solcho Eigenschaft
anssagen kann, und er findet diese Grosse in der freien Energie^).
Obwohl es sich spater herausgestellt hat, dass dieser Begriff bereits
bezaglich gewisser Eigenschaften in einer alteren Arbeit von Massieu
angedeutet, und dass er in der Abhandlung von Willard Gibbs (S. 121)
Tollstandig dargelegt und unter der Bezeichnung der Grosse tp mehr-
&ch benutzt worden ist, hat doch seine Neuentdeckung durch Helmholtz
for die Wissenschaft eine wesentliche RoUe gespielt, indem er durch ihn
60 gekennzeichnet und in seiner Anwendbarkeit vorgefdhrt worden ist,
dass dem Yerstandnis seiner Tragweite keine Schwierigkeit mehr ent-
gegenstand. Auch wird die unmittelbare Anwendung, welche Helmholtz
aof die ihn eben beschaftigende Frage nach der elektromotorischen Kraft
Voltascher Ketten machte, in noch eindringlicherer Weise fur seine
M Math. a. naturw. Mitt. d. Berl. Akad. 1, 7. 1882.
150 I- Geschichte der Yerwandtschaftslehre.
Brauchbarkeit gesprochen haben, als es selbst die ungemein klare nnd
anschauliche Ableitung Helmholtzs zu thun vermochte.
Unmittelbare Anwendungen des Begriffes der freien Energie, welcbe
in der Gestalt F = U — TS definiert wird, wo U die gesamte Energie,
T die absolute Temperatur und S die Entropie bedeutet, anf rein che-
mische Aufgabeii hat Helmholtz nicht gemacht, sondem nur allgemein be-
merkt, dass diese Grosse bei alien Gleichgewichtszustanden eines Systems
ein Minimum fiir solche Yeranderungen sein muss, die bei konstanter
Temperatur erfolgen. War es daher moglich, diese Funktion fur ein
chemisches System aufzustellen, so ergab die Bedingung, dass F ein
Minimum, dass also der Differentialquotient von F nach einer den Zu-
stand des Systems darstellenden Veranderlichen gleicb Null sein soil,
die Bedingungsgleichung fiir das chemische Gleichgewicht.
Es fallt auf den ersten Blick die grosse Analogie auf, welcbe diese
Losung des Gleichgewichtsproblems mit der von Horstmann (S. 112) ge-
fundenen besitzt In der That erweist es sich, dass wenn man die ent-
sprechenden Rechnungen ausfuhrt, diese fast vollig iibereinstimmend aus-
fallen. Eine solche Erscheinung wird uns in unserer Geschichte noch
mehrfach entgegentreten. Es handelt sich bei alien diesen Prinzipien,
die zur thermodynamischen oder richtiger energetischen Losung des che-
mischen Gleichgewichtsproblems fiihren, immer um irgend eine der yielen
verschiedenen Formen des zweiten Hauptsatzes, und es ist wesentlich
Sache des Geschmackes und der Gewohnheit, welcbe von diesen Formen
man anwenden will.
23. Ansiohten von Lord Bayleigh. Zu den Forschem, welcbe die
Unrichtigkeit der thermochemischen Affinitatstheorie friihzeitig einge-
sehen haben, gehort der hervorragende englische Physiker Lord Rayleigh^).
In einer einigermassen popularen Vorlesung iiber die Zerstreuung (dis-
sipation) der Energie, in welcher er auf die hohe Bedeutung dieser Ver-
haltnisse fur die Technik und die Chemie hinwies, fuhrt er aus: „Die
chemische Bedeutung der Theorie der Zerstreuung ist sehr gross, hat
aber bisher nur geringe Aufinerksamkeit erregt. Eine chemische Um-
wandlung ist unmoglich, wenn sie das Gegenteil der Zerstreuung der
Energie (wofiir kein passendes Wort vorhanden ist) verursachen wiirde;
andererseits ist es aber nicht richtig, dass ein Vorgang, welcher Zer-
streuung bedingt, notwendig stattfiinden muss. Sonst ware die Existenz
explosiver Stoffe, wie Schiesspulver unmoglich. Es ist oft behauptet
worden, dass die Warmeentwicklung das Kriterium fur die Moglichkeit
einer bestimmten Reaktion ist, doch sind Ausnahmen von dieser Kegel
^) Royal Institution of 6r. Britain, 5. M&rz 1875. .
Neuere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1886. 151
wohlbekanni Es geniigt, auf die Auflosung eines Salzes in Wasser hin-
zuweisen. Doch bedingt dieser Vorgang Zerstreuung, und es ist nicht
schwierig, nachzuweisen, wie darch ihn Arbeit eriangt werden kann.
Das Wasser moge in einem Cylinder unter einem beweglichen Eolben
bei ganz konstanter Temperatur gehalten werden; der Eolben werde
gehoben bis das Wasser verdampfb ist, dann weiter der Druck bis zu
dem Betrage vermindert, unter welcbem das Salz den Dampf bei der
fragUchen Temperatur absorbieren kann. Nachdem Salz und Dampf in
BeriihrQng gebracht worden sind, soil der Eolben gesenkt werden, bis
alles Salz aufgelost ist. Bei dieser Operation wird Arbeit gewonnen,
da der Druck unter dem Eolben wahrend der Ausdehnung grosser ist,
als wahrend der Zusammendriickung. Wird das Salz auf die gewohn-
liche Weise gelost, so wird Energie zerstreut, denn die Gelegenheit,
Arbeit auf Eosten von Warme niederer Temperatur zu tbun, ist imbe-
nutzt geblieben und kehrt nicht wieder/^
Die weiteren Darlegungen enthalten die Bemerkung, dass die An-
wendung dieser Grundsatze auf chemische Yorgange dadurch sehr er-
schwert ist, dass diese nicht auf umkehrbare Weise geschehen, und es
wird auf die Arbeiten von Debray iiber Dissociation hingewiesen, welche
Falle der Anwendbarkeit ergeben haben. Ferner wird die Bedeutung
herrorgehoben, welche die Dichte der reagirenden Stoffe fiir das Ein-
treten und den Yerlauf der Reaktionen haben muss.
24. Vant HofBi Studien zur chemiBohen Dynaniik. Obwohl die
Arbeit von Willard Gibbs die theoretische Seite der Frage nach den Ge-
setzen des chemischen Gleichgewichts zu einer Stufe bemerkenswerter
VoUendung gebracht hatte, liess sich ein Einfiuss auf die chemische
FoTschung zunachst nicht erkenneu. Yiele von seinen Resultaten wurden
spater durch andere Forscher selbstandig gefunden. Daneben entwickelte
sich aber die mit dem Gleichgewichtsproblem in nahem Zusammenhange
stebende Lehre von den chemischen Reaktionsgeschwindigkeiten in einer
anch jene Aufgabe fordernden Weise.
Eine systematische Bearbeitung dieses Gebietes hat zuerst van't Hoff
in seinem in vieler Hinsicht hervorragenden Buche Etudes de dyna-
miqne chimique^) versucht, indem er die moglichen Formen der Ge-
sdiwindigkeitsgleichung nach der Anzahl der beteiligten Molekeln zu
bestimmen unternahm, und fiir seine theoretischen Ansichten auch die
ezperimeDtelle Priifung und Durcharbeitung nicht versaumte.
*) Amsterdam 1884. — Eine neue Ausgabe in deutscher Sprache ist soeben
(1S96) durch K Cohen besorgt worden.
152 I- Geschichte der Yerwandtschaftslehre.
Das Werk van't Hofifs bringt zunachst, seinem Titel gemass, Unter-
suchungen iiber die Geschwindigkeiten chemiscfaer Reaktionen. iDdem
er die bis dahin gebrauchlich gewesene Unterscheidung nacb der ZabI
der reagierenden Stoffe aufgiebt, und die Berechnung nacb der Anzahl
der Molekeln einfiibrt, setzt er sich zu den alteren Arbeiten in einen
Gegensatz, der nur zum Teil als begriindet sich erwiesen hat. Einen
wesentlichen Fortschritt aber enthalt seine sorgfaltige Diskussion, um
die Ordnung einer Reaktion auch in solchen Fallen zu ermitteln, wo die
Geschwindigkeitskoeffizienten nicht konstant, oder „Storungen'^ yorhanden
sind. Die eingehende Darstellung dieser Studien wird in dem Kapitel
iiber die Geschwindigkeit chemischor Reaktionen erfolgen.
Auf die Frage der chemischen Verwandtschaft leitet dann eine Er-
ortening iiber den Einfluss der Temperatur auf die Reaktionsgeschwin-
digkeit iiber. Sind k' und k" die beiden Geschwindigkeitskonstanteh
fur entgegengesetzte Vorgange, so muss „nach den Prinzipien der Thermo-
dynamik" folgende Beziehung bestehen:
d In k' d In k" q
"dT~ dTr"~¥T^'
welche allgemein ist; darin bedeutet In den natiirlichen Logarithmu8»
q die bei der Umwandlung der Einheit des zweiten Systems in das erste bei
konstantem Volum entwickelte Warmemenge und T die absolute Temperatur.
Diese Gleichung hat in der weiteren Entwicklung der chemischea
Energetik eine grosso Rolle gespielt Zunachst diente sie dazu, einen
Anhalt fur den Einfluss der Temperatur auf die Geschwindigkeit einer
einzelnen Reaktion zu bieten; sie giebt keine voUstandige Losung des
Problems, da sie nur einen Ausdruck fiir die Differenz der beiden Ge-
schwindigkeitslogarithmen liefert, in welcher sich Glieder von gleichem
Wert aufgehoben haben konnen; indessen erweist sich doch die einfachste
Annahme, welche dieser Bedingung entspricht,
dlnk_ A
dT "" T*""*"
als mit den experimentellen Thatsachen recht gut iibereinstimmend, ja
es ist in mehreren Fallen moglich, die Eonstante B gleich Null zu setzen.
Jedenfalls muss, gemass der ersten Gleichung, die Eonstante B fiir
zwei entgegengesetzte Reaktionen den gleichen Wert haben, wahrend die
Differenz zwischen beiden A-Werten gleich ^ sein muss.
An diese Gleichung schliesst nun van't Hoff auch seine Erortenmgen
iiber das chemische Gleichgewicht, da dieses als das Ergebnis zweier
Neaere Geschichte der Affinlt&tslehre bis 1886. 153
entgegengesetzter Reaktionen aufgefasst wird, deren Geschwindigkeiten
gleich geworden sind. Sind C, und C,, die KoDzentrationen der ent-
gegengesetzten Systeme, bei denen Gleichgewicht besteht, n, und n,, die
Zahl der beteiligten Molekeln, so gilt die Beziehung
9il1 — ]L — v
wo K die Gleichgewichtskonstante genannt wird; die obige Gleicbung
erscheint in der einfacheren Gestalt
dlnK_ q
dT ~ 2T«'
k'
da Ink' — Ink" gleich lopr ist. Aus dieser Gleicbung geht folgendes
hervor (vgl. Horstmann, S. 114).
Ist die Umwandlungswarme gleich Null, so andert sich K nicht mit
der Temperatur, d. h. die Temperatur hat keinen Einfluss auf das che-
mische Gleichgewicht. Dies trifft beispielsweise ziemlich annahemd bei
der Esterbildung zu, ebenso beim Gleichgewicht zwischen Salpeter- und
Salzsaure, bei Gemengen von entgegengesetzt aktiven Isomeren, zum
Teil auch beim Gleichgewicht zwischen Wasser, Kohlenoxyd, Kohlen-
dioxyd und Wasserstoflf. ^
Hat dagegen die Reaktionswarme q einea Wert, so verscbiebt sich
das Gleichgewicht in einem Sinne, welcher von dem Zeichen der Warme-
tonung abhangt; namlich so, dass bei hoherer Temperatur die unter
Warmeverbrauch verlaufende Reaktion tJbergewicht erhalt. An dem Bei-
spiel des Stickstoffhyperoxyds und des Gleichgewichts zwischen Schwefel-
sLure und Salpetersaure zeigt van't Hoff nicht nur die qualitative Uber-
einstimmung seines Gesetzes mit den beobachteten Thatsachen, sondern
er vermag sogar aus der gemessenen Verschiebung des Gleichgewichts
die entsprechende Warmetonung in guter Cbereinstimmung mit den un-
mittelbaren Beobachtungen zu berechnen. Dazu dient die integrierte
Gleichung
1 j^ q /_[ ^\
Ki ~2VTi tJ*
Die zunachst betrachteten Gleichgewichte sind homogene; ausser-
dem nnterscheidet van't Hoff die heterogenen Gleichgewichte, und die
der kondensierten Systeme. Im zweiten Falle sind neben den Stoffen
veranderlicher Konzentration, wie Gasen oder Losungen, auch solche von
uiveranderlicher vorhanden, wie feste Stoffe oder homogene Fliissig-
keiten. Beispiele sind die Gleichgewichte zwischen festem Ammonium-
154 I* Geschichte der YerwandtBchaftslehre.
sulfhydrid und dem gasformigen Gemisch von Ammoniak und Schwefel-
wasserstoff, das aus diesem durch Dissociation entsteht, ferner das
Gleichgewicht zwischen festem Calciumoxalat und den gelosteii Zer-
setzungsprodukten, welche durch die Einwirkung der Salzsaure darauf
entstehen. Von Guldberg und Waage war dieser Fail so behandelt
worden, dass die aktive Masse oder Konzentration der festen Stoffe als
konstant angesehen wurde. Die gleiche Annahme macht van't Hoff, nur
mit der physikalischen Begrundung, dass er etwas von dem festen StofiFe
thatsachlich in Gasgestalt, bez. in Losung annimmt. Nach dem be-
kannten Sattigungsgesetz ist durch die Gegenwart der festen Phase die
Konzentration des gasformigen, bez. gelosten Anteils (bei konstanter
Temperatur) fest bestimmt, und so erlangt man die Gleichgewichts-
gletchungen solcher heterogener Systeme, indem man sie wie homogene
behandelt, nur dass man die Konzentrationen der festen Stofife oder
homogenen Fliissigkeiten konstant setzt.
Ergiebt sich sonach in dieser Hinsicht das gleiche, was die alteren
Forscher gefunden hatten, so ist doch ein Fortschritt durch die An-
wendung der friiheren Betrachtungen iiber den Einfluss der Temperatur
auf das Gleichgewicht in der Abhangigkeit von der Reaktionswarme ge-
geben, und insbesondere lasst sich aus der ersteren die letztere be-
rechnen. Auch hier giebt van't Hoff ein Beispiel (Ammoniumsulfhydrid)
in welchem Messung und Theorie sehr befriedigend stimmen.
25. Die kondensierten Systeme. Ein Fall, welchen die friiheren
Autoren (ausgenommen Gibbs) nicht in Betracht gezogen hatten, ist der
der „konden8ierten Systeme'^ Mit diesem Namen bezeichnet yan't Hoff
solche Systeme, in welchen gar kein Stoff von yeranderlicher Konzen-
tration zugegen ist. Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass es fur sie
keine stetig mit der Temperatur verschiebbare Gleichgewichtslage giebt,
sondern nur einen Ubergangspunkt, d. h. eine Temperatur, oberhalb
welcher das eine System allein bestandig ist, wahrend unterhalb nur das
andere bestehen kann. Beim Ubergangspunkt konnen beide Systeme
neben einander bestehen, und zwar in beliebigen Mengenverhaltnissen.
Die Notwendigkeit dieser aJlgemeinen Beziehung wird in derselben
Weise abgeleitet, wie oben das Gesetz fur <lie heterogenen Gleichgewichte.
Es wird angenommen, dass jeder der Stoffe einen Dampf von bestimmtem
Drucke, der nur eine Fuuktion der Temperatur ist, aussendet. Da diese
Funktion fiir jeden Stoff eine andere ist, so wird im allgemeinen die
Gleichgewichtsgleichung far das Gemisch der Dampfe nicht erfullt sein,
sondern das Produkt der Konzentrationen wird fiir das eine System grosser
sein, als fiir das andere. Dann wird sich auf dessen Kosten immer das
Neuere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1886. 155
andere System bilden miissen; und zwar geht dieser Vorgang so lange
forty als noch ein fester Bestandteil des ersten Systems vorhanden ist,
denn da der Dampfdruck von der absoluten Menge nicht abhangt, so
bleibt die urspningliche BeziehuDg zwiscben den Drucken bis zu diesem
Augenblicke uuverandert. Auf diese Weise ergiebt sich die Notwendig-
keit des voUstandigen Uberganges der Stoffe mit grossem Dampfdrack-
prodnkt in die mit kleinem.
Bei geanderter Temperatur wird sich der Dampfdruck der verscbie-
denen Stoffe in verschiedener Weise andem, nnd es kann kommen, dass
die Gleichgewichtsgleichung bei einer bestimmten Temperatur im Dampf-
gemisch erfiillt ist Dann wird Gleichgewicbt zwiscben den beiden
Systemen besteben, aber wieder, da der Druck von den Mengen unab-
hangig ist» bei jedem beliebigen Yerbaltnis der beteiligten Stoffe. Dies
sind die cbarakteristischen Eigenschaften des „X7bergangspunktes*^
Aucb bier weist van 't Hoff die Richtigkeit seiner Scbliisse an einer
Untersocbung iiber die Umwandlung des rhombiscben Scbwefels in mono-
klinen nnd umgekebrt nacb, die auf seine Yeranlassung von Reicber aus-
gef&brt worden ist.
Diese Falle des cbemiscben Gleicbgewicbts stimmen prinzipiell mit
denen des sogenannten pbysikaliscben Gleicbgewicbts bei den Ande-
mngen des Aggregatzustandes iiberein; van't Hoff widmet dem Nacbweis
dieeer Obereinstimmung (die aucb zur Zeit dieser Scbrift schon ein ge-
laufiger Gedanke war) ein weiteres Kapitel.
Welter giebt er eine grapbiscbe Darstellung der Yerbaltnisse bei
der Umwandlung der beiden Scbwefebnodifikationen in einander, indem
er ibre Dampfdrucke als Funktionen der Temperatur auftragt; der Ober-
gangspunkt ist wie erwabnt die Temperatur, bei der beide Dampfdrucke
einander gleich sind. Denkt man sicb nocb eine dritte Linie, den
Dampfdruck des gescbmolzenen Scbwefels eingetragen, so scbneidet diese
die beiden anderen Kurven an Punkten, welche die Scbmelztempera-
toren der beiden Modifikationen darstellen. Durch die Annabme, dass die
abgeschnittenen kleinen Kurven teile geradlinig sind, gelangt van't Hoff
m einer einfacben geometrischen Beziebung zwiscben ihnen, die in der
Gleidiung
Trp , rp rp <lm Qf . Qr ^m
T2 • T2
ihren Ausdruck findet Hier bezieben sich die Indices m, r und f auf
monoklinen, rhombiscben und fliissigen Scbwefel, und die mit je zwei
Indices bezeichneten T-Werte sind die Ubergangs-, bez. Scbmelztempe*
ratnren fiir die beiden angegebenen Zustande. Die Gleicbung stellt ahn-
156 I- Gescbichte der Yerwandtschaftslehre.
lich wie die angegebene die tlbergangstemperaturen mit den Warme-
tonuDgen beim Ubergange in Beziehung. Auch bier lasst sich die
Cbereinstimmung der Beobachtung mit der Formel nacbweisen, indem
aus der bekannten Schmelz- und Umwandlungswarme des Schwefels die
tibergangstemperatur zu 96*3^ berechnet wird, wabrend Reicber sie gleich
95-6^ gefunden hat. ^Diese Ubereinstimmung war fur mich der Ur-
sprung einer wie ich hoffe lange wahrenden Freundschaft/'
26. Das Gleiohgewioht als Temperatmftixiktion. Der oben be-
reits ausgesprocheDe Satz von dem Einflusse der Temperatur auf das
Gleichgewicbt wird eingehender in einem besonderen Kapitel erortert,
indem er folgendermassen gefasst wird: Jedes Gleichgewicbt zwi-
schen zwei verschiedenen Zustanden der Materie (Systemeu)
verschiebt sich durch Temperaturerniedrigung im Sinne des
Systems, dessen Bildung Warme entwickelt.
Als Bediugung wird hinzugefugt, dass bei der betracbteten Veran-
derung das von den Syst^men ausgefullte Volum sich nicht andern darf ;
doch komme dies selten in Betracht. An einer Anzahl von Fallen che-
mischen sowie ^physikalischen*^ Gleichgewichts wird die Richtigkeit des
Satzes erwiesen. Als neu tritt die Bemerkung aaf, dass auch bei kon-
densierten Systemen immer der bei niederer Temperatur bestandige Stoff
aus dem bei hoherer beetandigen unter Warmeentwicklung entstehen muss.
Lasst man die Temperatur niedriger imd niedriger werden, so werdea
zunehmend die unter Warmeentwicklung entstehenden Stofife auftreteii.
Da unsere gewohnliche Temperatur relativ niedrig ist, so sind die unter
Warmeentwicklung verlaufenden Vorgange bevorzugt. Dies ist die Ur-
sache, weshalb fiir viele Falle die von Thomson und Berthelot aufge-
stellten Satze gelten; gleichzeitig wird dadurch deren Kritik gegeben^
insofem sie allgemeine Bedeutung haben soUen. Auch bemerkt van't
Hoff, dass Thomsen in seinen spateren Arbeiten den Satz nur unter
Yorbehalt benutzt babe, wabrend Berthelot ihn unbedingt aufrecbt eiv
halte, und die Abweichungen durch „fremde" Energien erklare. »Nur
scheint mir die Natur der letzteren mehr oder weniger dadurch be->
stimmt, dass ihre Einfiihrung notig wird. Auch scheint diese Art der
Verteidigung die Geister eher dagegen einzunehmen, als sie zu uber-
zeugen."
Beziiglich der hoben Temperaturen wird bemerkt, dass sich die
Gleichgewichte nach der Seite der Stoffe verschieben miissen, die unter
Warmeverbrauch entstehen; alsdann wiirde ein Prinzip der kleinsten
Arbeit gelten.
Nenere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1886. 157
Beim absoluten NuUpunkte endlich wiirde das Priozip der grossten
Arbeit streng gelten^ wie noch in den drei verschiedenen Fallen aus*
fiihrlich nachgewiesen wird, vorausgesetzt allerdings, was van't Hoff nicht
hinzngefiigt hat, dass sich unter diesen Umstanden noch chemische Re-
aklionen yoUziehen. Bei der ungemein grossen Abnahme aller Reak-
tionsgeschwindigkeiten mit fallender Temperatur warden, wenigstens fur
Wesen Yon der ungefahren Lebensdauer der Menschen, bei der abso*
kten Temperatur Null vermutlich chemische Yorgange tiberhaupt nicht
beobachtbar sein.
27. Das Mass der Afflnit&t. Die letzten zwei Bogen seines Werkes
widmet van't Hoff der Frage der chemischen Affinitat. Indem er yon
alien hypothetischen Ansichten iiber diesen Gegenstand sich femhalt,
stellt er sich die Aufgabe, in absolutem oder mechanischem Masse eine
Grosse zu ermitteln, welcher dieser Name zugeschrieben werden kann,
and er findet die gesuchte Definition in folgendem Satze:
^Die Arbeit der chemischen Yerwandtschaft A ist gleich der durch
die Umwandlung heryorgebrachten Warme q, diyidiert durch die abso-
lute Temperatur des Umwandlungspunktes P und multipliziert mit dem
durch Unterschied dieser und der Arbeitstemperatur T:
P— T
A = q p ■
Bei der Ubergangstemperatur erfolgt der Ubergang nach beiden
Seiten mit gleicher Leichtigkeit: demnach kann dort die Yerwandtschaft
keine Arbeit leisten. In der That wird fur T = P auch A = 0. Beyor
die Formel allgemein abgeleitet wird, werden noch folgende Betrach-
tungen angestellt.
Mitscherlich (Lehrb. 4. Aufl. 565) hat zuerst die chemische Yer-
wandtschaft in mechanischem Masse zu bestimmen yersucht, indem er
fand, dass Glaubersalz im Barometer einen Wasserdampfdruck yon
2<5 Linien zeigt, wahrend Wasser 4 Linien zeigt. Die Yerwandtschaft
des Krystallwassers zum Glaubersalz ist demnach gleich einem Drucke
▼on 1-5 Linien, gleich etwa ^/^g Pfund auf den QuadratzoU.
Auf der anderen Seite hat Pfeffer (I, 656) den Druck gemessen, wel-
chen die Yerwandtschaft zwischen Wasser und Zucker in seinen halb-
durcUassigen Zellen ausiibt, und ihn fiir einprozentige Losungen zwischen
0-66 und 0-75 Atmospharen je nach der Temperatur gefunden. Um nun
beide Grossen mit einander in Beziehung zu setzen, macht yan't Hoff
folgenden interessanten Schluss. £s sei ein geschlosscncs Gefass ge-
gebeo, in dessen unterem Teile, getrennt durch eine Pfeffersche Scheide-
158 I- Geschichte der Yerwandtschaftslehre.
wand, einerseits reines Wa88er> andererseits die Losung sich befinden;
der obere Teil des Gefasses sei mit Wasserdampf gefiillt. Nun kann
der Obergang des Wassers zur Losung auf zweierlei Weise erfolgen:
durch die Scheidewand unter dem Drucke dD oder durch den Dampf
mittels des Unterscbiedes zwischen dem Dampfdrucke des reinen Wassers
und der Losung — dS. So sieht man durch die Anziehung, welche die
Salzlosung auf das Wasser ausiibt, zwei Krafte entsteben, welcbe, je
nachdem sich die Anziehung auf das fliissige Wasser oder den Wasser-
dampf beziebt, durch dD und — dS gegeben sind; nimmt man an»
dass die von der Losung auf eine Moiekel Wasser ausgeiibte Anziehung
die gleiche ist, unabhangig von dem Aggregatzustande ^es Wassers, so
wird man notwendig dazu gefiihrt, das Yerhaltnis der beiden Anzieh-
ungen zu den Wassermengen, auf die sie in gleichen Volumen wirken^
beiderseits gleich zu setzen, das heisst gleich dem Yerhaltnis der Ge-
wichte eines Liters fliissigea Wassers = 1 kg, und eines Liters Wasser-
273 S
dampf = 0-000806 S • —=r- oder -7-^;^-^ kg. Dieser Scbluss nimmt fol-
gende Form an: g
oder integriert
4-00 T
In S = -r-^-^riy- 4- const.
4-00 T
Die Konstante kann eliminiert werden, denn da D gleich Null ist,
wenn S der Dampf druck des reinen Wassers =Se wird; man erhalt so
D = 4.55T In |'- = lO-ST log |^.
wo Ss den Dampfdruck der Salzlosung darstellt und log Briggsche Lo-
garithmen bedeutet.
g
Um nun das Yerhaltnis -^ zu berechnen, bedient sich van 't Hoff
der von Guldberg (I, 757) aufgestellten Beziehung zwischen der Dampf-
druckverminderung und der Gefrierpunktsemiedrigung; er erhalt auf
diese Weise cine Moglichkeit, die von Pfeffer beobachteten Druckgrossen
aus den Gefrierpunktserniedrigungen vorauszuberechnen, und findet eine
sehr gute Cbereinstimmung.
Wir befinden uns bier an einem der interessanten und seltenen
Punkte, wo man den ersten Knospenansatz einer wichtigen wissenschafb-
lichen Idee beobachten kann. Aus den Darlegungen des ersten Bandes
ist bekannt, dass gerade dieser Gedanke, den wir bier mit einer eigen-
tiimlicben Kiihnheit der Schlussfolgerung auftreten sehen, spater zu der
Neuere Geschichte der Affinitfttslehre bis 1886. 159
SO ansserordentlich fruchtbaren Theorie der Losungen gefiihrt hat. Auch
ist aus den dort wiedergegebenen spateren Formen, in denen van't HofF
%ine Satze begnindet hat, ersichtlich, dass er selbst mit der hier an-
gewendeten Art des Schliessens nicht dauemd zufrieden gewesen ist,
da er das Beweisverfahren wesentlich geandert hat. Es ist dies wieder
ein Beweis dafiir, dass bei wirklich erfinderischen Geistern das Ergebnis
immer friiher da ist, als der Beweis, und dass die sprunghaften, mehr
anf einer Intuition, als auf bedachtig iiberlegten Gedankenschritten be-
rahenden Fortschritte eine ganz wesentliche Rolle in der EntwickluDg
der Wissenschaft spielen. AUerdings enthebt das Gelingen eines solchen
Spronges den Forscher nicht der Pflicht, spater den erreichten Punkt
fflit dem Ausgangsorte durch wohlgesicherte Wege zu verbinden; die
Arbeit ist nicht nur im Interesse der Mitstrebenden notwendig, sondern
sie lohnt sich regelmassig reichlich durch die weitere Ausbeute an Er-
gebnissen und die bessere Cbersicht liber die Bedeutung des Erreichten.
Auch in diesem Falle ist dies zugetrofifen, wie das ja nicht naher aus-
gefuhrt zu werden braucht.
In weiterer Entwicklung der Formel bezieht sie van't Hoff auf
eine Kilogramm-Molekel Wasser und driickt die Arbeit, statt in mecha-
nischen Einheiten, in thermischen (Kilogramm-Galorieen) aus; dadurch
ei^ebt sich die spater so viel benutzte Formel
A = 2Tln|^,
indem die Zahlenkoeffizienten sich sehr nahe auf die runde Zahl 2
reduzieren. Der Ausdruck gilt unter entsprechender Abanderung auch
fiir zwei verschiedene Losungen, oder zwei verschiedene Salze mit Kry-
stallwasser.
Der letztere Fall wird nun zur allgemeinen Begriindung der oben
(S. 157) gegebenen Formel benutzt. Haben wir zwei Salze, deren
Dampfdruckkurven sich bei einer Temperatur schneiden, so haben beide
bei dieser Temperatur gleichen Dampfdruck und ihr Krystallwasser be-
findet sich hier im gegenseitigen Gleichgewicht. Nun muss fiir jedes
Salz die allgemeine Formel
dlnC _ q
dT"~ 2T«
gelten (S. 153), wo C die Eonzentration des Wasserdampfes ist; wenden
wir sie auf beide Salze an, so erhalten wir durch Subtraktion
C"
din
dT 2T«'
160 I- Geschichte der Yerwandtschaftslehre.
wo q die Warmemenge ist, die bei der Uberftihrung von eiaer Kilo-
gramm-Molekel Wasser aus dem orston Salz in das zweite frei wird.
Durch Integration folgt unter Rucksicht darauf, dass fiir T = P auch
C" = C'wird, C-_ q f?^T\
c ~ 2T v p ;
Oder, da das Verhaltnis der Eonzentrationen gleich dem der Dampf-
S"
drucke ist, und da A = 2T In-^r gefunden wurde,
P — T
A = q— p— ,
welches die oben gegebene Gleichung fur die Affinitat ist
Es wird alsbald betont, dass der Weg, auf welchem die Arbeit
der Affinitat gewonnen wird, keinen Einfluss auf das Ergebnis hat,
Yorausgesetzt dass er umkehrbar ist. In der That zeigt van 't Hoff, dass,
wenn man die Arbeit berechnet, welche die Dampfe verschiedenen
Druckes leisten konnen, statt die Arbeit der Pfefferschen Drucke zu
Grunde zu legen, man zu derselben Formel gelangt. Dieser Umstand
berechtigt, das Ergebnis, welches an dem Falle der wasserhaltigen Saize
entwickelt worden war, auf die chemischen Vorgange (in kondensierten
Systemen) aligemein auszudehnen. Auch ergiebt sich das gleiche, wenn
man die aligemeine thermodynamische Beziehung anwendet, dass sich
die in Arbeit umsetzbare Warme zur Gesamtwarme verhalt, wie der
Temperaturunterschied der beiden Isothermen des Carnotschen Pro-
zesses zu der Temperatur der oberen Isotherme. Setzt man diese Pro-
portion an, so gelangt man alsbald zu der gleichen Formel, indem man
als obere Temperatur die hochste, bei der die Umwandlung ausfuhrbar
ist, d. h. die Umwandluugstemperatur selbst einsetzt.
Hierbei wird betont, dass immer der Einfachheit wegen die Warme-
tonung als unabhangig von der Temperatur behandelt worden ist, was
nicht streng richtig ist.
Wendet man die Formel zunachst auf den absoluten NuUpunkt an,
so ergiebt sich A = q, d. h. die Warmeentwicklung lasst sich voll-
standig in Arbeit der chemischen Affinitat verwandeln und ist eia
Mass dieser. Dies Ergebnis stimmt mit dem friiher erhaltenen iiber
die Giiltigkeit des Thomsenschen Satzes beim absoluten Nullpunktc
iibereiu.
Betrachtet man ferner die Warmetonung als unabhangig von der
Temperatur, so findet man, dass bei Yorgangen unter der Umwandlungs^
Neaere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1886. 161
tefflperatur das Zeichen der Warmeentwicklung und das der chemischen
Arbeit iibereinstimmeii; oberhalb diescr Temperatur haben beide ent-
gegeDgesetztes Zeichen.
Auch der £influss des Dnickes auf die UmwandluDgstemperatur lasst
sich auf Grund der allgemeineu Gleichung bestimmen, indem man die
Arbeit bei dem mit Volumanderang verbundenen, unter Druck erfol-
gcnden Vorgange mit der entsprechenden Temperaturanderung gemass
dem zweiten Hauptsatze in Beziehung setzt; van't Hoff giebt dazu eine
sehr einfacfae graphische Konstruktion, die zu der bekannten Formel von
Tbomson fur den Einfluss des Dmckes auf den Schmelzpunkt (I^ 1014)
fuhrt Durch eine ahnliche Konstruktion bestimmt er aus der Um-
wandlungs- und Schmelzwarme des Schwefels dessen Umwandlungs-
temperatur.
Auf die Frage, ob man dies Beweisverfahren als allgemein giiltig
anseben darf, bemerkt yan't Hoff: „Die Schwierigkeit bei diesem Be-
weise scbeint mir in der Art zu liegen, in welcher die Verwandtschaft
die Arbeit ausuben soil; zwei Beispiele siud bereits genannt, und eben
ist ein drittes von sehr allgemeiner Beschaffenheit dargelegt worden. In
alien Fallen, wo der Vorgang von einer Voluraanderung begleitet ist,
sie sei noch so klein, kann man den mit Volumvergrosserung verbun-
denen Vorgang benutzen, um eincn Eolben emporzuheben, der soweit
belastet ist, dass er der Tendenz zum Vorgang das Gleichgewicht halt,
nnd auf solcbe Weise durch die Verschiedenheit der Verwandtschaften
dne umkehrbare Arbeit ausfiihren. Ist diese Schwierigkeit der Aus-
fuhrung iiberwunden, so kommt der Beweis auf das friiher gesagte
heraus."
Die letzte Anwendung, die van't Hoff von seiner Formel macht, ist
die auf die elektromotorische Kraft Voltascher Ketten. Auch in diesen
geht ein chemischer Vorgang vor sich, und er muss den gleichen Ge-
setzen unterliegen, wie die anderen, d. h. die elektrisch zu gewinnende
Arbeit muss durch das Verhaltnis zwischen dem Temperaturunterschied
mid der Umwandlungstemperatur gegeben sein. Da die elektrische
Arbeit gemass dem Faradayschen Gesetze fiir aquivalente Mengen der
elektromotorischen Kraft proportional ist, so folgt, dass die elektromo-
P — T
torische Kraft gleichfails dem Ausdrucke q — 5 — proportional sein
moss. Dies steht zwar im Widerspruche mit der damals meist ange-
nommenen Ansicht, dass die elektromotorische Kraft einfach mit q pro-
portional ist, stimmt aber mit den Arbeiten von Braun (II, 1, 556) iiber-
eixL Differenziert man die Gleichung nach T und eliminiert P mittelst
Oitvald, Chemie. n,2. 2.Aufl. 11
162 . I- Geschichte der Yerwandtschaftslehre.
der urspriinglicheD Gleichung, so erhalt man einen Ausdruck, der mit
dem von Gibbs und Helmholtz (II, 1, 557) identisch ist.
28. Speaiflsohe Afflnit&tskoeffizienten. Gleichzeitig mit den 6ben dar-
gestellten Arbeiten, durch die die theoretische Grundlage fur die wissen-
schaftliche Behandlung der Lehre von der chemischen Verwandtschaft gelegt
wurde, begaun von der anderen Seite auch die experimentelle Seite der
Frage sich zu entwickeln. Zur Zeit jener Forschungen war allerdings das
Material, an dem die auf deduktivem Wege erhaltenen Ergebnisse ge-
priift werden konnten, nar sehr diirftig, so dass Gibbs z. B. nur ganz
wenige seiner vielen Formeln unmittelhar mit der Erfahrung hat ver-
gleichen konnen; doch lasst sich immerhin parallel jenen theoretischen
Fortscbritten auch ein ezperimenteller erkennen. Dicser ging zonachst
seinen eigenen Weg, der mit dem der thermodynamisch bearbeiteten
Probleme nur wenig gemeinsames hatte; in der Folge haben aber beide
Wege sich vereinigt, und die unabhangig von einander erhaltenen Ergeb-
nisse dienten einander zur gegenseitigen Aufklarung und Erweiterung.
Die Frage, an welcher zuerst allgemeiue Ergebnisse gewonnen wurden,
war die nach den bei der Salzbildung thatigen Affinitaten, insbesondere
die der „Teilung*^ einer Base zwischen zwei Sauren.
Durch die oben erwahnten Arbeiten J. Thomsons waren fur ver-
schiedene Sauren diese Yerhaltuisse bestimmt worden; die Frage, ob
das Verhaltnis bei zwei gegebenen Sauren von der Basis abhange, be-
antwortete J. Thomsen dahin ^), dass Schwefelsaure und Salzsaure die
Alkalien einerseits, die Basen der Magnesiareihe andererseits zwar in
konstantem Verhaltnis teilen, dass dies Verhaltnis in beiden Gruppen
aber verschieden sei. Indessen wurde bald darauf von Berthelot') be-
merkt, dass bei Thomsens Versuchen sich saure Sulfate gebildet haben»
durch deren Mitwirkung die Erscheinungen eine viel verwickeltere Be-
schafFenheit erlangen, als Thomsen angenommen hatte, und dass dessen
Ergebnisse demnach zweifelhaft sind. Berthelot stellte seinerseits die
mogliche Existenz derartiger konstanter Koef&zienten voUig in Abrede»
indem er sich dabei auf Versuche stiitzte, deren Beschaffeuheit weit
zweifelhafter war, als die der von ihm angegriffenen Thomsenschen Be-
stimmungen.
Nach einer Methode, welche analog der von Thomsen geiibten durch
Messung der Volumanderungen bei chemischen Reaktionen die Tei-
lungsverhaltnisse zu bestimmen gestattet, hat Ostwald^) im Jahre 1877
') Pogg. 138, 497. 1869.
«) A. ch. ph. (4) 30, 516. 1873.
»; J. pr. Ch. (2) 16, 385. 1877.
Neaere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1^86. 163
die TeiluDgsverhaltnisse von sechs Basen gegen Salzsaure, Salpetersaure
and Scfawefelsaure antersucht, und sie bei den ersteu beiden, wo Neben-
wirkuDgen ausgeschlossen sind, unabhaogig sowohl von der Natur der
Basis, wie von der Temperatur gefunden, wahrend sich bei der Schwefel-
saare eine Abhangigkeit in dem Siiine zeigte, dass diese urn so starker
erschien, je geringer die Menge des gebildeteu saureii Sulfats war.
Er vermatete deshalb, dass die Wecbselwirkung zwischeu Sauren
und Basen durch je zwei Koeffizienten bestimmt werde, deren einer Yon
dea SaureD, der andere von der Basis abhangt. Das Mass ihrer gegen-
seitigen Wirkung oder der chemiscben Verwandtscbaft zwiscben Sauren
und Basen musste dann durch das Produkt dieser beiden Koeffizienten
gegeben sein. Diese Verallgemeinerung, welche sich zunachst nur auf
wcnige Versucbc stutzte, fand in den spateren Arbeiten wiederholte und
manuigfache Bestatigung.
Durch dies Ergebnis werden die widerstreitenden Lehren voU Berg-
mann and Berthollet in eigentUmlicber Weise vereinigt. Berthollet hat
Recht insofern, als die Wirkung der Menge eine unleugbare Thatsache
ist; er bat Unrecht insofern, als die chemische Affinitat zwiscben Sauren
uud Basen nicht, wie er annahm, dem Aquivalentgewicht umgekehrt
proportional ist. Andererseits bat Bergmann Unrecht mit der Annabme,
dass der Widerstreit der Affinitaten stets zu Reaktionen fiihrt, die voll-
standig in einem Sinne verlaufen; seiner Anscbauung liegt aber die
richtige Idee zu Grunde, dass die Affinitatseigenschaften den Stoffen
ebenso konstant und charakteristisch anhaften, wie alle anderen Eigeu-
schaften.
Die Affinitatskoeffizienten der Sauren und Basen sind der nume-
rische Ausdruck der allgemeinen Erfahrungy nach welcher diese Stofife
als ^Starke** und y^chwache" charakterisiert werden. Koblensaure ist
€iDe schwache Saure, Kali eine starke Basis, nicht nur einer oder einigen
Basen, bez. Sauren gegeniiber, sender n alien, die es iiberhaupt giebt.
Eine schwache Saure, wie Koblensaure, wird von einer starken Basis,
wie Kali, so fest gebunden, dass sie aucb bei hochster Temperatur sich
nicht abloet; eine schwachere Basis, wie Magnesia, verliert sie in der
Gluhhitze, und mit einer so schwachen Basis, wie Eisenoxyd, vereinigt
sich die Koblensaure iiberhaupt nicht mehr. Ahnliche Verhaltnisse treten
bei den verscbiedenen Verbinduugen schwacher Basen ein. Uberall sieht
man den Zusammenhalt der Salze von den beiden Faktoren bedingt:
haben beide hobe Werte, so liegt ein sehr bestandiges Salz vor; ist der
eine Faktor gross und der andere klein, so kann noch unter Umstandon
«in ziemlich hoher Wert des Produkts, entsprechend einem ziemlich
11*
164 I- Geschichte der Yerwandtschaftslehre.
bestandigeh Salz entstehen; sind aber beide klein, so ist das Salz unbe-
standig, oder es kann unter gewohnlichen Verhaltnissen uberhaupt nicht
existieren.
Die jedem Chemiker gelaufigen Erfahrungen stehen also qualitativ
mil dem Satze, dass die Yerwandtschaft zwischen Sauren und Basen
durch das Produkt zweier Koeffizienten gemessen wird, von denen einer
nur von der Saure, der andere nur von der Basis abhangig ist, in Uber-
einstimn)ung. Dass auch qaantitativ diese Cbereinstimmung besteht, hat
sich, wie unten gezeigt werden wird, gleichfalls in der Art ergeben,
dass diese Koeffizienten massgebend sind fiir alle Wirkungen»
welche die Sauren oder Basen als solche ausiiben.
29. Methoden. Das urspriingliche Verfahren, die Verteilung einer
Base zwischen zwei konkurrierenden Sauren zu ermitteln, welches Thomsen
ausgebildet hatte, ist schwierig auszufiihren und erfordert vie! Substanz.
Die „volumchemische" Methode, welche Ostwald darauf anwandte, ist
sehr viel leichter; sie setzt nur solche Hilfsmittel voraus, welche iiberall
vorhanden sind, da es sich nur um die Bestimmung spezifischer 6e-
wichte (bez. Volume) von homogenen Fliissigkeiten handelt, und ge-
stattet die Versuche mit funfzigmal geringeren Stoffmengen auszufiihren,
wabrend die Resultate an Genauigkeit den auf thermochemischem Wege
erhaltenen iiberlegen sind. Eine dritte Methode, welche auf die Bestim-
mung der Brechungskoeffizienten gegriindet wurde^), gestattet die Stoff-
mengen noch weiter (auf einige Centigramme) einzuschranken, steht aber
in Bezug auf Genauigkeit der volumchemischen nach.
Bei all diesen Methoden handelt es sich darum, die Anordnung der
Stoffe in einer homogenen Losung zu ermitteln. Fragt man aber nach
den Affinitatsgrossen der Sauren, so braucht man sich nicht auf Losungen
zu beschranken, sondern man kann von der Wechselwirkung zwischen
loslichen und unloslichen Stoflfen Gebrauch machen. Die Anwendung
derartiger chemischer Methoden der Affinitatsmessung hat Ostwald im
Jahre 1879 auf Grundlage der Guldberg-Waageschen Theorie der Massen-
wirkung auseinandergesetzt*), und hat daselbst, wie in einer Reihe spa-
terer Abhandlungen gezeigt, dass die Loslichkeit solcher Stoffe, die sich
wie Schwefelzink, Calciumoxalat, Bariumchromat u. s. w. nicht in Wasser,
wohl aber in verdiinnten Sauren losen, ein Mass fiir die Affinitatskoef-
fizieuten dieser Sauren abgiebt. Die Koeffizienten zeigten sich numerisch
iibereinstimmend mit den aus Teilungsversuchen in homogenen Losungen
abgeleiteten.
M Ostwald, J. pr. Ch. (2) 18, 342. 1878.
*) J. pr. Ch. (2) 19, 468. 1879.
Neaere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1886. 165
30. Bynamisohe Afflnitatsmessung. Scbon friihe (vgl. Malaguti,
S. 57) ist das chemische Gleichgewicht als das £rgebni8 entgegengesetzt
gleicher Reaktionsgeschwindigkeiten aufgefasst worden. Daraus folgt, dass
zwischen den Geschwindigkeiten einzelaer Reaktionen und den Verhalt-
Dtssen, bei welcben sie zum Gleichgewicht kommen, bestimmte Beziehungeii
bestehen miissen. Gewohnlich ist allerdings der experimentelle Vergleich
nicht durchzufiihren; man kann z. B. wohl das Verhaltnis bestimmen^
in welchem sich Natron zwischen Schwefelsaure und Salzsaure teilt,
man kann aber nicht die Geschwindigkeiten der einzelnen Neutrali-
sationsvorgange messen, weil sie zu gross sind.
Auf Grundlage des Satzes, dass die relatiyen Affinitatskoeffizienten
der Sauren oder Basen unabhangig von der besonderen Natur
der Stoffe sind, denen gegeniiber sie sich bethatigen, kann man in-
dessen doch den erwahnten Vergleich ezperimentell durchfiihren. Dazu
braucht man eben nur die Geschwindigkeit solcher Reaktionen zu messen,
welche unter dem Einflusse der fraglichen Stoffe, Sauren oder Basen,
stattfinden, und welche so langsam verlaufen, dass sie der Messung zu-
^nglich sind. Ist der erwahnte Satz richtig, so miissen die Geschwindig-
keiten verschiedener Vorgange, welche unter dem Einfluss derselben
wirkenden Stoffe verlaufen, unter sich proportional sein.
Auf Grand dieser Uberlegungen hat Ostwald ^) 1883 die Ge-
schwindigkeit einer unter dem Einfluss der Sauren verlaufenden Reaktion,
der Umwandlung von Acetamid in essigsaures Ammoniak, unter verschie-
denen Umstanden gemessen. Die Guldberg-Waagesche Theorie giebt
unter Zuhilfenahme des Satzes von den spezifischen Affinitatkoeffizienten
die Beziehung, dass die Reaktionsgeschwindigkeiten unter dem Einfluss
verschiedener Sauren den Quadraten der Teilungsverhaltnisse propor-
tional sein miissen und die Erfahrung bestatigte in erster An-
naherung diesen Schluss^).
In der Folge hat Ostwald zeigen konnen, dass die spezifischen
Konstanten der Sauren sich bei vielen anderen Vorgangen, welche
anter deren Einflusse verlaufen, sich mit gleichen relativen Werten gel-
tend machen. Und zwar gelten sie nicht nur fiir die Bildung und
Zerl^ong von Salzen, sondern auch ganz andere Vorgange, wie die
Katalyse des Methylacetats, die Inversion des Rohrzuckers und der-
gleichen zeigen sich von denselben Koeffizienten abhangig. Fiir die
Affinitatswirkungen der verschiedenen Stoffe existiert somit ebenso ein
spezifischer Wirkungsfaktor, wie fiir die Verbindungsverhaltnisse die
• ') J. pr. Ch. (2) 27, 1. 1883.
*) AUgemein ist diese Beziehung uicht gUltig, wie sp&ter Arrhenius gezeigt hat.
166 I- Geschichte der Verwandtschaftslehre.
spezifischen Verbindungs- oder Atomgewichte existieren, doch mit dem
Unterschiede, dass er noch von anderen Umstanden, nameutlich der
Temperatur und der Konzontration abhaugig ist.
Nach den verschiedenen hier angedeuteten Methoden hat Ostwald fiir
eine Keihe von etwa 30 oder 40 Sauren die spezifischen Wirkungs- odor
Affinitatskoeffizienten bestimmt. Die Zahlen liessen bestimmte Beziehungen
zu der Zusammensetzung und Konstitution der Saaren erkennen, und
gewahrten dadurch ein weiteres Interesse. Eine ganz unerwartete wei-
tere Beziebung trat dann um jene Zeit auf eincm Gebiete bervor, aii
das man bei den bisherigen Versuchen der Affinitatsmessung kaum ge-
dacht batte, auf dem der eloktrischen Leitfahigkeit. Wir miisscu
uns daber zu der inzwiscben eingetreteuen Entwicklung dieser Angelegen-
beit wenden.
31. Die neueren elektroohemiaohen Theorien. Wabrend so einer-
seits von der tbeoretiscb-tbermodynamiscben, andererseits von der rein
experimentellen Seite ber an dem Problem der cbemiscben Verwandt-
scbaft gearbeitet wurde, gelangte ein dritter Ausgangspunkt zur Geltung,
der auf den ersten Blick als ein sebr alter erscbien, der elektro-
cbemiscbe. Doch darf man nicht glauben, dass es sich um eine Fort-
setzung oder Entwicklung der elektrochemiscben Ansicbten von Davy
oder Berzelius gebandelt batte. Es ist schon an friiherer Stelle hervor-
gehoben worden, dass deren Bedeutung, insbesondere in der allein zur
Entwicklung gelangten Form von Berzelius, ausschliesslich formaler
Natur gewesen ist; sie dienten als Anbaltspunkt der Systematik der
cbemiscben Verbindungen, und sind aufgegeben worden, als sie dicsem
Zwccke nicht mebr geniigon konnten. Auch enthielten sie keinen Ge-
dauken, der fiir eine quantitative Verwandtschaftslehre sich verwendbar
erwiesen batte. So bat denu auch in der That die heutige elektro-
chemische Theorie der Salze und salzabnlicben Verbindungen ausser
der Thatsache des Dualismus nichts von jenen alten Ansicbten heriiber-
genommen; vielmehr stebt sie in violen und entscheidenden Punkten in
einem ausgesprocbenen Gegensatze zu ibnen, und ein grosser Teil des
Widerstandes, den sie bei ibrer Entwicklung erfahren batte, riihrt aus
diesem Gegensatze zu der zwar formell verlassenen, thatsachlich abcr
in vielen Punkten noch stillschweigend angenommenen Berzelianischcu
Theorie her.
Der erste, welcher diesen Gegensatz gesehen und den Ausspruch
gewagt bat, dass die alten Ansicbten in schreiendem Gegensatze zu den
Thatsachen stehen, ist Wilhelm Hittorf*) gewesen. Bei Gelegenheit
^• Fogg. 106, 337. 1859.
Neaere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1886. 167
seiner gruodlegenden Untersuchungen iiber die Wanderung der lonen
(II, 1, 542) aussert er sich folgendermassen iiber diesen Gegensatz:
nUnter den Elektroljten besitzen diejenigen, welche durch eine im
chemischen Sinne schwache Verwandtschaft vereinigt sind, keineswegs
das bessere Leitangsvermogen. So lange, als die galvanische Zersetzung
selbsty ist ja der grosse Widerstand, den das reine Wasser dem elek-
trischen Strome bietet, aufgefallen. . . . Zu den bestleitenden Salzen ge-
horen femer die des Ealiums, Natriums, . . . wahrend die Verbindungen
des Quecksilbers einen nicht viel geringeren Widerstand, als das
reine Wasser besitzen. Die Chemie betrachtet aber die Bestandteile
des Chlorkaliums als durch eine der grossten Verwandtschaftskrafte
Tereinigt, Quecksilberchlorid wird Yon ihr zu den schwacheren Verbin-
dungen gezahlf
Hittorf liess es nicht bei dem Nachweis des vorhandenen Wider-
spruches bewenden, sondern zeigte auch die Richtung, nach welcher
sich eine elektrochemische Verwandtschaftslehre ausbilden liess. £r
wies daranf bin, dass die elektrische Leitfahigkeit, d. h. im Sinne der
damaligen Ansichten, die Leichtigkeit, mit der der Strom die Stoffe
spaltety am sich der Bruchteile zu seiner Bewegung zu bedienen, parallel
geht mit der Leichtigkeit des gegenseitigen chemischen Aus-
tausches eben dieser Bruchteile. „Nur bei denjenigen Verbin-
dungen vermag die Elektrizitat den Austausch unter den Molekiilen
hervorzurufen, welche denselben auch durch die gewohnlichon Erschei-
nuDgen der Wahlverwandtschaft gegen andere, ahnlich konstituierte
Korper zeigen. Wir vermissen namlich diesen Austausch bei denjenigen
zosammengesetzten Stoffen, welche den Strom isoiiren, entweder Yoll-
stiLndig* oder sehen ihn nur unter besonderen Bedingungen sich ein-
stellen/' Die Summe dieser Uberlegungen fasste Hittorf in den Satz
ZQsammen: ^AUe Elektrolyte sind Salze im Sinne der neueren Chemie.
Wahrend der Elektrolyse findet der Austausch zwischen denselben Be-
standteilen ihrer Molekiile statt, wie bei der doppelten Wahlvcrwandt*
achaft*'
Das praktische Ergebnis dieser Betrachtungen inbezug auf unsero
Frage lasst sich so aussprechen, dass die Bestimmung der elektrischen
Leitfahigkeit ein unmittelbares Mass fiir die chemische Verwandtschaft,
die zwischen den Bestandteilen der Salze besteht, geben muss. In
dieser Form hat Hittorf seinen Gedanken nicht ausgesprochen, wohl zu-
nachst deshalb, weil es zu jener Zeit kein Hilfsmittel gab, die erhal-
tenen Zahlen mittelst irgend eines anderen,. unabhangigen Verfahrens
ZQ prufen. Auch ist der Gedanke seinerzeit von niemandem aufgcnommcu
168 I- Geschichte der Yerwandtschaftslehre.
worden. Hittorf hatte so grosse Schwierigkeiten gefunden, die Zeit-
genossen von der Richtigkeit seiner experimeotellen Bestimmungen
zu iiberzeugen, dass ein £influ8s so weitgehender theoretdscher Ab-
weichungen vom Ublichen ganz ausge^chlossen war. Hittorf schliesst
seine Darlegungen mit den Worten:
jjn meinen elektrolytischen Mitteilungen babe icb mir die Freiheit
genommen, die Theorien von Forschem zu erortem, und teilweise zu
bekampfen, deren hohe Verdienste um die Wissenschaft icb nicht weniger,
als die eifrigsten Anbanger derselben bewundere. Icb wiirde mir diese
Opposition nicbt erlaubt, und meine individuelle Auffassung der ihrigen
uiitergeordnet baben, wenn nicbt nackte Tbatsacben damit in Wider-
sprucb gerieten, welcbe nacb einem sebr einfacben Verfabren, in mog-
licbst einfacben Apparaten durcb analytiscbe Bestimmungen gewonnen
warden, die baufig auf ein blosses Abdampfen und Wagen binauslaufen.
Das Bedenken, dass dennocb diese Tbatsacben unricbtig sein konnen,
sucbte icb durcb die Erwagung zuriickzudrangen, dass der Febler als-
ilunn bald und leicbt von dem unbefangen Priifenden gefunden werden
wird, und nur mir, nicbt der Wissenscbaft Nacbteil bringen kann.
Anders verbalt es sicb mit den Tbeorien der Autoritaten. So segens-
reicb sie wirken, wenn sie begriindet, so verde'rblich hemmen
sie den Fortscbritt oft Jabrbunderte lang, wenn sie unricbtig
waren."
32. Die elektroohemisohe Theorie von Arrhenins. Als erste
Arbeit eines nocb voUig unbekannten Forscbers, Svante Arrbenius aus
Upsala^), erschien im Jabre 1884 eine Abbandlung, welcber von den
meisten beteiligten Forscbern ein abniicber Empfang bereitet wurde,
wie denen Ton Hittorf: Nicbtbeacbtung oder Ablehnung. Nur ganz
wenige ausserten sicb zustimmend, und Ostwalds unmittelbar nacb dem
Bekanntwerden jener Arbeit ausgesprocbenes Urteil, sie gebore zu dem
Bedeutendsten, was in unserer Zeit auf dem Gebiete der Yerwandtschafts-
lehre erscbienen sei^), fand keinerlei Zustimmung. Einigermassen mag
man diesen Standpunkt dadurcb zu erklaren versucben, dass den Ideen
wie sie in jener ersten Arbeit vorgetragen wurden, nocb einige Uii-
zulanglicbkeiten anbafteten; insbesondere fehlte dort der wicbtigste
Bestandteil der spateren Form der Tbeorie: die Idee der „freien
Ion en". Urteilt man indessen nacb dem lebbaften Widerspruche, den
diese Idee bei ibrem spateren Auftreten zu erfabren hatte, so lasst sich
>) Blhang t. Sy. Vet.-Ak. Handl. 8, No. 14. 1884.
*) Journ. f. prakt. Ghemie, 30, 39. 1884.
Neaere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1886. 169
nor schliessen, das8 die erste Abhandlung von Arrbenius noch viel ab-
weisender bebandelt worden ware, wenn sie auch diesen revolutionaren
Gedaoken enthalten hatte.
Wie in der Darstellung dee elektrischen Teils von Arrbenius Theorie
(II, ], 547) bereits bervorgehoben wurde, war der Grundgedanke der,
dass nicbt, wie bis dahin stillschweigend angenommen, die gesamte Menge
eines gelosten Elektrolyts sich an der Leitung beteiligt, sondem nur ein
bestimmter Bruchteil, der von der Natur des Elektroljts, der Tempe-
ratur und der Verdilnnung abhangt, und sicb insbesondere mit steigen-
der Verdiinnung der Einbeit nahert. Diesen in Bezug auf die Elektri-
zitatsleitung aktiven Anteil sab er auch als den in Bezug auf chemiscbe
fieaktionen aktiven an, und obwobl er zuerst in der Deutung des
Unterschieds zwiscben aktiven und nicbtaktiven Elektrolyten in der Irre
ging; 80 hat er doch aus dieser Beziehung eine ganze Theorie der che-
miscben Gleichgewichte zwiscben Elektrolyten abzuleiten gewusst, welcbe
in ihren wesentlicfaen Bestandteilen voUkommen ricbtig war.
Arrbenius beginnt seine Darlegungen mit dem Nachweise des Zu-
^mmenbanges der Gesetze von Ricbter, Faraday und Hittorf. Auf Grund
^es Gesetzes von der „Erbaltung der Elektrizitat", d. h. des Gesetzes,
dass in jedem nach aussen unelektrischen Gebilde die Summe der posi-
tiven und negativen Elektrizitatsmengen gleich gross sein muss, schliesst
er, dass zunachst die lonen eines bestimmten Elektrolyten mit gleich
groesen entgegengesetzten Elektrizitatsmengen geladen sein miissen, da
sie aus dem unelektrischen Elektrolyten entsteben. Da femer, wenn sich
zwei Elektrolyte oder Salze wecbselseitig mit einander umsetzen, keine
freie Elektrizitat entstebt, so miissen auch die chemisch aquivalenten
Mengen der verschiedenen Kationen und Anionen gleiche Elektrizitats-
mengen enthalten, und es sind umgekehrt die durch gleicbe Elektrizi-
tatsmengen definierten lonenmengen chemisch aquivalent. Daraus geht
scUiesslich hervor, dass jeder Stoff, der durch doppelte Zersetzung so
^ einen Elektrolyten wirken kann, dass dessen lonen getrennt werden,
Auch selbst ein Elektrolyt sein muss, ebenso wie die Produkte dieser
Doppelzersetzung. Insbesondere miissen demnach Wasser, die Alkohole,
Aldehyde, Phenole und ahnlicbe Stoffe zu den Elektrolyten gerechnet
w^en^ and die ihnen zukommende geringe Leitfahigkeit riihrt nicht
allein von Verunreinigungen her.
33. Bestimmmig des Aktivit&tskoefQzienten. Um nun zu einer
Messnng des aktiven Teils einer Saure oder Base, bez. eines Salzes zu
gelangen, macht Arrbenius die Annahme, die molekularc Leitfahigkeit
des aktiven Teils einer Saure sei konstant und unabbangig von der
170 I* Geschichte der Verwandtschaftslehre.
Natur der Saure. Das heisst, die thatsacblich zu beobachtende Ver-
anderlichkeit in der molekularen Leitfahigkeit riihrt nur von der Ande-
rung der Menge des aktiven Anteilsber.
Der Beweis, welcheii Arrhenius hierfur giebt, beruht auf dem Ge-
setze der unabbangigen Wanderung der lonen von Kohlrausch (II, 1,546).
Nach diesem ist die Leitfahigkeit der Saure die Summe Yon der Wan-
derungsgeschwindigkeit des Wasserstoffs und des Anions; da aber die
Salze mit gleichem Eation (annabernd) oine gleicbe Leitfabigkeit baben^
so miissen auch die Sauren, gleicbe Aktivitat voransgesetzt, gleicbe Leit-
fabigkeit besitzen. Wie wir jetzt wissen, haudelt es sieb bier urn eiue
blosse Annaberung, die aber im Falle der Sauren allerdings der Wahr-
beit nabe geuug kommt, um als Unterlage einer zulanglicben Rechnung
zu dienen.
Aus dem obigen Satze folgt nun unmittelbar, dass die elektriscbe
Leitfabigkeit einer Saure das Mass ibrer cbemiscben Affi-
nitat (Aviditat nach Tbomsen) sein muss. Denn je geringer der
aktive Anteil einer Saure ist, welcbe man auf das Salz einer andereo
einwirken lasst^), um so weniger kann sie mit den lonen des Salzes in
Wechselwirkung treten, und um so weniger ibres eigenen Salzes kann si&
bilden. Dies ist aber die Definition einer scbwacben Saure.
Ganz dasselbe gilt naturgemass fiir die Basen.
Aus den nicbt eben vielen damals vorbandenen Messungeu der elek-
triscben Leitfabigkeit solcher Stoffe stellt nun Arrhenius eine Tabelle
zusammei), welche folgendes ergiebt. Starke Sauren mit grosster Leit-
fahigkeit sind Chlor-, Brom- und Jodwasserstofifsaure, Salpeter-, Schwefel-,.
Oxal- und Phospborsaure; die letzteren drei sind zunebmend schwacher»
wahrend die vier ersten merklicb gleicb sind. Schwache Sauren sind
dagegen Wein-, Essig- und Borsaure; in letzter Linie kommt Wasser.
Abnlicb ergeben sich Kali, Natron, Lithion, Baryt und Kalk als starke
Basen, Ammoniak als eine schwache. Diese aus der Leitfabigkeit ge-
zogene Einteilung stimmt auf das beste mit den Ergebnissen der Beob-
achtungen yon Tbomsen, Ostwald und Berthelot, nach denen zwischen
Sauren von annabernd gleicher Starke Teilung, zwischen starken und
scbwacben dagegen fast voUstaudige Verdrangung beobacbtet worden w^ir.
34. Theorie des Gleichgewiohts einer elektrolytisohen LdsiUDig'.
Um nun zu einem Formelausdruck fiir diese Verhaltnisse zu gelangen,
entwickelt Arrhenius den Begrifif des Kreisstromes, ^welcher dadurch zu
Stande kommt, dass sich mehrere Molekeln der Elektrolyte so anordnen^
^) Arrhenius steht hier noch auf dem Standpunkte, dass ein Salz das Produkt
der Yerbindung Yon S&ure und Base ist.
Neaere Geschichte der Affinit&tBlehre bis 1886. 171
dflss immer ein Kation an ein Anion grenzt, worauf sich die bisher
Terbundenen Molekelu trennen und die benacbbarten lonen derselben
sich verbindeu. An solchen Kroisstromeu konneu nur die aktiven Mo-
lekdn teilnebmen; da ferner nach dem Gesetz von Kohlrausch die 6e-
schwindigkeit der Bewegung der lonen uuabhangig Yon der Verbindung
ist, aus der sie sicb bilden, so wird die scbliessliche Anorduung der ver-
schiedeneu lonen in der Losung von der urspriinglicben unabhangig
and durch die verschiedenen Aktivitatskoeffizienten bestimmt sein. Die
Ableitung der entsprechenden Formel gebe icb mit des Vcrfassers
eigenen Worten wieder, da sie nicht nur charakteristiscb ist, sondern
auch spater in ganz ahnlicher Weise nach der Ausbildung der Tbeorie
der freien lonen benutzt wird*
„Die lonen der aktiven Molekelen kreisen um einander. Betracbtet
man daber die Molekel AB, deren lonen A und B sind, so wird sich
das Ion A mit einer gewissen Gesdiwindigkeit in der Nabe des Ions B
bewegen, bis A in die Nabe eines auderen Anions B' gelangt, worauf
es B' folgt Die Molekel AB existiert so lange, bis dies gescbiebt. Da
noD nach dem Vorhergegangeneu die Geschwindigkeit aller aktiven Teile
aller Salze die gleicbe ist, d. h. die Geschwindigkeit, mit der sich die
lonen relativ zu einander bewegen, von der Natur des Salzes unab-
bangig und nur von der Stromstarke abbangig ist, so ist es ziemlicb
natjirlich, anzunebmen, dass diese Geschwindigkeit fur alle Salze kon-
staat ist, aucb wenn die Stromstarke Null ist. Nebmen wir weiter an,
dass die mittlere Entfemung, in welcher sich A gegen B' befinden muss,
damit A das B verlasst und sicb mit B' verbindet, fiir alle B' die gleicbe,
onabhangig von deren Natur ist. Fiir diesen Fall hat Clausius erwiesen,
daas der mittlere Weg, den das Ion A zwischen den Augenblicken zu-
rocklegt, in denen es den lonen B und B' begegnet, gleicb ist
V
1 = K.-,
n
wo K eine Koustante und -^ die Zahl der in der Volumeinheit ent-
lialteoen Anionen ist AUerdings hat Clausius diesen Beweis fiir den
Fall gegeben, dass die Wege geradlinig sind, indessen ist den Voraus-
^ungen nach die Beweisfiihrung aucb giiltig fiir den Fall gebrocbener
Oder beliebig gestalteter Wege. Nehmen wir zu mehrerer Einfachheit
ui, dass die Anionen alle uubeweglich seien. Nach dem voraugegaugenen
wird die mittlere Existenzdauer der Molekel AB sein
t=— = —
v nv '
L
172 I* Geschichte der Verwandtschaftslehre.
wo V die mittlere Geschwindigkeit des Anions A ist Somit wird in
der Zeiteinheit von m Molekeln AB ein Bruchteil
m m . n . Y ^, m . n
t K.V
IT
zerstort. Man kann r=zr = K' setzen, in Riicksicht darauf, dass man
nach dem Vorangegangenen v far alle Saize konstant setzen darf.
„Nuu sind thatsacblich auch die Anionen mit einer gewissen Be-
wegung begabt. Da aber die Geschwindigkeit fiir alle Anionen die
gleichc ist, so hat dies keinen anderen Einfluss, als dass die Eonstante
K' geandert wird, doch in solcher Weise, dass sie fiir alle Salze den
gleichen Wert behalt.
„Auf die gleiche Weise beweist man, dass wenn p die Zahl der
Eationen A and q die der Anionen B ist, die Zahl der in der Zeitein-
heit gebildeten Molekeln gleich
V
ist Daher ist die Zahl der Molekeln AB, welche nach der £inheit der
Zeit mehr da sein werden, oder die Reaktionsgeschwindigkeit, mit wel-
cher AB gebildet wird, gleich
E'
-^(pq — mn) (1)
„Haben wir nun vier Elektrolyte AB, AD, CB, CD, welche mit
einander vermischt sind, und ist die Zahl der in einem bestimmten
Augenblicke existierenden Molekeln derselben m, q, p, n, nnd deren
Aktivitatskoeffizienten a, /3, /, d, so ist nach dem Gesagten die Reak-
tionsgeschwindigkeit:
E'
^ {(ma + qj9) (ma + py) — ma (ma + q^S + p/ + nd)} , (2)
welche Formel in die folgende iibergeht
E'
-^(qi9.p7 — ma.nd). (3)
„Der Zustand des Gleichgewichts wird erreicht sein, wenn die Re-
aktionsgeschwindigkeit Null ist. Setzt man daher m = 1 , und sei die
Menge x des Stoffes AB umgewandelt, so enthalt der schliessliche
Gleichgewichtszustand (1 — x), (n — x), (q + x) und (p + x) Aquiva-
lente der Stoflfe AB, CD, AD und CD. Die Gleichung f^r das Gleich-
gewicht wird demnach sein
(l~x)(n-x)a(f=(p + x)(q + x)^7,
Neaere Geschichte der Affinit&telehre bis 1886. 173
nnd wenn p und q gleich Null sind, welcher Fall oft vorkommt,
(1— x)(n— x)ad = x«/97."
Zam Verstandnis der letzten Entwicklungen sei bemerkt, dass ent-
sprechend der Formel (1) in der Fonnel (2) zunachst das Produkt aus
der Gesamtmenge der Kationen A mit der Gesamtmenge der ADionen
B gebildet ist, welchem Produkte die Bildungsgeschwindigkeit der Ver-
bindung AB proportional ist; im zweiten Gliede steht das Produkt der
Gesamtmenge der Kationen A mit der Gesamtmenge samtlicher Anionen
aller Art, welchem Produkte die Zersetzungsgeschwindigkeit der Verbin-
doDg A proportional gefunden wurde; dem Unterscbiede beider Grossen
ist die wirkliche Bildungsgeschwindigkeit proportional, und wird die
Grosse Null, so ist Gleichgewicht vorhaudcn. Auch mag bemerkt werden,
dass man ganz entsprechende Gleichungen fiir alle anderen lonenarten
bSden kann; sie geben aber beim Ausrechnen alle das gleiche Ergebnis,
wis diese erste Gleichuog.
Im iibiigeo sieht man, wie hypothetisch die Grundlage yod Arrhe-
iiins erstem Versuch noch ist Die Anschauungen der kinetischen Hy-
pothese miissen dazu dienen, um den Ansatz zu gewinnen, und die ge-
nnchten Voraussetzungen, auf deren annahernde Beschaffenheit Arrhenius
selbst hinweist, sind nicht von der Art, dass sie grosses Zutrauen in die
Ergebnisse einflossen konnen. In der That ist insbesondere die An-
nahme yon der gleichen Bewegungsgeschwindigkeit aJler lonen, wie wir
jetzt wissen, ganz unstatthaft. Ob sich auch unter Aufgabe dieser
Voraussetzung die Formel errechnen lasst, oder welche andere an ihre
Stelle treten kann, hat gegenwartig wenig Interesse. Denn es hat sioh
in immer wiederholten Fallen erwiesen, wie triigerisch die Grundlage
der kinetischen Hjpothese fiir alle diese Fragen ist; schon gegen die
Hberlegungen von van't Hoff sind Einwande gerade aus diesem selben
Gebiete geltend gemacht worden, denen schliesslich nur durch den
Hinweis begegnet werden konnte, dass die experimentellen Thatsachen,
dnrch die die Formeln bestatigt wurden, von alien Hypothesen iiber die
ninnere^ Natur der Vorgange unabhangig sind. Die gleiche Wendung
ist auch in dieser Angelegenheit notwendig ge worden, und da die
Formel yon Arrhenius, die ganz richtig ist, sich einwandsfrei auf ener-
getifichem Wege herleiten lasst, so kommt wenig darauf an, ob sie sich
mit der kinetischen Hypothese im Einklange oder im Widersprucho
befindet.
Was das Verhaltnis dieser Gleichung zu der yon Guldberg und
^'aage (S. 105) anlangt, so sieht man, dass sie an Stelle der yon diesen
I
L
174 I* Geschichte der Yerwandtscliaftslehre.
eingefUhrten einzelnen Eoeffizienten fiir dio Geschwindigkeit der direkten
und umgekehrten Reaktion beiderseits das Produkt je zweier Koeffi-
zienten, der Aktivitatskoeffizienten der beiden beteiligten Stoffe, enthaJt.
Diese Erweiterung entspricht der von Ostwald empirisch gefandenea
Thatsache, dass die Guldberg-Waageschen Koeffizienten sich als der-
artige Produkte darstellen (S. 168), gebt aber weiter als diese, indem
sie diese mit der elektrischen Leitfahigkeit in Zusammenhang bringt.
35. Disknssion der Formel. Aus der Formel werden nan viele
einzelne Schliisse gezogeu. Zunachst ergiebt sich fiir die Wechsel-
wirkung einer Sanre rait einer Basis, dass beim Gleichgewicht
Sanre + Basis ^ Salz + Wasser
die Koeffizienten der ersten ein Produkt geben, welches einige Millionen
mal grosser ist, als das andere Produkt; demgemass muss beim schliesa-
lichen Gleichgewicht die Menge der beiden ersten in demselben Ver-
haltnisse kleiner sein, d. h. es bildet sich fast nur Salz und Wasser,
wahrend Saure und Basis nur in verschwindend geringen Mengen iibrig
bleiben. Sind dagegen die Aktivitatskoeffizienten der Saure oder der
Basis, oder gar beide klein, so werden beide Produkte Tergleichbar,
und es bleiben entsprechende Mengen der ersten unverbunden: es findet
mit andereu Worten Hydrolyse statt. Ist endlich der Aktivitatskoeffi-
zient eines der beiden Stoffe kleiner als der des Wassers, wie z. B. dor
des Alkohols als Saure (in Riicksicht auf die Bildung der Metallalko*
holate), so bildet sich das entsprechende salzartige Produkt in wasse-
riger Losung nur in geringer Menge.
^Das alien diesen Fallen gemeinsame ist, dass man das Wasser als
Saure (oder auch als Base) betrachten muss, welche an dem Gleich-
gewicht der anderen an dem Gleichgewicht beteiligten Sauren (oder
Basen) mitwirkt/^
Weitere Satze sind, dass die Zersetzung in Saure und Base zu-
nachst annahernd proportional der Quadratwurzel aus der Menge des
Losungswassers zunehmen wird (ein Satz, der eine gewisse E^nschraD-
kung zu erfahren bat), und dass bei unendlicher Verdiinnung die gc-
samte Menge des Salzes in Saure und Base gespalten wird.
Von der Betrachtung des einfachsten Falles geht Arrhenius alsbald
zu der Erorterung des allgemeinsten iiber. Seine Rechnungen soUen
hier nicht wiedergegeben werden, wohl aber das Ergebnis derselben:
„Wenn sich zwischen einer beliebigen Anzahl von Elektrolyten das
Gleichgewicht hergestellt hat, so ist das Produkt dec aktiven Massen
von zwei konjugierten Elektrolyten gleich dem Produkt der aktiven
Massen ihrer entgegengesetzten Elektrolyte, als wonn die anderen Elek-
Neuere Geschichte der Affinit&tslebre bis 1886. 175
tTolyten nicht vorhanden waren.'^ Hierzu ist zu erwahnen, class konju-
gierte Elektrolyto solche sind, welche beiderseits verschiedene Anioneu
und Kationen enthalten; die beiden anderen Elektrolyte, die durch den
Austaasch ihrer lonen entstehen konnen, heissen die entgegengesetzten.
Die aktive Masse ist das Produkt der gesamten vorbandenen Menge des
Elektrolytes mit dessen Aktivitatskoeffizienten. Als Folgesatz ergiebt
sich, dass die StofiPe, die die kleinsten Aktivitatskoeffizienten besitzen,
sicb in grosster Menge auf Kosten der anderen bilden werden.
Daraus folgt unter anderem, dass die aktivsten Sauren bei Gegen-
wart eines Salzes einer weniger aktiven Saure verschwinden miissen, indem
sicb die letztere auf ihre Kosten bildet, d. b. die aktiven Sauren zer-
setzen die Salze der weniger aktiven in einem Yerhaltnis, welcbes von
deren EoefBzienten und Menge abhangt. Da andererseits die Salze alle
ziemlicb gleiche Koeffizienten besitzen, so werden sich alle moglichen
Salze in annahernd glcicher Menge bilden, wenn Neutralsalze mitein-
ander znr Wechselwirkung gebracht werden. Nur in dem Falle, dass
gleichzeitig das Salz einer scbwachen Saure und das einer schwachen
Base zugegen ist, werden sich durch die Wirkung des Wassers mess-
bare Mengen freier Saure und Base bilden, so dass der Anteil des Salzes
aus beiden vermehrt erscheint, indem jene als das hydrolysierte Salz
der beiden schwachen Bestandteile angesehen werden kann.
Wenn endlich einer der Elektrolyte sich unloslich ausscheidet, so
treten seine Bestandteile aus dem Gleichgewicht aus, und es muss sich
eine neue Menge von ihm bilden, bis die Reaktion zu Ende ist. Daher
bildet sich, entsprechend den von BorthoUet aufgestellten Regeln, der
unlosliche Eorper und sein entgegengesetzter Elektrolyt.
Bei alien diesen Betrachtungen ist nicht darauf Rucksicht genommen
worden, dass der Aktivitatskoeffizient veranderlich sein kann. Da er
der elektrischen Leitfahigkeit proportional ist, so muss er an der Ver-
anderlichkeit dieser Grosse mit der Verdiinnung teil nehmen; und da
bekannt ist, dass einige Stoffe sehr, andere nur wenig mit der
Verdiinnung ihre Leitfahigkeit andern, so muss sich ein Gleichgewicht,
das fiir eine bestimmte Verdiinnung eingetreten ist, andern, wenn man
die Verdiinnung andert. Dagegen haben Druck und Temperatur, welche
auf die Leitfahigkeit keinen erheblichen, bez. einen vdn der Natur des
Elektrolyts wenig abhangigen Einfluss ausuben, auch keinen erheblichen
Einfluss auf das Gleichgewicht.
Im Gegensatze zu Ostwald, welcher bei seinen Untersuchungen iiber
die allgemcinen Verhaltnisse der chemischen Verwandtschaft natur-
gemass grosses Gewicht auf die Thatsache gelegt hatte, dass die „Affini-
176 I- Geschichte der Yerwandtschaftslehre.
tatskoeffizienten^' der Sauren and Basen sich unabhangig von der be-
sonderen Art der untersucbten chemiscben Reaktion ergaben und somit
als Naturkonstanten von allgemeiner Bedeutung anzusprecben waren,
betont Arrhenius vielmehr besonders, das8 diese „Konstanten^ mit der
Verdiinnung veranderlich seien, was iibrigens Ostwald selbst experi-
mentell in einer ganzen Reibe von Fallen nachgewiesen hatte. Die Be-
ziehung zur elektrischen Leitfahigkeit gestattete indessen Arrhenius viel
weiter zu gehen. Da sich die aquivalenten Leitfahigkeiten der starkeren
Sauren bei zunehmender Verdiinnung dem gleichen Grenzwerte nahern,
und Arrhenius fiir alle Sauren das gleiche annahm (S. 169), so folgt
daraus der Satz, dass bei unbegrenzter Verdiinnung alle Sauren
gleich stark sein miissen, weil sie alle vollkommen aktiv sind.
Demgemass miissen die Affinitatsgrossen der schwachen Sauren und
Basen mit der Verdiinnung schnell zunehmen, wahrend die der starken
fast unverandert bleiben. Auch dies Hess sich wenigstens an einzelnen
Thatsacheu nachweisen.
Ein weiterer Fall, in welchem die neuen Ansichten sich besser mit
den Thatsachen vereinigten, als die Theorie von Guldberg und Waage»
war durch die Untersuchungen Ostwalds iiber das Gleichgewicht zwischen
Salzsaure und Calciumoxalat bei wechselnden Mengen der verschiedenen
Bestandteile und wechselnden Verdiinnungen gegeben ^). Es batten sich
Abweichungen zwischen jener Theorie und den Beobachtungen in solchcm
Sinne ergeben, dass bei der Annahme einer konstanten Affinitatsgrosae
aller beteiligten Stoffe die aus dem Ansatz berechnete „Konstante'' nicht
konstant blieb, sondern fast im Verhaltnis 1:2 wechselte. Arrhenius
zeigte, dass dieser Wechsel dem Wechsel der Leitfahigkeit der vor-
handenen Stoffe, insbesondere der Oxalsaure entsprach, so dass die Be--
riicksichtigung dieser einen weit besseren Anschluss an die Erfahrung
ergab.
Nach einigen Bemerkungen iiber Reaktionsgeschwindigkeiten, Er*
haltung des Typus bei chemiscben Reaktionen und pradisponierende
Wahlverwandtschaft, welche geringeren Belang haben, erortert Arrhenius
die Falle, in denen die Gesetze von Berthollet versagen, d. h. in denen
sich zwar unlosliche Niederschlage bilden konnten, aber thatsachlidi
nicht entstehen. Die Ursache dafiir findet er sachgemass darin, dass
die entsprechcnden Aktivitatskoeffizienten ungeeignete Werte haben. So
kann, um ein Boispiel in seinem Sinne anzufuhren, Kohlensaure ein
Galciumsalz nicht zersetzen, obwohl Calciumcarbonat ein unlosliches Salz
ist, weil der Aktivitatskoeffizient der Kohlensaure so klein ist, dass sie
>) Journ. f. pr. Chemie 24, 486. 1881.
Neuere Gescliichte der Affinit&tBlehre bis 1886. 177
ihren Zustand trotz der Gegenwart des Salzes nicht so zu andem ver-
mag, dass hinreichend Carbonat entsteht, um einen Niederschlag zu
geben. £s werden sich mit anderen Worten die schwerloslichen Salze
schwacher Sauren (oder Basen) bei Gegenwart starker Sauren (oder
Basen) nicht bilden kounen, was yollig mit der Erfahrang iibereinstimmt.
Wichtig ist bei dieser Betracbtung, dass Arrhenius genotigt ist, auch
die sogenannten nnloslichen StofiPe nor als schwerlosliche anzusehen, und
die Loslichkeit sammtlicher Substanzen ohne Ausnahme, wenigstens
stillschweigend, anzanehmen. Dieser Gesicbtspunkt ist yollkommen ge-
rechtfertigt and wird auch durch eine Reihe anderer Thatsachen and
Cberlegungen anabweislich gemacht
36. Die AktiYienmgswfizine des Wassers. Eine weitere Eroii;erang
bezieht sich aaf die Warmetonung bei der Neutralisation. Arrhenius
geht von der Annahme aus, dass der Neutralisationsvorgang zwischen
einer ▼ollkommen aktiven Saare und einer eben solchen Base immer
den gleichen Wert, unabhangig yon der Natur der beiden hat Fiir
nicht yollkommen aktiye StofiPe kommen die Aktivierungswarmen der-
selben hinzo, sodass die gesamte Warmetonung sich aus jener Eonstanteu
plus zwei Zahlen zusammensetzt, von denon die eine nur von der Saure, die
andere nur von der Base abhangt. Dies Ergebnis ist identisch mit dem von
Hess gefundenen Gesetz von der Thermoneutralitat. Jene Konstante er-
giebt fflch als die Aktivierungswarme des Wassers gemass folgenden
t}berlegungen: ^Wenn sich eine Saure mit einer Base verbindet, wobei
beide voll kommen aktiv sein soUen, so kann man diesen Vorgang als
die Verdrangung einer schwachen Saure (des Wassers) aus einem Salze
(dem bastschen Hydrat) ansehen. Ware nun das Wasser yollkommen
aktiv (wie die Salze starker Sauren mit Wasser), so ware die Neutrali-
sationswarme des (als Saure betrachteten) Wassers genau gleich der
starken Saare, gemass der oben gemachten Annahme. Das heisst, es
wnrde keinerlei Warmeentwicklung stattfinden. Wenn nun aber dies
voUkommen aktive Wasser sich in inaktives verwandelt, so wird seine
Aktivieningswarme frei. Denn man muss in der That annehmen, dass
das Wasser unmittelbar nach seiner Bildung voUkommen aktiv ist, denn
€s entsteht durch die Eollision der beiden lonen H und OH, die mit
Bewegang b^abt sind. Diese Aktivitat verliert sich aber augenblicklich,
^wobei gewohnliches, fast vollig inaktives Wasser entsteht. So haben
wir gezeigt, dass die Neutralisationswarme, die bei der Um-
wandlnng einer voUkommen aktiven Base und Saure in ein
nicht komplezes Salz entwickelt wird, nichts anderes ist, als
die Aktivierungswarme des Wassers.'^
Ostvald, Cbemie. 11,2. 2. Aofl. 12
178 I< Geschichte der Yerwandtschaftalehre.
Dieser sehr bemerkenswerte Schluss, der hier anf Grund eiuer
Hypothese entwickelt wird, hat in der spateren Ausgestaltung der Theorie
der freien lonen einen ganz ahnlichen Inhalt gewonnen, indem sich die
Aktivierungswarme des Wassers als seine Bildungswarme aus den lonen
H' und OH' heraustellte. Trotzdem die Grundlage der Auffassung ganz
und gar anders geworden ist, haben sich doch, wie man sieht, sehr
wesentliche Bestandteile dieser alteren und unvollkommeneren Theorie
der elektrolytischen Erscheinungen in die neuere hiniibernehmen lassen.
37. SohlusBbemerkiingen. Yon geschichtlichem Interesse ist femer
die Tabelle, in welcher Arrhenius die experimentelle Stiitze seiner An-
sichten, die Proportionalitat zwischen elektrischer Leitfahigkeit und
chemischer Affinitatsgrosse zur Darstellung bringt. £s ist die folgende.
Tabelle Qber die Aviditfttsgr^^sse der S&areD.
OBtwald Thomsen Berechnet
HNO»
100
100
100
HCl
98
100
92
HBr
89
86
HJ
79
92
H»SO*
50 90
49
47—85
H»PO*
13
217
C»H*0«
123
3
8.2
Man muss in der That die Energie der t)berzeugang und den
Scharfsinn bewundern, die auf ein so geringes Material so weitfiihrende
Schltisse zu bauen yermochteni
Damit ist der wesentliche Inhalt der Arbeit von Arrhenius wieder-
gegeben; sie enthalt zum Schlusse noch einige Auseinandersetzungen
beziiglich der Theorie von Guldberg und Waage. Wie man aus den
entsprechenden Formein sieht, unterscheiden sich beide wesentlich da«
durch, dass die beiderseitigen Koeffizienten bei Arrhenius (nach dem
Vorgange yon Ostwald) in zwei Faktoren aufgelost erscheinen, und dass
sie nicht mehr als unyeranderlich auftreten, sondern Funktionen der
Temperatur und insbesondere der Verdiinnung sind. Von Interesse ist
die yon Arrhenius mitgeteilte Bemerkung, dass ihm bei der Ausarbeitung
seiner Theorie die Arbeiten seiner halben Landsleute unbekannt waren
und er sie erst nach dem Abschlusse des grossten Toils seiner Rech-
nungen aus Lothar Meyers »,Modemen Theorien der Ghemie^' kenneix
gelerut habe. Die grosse Obereinstimmung beider Theorien ist, wie er
mit Recht heryorhebt, ein wertyolles Zeugnis fiir die wesentliche Richtig^
keit des beiderseitigen Gedankenganges.
Die Aufnahme, welche die Theorie yon Arrhenius fand, war wie
bemerkt, nichts weniger als giinstig. Ausser der einen, oben erwahntexx
Neaere Oeschichte der Affinitatslehre bis 1856. 179
aDerkentienden Erwahnung wurden, soweit litterarische Aasserungen
uberhaupt vorliegen, nur mebr oder weniger ablebnendo Urteile gefallt,
und von gleicber Bescbaffenbeit wareu die personlicben Ausserungen
iiber die Arbeit. Aucb scbeint der Umstand, dass unmittelbar nacb
ibrem Erscbeinen die experimentelle Grundlage, die Proportionalitat
zwischen der elektriscben Leitfabigkeit und der cbemiscben Reaktions-
fahigkeit durcb Ostwald*), eine ausgiebige experimentelle Bestatigung
erfnhr, wenig za Gnnsten der Tbeorie gewirkt zu baben. An Stelle
der sieben Stoffe der Tabelle von Arrbenius waren es 34 Sauren, and
die Ubereinstimmang der Zahlenwerte war bei weitem besser und yer-
traoenerweckender; trotzdem fanden die neuen Ansicbten entweder
keine Beacbtung, oder Ablebnung. Es muss als ein ganz besonders
giinstiger Umstand fiir die Entwicklung der Verwandtscbaftslebre an-
gcseben werden, dass sicb Arrbenius durcb diese Zuriickweisung nicbt
abscbrecken Hess, seinen Gedanken weiter zu yerfolgen, und seine Tbeorie
▼on den Unzulanglicbkeiten zu befreien, die ibr in ibrer ersten Gestalt
noch anhafteten.
38. Das Verhalten der S&uren. Durcb die Entwicklungen von Hit-
torf und Arrbenius und die eben erwabnte experimentelle Bestatigung
des auf die Leitfabigkeit der Sauren beziiglichen Scblusses durcb Ost-
wald waren die Affinitatskoef&sienten der Sauren, welcbe man lange
Tergebens zu bestimmen gesucbt batte, und deren Messung nacb den
oben angedeuteten Metboden immer nocb scbwierig und langwierig
war» unter die am leicbtesten zuganglicben Grosser) gelangt, da nacb
der Yorziiglicben Metbode von Koblrauscb 'Leitfahigkeiten von Fliissig-
keiten in wenigen Minuten bestimmt werden konnen. Es wurden als-
bald zwei Probleme nacb diesem Verfabren in Angriff genommen, der^n
Loeung nacb den alteren Metboden einen sehr grossen Aufwand veu
Zeit und Arbeit beansprucbt batte, wabrend sie sicb jetzt leicbt be-
werkstelligen liess. Es ist erstens die Frage, inwiefern die Affinitat
der Sauren von den Wassermengeu abbangt, in welcben diese gelost
sind, zweitens die Erforschnng der schon aus den friiberon Messungen
in ausgesprocbener Weise bervorgetretenen Beziebung zwiscben den
AfEnitatseigenscbaften der Sauren und ibrer cbemischen Zusammen-
setzung und Eonstitution.
39. Das VerdiimiaDgsgeBetz. Aus Ostwalds friiberen Messungen
hatte sicb bereits ergeben, dass die Affinitatswirkungen dor Sauren,
wenu sie auf gleicbe Mengen bezogen wurden, mit steigender Verdiin-
«) Joum- f. pr. Ch. 30, 93. 1884.
12*
L
180 !• Geschlchte der Verwandtschsftslehre.
ming zunehmen. Das Ergebnis stand im Widerspruch mit der ge-
brauchliclien Annahme einer Abschwachang der Sauren, die bei der
VerdiiimiiDg nicht nur durch die Verteilung der wirkenden Teilohen auf
grossere Raume, soadern auch durch eine Art Neutralisation Ton seiten
des „8chwach basischen" Wassers erfolgen soUte.
Aus dem Verbalten der Leitfahigkeit hatte andererseits S. Arrbenius
(S. 175) den Scbluss gezogen, dass die Reaktionsfahigkeit der Elektrolyte,
d. h. der Sauren, Basen und Salze, ganz allgemein mit steigender Ver-
diinnung zunimmt, und zwar bei jeder der drei Klassen bis zu einem
bestimmten Grenzwerte, der von der besonderen Natur der firaglicben
Saure, Base oder salzartigen Verbindung unabhangig ist
t)ber den Gang, welchen die auf eine gleiche Zahl leitender Mo*
lekebi bezogene „molekulare" Leitfahigkeit der einbasischen Sauren
nimmt, fand Ostwald auf empirischem Wege^) ein sehr allgemeines 6e-
setz, das sich folgendermassen aussprechen lasst: Die Verdunnungen^
bei welchen die molekularen Leitfahigkeiten verschiedener
Sauren gleich sind, stehen in konstanten Yerhaltnissen. So ist
z. B. die molekulare Leitfahigkeit der Monochloressigsaure bei irgend
welchen Verdiinnungen nahe gleich der der Ameisensaure, wenn diese
jedesmal 16 mal verdiinnter ist, und gleich der der Buttersaure bei
256fach grosserer Verdiinnung. Bei wachsender Verdunnung durchlaufen
also alle Sauren in gleicher Weise dieselbeu Stadien der Leitfahigkeit^
und die verschiedene Natur derselben macht sich nur insofem geltend^
als dieselben Punkte bei ausserordentlich verschiedenen Verdiinnungs-
graden erreicht werden; starke Sauren sind schon in konzentriertea
Losungen dem Maximum nahe, wahrend schwache Sauren dasselbe erst
in Verdiinnungen erreichen wiirden, bei welchen die empfindlichsten Re-
agentien nicht mehr Spuren derselben nachweisen konnten.
Mehrbasische Sauren verbalten sich merklich yerschieden. Der
Grenzwert der molekularen Leitfahigkeit, welchem sie zustreben, ist zu-
nS^hst der der einbasischen Sauren. Wird aber die Verdiinnung welter
getrieben, so wird dieser Grenzwert iiberschritten und ein anderer an-
gestrebt, der bei zweibasischen Sauren ungefahr zweimal, bei dreibasi-
schen dreimal so hoch liegt, als jener.
In einer gleichzeitigen Arbeit^) hat Ostwald nachgewiesen, dass
die eben entwickelten Eigentiimlichkeiten des Einflusses der Verdiinnung
sich auch bei anderen Affinitatswirkungen^ insbesondere bei der Liver-
») Joum. f. pr. Ch. 80, 225. 1884.
«) J. pr. Ch. (2) 81, 307. 1885.
Neaere Geschichte der Affinit&tslehre bis 1886. 181
sion desRohrzuckers, in ganz entsprechender Weise wiederfinden, so dass
es sich nicht bloss um Besonderheiten des elektrischen Leitvermogens
handelt, sondern urn allgemeine Gesetze des Affinitatskoeffizienten.
40. BinfliiBS der ZnsammenBOtztuag tind Eonstitutioxi der SEnren
anf ilire Afflziiltttseigeiisohaften. Wegen des grossen und wechselnden
Eiaflosses der Verdiinnnng auf die AffinitatsYerhaltQisse gleich konzen-
trierter (aquivalenter) Sauren gelten die nach irgend welchen Methoden
gefuodenen Affinitatsyerhaltnisse numerisch nur for die eingehaltenen
VerdiinnungBgrade. Aus dem gleichformigen Verlaafe der Anderung der
Leitfahigkeiten Terschiedener Sauren bei fortschreitender Verdiinnung
folgt aber, dass eine Saure, welche bei irgend welcher Konzentration
starker ist als eine andere bei der aquivalenten Konzentration, dies
auch bei alien Verdiinnungen bleiben wird; die Reihenfolge der
AffinitatsTerhaltnisse ist also yon der Verdiinnang unab-
hangig, und die Schliisse, welche aus irgend welchen Messungen auf
diese Reihefolge gezogen werden, haben allgemeine Giiltigkeit.
Die Einzelheiten der Resultate derartiger Messungen werden unten
eingehend besprochen werden. Hier soil nur allgemein der Charakter
deraelben angedeutet werden. Bekanntlich hatte Berzelius die Eigen-
schaften der Yerbindungen als Folgen der Eigenschaften ihrer Elemente
betrachtet; Kali war nach ihm eine starke Basis, weil Kalium in hohem
Grade ^elektropositiv^' ist, und Salpetersaure eine starke Saure, weil sie
▼iel ^elektronegativen** Sauerstoff enthalt. Ini Gegensatze dazu hatte
Dumas die Anordnung der Elemente, den Typus, als bestimmend fiir
die chemische Natur der Yerbindungen und ihre Affinitaten angesehen,
und diese als unabhangig von der Natur der zusammensetzenden Ele-
mente erachtet
Was A. W. Hofmann vor langer Zeit an den Bromsubstitutionspro-
dokten des Anilins qualitativ gezeigt hatte, liess sich an den Affinitats-
messungen der Sauren quantitativ verfolgen. Beide Anschauungen sind
in ihrer Ausschliesslichkeit falsch. Wenn Chlor den Wasserstoff der
Essigsaure substituiert, so bleibt der Typus unverandert. Im Gegensatze
zu Dumas bleibt dabei die AfQnitat nicht konstant, sondem sie andert
sich sehr bedeutend; die Sauren werden um so starker, jo mehr Chlor-
atome die Stelle von WasserstofiPatomen einnehmen. In sofern behalt
Benelius Recht. Dagegen ist die Betrachtungs weise von Dumas in an-
derer Weise richtig, denn selbst die drei Chloratome der Trichloressig-
saore erzeugen keine so starke Saure, wie die Chlorwasserstoffsaure ist;
ihre eutfemtere 9,Stelle" yon dem durch Metalle vertretbaren Wasser-
stofiatome, die an der Formel GGP.COOH deutlich wird, vergonnt ihnen
182 I* Oeschichte der Yerwandtscbaftslehre.
keinea so grossen Einfluss, wie ihn das eine, mit dem Wasserstoff un-
mittelbar yerbundene Chloratom dor Chlorwasserstoffsaure besitzt.
Ahnlicbe Betrachtungen lassen sich an die a- und /S-Derivate der
Propion- und Buttersaure, an die Ortho-, Para- und Meta-Substitutions-
produkte der Benzoesaure und der anderen aromatiscben Sauren kniipfen.
Wenn Wasserstoff durch andere Elemente oder Radikale ersetzt wird,
so andern sich jedesmal die Affiniiatseigenscbafben, und zwar wirken
Ghlor, Brom, Jod, Cyan und die Nitrogruppe verstarkend auf die Sauren,
wahrend Amid, Carbimid (NH.CONH*) u. s. w. scbwachend wirken.
Der Einfluss ist aber verschieden, je nach der „Stellung" des Substi-
tuenten, so dass isomere Sauren im allgemeinen ganz verschiedene Affini-
tatskoeffizienten besitzen.
Aucb an Basen machen sich abnliche •Einfliisso geltend. Da in-
zwischen die Arbeit auf diesem Gebiete durch die Theorie der freien
lonen eine viel weiter gehende Entwicklung erfahren hat, so mag an
dieser Stelle die Bemerkung geniigen, dass die Verhaltnisse sich denen
der Sauren sehr ahnlich zeigen.
Dies ist der Standpunkt, bis zu welchem die Angelegenheit etwa
im Jahre 1886 gelangt war. In diese Zeit fallt ein so wichtiger Fort-
schritt, dass es billig erscheint, von hier an auch eine none Periode iu
der Entwicklung dor Yerwandtscbaftslehre zu rechnen. Es ist das Jahr,
in welchem Arrhenius seine Theorie der freien lonen aufgestellt hat.
Viertes Eapitel.
Die Entwicklung der AfGlnitfttslehre in den letzten
zehn Jahren.
1. AUgemeines. In den bisher geschilderten Arbeiten war die
Frage nach den Gesetzen der chemischen Verwandtschaft bereits zu
einem erheblichen Grade der Entwicklung gebracht worden, und die
Moglichkeit einer systematischen Bearbeitung des Gebietes war gegeben.
Eine solche war denn auch in der urn diese Zeit (1885 und 1886) er-
schienenen ersten Auflage dieses Buches yersucht worden, wobei es sich
erwiesen hatte, dass in der That dies bis dahin zwar als sehr „inter-
essant", aber dabei doch als bedenklich wiist und unzuganglich ange-
sehene Gebiet von unerwarteter Einheitlichkeit und Obersicbtlichkeit war.
Wie weit dies Ergebnis die Neigung der Facbgenossen, sich mit diesen
Fragen zu beschaftigen, gesteigert, und den bereits beteiligten ihre Arbeit
erleichtert hat, muss einer spateren Geschichtsschreibung festzustellen
iiberlassen bleiben.
Die Entwicklung der Affinit&tslehre in den letzten zehn Jahren. 183
Gleichzeitig empfingen aber die hier in Betracht kommenden allge-
meinen Anschauungen der Ghemie einen ungewohnlich starken Impuls*
In dem kurzen Zeitraume eines oder zweier Jabre fand die Entwicklung
der Theorie yan't Hoffs vom osmotischen Druck (I, 671) and von Arrbe-
nius Theorie der elektrolytiscben Dissociation statt, gleicbzeitig warden
die Yerwandtscbaftsprobleme auf tbermodyuamiscbem Wege von Helm-
holtz, Yan't Hoff, Dabem und Planck bearbeitet. AUe diese Arbeiten
erganzten einander auf das gliicklicbste; batten van't Hoffs Gleicbungen
der bisher nor ftir Gase anweudbaren Thermodynamik den Zugang za
den Systemen geoffuet, die fiir den Ghemiker die wicbtigsten sind, den
Losungen, so war durch die Dissociationstheorie von Arrbenius eine
Schwierigkeit beseitigt worden, die sicb der Theorie von yan't Hoff gleich
bei ihrem Anfange entgegeuzustellen und ibr den besten Toil ibres
Wertes zu nehmen schien. Gleichzeitig deckte die Theorie yon Arrbe-
nius den lange vermuteten, bisher aber nicht gefundenen gesetzmassigen
Znaammenhang zwiscben den elektriscben Erscbeinungen und denen der
chemischen Ycrwandtschaft auf, so dass alsbald einc ganze Anzabl alter
Fragen neues Licht und befriedigende Antwort erhielten. Die um die-
selbe Zeit erfolgende theoretische Bearbeitung der chemischen Fragen
Yom thermodynamischen Standpunkte aus durch Helmholtz, Dubem und
Planck yermehrte die Frucbtbarkeit jener Gedanken in sebr bohem
Grade, indem sie den Ereis der Anwendungen erweiterte und durch die
Prufung der vielfach unerwarteten Folgerungen, zu denen sie fuhrte, zu
zahllosen ezperimentellen Arbeiten Aniass gab, die durch die schonsten
Ergebnisse belohut wurden.
So gewahrt heute ein Blick iiber den Bau der Verwandtschaftslehre
einen ganz anderen Anblick, als yor zehn Jahren. Gait es damals, die
zerstreuten Stiicke zusammenzuleseu, die sicb nur selten und fast zu*
faUig in der reichen Fiille anderer chemischer Arbeiten yorfanden, um
ao ihnen den Nachweis zu erbringen, dass sie iiberraschend gut zu
einander passten', und dass sicb aus ihnen ganz wohl ein branch- und
haltbares Gebaude, wenn auch zunachst in bescheidenen Abmessungen
errichten liess, so stebt gegenwartig das Gebaude in yielen Teilen fast
Tollendet vor nns, und zwar in einem Umfange und in einer Schonheit,
▼on der wir uns nichts traumen liessen. Die Arbeit der gegenwartigen
Generation ist nicht mehr die, den Boden zn priifen, und zogernd die
Gmndsteine zu legen, immer gewartig, dass der Grund schwanken und
die Steine yersinken werden, — sondern es gilt yielmehr, nach dem
Torhandenen Plane riistig weiterzubauen, rob gebliebene Wande zu glattcn
mid alle die Teile des Bodens unter Dach zu bringen, deren Zugehorig-
184 I* Geschichte der Verwandtschaftslehre.
keit zum Ganzen bereits erkannt worden ist, und die nor aus Mangel
an Handen bisher keine Bearbeitung erfahren haben.
2. Die Theorie der Ldstuigen. Die von yan't Hoff am Scblusse
der ,,Dynamiqae chimique" (S. 158) angedeuteten hochwiehtigen Uber-
legungen fanden einige Jahre spater ibren abgerundeten Ausdruck in
einer der scbwedischen Akademie vorgelegten Abhandlung iiber die Ge-
setze des chemischen Gleichgewichts im verdiinnten (gasformigen oder
gelosten) Zustande der Materie^), welcbe fur die weitere Entwicklnng
der Theorie der Losungen grundlegend geworden ist. Die Arbeit war
am 14. Oktober 1885 eingereicht, aber erst im folgenden Jahre gedrackt
worden; ihr wesentlicher Inhalt ist dann in der Zeitschrift fur physi-
kalische Chemie*) in etwas geanderter Gestalt zur Wiedergabe gelangt.
Der wichtigste Gedanke dieser neuen Uberlegungen ist die Erkennt-
nis, dass der osmotische Druck eine Grosse von ganz ahnlicher Be-
schafifenheit ist, wie der gewohnliche Gasdruck, und dass er flir Losungen
genau dieselbe Rolle spielt, wie dieser fur Gase. Die Ursache dieser
Ubereinstimmung wurde darin gesehen, dass bei der weiten Entfernung,
in welcher sich die Molekeln in beiden Fallen befinden, ihre gegenseitige
Einwirkung gleich Null zu setzen ist, so dass nur die raumlichen Be-
ziehungen nachbleiben. In der vom Autor bevorzugten Darstellung mit
Hiilfe molekularhypothetischer Betrachtungen nimmt der Gedanke die
Gestalt an, dass bei Gasen nur die fortschreitende Bewegung der Mo-
lekeln den Druck bestimmt, bei Losungen die „Anziehung^< zwischen dem
Losungsmittel und dem Gelosten, wobei freilich das aus der Erfahrung
sich ergebende Gesetz, dass diese Anziehung fur aquimolekulare Mengen
der verschiedensten Stoffe gleiche Werte haben soil, einige Zweifel an
der Haltbarkeit der grundlegenden Anschauung selbst erwecken konnte.
In der That haben sich in der Folge viele Angriffe auf das Gesetz Ton
van't Hoff gerade auf diesen hypothetischen Punkt gerichtet, der fur
die Sache selbst oflFenbar nicht wesentlich ist, sondern nur fur den Weg,
auf welchem van 't Hoff zum erstenmale seinen Gedanken fand. Auck
hat er selbst in der Folge wiederholt den hypothetischen Charakter
dieser Uberlegung betont, und auf die Giiltigkeit seiner Gesetze ganz
unabhangig von alien derartigen Yorstellungen hingewiesen.
Die grosse Bedeutung dieses Fortschrittes fur die Theorie der Lo->
sungen ist bereits an anderer Stelle (I, 671) dargelegt worden; hier ist
nur der Einfluss auf die Verwandtschaftslehre zu kennzeichnen. Dieser
*) Kgl. Svenska Vet-Ak. Hand. 21, No. 17. 58 S. 1886.
*) Ztschr. f. physik. Chemie 1, 481. 1886.
Die Entwicklang der Affinit&tslehre in den letzten zehn Jahren. 185
lasst sich kurz dahin zosammenfassen, dass durch sie das ganze Gebiet
der gelosten Stoffe der theoretischen Behandlung auf energetischem Wege
zuganglich gemacht wurde, wahrend bis dahin nnr die Gase sich fiir
eine solche Behandlung eigneten. Bekanntlich sind die chemischen Vor-
gange zwischen Gasen, bei denen sich Zustande des chemischen Gleich-
gewichts beobachten lasseu, so selten, dass die Entdeckung solcher in
einiger Allgemeinheit durch Deville (S. 81) seinerzeit mit Recht als ein
grower wissenschaftlicher Fortschritt betrachtet wurde. Das eigent-
liche Gebiet chemischer Erscheinungen sind die Losungen, znmal die
wasserigen, dem alien Chemikerspruche gemass: corpora non agunt, nisi
soluta, and dieses ungeheure Gebiet wurde der Theorie durch die Ge-
setze des osmotischen Druckes erschlossen.
Die geschichtliche Gerechtigkeit verlangt, an dieser Stelle nochmais
hervorzuheben, dass bereits Horstmann (S. 113) zu der Uberzeugung ge-
langt war, die Entropiefunktion geloster Stoffe miisse mit der der Gase
iibereinstimmen; eine weitero Verfolgung des Gedankens hatte ihn auch
zur Entdeckung der ontsprechenden Gesetze fuhren konnen. Indessen
ware wahr9cheinlich der Fortschritt auf diesem Wege doch sehr lang-
sam gewesen, da die Anschauung, welche Grossen geloster Stoffe mit
den Yariablen im fundamentalen Gasgesetze vergleichbar sind, gefehit
hatte, und daher die Anwendung schwierig und unsicher gewesen ware.
Gerade der Aufweis des Druckes der gelosten Stoffe in Gestalt des
osmotischen Druckes wirkte entscheidend fiir die Durchfuhrung des
neaen B^riffes, und dies ist ein Yerdienst, welches van't Hoff allein
znkommt.
3. Der Eoefflzient i. In der Anwendung der gefundenen Gesetze
auf chemische Gleichgewichte durch van't Hoff ging es indessen auch
nicht ohne anfangliche Fehler und Schwierigkeiten ab. Es wurde bereits
bemerkt, dass sich die gelosten Elektrolyte nicht wie die indifferenten
Stoffe verhalten, sondern grossere Drucke zeigen, die inzwischen durch
die Annahme der elektrolytischen Dissociation erklart worden sind. Zu
jener Zeit war dieser Gedanke noch nicht vorhanden und van't Hoff
half sich, wie gleichfalls schon erwahnt, durch die Hinzufiigung eines
Koeffizienten i zur Eonstanten der Gasgleichung, welcher das Verhaltnis
zwischen dem theoretischen und dem wirklichen osmotischen Drucke
darsiellt (I, 795). Diesen Koeffizienten i nahm er, da er iiber seine Her-
kaaft nichts ermitteln konnte, in die Gleichgewichtsgleichung hinein,
so dass diese an Stelle der fiir Gase giiltigen Form
C °"
" = K,
0,°'
186 • !• Geschichte der Yerwandtschaftslehre.
wo C, und G,, die beiden Konzentrationen (es ist der Einfacfaheit wegen
eine Reaktion zwischen nur zwei verschiedenen Stoffen angenommeu
worden) und n, und n,, die Molekelzahlen in der Reaktionsgleicbung
sind, die verwickeltere Form erhielt
Es sind also die Konzentrationen nicht nur auf die durch die Molekel-
zahl gegebene Potenz erhoben worden, sondem ausserdem nocb auf die
Potenz der ^isotonischen Koeffizienten*^ Wie sicb spater zeigen wird^
ist diese Art, die Abweichung der Elektroljte yon den Gasgesetzen zu
beriicksicbtigen, unricbtig, und es miissen die entsprecbenden Gleicb-
gewicbtsgleichungen von Yornberein anders angesetzt werden, indem die
lonen als selbstandige Molekeln in Recbnung gebracbt werden.
«
Fur die Psycbologie der Wissenscbaft ist es nicht obne Interesse^
dass nicbt nur van 't Hoff die damaligen Formeln an yerschiedenen vor-
handenen Versucben bestatigen konnte, sondem dass aucb andere For-
scber^) die Ergebnisse ibrer Beobacbtungen geniigend durcb diese Tbeorie
darzustellen vermocbten.
Die yon van't HofiP boi dieser Gelegenbeit gegebenen Metboden zur
Bestimmung des Koeffizienten i haben demgemass nicbt die Yoraus-
gesetzte Beziebung auf die Lebre vom allgemeinen cbemiscben Gleich-
gewicbt und konnen daber bier iibergangen werden. Nur auf den in
erster Linie gegebenen Bewois, dass fiir die Gase, die bei der Absorp-
tion in Wasser dem Henryscben Gesetz folgen (I, 613), der Koeffizient i
gleicb Eins sein muss, soil mit einigen Worten eingegangen werden.
Indem yan't Hoff einen isotbermen Kreisprozess durcbfiibrt, bei den^
einmal die Arbeit auf osmotischem Wege, das anderemal durcb die Aus-
debnung des Gases gewonnen wird, zeigt er, dass dieser zu der Formal
fiibrt: C„
Y^ = const.,
yroC,, sicb auf das Gas, G, auf die Losung beziebt. Da nun das Ge--
setz yon Henry besagt, dass das Verbaltnis der Konzentrationen von
Gas und Losung konstant ist, so folgt, dass fur diese Gase i = 1
sein muss.
Im iibrigen entbalt die Abhandlung den thermodynamiscben Beweis,.
der in dem friiberen Werke bereits gegebenen Formel des cbemischei\
Gleicbgewicbts d In K q
dT ^2T«
') Landolt, Sitzungsber. Berl. Akad. 1885, 215.
Die EntwickloDg der Affinit&tslehre in den letzten zehn Jahren. 187
(S. 153) und im ZusammenhaDge damit eine erneute DarstelluDg der aus
ihr za ziehenden Schlusse. Vou diesen sei nur der letzte erwahnt, der
sich aaf das elektrochemische Gleichgewicht bezieht Ahnlich der Dar-
leguDg auf S. 161 lasst sich jedes chemische Gleichgewicht in ein elek-
trisches iibersetzen (unter welcheu BediDgnngen, hat yan't Hoff aller-
dings nicht genauer bestimmt), und daher lassen sich umgckehrt fur
elektrisch bestimmte Gleichgewichtszustande die entsprechenden Konzen-
trationsverhaltnisse angeben, welche die elektromotorische Kraft gleich
Null machen wiirden. Eine demgemass ausgefuhrte Rechnung ergiebt,
dftBS im Daniell-Element die Konzentration der Zinklosung etwa lO^mal
grosser sein miisste, als die der Kupferlosung, damit die elektromoto-
rische Kraft Null wird. Es ist dies eine sehr merkwiirdige Voraus-
nahme der spater durch Nemst auf dem Boden der Dissociationstheorie
erlangten Auf&ssung der Voltaschen Kette (II, 1, 948); auch der Zahlen-
wert stimmt mit dem dort gegebenen iiberein.
In dem hier geschilderten Zustande war van't Hofifs Theorie der
Losungen wie in manchen anderen Beziehungen, so auch darin der
Theorie von Arrhenius ahnlich, dass beide zwar auf viele Thatsachen
ein neues und uberraschendes Licht warfen, und Beziehungen erkennen
liessen, die bis dahin kaum yermutet worden waren, dass aber gleich-
zeitig beiden noch je eine grossc und fundamentale Schwierigkeit an-
haftete, yon deren Beseitigung offenbar ihr weiteres wissenschaftliches
Sdiicksal abhing. Bei yan 't HofiP war es der Koeffizient i, bei Arrhenius
die Frage nach dem Unterschiede zwischen den aktiyen und den nicht
aktiyen Molekeln der Elektrolyte. Es ist eine Thatsache yon nicht ge-
ringem Interesse, dass die Beseitigung beider Schwierigkeiten gleich-
zeitig gelang: die Erklarung der Aktiyitat war gleichzeitig die Er-
klaning fiir das Wesen des Koeffizienten i. Seit jenem, 1887 durch
Arrhenius bewirkten Fortschritte ist die weitere Entwicklung beider
Theorien eine yoUig gemeinsame geworden, und es ist nicht leicht
n sagen, welche yon ihnen durch die andere eine grossere Forderung
erfahren hat
4. Die Theorie der frelen lonen. Die yon Arrhenius drei Jahre
nacli seiner ersten Abhandtung gegebene Erklarung des Unterschiedes
zwiflchen den aktiyen und nichtaktiyen Molekeln der Elektrolyte, die
darin gipfelte, dass die aktiyen Molekeln in der Losung in ihre
lonen gespalten sind'), wahrend die inaktiyen die gewohnlich an-
genommeue Zusammensetzung haben, war, wie schon bemerkt, eher ge-
ZUcbr. f. pbjs. Chemie, 1, 631. 1887.
188 I- Geschichte der Yerwandtschaftslehre.
eignet, die Kritiker abzuschrecken, als sie zur Annahme der so ver-
besserten Theorie zu ermutigen. Hatte doch Arrhenias selbst in seiner
Arbeit yon 1884, ahnlicb wie friiher Hittorf, die Schwierigkeiten er-
ortert, welche die Beantwortung der Frage findet, wie die lonen der
Elektrolyte bei ihren entgegengesetzten Bewegungen durch das Losungs-
wasser ihre Wanderung ausfiihren konnen, ohne inzwischen auf das
Wasser zu wirken, wie sie es im freien Zustande than. Die gelegent-
lich geausserte Vermutung, ihre Geschwindigkeit konne so gross sein,
dass z. B. das Natriumion in einer Kochsalzlosung keine Zeit fande, auf
das Wasser zu wirken, wurde hinfallig, da nach den Rechnungen von
Eohlrausch (II, 1, 718) sich die Geschwindigkeit der lonen unter ge-
wobnlichen Verbal tnissen sebr klein ergiebt, viel kleiner, als etwa
die Geschwindigkeit, mit welcher eine Kugel Ton metallischem Natrium
iiber das Wasser tanzt. Nun soUte nicht nur angenommen werden,
dass etwa hie und da eine Molekel sich in die lonen trennt, die durch
ihre sofortige Verbindung mit benachbarten lonen jener Einwirkung
entgehen konnten, sondern Arrhenius verlangte, dass auch die keinen
elektrolytischen Einfliissen ausgesetzte Losung freie lonen enthalten
soUte, und dazu nicht etwa in verschwindend geringer Menge, sondern
derart, dass meist der grossere Teil des gesamten Elektroljts in lonen
gespalten ist.
Der Wegy auf welchem Arrhenius zu dieser Ansicht gelangte, war
iiber die Theorie von van't Hoflf gegangen. Durch deren 1886 in den
Schriften der Stockholmer Akademie erfolgte Veroffentlichung (S. 183)
war ihm ihr Inhalt vielleicht naher getreten, als es sonst der Fall ge»
wesen ware, und er bemerkte die auffallende Beziehung, dass alle
Stoffe, welche in jener Theorie mit dem unerklarten Koeffi-
zienten i behaftet waren, aktive Elektrolyte sind, wahrend
umgekehrt alle Nichtelektrolyte sich normal verhalten und einen ihrer
Molekulargrosse entsprechenden osmotischen Druck ^) aufweisen. Els
musste somit ein Zusammenhang zwischen jenen Abweichungen und der
Thatsachen der elektrischen Leitfahigkeit bestehen, und diesen Zu-
sammenhang sah Arrhenius darin, dass beide Erscheinungen von
der Dissociation der Elektrolyte in ihre lonen herriihren.
Zerfallt z. B. Kaliumchlorid in seine lonen Kalium und Ghlor, so muss
es den doppelten osmotischen Druck ausiiben, wie auch die Erfahrung
zeigt, und es muss gleichzeitig ein elektrolytischer Leiter sein, da die
^) Es ist hier von den F&llen abgesehen, in denen zn grosse Molekular-
gewichte beobachtet worden sind, da sie wegen der mdglichen und wahrschein-
lichen Polymerisiemng keine prinzipiellen Erkl&rungsschwierigkeiten bieten.
Die Entwicklang der Ajffinit&tslehre in den letzten zehn Jahren. 189
Leitnng nur durch frei bewegliche, d. h. tbatsachlich freie lonen be-
wirkt werden kann.
Ganz abgesehen von alien Vorstellungen iiber die Moglichkeit einer
solchen Dissociation konute alsbald dieser Gedanke einer sebr eingehenden
experimentellen Priifung unterzogen werden. Denn sie brachte zwei
Groflsen in Zusammenbang, zwiscben denen ein solcber bis dabin nicbt
vermotet worden war: die Abweichnngen von dem Gesetz von van't
Hoff and die elektrische Leitfabigkeit. Ist namlicb a der Aktivitats-
koeffizient, d. b. das Verbaltnis der dissociierten Molekeln zu der ur-
spriioglicben Anzabl der nnzersetzten Molekeln, so ist die tbatsacblicbe
Anzahl Ton Molekeln gleicb (1 — a) nnzersetzten and ka zersetzten,
wenn k die Anzabl lonen bezeicbnet, in die eine Molekel zerfallt (also
z. B. k = 2 bei Gblorkalium, KGI). Die Summc beider, oder 1 -f-
(k — l)a ist die Zabl der Molekeln, welcbe wirklicb an Stelle der einen
nnzersetzten Molekel vorbanden sind, nnd stellt somit aucb das Ver-
haltnis des wirklicben osmotischen Dmckes zn dem aus der Formel be-
recbaeten, oder van't Hoffs Eoeffizienten i dar. Nun ist aus den
froheren Darlegnngen bekannt, dass man i auf verscbiedene Weise, am
leicbtesten aus der Erniedrigung des Gefrierpunktes bestimmen kanu;
solche Bestimmungen lagen Arrbenius seitens Raoults und anderer For-
scher Yor, wabrend andererseits die gleicben Stoffe auf ibre elektriscbe
Leitfabigkeit untersucbt waren, so dass er in ziemlicb weitem Umfange
Tergleicben konnte, wie weit der Koef&sient i mit dem aus der Leitfabig-
keit berechneten Werte von 1 + (^ — 1) ^ iibereinstimmte. Hierbei ist a
gleicb dem Quotienten der gemessenen Leitfabigkeit zu der bei unend-
Hcb grosser Yerdiinnung zu setzen.
£s ist bereits an friiberer Stelle (II, 1, 655) gezeigt worden, in
velchem Masse sicb diese Entwicklung von Arrbenius mit den Tbat-
sachen in Ubereinstimmung erwies, und ebenso sind die Scbwierigkeiten
beseitigt worden, die sicb der Annahme freier lonen in den Losungen
entgegenzttsteilen scbienen. Wabrend beziiglicb der elektrocbemiscben
Fragen, die sicb an die neue Tbeorie kniipften, auf die friiheren Dar-
Icgvngen verwiesen werden muss, ist bier der Einfluss darzulegen,
wekfaen sie auf die Entwicklung der Verwandtscbaftslebre genommen bat.
5. Die Anwendang der GkuigesetBe anf die fireien lonen. Waren
die Elektrolyte in der Tbat in lonen dissociiert, so mussten unter Vor-
anssetzong der Giltigkeit der Gesetze van't Hofis die fiir die Gas-
<liflaociation von Horstmann und insbesondere Gibbs entwickelten Glei-
cbnngen aucb fur die Elektrolyte Giltigkeit baben. Die ganze bocb-
entwickelte Lebre von den cbcmiscben Gleicbgewicbten zwiscben idealen
190 ^* Oeschichte der Yenrandtachaftelehre.
Gasen fand eine unmittelbare Anwendung auf den Fall der elektroly-
tiscben Dissociation, und eine unabsehbare Reihe der verscbiedensten
Moglicbkeiton war bestimmten zahlenmassigen Gesetzen unterworfen.
In Arrbenius erster Abhandlang findet sich noch kein Hinweis auf
diesen Ausbau seiner Lebre» doch wurde oin solcher alsbald nach der
Veroffentlichung jener Abhandlung fast gleichzeitig durch W. Ostwald')
und M. Planck') ausgesprocben; wabrend aber der letztere keine ge-
eigneten Beobacbtungen zur Verfugung batte, urn seinen Scbloss zu be-
wabrbeiten, besass der erstere in seinen Messungen iiber die elektriscbe
Leitfabigkeit organisoher Sauren ein reicbbaltiges Material, welches in
einem weiteren Umfange das Gleicbgewicbtsgesetz bestatigte^ als es bis
dahin an irgend einem anderen Tbatsacbengebiete moglich gewesen war.
Prinzipiell unterscbeidet sicb die Tbeorie des lonen-Gleicbgewichts
nur dadurch von den bisber erorterten allgemeinen Gleicbgewicbten,
dass die molekularen Eonzentrationen der lonen nicht mehr yoUkommen
unabbangig sind, sondern der Bedingung unterliegen, dass die Kon-
zentrationen der positiven und der negativen lonen einander
gleicb sein mlissen. Praktisch bedingt diese Einscbrankung nirgend
eine besondere Yorsicbt in der Bebandlung der Aufgaben; denn da es
iiberbaupt nicbt moglich ist, positive od^r negative lonen allein zu
handhaben, sondern unsere Reagentien obne Ausuahme von vornbereiii
jene Bedingung erfuUen, so entsprecben auch alle Reaktionsgleichungeii,
die einen thatsacblichen Vorgang darstellen, dieser Eirxscbrankung. Da
andererseits die lonen ebenso individuell wirken, wie die nicbtdisso-
ciierten Stoffe, d. b. kein Ion ein anderes obne Anderung in einem
cbemiscben Gleicbgewicbte vertreten kann, so baben wir die Moglichkeit,
jcde beliebige Konzentration eiues bestimmten Ions bervorzubringen,
obne die eines bestimmten anderen Ions verandern zu miisseu, indem
wir das fraglicbe Ion zugleicb mit einem entgegengesetzten indiffe-
rent en, d. b. an der betracbteten Reaktion sich nicht beieiligendeu
Ion in das Gebiet bringen. Wenn auch hierdurch, streng genommen,
dor Zustand des Gebildes anders verandert wird, als wenn nur die frag-
fraglicben lonen vorhanden waren, sq lasst sich doch bei verdiinnten
Losungen baufig diese Veranderung als von zweiter Ordnung ansehen,
und somit fUr die erste Annaherung vernacblassigen.
Der einfachste Fall, welcber bier vorliegt, ist der der Dissociation
eiiies Stoffes in zwei loncn. Der Reaktionsgleichung gemass
») Ztschr. f. phys. Chemie 2, 36 und 270. 1888.
«) Wied. Ann. 84, 147. 1888.
Die Entwlcklung der Affinit&tslehre in den letzten zehu Jahren. 191
wo M die KonzeDtration des unzersetzten Stoffes, V und V die der
beiden lonen bedeutet, haben wir fur das cbcmische Gleichgewicht
r.r' = M.con8t.
oder» da die Konzentration der beiden lonen gleich sein muss ^), indem
wir Yon der nichtdissociierten Substanz ausgehen,
— r = const,
M
wo mit I die gleiche Konzentration der beiden lonen bezeichnet wird.
Bezieht man die Gleichung auf ein Mol des Elektrolytes, und be-
zeichnet den dissociierten Bruchteil mit a, so wird 1'= r'=^,M = ^^ — ^ — -,
wo das V das Volum ist, und dadurch erhalten wir die Gleichung
= KV,
a«
1 — a
wo K eine Konstante ist
Zar Priifung dieser Gleichung dient die Messung der molekularen
Leitfahigkeit. Wie aus den friiheren (II, 1, 656) Darlegungen hervor-
geht, stellt die molekulare Leitfahigkeit (abgesehen von sekundaren
Grossen, die spater Erwahnung finden soUen), verglichen mit ihrem
Grenzwerte, den Bruchteil dissociierter Substanz dar, d. h. es ist
a
^00
Fahrt man diese Substitution aus, so ergiebt sich die Form der
Gleichung, in welcher sie unmittelbar fiir den Vergleich mit den Er-
gebnissen der elektrischen Messungen benutzt werden kann,
2
(^1 = KV
Die Priifung dieses Gesetzes an den Losungen organischer Sauren
bat 68 in einem ungemein weiten Umfange bestatigt. (Bel sehr stark
dissociierten Stoflfen erleidet es Ausnahmen, welohe noch nicht erklSrt
word^i sind, Ygl. II, 1, 694.) Die in der Gleichung auftretende Kon-
stante K ist das von der Verdiinnung unabhangige Mass fiir die „A£fi-
nitat** der Saure, und alle Fragen, welche sich auf chemische Gleich-
gewichte beziehen, bei denen sie beteiligt ist, lassen sich aus der
KenntDis dieser Groese beantworten. Insbesondere er fahrt die S. 165
') Wir werden alsbald F&Ue kennen lernen, in denen T von I" verschieden
gemacht wird.
192 I* Oeschichte der Yerwandtschaftslehre.
dargelegte Thatsache, dass die yerschiedenartigsten Wirkungen der
Sauren immer demselben Koeffizienten proportioual sind, ihre einfache
DeutuDg: die Wirkungen sind der Konzentration der vorhandenen Wasser-
stoffionen proportional, welche alien Sauren gemeinsam sind, und die
yerschiedenen Anionen der Saure haben mit dem Vorgange nichts zu
thun. Deshalb kann immer eine Saure eine andere in alien solchen
Wirkungen mit gleichem Erfolge yertreten, wenn nur die Konzentration
der Wasserstoffionen in der Losung die gleiche ist.
Die Zahl der Anwendungen, zu denen diese Einsicbt gefubrt hat,
ist £ast unubersehbar und wird taglich yermehrt. Beziiglich einzelner
Falle muss daber auf spatere Darlegungen yerwiesen werden.
6. Die Theoiie der isohydrisohen Ldsungen. Arrhenius zeigte
bald darauf ^), dass auch nocb andere Erscheinungen durch die gleichen
Gesetze dargestellt werden konnen, indem er dem bisher allein behan-
delten Falle eines einzigon Elektrolyten den weiteren binzufugte, dass
mehrere Elektrolyte gleichzeitig in der Losung yorhanden sind. tJber
diese Frage hatte er bereits ein Jabr friiher^) Yersuche angesteUt, in-
dem er das Verhalten gemischter Elektrolyte beziiglich der elektrischen
Leitfahigkeit einer systematischen Untersuchung unterzogen, und auf
einige empiriscbe Gesetze zuriickgefuhrt hatte. Diese Gesetze kamen
darauf hinaus, dass zwei Elektrolyte mit gemeinsamem Ion, z. B. zwei
Sauren, die beide das Ion Wasserstoff enthalten, *sich gegenseitig in der
Losung beeinflussen, so dass die gemeinsame Leitfahigkeit yerschieden
yon der ist, die sich aus den Eiuzelwerten der Bestandteile nach der
Mischungsregel berechnet. Nur eine bestimmte Losung liess sich im
allgemeinen zu einer gegebenen Losung eines anderen gleichionigen
Elektrolyts ermitteln, welche einen solchen Einfluss nicht aussert; solche
Ldsungen hatte Arrhenius isohydrische genannt. Es hatte sich femer
ergeben, dass zwei Ldsungen, die in einem bestimmten Verhaltnisse iso-
hydrisch waren, es auch in alien anderen Verhaltnissen sind, und dasa
zwei Losungen, die einer dritten isohydrisch sind, es auch unter ein-
auder sind. Isohydrische Sauren besitzen meist ein ziemlich gleiches
spezifiscbee (nicht molekulares) Leityermogen; fur isohydrische Losungen
einer Saure und ihres Salzes trifFt dies aber nicht zu, yielmehr ist das
Leityermogen der Saure yiel grosser, als das der isohydrischen Salz-
losung.
Als nun Arrhenius die Gesetze des chemischen Gleichgewichts auf
Gemische yon Elektrolyten mit einem gemeinsamen Ion anwendete, er*
1) ZeitBchr. f. phys. Chemie 2, 284. 1888.
«) Wied. Ann. 30, 51. 1887.
Die Entwicklung der Affinit&Ulehre in den letzten zehn Jahren. 193
gab sich, class diese zu ganz denselben Folgerungen fuhrten, welche
er empirisch gefunden hatte. Zunachst liess sich nachweisen, dass zwei
derartige Losangen daun isohydrisch sind, wenn die Konzentration des
gemeinsamen Ions in beiden Losangen die gleiche ist, denn alsdanu
andert sich bei der Yermischung der Dissociationszustand nicht. Die
gleiche Beehnung ergiebt, dass diese Beziehung unabhangig von der
relatiyen Menge der beiden Losungen ist; dass femer zwei einer dritten
isohydrische Losungen dies anch untereinander sein miissen, geht daraus
hervor, dass wenn in zwei Losangen das fragliche Ion dieselbe Kon-
zentration hat, wie in einer dritten, auch jene beiden Konzentrationen
gleich sein miissen.
Diese Uberlegungen enthalten insofern einen Fortschritt, als sie
zeigen, dass es fiir das schliessliche Gleichgewicht der lonen ganz gleich-
gnltig ist, ob diese zuerst derselben Verbindung angehort batten, oder
Terschiedenen; es kommt stets nor auf die gesamte Konzentration der
lonen an, and es ist insbesondere aach nicht erforderlich, dass die
beiden Arten lonen, von dereu Wechselwirkung das Gleichgewicht ab-
hangt, in aquiyalenter Menge (wie bei der einfachen Dissociation) vor-
handen sind.
Diese Betrachtungen ergaben alsbald eine sehr bemerkenswerte
Anwendong. Durch eine Anzahl friiherer Beobachtungen war ermittelt
worden, dass die Wirknng der Sauren durch die Gegenwart ihrer Neutral-
salze sehr beeinflasst wird, so dass man ganz verschiedene Ergebnisse
erhalt, je nachdem man reine Saure, oder Saure von gleichem Gehalt^
die daneben noch von ihrem eigenen Salze enthalt, anwendet. Und
zwar erscheint bei starken Sauren die Wirkung verstarkt (eine Erschei-
nong, die bisher noch keine geniigende Erklarung gefunden hat), bei
schwachen dagegen yerringert. Fiir diese letzte Thatsache boten nun
die Betrachtungen yon Arrhenius nicht nur qualitative, sondern auch
zahlenmassige Erklarung.
In der Formel fiir das Dissociatiousgleichgewicht eines binaren
Elektrolyten, z. B. einer Saure, z = KV, bedeutet, wie man sich er-
innem wird, a* das Produkt aus der Menge der beiden lonen; I — a
ist die Menge des nichtdissociierten Anteils. Setzt man nun zu der
Losang einer wenig dissociierten Saure, wo also a ziemlich klein ist, ein
Salz derselben, so wird dadurch die Konzentration des Anions vermehrt
and zwar, da die Salze fast alle stark dissociiert sind, um einen ver-
hiltnismassig hohen Betrag. Wird die Menge der im Salz zugeset^ten
Anionen mit a bezeichnet, so wird jenes Produkt «'(«'+^)> ^o "' ^cri
Ostirald, Chemie. TI,2. 2.Aufl. 13
194 I- Geschichte der Yerwandtschaftslehre.
DUQ eintretenden Dissociationsgrad der Saare bezeichnet, und die Glei-
cbuntr nimmt die Gestalt an — i -, — = KV. Nimmt man der Ein-
^ 1 — a
fachheit wegen an, dass Y, das Gesamtvolum, in beiden Versuchen
gleicb gemacbt wird, so sind die beiden recbten Seiten der Gleichungen
einander gleicb (K ist die Dissociationskonstante der Saure), folglicb
miissen es aucb die linken sein. Daraus gebt bervor, dass a kleiner
als a sein muss, und zwar um so kleiner, je grosser a im Verbaltnis
zu a ist. Es wird mit anderen Worten die Dissociation einer scbwacben
Saure durcb die Gegenwart ibres Neutralsalzes berabgedriickt, und zwar
um so mebr, je scbwacber die Saure, und je grosser die relative Menge
de^ Salzes ist.
Ganz dieselben Betracbtungen gelten fiir den Fall einer scbwacben
Base, wie Ammoniak; aucb deren Dissociation wird durcb die Gegenwart
eines Ammoniaksalzes entsprecbend berabgedriickt werden. Nun batte
Arrbenius^) in einer friiberen Arbeit iiber den Einfluss der Neutral-
salze auf die Gescbwindigkeit der Esterverseifung durcb Basen gefunden,
dass diese Gescbwindigkeit beim Ammoniak in sebr bobem Masse durcb
die Gegenwart von Ammoniaksalzeu vermindert wird. Macbt man die
durcb andere Untersucbungen bewiesene Annabme, dass die Gescbwindig-
keit der Verseifung der Konzentration der Hydroxylionen proportional
ist, so erklart sicb dieser Umstand unmittelbar, denn es sind gerade
nacb Ausweis der Formel die (durcb a gemessenen) Hjdroxylionen,
deren Menge durcb die Gegenwart des Salzes vermindert wird. Und
dieser Zusammenbang liess sicb nicbt nur dem Sinne nacb feststellen,
sondem die numeriscbe Ausrecbnung der Formel unter Benutzung der
Leitfabigkeitswerthe fiir die in Betracbt kommenden Stoffe ergab eine
Tollig genugende- numerische tjbereinstimmung.
Ausser diesem Ergebnis liessen sicb nocb andere experimentell ge-
fundene Tbatsacben aus der Tbeorie ableiten. So war festgestellt worden,
dass aquivalente Mengen der verscbiedensten Ammoniaksalze den gleichen
verzogernden Einfluss baben; dies riibrt daber, dass sie alle gleicb viel
•Ammoniumionen entbalten und somit ein gleicbes a in der Formel er-
geben. Ein anderes Ergebnis der Yersucbe war, dass bei konstantem Salz-
gebalt die Verseifungsgescbwindigkeit fast unabbangig von der Ammoniak-
menge war (wabrend sie obne Salz annabemd proportional der Quadrat-
wurzel aus der Ammoniakmenge ist); aucb diese Beziebung ergiebt sich
unmittelbar aus der Formel. Denn da a gegen a verscbwindet, und
») Zeitschr. f. physik. Chemie 1, 110. 1887.
Die EntwlckluDg der Affinit&tslehre in den letzten zehn Jahren. 195
1-— a' von Eins nur wenig verschieden ist, so geht der Aasdruck iiber
in aa'=KV und es andert sich d proportional dem Volum. Bei starken
Basen, wie Kali oder Natron, ist nichts von solchen Erscbeinungen zu
beobachten^ wie sie das Ammoniak aufgewiesen bat; bier ist die Gegen-
wart der Neatralsalze fast obne Einfluss auf die Verseifungsgeschwindig-
keit Aucb dies findet in der Tbeorie seine Begriindung, denn diese Basen
sind nabeza Yollstandig dissociiert und ibre Dissocation erleidet, wie
eine entsprecbende Recbnang zeigt, durcb die Gegenwart ibrer Neatral-
salze keine Anderung, die einige Prozente Ubersteigt.
Zam Scblusse seiner Arbeit wendet sicb Arrbenius zu dem allge-
meineo Falle, dass in einer Losung beliebig viele Elektrolyte in be-
liebiger Zusammensetzung vorbanden sind. Die ausfubrlicben Recbnungen
werden an anderer Stelle gegeben werden; bier soil nur das allgemeine
Theorem aasgesprocben werden, in welcbem Arrbenius sein Ergebnis
ausspricbt. Es seien zwei Elektrolyte gegeben, die kein gemeinsames
Ion entbalten (konjugierte Elektrolyte); diese werden sicb zu zwei an-
deren nmsetzen, und samtlicbe nun vorbandenen Elektrolyte baben paar-
weise ein gemeinsames Ion. Nun denke man sicb diese vier Elektrolyte
2a solcben Konzentrationen gelost, dass immer je ein Paar mit gemein-
samem Ion isobydriscb sind, und von diesen Losungen vier Volume
a, b, c, d genommen, zwiscben denen die Beziebung bestebt
ad==bc
(a nnd d, sowie b und c bezieben sicb auf konjugierte Elektrolyte, die
kein gemeinsames Ion entbalten); es lasst sicb alsdann beweisen, dass
beim Vermiscben dieser Losungen sicb der Dissocationszustand nicbt
aodert, und alles unverandert bleibt. Daraus gebt bervor, dass zwiscben
den Tier Elektrolyten Gleicbgewicbt bestebt, wenn die Konzentrationen
ibrer Ion en die Beziebung ad = bc erfiillen, denn da die Losungen
isobydriscb sind, d. b. gleicbe Konzentration der entsprecbenden lonen
besitzen, so sind die Volumina a, b, c, d proportional den vorbandenen
Hengen eben dieser lonen.
Um diese fiir zwei entsprecbende Paare von Elektrolyten auf be-
liebig Tide auszudebnen, sind ganz abnlicbe Betracbtungen anzustellen.
Es mussen alle moglicben Elektrolyte in isobydriscben Losungen ge-
nommen werden, und diese sind in solcben Verbaltnissen zu miscben,
dass die Produkte der Volume der konjugierten Elektrolyte die Be-
ziebung ad=bc aufweisen. Diese Bedingung kann immer erfullt werden.
Freilicb gewabrt diese Betracbtungsweise keine einfacbe Recbenmetbode,
am in einem gegebenen Falle die Aufgabe zu losen, und man muss in
praktiscben Fallen zu Ann'aberungsrecbnungen greifeu.
13*
196 I- Geschichte der Yerwandtschaftslehre.
Eg ist sehr bemerkenswert, dass nicht nar dies Ergebnis ubercin-
stimmt mit dem auf der viel unzulaDglicberen hypothetischen Grundlage
mittelst des unentwickeltea Aktivitatsbegriffes friiher von Arrhenius ge-
fondenen (S. 171), sondern dass auch der Beweisgang viel tod der
friiheren Form beibebalten hat.
7. Heterogene Gleiohgewiohte. Durch die eben geschilderteo Ge-
danken war das Problem der cbemischen Gleicbgewichtszustande ia homo-
genen Losungen von Elektrolyten grundsatzlich gelost worden, und es
bandelte sich in der Folge wesentlich um AusgestaltuDg dieser Grund-
lagen. Ein besonders wichtiger Fall lag bier zunacbst vor, fur dessen
Losung bereits in der alteren Phase der Yerwandtschaftslehre wesent-
liche Momente gefunden worden waren, die Lehre von den heterogenen
Gleichgewichten. Hier ist zunacbst zu erwahnen, dass Guldberg und
Waage den Satz von der konstanteu aktiven Masse ,,unloslicher*' Stoffe
ausgesprochen batten, und dass Arrhenius und van't Hoff die Gleicfage-
wichte solcher Art darauf zuriickgefuhrt batten, dass von dem festen
Stoffe eine bestimmte Menge in Losung ging, die wie alle bekannten
Loslicbkeiten von dem Uberschusse des festen Stoffes unabhangig war.
Wie diese Betrachtung flir den Fall eines Salzes, das in lonen zerfallt,
zu erweitern ist, hat 1889 Nernst*) gezeigt.
Er fasst den Vorgang der Losung eines Nicbtelektrolyten zunacbst,
wie viele vor ihm, als dem der Verdampfung vergleicbbar auf; durch
die inzwischen entwickelte Theorie von van't Hoff ist er aber in die
Lage versetzt, an Stelle der annahernden Analogic die voUige Oberein*
stimmung der entsprechenden Gesetze darzulegen^ indem er den festen
Stoffen gegeniiber dem Losungsmittel ebenso einen Losungsdruck (Lo-
sungsteusion) zuschreibt, wie fliicbtige Stoffe dem Raume gegeniiber einen
Dampfdruck entwickeln.
Liegt nun ein Koi*per vor, welcher bei der Auflosung in andere
teilweise oder vollstandig zerfallt, so gelten die Gesetze, welche fiir die
Dissociation fester Stoffe in gasformige Bestandteile bekannt sind. Im
einfachsten Falle, wo sich zwei Dissociationsprodukte in aquimolekularen
Mengen bilden, gilt das Gesetz, dass das Produkt der beiden Eonzen-
trationen einen konstanten Wert annehmen muss, wenn Gleicbgewicht
eintreten soil. Die gesattigte Losung eines solchen Elektrolyts, z. B.
Kaliumchlorat in Wasser, wird also nicht mehr im Gleichgewichte bleibeu
konnen, wenn zu der Losung eine der beiden lonenarten im Oberschasse
gefiigt wird. So bcobachtete Nernst in der That, dass eine solche Lo-
') Zeitschr. f. phys. Chemie 4, 372. 1889.
Die Entwlcklong der Affinitfttslehre in den letzten zehn Jahren. 197
sung sowohl durch den Zusatz von Kalilauge, wie von Natriumchlorat-
losnng gefallt warde, wahrend die Losungen anderer Salze, die kein ge-
meinsames Ion enthielten, obne Einflnss waren. An Losungen von
Silberacetat liess sich die geforderte Beziehung mit ziemlicber Annahe-
ning sogar quantitativ nachweisen. Auch zeigte sich hier noch eino
besonders schlagende Bestatigung der Theorie: wahrend die gesattigten
Losungen von Silberacetat durch andere Acetate, z. B. das Natriumsalz
gefallt wurden, war freie Essigsaure ohne Einfluss. Dies riihrt daher,
dass die Saure nur in sehr geringem Grade dissociiert ist (und ihre Disso-
ciation durch die Gegenwart des Silberacetats noch herabgedruckt wird);
durch den Zusatz der Saure werden daher die Acetionen nicht merklich
Termehrt, und demgemass tritt auch keine fallende Wirkung ein. Dass
nicht die freie Saure an dem Ausbleiben der Fallung schuld war, liess
sich dadurch beweisen, dass andere schwerlosliche Salze , deren Sauren
stark dissociieii; sind, durch diese gefallt werden, wie z. B. Baryunmitrat
durch Salpetersaure.
Am Schlusse seiner Abhandlung erwahnt Nernst, dass ahnliche Be-
trachtungen auch auf den Fall Auwendung finden, dass das heterogene
Gleichgewicht nicht zwischen einer fliissigen und einer festen Phase be-
steht, sondem zwischen zwei fliissigen, z. B. bei zwei miteinander unvoll-
kommen mischbaren Losungsmitteln. So lasse sich beispielsweise eine
Molekulargewichtsbestimmung in ganz gleicher Weise auf die Vermin-
derung der Loslichkeit einer Fliissigkeit in einer anderen, wie auf die
Verminderung des Dampfdruckes durch den Zusatz eines in die andere
Phase nicht iibergehenden Stoffes begriinden. Doch hat er sich zunachst
mit dieser Andeutung begnUgt, und die weitere Ausflihrung dieses
Gedankens erst spater^) bewerkstelligt, wobei sich herausstellte, dass
ahnliche Ansichten nebst den wichtigsten Schliissen bereits friiher von
P. Aulich'), weun auch nur brieflich (im Herbst 1887) geaussert
worden waren.
In dieser Arbeit zeigt nun Nernst, dass unter der Voraussetzung
der drei Gesetze: des Henryschen Absorptionsgesetzes in seiner erwei-
terten Form, des Daltonschen Mischungsgesetzes (nach welchem jede
Stofhrt so wirkt, als sei sie allein vorhanden) und des dritten Ge-
seta^, dass lonen wie selbstandige Stoffe zu betrachten sind, sich alle
Fragen des heterogenen Gleichgewichts allgemein behandeln lassen. An
den Erscheinungen der Verteilung eines Stoffes zwischen zwei Losungs-
M Zeitschr. f. phys. Ghemie 6, 16. 1890 and 8, 110. 1891.
*) Zeitschr. f. phys. Ghemie 8, 105. 1891.
198 I- Geschichte der Yerwandtschaftslehre.
mitteliiy und den ganz analogen der Verdampfung eines Gemisches fliich-
tiger Stoffe wird entwickelt, wie nicht nur unter der Voranssetzong,
dass der Molekularzustand in beiden Phasen der gleiche sei^ sicb die
bekannten einfachen Verhaltnisse ergeben, sondern auch beim Aufgeben
dieser Voraussetzung scheinbar sehr verwickelte und widersprechende
Beobachtangsergebnisse eine einfache and zahlenmassig kontrollierbare
Deutung erfabren. Insbesondere springt die besondere Rolle des WasserB
in dem Hervorbringen der elektrolytiscben Dissociation sebr deutlich
hervor; weil in anderen Losungsmitteln die Dissociation so gut wie Null
isty so erfolgt die Verteilung eines teilweise dissociirten Elektrolyts in
der Weise, dass nur der nicht dissociierte Anteil eine Teilung erfahrt,
wahrend der dissociierte praktisch vollstandig in der wasserigen Phase
yerbleibt Die dadurch scheinbar entstehende grosse Yeranderlichkeit
des Teilungskoeffizienten, welcher zufolge beispielsweise Salicylsaure aus
konzentrierter Losung zu einem grossen Teile aus Wasser in Benzol iiber-
geht, wahrend in sehr verdiinnter Losung sich das Verhaltnis umkehrt,
findet nicht nur ihre voUstandige Erklarung, sondern die Versuche konnen
sogar dazu benutzt werden, um den Dissociationskoeffizienten solcher
Stoffe zu bestimmen und das Verdiinnungsgesetz (S. 191) zu priifen.
Durch die in den letzten Paragraphen geschiiderten einzelnen Fort-
schritte wurde die Theorie der freien lonen mit der bis dahin bestehen-
den Lehre vom chemischen Gleichgewicbt vollstandig vereinigt, und sie
hat auch bier ihre iiberall bewahrte klarende und fordernde Wirkung
in weitestem Masse bethatigt. In der Folge wird sich vielfache Gelegen-
heit ergeben, zu zeigen, wie nur durch diese Theorie ein voiles Ver-
staudnis der Erscheinungen ermoglicht und die Beseitigung von Wider-
spriichen bewerkstelligt werden konnte. Ihre Bedeutung auf diesem
Gebiete ist nicht geringer anzuschlagen, als in der Elektrochemie, und
bier wie dort sind neben den gelosten Aufgaben noch zahllose andere
Torhanden, die der Losung barren, nicht weil sie mit den gegenwartigen
Mitteln unlosbar waren> sondern weil die Fruchtbarkeit der neuen An-
schauungen zu gross gewesen ist^ als dass die wenigen Arbeiter auf dem
Gebiete bisher im Stande gewesen waren, die reife Ernte unter Dach
zu bringen.
Zweites Buch.
Chemisclie Dynamik.
Erstes KapiteL Chemische E^inetik.
1. Alteste Versuohe. Wie alles Geschehen in der Natur erfordert
anch jeder chemische Vorgang eine bestimmte Zeit, um sich zu yoII-
ziehen. Diese kann Bruchteile einer Sekunde und Jahre, ja Jahrtausende
betragen, je nach der Natur der aufeinander wirkenden Stoffe, nach
dem Mittel, in welchem der Vorgang stattfindet, nach der Menge der
wirkenden Stoffe in der Volnmeinbeit und endlich nach der Temperatur.
Die Gesetze, nach welchen chemische Vorgange verlaufen, sind erst
in jiingster Zeit im Zusammenhange studiert worden, wenn auch einzelne
Arbeiten iiber diesen Gegenstand ziemlich weit zuriickreichen. G. F.
Wenzel hat schon 1777*) aus der Zeit, welche verschiedene Metalle
zur Auflosung in einer Saure brauchen, einen Schluss auf ihre Ver-
wandtschaft zu dieser gezogen, und giebt an, dass die erforderliche Zeit
in dem Verhaltnis zunimmt, wie man die Saure verdiinnt. „Denn wenn
ein Saueres in einer Stunde eine Drachma von Kupfer oder Zink auf-
Io8et, so braucht ein halb so starkes Saueres zwei Stunden dazu, wenn
namlich die Flachen und Warme in alien diesen Fallon einander gleich
bleiben .« >)
Ihnliche Gesichtspunkte stellt BerthoUet in seiner Statique chimi-
que') anf. Auch er betont zunachst, dass ein chemischer Vorgang um
80 achneller sich vollzieht, je grosser die wirksamen Krafte sind. Gleich-
zeitig aber hebt er hervor, dass durch den Verlauf des Vorganges selbst
eine Ursache gegeben ist, welche denselben um so mehr verlangsamt, je
mehr er sich seinem Ende nahert. Denn mit der Abnahme der wir-
*) Lehre v. d. Verwandtschaft, Dresden 1777, S. 28.
*) a. a. 0. S. 30.
») I, 409.
L
200 n. Chemische Dynamik.
kenden Stoffe, wolche eine Folge ihrer Wechselwirkung ist, nimmt die
Energie dieser gleicbzeitig ab, und Yorgange, welche schnell und stiir-
misch begonnen haben, beendigen sich langsam und rnbig. BerthoUet
vergleicht diese Vorgange mit dem Temperaturausgleich zwischen zwei
yerschiedenen warmen Korpern und braucbt for sie das Wort Fort-
pflanzung (propagation) der chemischen Wirkung, nacb Analogie der
Fortpflanznng der Warme. Er dehnt diese Analogie noch weiter aus,
indem er den Stoffen eine spezifiscbe „chemische Leitfabigkeit" zuschreibt,
wie sie eine spezifiscbe Warmeleitfabigkeit besitzen.
Bemerkenswert ist endlicb, dass BerthoUet das von Newton aufge-
stellte Gesetz der Temperaturausgleichung, nacb welchem der Vbergang
der Warme in jedem Augenblick proportional der vorbandenen Tem-
peraturnnterscbiede erfolgt, nacb einem Hinweis auf den entsprecbenden
Verlauf des cbemiscben Vorganges, ausfiibrlicb auseinandersetzt. £s
liegt bier eine merkwiirdig genaue Vorabnung der tbatsacblicben Yer-
baltnisse vor, fiber die BertboUet keinerlei Massbestimmungen besass.
2. Die Beaktionsgesohwiiidjgkeit. Fiir das Yerbaltnis der bei
einem cbemiscben Yorgange umgewandelten Stoffmenge zu der Zeit, in
welcber die Umwandlung erfolgte, bat weder Wenzel nocb BertboUet
einen scbarf definierten Begriff aufgestellt. Dies gescbab erst durch
WiUielmy^), welcber die allgemeinen, von den alteren Antoren aufge-
stellten Grundldgen in matbematiscbe Fassung bracbte, obne, wie es
scbeint, von jenen Kenntnis zn baben. Wilbelmy untersucbte die Ein-
wirkung verscbiedener Sauren auf Rohrzucker. Dieser nimmt bekannt-
liob, wenn er in wasseriger Losung mit irgend welcben Sauren zusauL-
mengebracbt wird, Wasser auf und zerfallt in Dextrose und Lavulose:
Ci«H"0" + H«0 = 2C«Hi>0^ Dabei andert sicb das optiscbe Dreh-
vermogen sebr stark, und man kann aus dem zu irgend w^lchen Zeiten
gemessenen Werte desselben die Menge des umgewandelten Zuckers
leicbt berecbnen. Letzterer ist der einzige Stoff, welcber bier cbemische
Anderungen erfabrt; die vorbandene Saure bleibt, obwobl obne sie die
^Inversion'' des Zuckers nicbt stattfindet, unverandert
Wilbelmy macbt nun die Yoraussetzung, dass unter sonst gleich-
bleibenden Umstanden die Menge des in einem Zeitelement sich urn-
wandelnden Zuckers proportional der eben vorbandenen Menge unrer^
anderten Zuckers ist Die Annabme ist das yoUstandige Analogon der
Newtonscben Annahme fiir die Warmeleitung. Sie lasst sicb als eia
^) Pogg. 81, 413 and 499. -1860. — Elassiker der exakten Wissensch. 29.
Leipzig 1891.
Chemische Einetik. 201
Einzelfall des allgemeinen Prinzips auffassen, dass in jedem Falle die
Geschwindigkeit, mit welcher ein in Umwandlang irgend welcher Art
begriffenes Gebilde sich dem Gleichgewichtszustande nahert, dem Ab-
stande Ton diesem Zustande proportional ist. Allgemein lasst sich dieser
nAbstand*' durch den Intensitatsunterschied der in Frage kommen-
den Enei^e, gemessen von dem augenblicklichen Werte bis zu dem des
Gleichgewichts, definieren. Die Tbeorie der Reaktionsgescbwindigkeiten
von diesem Standpunkte aus wird weiter nnten erortert werden.
Sei A die ursprlingliche Zuckermenge, und sei'zur Zeit ^ die Menge
X nmgewandelt, so ist das Verhaltnis der im Zeitelement d^ umgewan-
delten Menge dx za dieser Zeit gegeben durcb
dx - ,. .
WO A — X der nicht verwandelte Rest des Zuckers, und k eine Kon-
dx
stante ist. Der Quotient -7— soil die Geschwindigkeit des chemi-
schen Vorgauges, oder die Reaktionsgeschwindigkeit genannt
werden. Wilhelmys Annahme ist also die, dass die Reaktionsgeschwin*
digkeit in jedeih Augenblicke der Menge reaktionsfabigen Stoffes in dem
luiTeranderlichen Tolum, oder seiner Konzentration proportional ist.
Urn die Stichhaltigkeit dieser Annahme zu entscheiden, muss man
die Gleichung int^rieren. Sie giebt
— In (A — x) ==^k d- + const.,
wo In den naturlichen Logarithmus bedeutet. Zur Bestimmung der Kon-
stant^i setzen wir fest, dass die Zeit von dem Augenblicke gezahlt
werde, wo die Zuckerlosung mit der Saure in Beriihrung kommt Es
ist dann gleichzeitig x = 0 und ^ = 0. Unter dieser Bedingung wird
const = — In A und wir haben
InA — ln(A — x) = k*
Oder
x = A(l — e-^^),
wo e die Basis der natiirlichen Logarithmen ist
Will man die oben erwahnte Voraussetzung fur den Anfang der
Zahlung nicht machen, so sei die Zeit der ersten Messung ^o> und es
werde alsdann der Wert Xo gefunden. Alsdann ergiebt die Elimination
der Eonstanten
ln(A — Xo) — ln(A — x) = k(^ — ^o),
welehe Form symmetrisch und fiir die Rechnung nicht unbequemer ist.
202
II. Chemische Dynamik.
Auch rechnet man bequemer mit dekadischen Logarithmen. Da
diese das 04343 -f ache der natorlichen sind, so ergiebt sich bei beider*
seitiger Multiplikation mit diesem Faktor
log (A — Xo) — log ( A — X) = 04343 k (^ — ^o) ,
wo unter log dekadiscbe Logarithmen zu verstehen sind.
Wilhelmy hat seine Gleichung darch den Versuch gepriift. Indem
er eine Reihe zusammengehoriger Werte von x und d- beobachtete, wo-
bei X aus den im Polarisationsapparat gemessenen Drehungswinkeln be-
recbnet wurde, erhielt er folgende Tabelle.
&
Drehungswinkel
^^« A X
i *^« A- X
0
4675
15
4375
0-0204
0-001360
30
4100
0-0399
0-001330
45
38-26
0-0605
0-001344
60
35-75
0-0799
0-001332
76
33-25
0-1003
0-001337
90
3075
01217
0001352
105
28-25
01441
0-001371
120
26-00
01655
0001379
150
22-00
0-1981
0-001321
180
18-25
0-2480
0-001378
210
15-00
0-2880
0001371
240
1150
0-3358
0001399
270
8-25
0-3851
0-001425
330
275
0-4843
0-001465
390
— 1-75
0-5842
0-001499
450
4-50
06611
0-001471
510
7-00
0.7447
0-001463
670
8-75
08142
0001431
630
— 10-80
08735
0001386
oo
- 18-70
— .
Der Drehungswinkel fur die Zeit ^ = 0 ist der der urspriinglichen
Zuckerlosung, der zur Zeit ^ = oo der Drehungswinkel derselben Zucker-
losung nach voUstandiger Inversion. Da die Zuckermenge dem Drehungs-
winkel proportional ist, so ist A = 46-75 + 18'70 = 65-45, und x gleich
46*75 minus dem jeweilig beobachteten Drehungswinkel zu setzen. Ich
habe die im Original nicht vollstandig durchgefuhrte Berechnung des
Ausdruckes log-r ausgefiihrt, wobei ich mich statt der natiirlichen
A — x
Logarithmen Briggischer bedient habe, da beide proportional sind und
es hier nur auf die Verhaltnisse ankommt Die letzte Spalte zeigt die
Ghemische Einetik. 203
1 A
Grosse k = - log , welche der Theorie nach konstant sein soil.
& A — X
Die Forderung findet sich annahernd erfullt; das Anwachsen der Werte
bis ^ = 390 und ibre Abnahme dariiber binaus erklart sicb vollig aas
der wechselnden Temperatnr, welcber die Losung aasgesetzt war. Diese
betnig anfangs 15-5®, war bei i^ = 360 auf 18^ gestiegen and nabm
schliesslicb wieder bis auf 14-5® ab.
Spater sind ahnliche Versache von Fleury ^) mit gleichem Resultate
ausgefuhrt worden, und in neuerer Zeit hat Ostwald') eine grosse Zahl
derartiger Bestimmungen zu anderen Zwecken gemacht, welche alle das
gleiche ergaben.
3. Weitere F&lle. £s fragt sich nun, ob das fiir den Rohrzucker
gefimdene Ergebnis, wie Wilhelmy annahm, eine allgemeine Bedeutung
hat Der Versuch hat diese Frage in bejahendem Sinne entschieden.
Wo immer ein dem geschilderten ahnlicher Vorgang verlauft,
indem ein einziger bestimmter Stoff zeitliche Anderungen erfahrt, wobei
die ausseren Umstande, zunachst die Temperatur, und namentlich auch
die homogene Beschaffenheit des Mittels> in welchem der Vorgang vor
sich gehty unverandert bleiben, gilt dasselbe logarithmische Ge-
setz. Von Bestatigungen dafiir seien die folgenden angefiihrt.
Chlorwasser verwandelt sich unter dem Einflusse des Lichtes in
Chlorwasserstoff und Sauerstoff. Die Geschwindigkeit des Vorgangcs ist
bei konstanter Lichtstarke proportional der jeweilig vorhandenen freien
Chlormenge, wie das G. Wittwer gezeigt hat. Die Zahlenbeispiele dafur
sind bereits an einem friiberen Orte (II, 1, 1034) angefiihrt.
Harcourt und Esson zeigten 1865'), dass auch ganz andere Vor-
gange demselben Gesetz folgen. Wenn iibermangansaures Kali mit
einem grossen tiberschuss von Oxalsaure reduziert wird, so verschwindet
es gleichfalls der logarithmischen Formel gemass. Die nachfolgende
Tabelle bezieht sich auf ein Gemenge von KMnO* + 7MnS0* +
54C*0*H' in viel Wasser gelost, die Temperatur war 16® C.
^ (Minuten)
z
1 A
04343 1
0
0
—
2
5-2
00232
0-0116
5
121
00560
0-0112
8
187
381. 1876.
00899
00112
') A. ch. ph. (5) 7,
") J. pr. Ch. (2) 29,
385. 1884.
'] Pha. Trans. 1866,
193.
L
204 ^- Chemische Dynamik.
^ (Minuten) x log
11
251
14
313
17
.36-0
27
507
31
56-0
35
60*9
44
684
47
717
53
75-8
61
79-8
68
83-0
oo
1000
* A~x
VfmitiJ J
01255
0-0114
01630
00116
01938
00116
03072
00114
0-3565
00115
0-3979
00114
0-5003
0-0114
0-5482
00117
0-6162
0-0116
0-6946
0-0114
0-7696
00113
Die Einheit von x ist von den Autoren so gewahlt, dass A = 100
ist; auch hier siud yon mir zur Berechnung^) Briggische Logarithmen
statt der naturlichen benutzt worden. Die Ubereinstimmung der Eon-
stanten k ist befriedigend.
Ahnliche Ergebnisse gab die von densolben Autoren spater ') darch-
gefiihrte Untersuchung der Wechselwirkung zwischen Wasserstofifhjper-
oxyd und Jodwasserstofif:
H«0« + 2HJ = 2H«0 + 2J.
Statt der genannten Reagentien kam ein Gemenge von Natriam-
hyperoxyd, Schwefelsaure und Jodkalium zur Verwendung, wobei die
Versuche so gefiihrt wurden, dass je eine kleine gleicbe Menge von
unterschwefligsaurem Natron folgeweise zu derselben Losung gefiigt und
die Zeit bestimmt wurde, bis das durch etwas Starke sicbtbar gemachte
Auftreten von freiem Jod den stattgehabten Umsatz erkennen liess.
Die nachstebende Tabelle lasst trotz dieser verwickelten Verhalt-
nisse die Giiltigkeit des logaritbmischen Gesetzes erkennen.
^ X log
457 1
937 2
14-50 3
19-87 4
25-57 5
31-68 6
3820 7
* A-x
vr-atsLr-aBLr a
0-0213
0-00466
0-0437
0-00466
0-0672
0-00464
0-0921
0-00464
0-1185
0-00464
01467
a0O463
0-1768
0-00468
') Die Autoren geben zum Vergleich berechnete Werte tod y^-A — x; icb
babe es Yorgezogen, die Eonstante k zu berechnen.
*) Phil. Trans. 1867, 117.
ChemlBche Kinetik.
d
X
1 A
04343 k
45-23
8
02091
0-00462
5282
9
02441
0-00462
6112
10
0-2820
0-00461
7015
11
03257
000464
80.08
12
03699
0-00462
91.27
13
04207
0-00461
10388
14
04789
0.00462
118.50
15
0.5463
000462
13585
16
• 0-6260
000461
157.00
17
07235
0-00461
18453
18
0.8508
0.00461
22345
19
10297
000461
29118
20
13412
0-00461
oo
2095
— .
205
In einer Reihe andei'er Versuche, die unter anderen Mengen- und
Temperaturverfaaltnissen angestellt wurden, bewahrte sich iiberall das-
selbe Gesetz, indem nur die Eonstante k yerschiedene Werte annahm.
Wesenilich ist dabei allerdings, das Jodwasserstofif, resp. Jodkalium,
stets in reichlichem tlberschusse Yorhanden ist: die Bedingung war
stets erfullt.
Die theoretischen Betrachtungen, welcbe Esson an diese Ergebnisse
fainpft, werden spater Erwahnung finden.
4. Eatalyse des Methylacetats. Wasserige Losungen von Methyl-
aoetat zerfallen, sicb selbst iiberlassen, sehr langsam in Metbylalkobol
and Essigsanre. Setzt man eine kleine Menge einer anderen Saure hinzu,
80 wird der Vorgang sehr bescbleunigt und erfolgt der logarithmiscben
Gleichung gemass. Ich babe zu anderen Zwecken eine grossere Anzahl
derartiger Reaktionen untersucht ') , und stets einen sehr genauen An-
schluss an die Erfahrung gefunden.
Man kann die Menge des zersetzten Esters in jedem Augenblicke
leicht durch Titrieren mit Barytwasser erfahren. Es wurden z. B. 10 com
Dormaler Salzsaure (3646 g im Liter) , mit 1 ccm Methylacetat yersetzt
und mit Wasser auf 15 ccm verdiinnt. Unmittelbar nach der Bereitung
worde zur Neutralisation yon 1 ccm des Gemisches 13-33 ccm yerdiinntes
Barytwasser yerbraucht, die der freien Salzsaure entsprechen. Nach
14 Minuten wurden 14-25 ccm, also 0*92 mehr yerbraucht, nach 34 Mi-
naten 1547, also 2-14 ccm mehr, und so fort. Nach sehr langer Zeit
war der Verbrauch 27*44, also 144 1 ccm mehr. Diese 14-11 ccm sind
») J. pr. Ch. 28, 449. 1883.
206 n. Chemische Dynamik.
das Mass der gesamten zersetzbaren Menge des Methylacetats; man kann
also die Grosse A == 14-11 setzen, wahrend die Zahlen 0-92, 2*14 u. s. w.
die x-Werte darstellen. In der folgenden Tabelle finden sich die Mes-
sungen zusammengestellt.
^
X
1 A
^og-
A — X
1 1 ^
14
0-92
0-0292
0-00209
34
214
00716
0-00211
59
•352
01249
0-00212
89
491
0-1858
0-00209
119
645
0-2487
0-00209
159
759
0-3354
0-00211
199
8-82
0-4260
000214
239
9.77
05129
000214
299
10-88
0-6402
000214
399
1213
0-8539
0-00214
539
1309
11427
0-00213
oc
1411
__
0-002118
Die erste Spalte enthalt unter ^ die Zeit, die zweite die Menge x
des zersetzten Esters (ausgedriickt in ccm Barytwasser), die dritte den
Wert des Ausdruckes log- und die vierte den Quotienten dieees
A — X
durch die Zeit, welcher der Theorie nach konstant sein soil. Wie man
siehty ist diese Forderung mit grosser Annahemng erfiillt.
Von weiteren Beispielen gebe ich zunachst eine Reihe, die mit
einer zehnfach geringeren Salzsanremenge ausgefubrt wurde.
A 1 A
^ X log
300 200
600 3-70
900 5-13
1440 7-23
1620 7-91
1920 8-74
2100 926
2880 10-87
3540 11-87
4320 1246
oc 1398
* A X
V ^"•^ A X
0-0669
0-000223
01337
0-000221
0-1986
0-000221
0-3161
0000220
0-3625
0000224
04260
0000222
04711
0-000224
0-6536
0.00n227
0-8041
0-000227
0-9666
0-000224
00002233
Der fruher gemachten Bemerkung yod Wenzel (S. 199) entsprechencL
ist die Geschwindigkeitskonstante bei der zehnfachen VerdiinnuDg auf
etwa ein Zehntel ihres friiheren Wertes faerabgegangen. Die genauere
Chemische Einetik. 207
Untersuchung der hieran sich kniipfenden Fragen wird an spaterer Stelle
Torgenommen werden.^
Als Beispiel fiir die Wirkung anderer Sauren sei noch eine Reihe
mit 10 ccm normaler Monocliloressigsaure, die nach Zusatz von 1 ccm
Methylacetat auf 15 ccm yerdiinnt wurden, angafuhrt. Es ergab sich:
&
X
1 A
^^«A X
1 1 A
1571
4-22
0-1599
0-0001017
3206
7.39
0-3863
0-0001049
3300
7.48
0.3429
00001038
3424
7.73
0-3605
0.0001053
4313
8-78
0-4449
0-0001031
4740
9-28
0-4908
0-0001035
5775
10-30
0-6055
0-0001049
6187
10-48
06289
00001017
oo
1370
___
0-0001036
Die Eonstante ist etwa 20 mal kleiner, als die mit der aquiyalenten
Menge Salzsaure gefundene. Uber ihre Beziehungen zu den Eigenschaften
der Sauren wird weiter unten Mitteilung gemacht werden.
5. Versnohe von vuit Hoff^). Beim Eochen mit Wasser geht die
aus Fmnarsanre und Brom entstehende Bibrombernsteinsaure in Brom-
maleinsaiire and Bromwasserstoffsaure liber,
C* H* 0* Br« = C* H» 0* Br 4. HBr;
dabei yermehrt sich der Titer der Saore im Verbaltnis 2:3. Die ur-
sprongliche Losang brauchte 10*21 ccm Barytwasser, die vollstandig zer-
setzte 15-32 ccm, und die Oberschiisse der zur Zeit ^ gefundenen
Mengen liber 10-21 stellen die Grosse x dar, wahrend 15-32 — 10«21 =
oil fiir A einzufiibren ist. Es wurde gefunden:
^ (Minaten) Titer
0 10-21
2 10-53
4 1079
6 11-05
8 11-25
10 11-55
13 11-94
16 12-29
19 1253
22 12-84
IT
1 A
\f\rr
JL
^^^^ A X
0-00
—
032
00281
00141
058
00624
00131
0.84
0-0776
00129
104
0-0988
00124
134
0-1320
00132
1-73
0-1795
00138
2.08
0-2269
00142
231
02612
0-0138
263
03116
0-0143
*) ^des de djnamique chimiqae, Amsterdam 1884. S. 14.
208 II* Chemische Dynamik.
^ (Minuten)
Titer
26
1303
30
1330
34
1357
39
13-71
45
1405
52
14-32
60
14-52
71
1469
90
1503
X
log -T^
A — X
1
, A
^^«A X
2-82
0-3487
0-0134
309
0-4027
0-0135
3-36
0-4647
0-0137
3-50
0-5009
0-0129
3-84
0-6038
0-0135
4-11
' 07077
00137
4-31
08041
0-0135
4-48
0-9066
0-0128
4-82
12441
0-0188
Die letzte Reihe beweist wieder darch ihre Konstanz die Richtigkeit
der angewandten Gleichong.
Eine zweite Versuchsreihe desselben Autors bezieht sicfa aaf die
Umwandlung der Monochloressigsaure in Glycolsaure nacb der Formel
CH« Cl.COOH + H« 0 = CH« (OH).COOH + HCl.
Die Reaktion erfordert zwei verschiedene Stoffe; unter den Versucha-
umstanden aber, in verdiinnter wasseriger Losung, ist der eine Bestand-
teily das Wasser, in so reichlicher Menge vorhanden, dass man die
Andeningen, welche seine Menge erfahrt, vemachlassigen kann. Das
gleiche gilt fiir die Mehrzabl der friiher erorterten Falle.
Durcb den Yorgang nimmt die Aciditat der Fliissigkeit im Yer-
haltnis 1 : 2 zu. Bei einem Yersuche war der urspiiingliche Titer 12-9; da
derselbe sich durcb die Zersetzimg verdoppelt, so ist gleichfalls A = 12*9
zu setzen. Die Temperatur war 100 ^ das iibrige sagt die Tabelle.
(Stunden)
Titer
X
^^^«A-x
0
12-9
0-0
0-000158
2
13-45
0-55
0-000195
3
13-9
10
0000192
4
14-2
13
0-000170
6
14-6
17
0-000184
10
15-8
2-9
0-000176
13
16-4
3-5
0-000173
19
17-6
4-7
0-000165
25
185
5-6
0-000187
345
20-5
7-6
0-000155
43
20-65
765
0-000159
48
21-3
8-4
Auch bier scbwanken die Zahlen der letzten Eolumne unregekuassig
um einen Mittelwert.
6. Anf&ngllche Storungen. Der Augenblick, in welcbem eine die-
miscbe Reaktion beginnt, ist gewobnlicb nicbt scbarf zu definieren, da
Chemische Kinetik. 209
das Zusammenbringen der erforderlichen Stoffe und ibre Vermischung
zu einem gleichformigen Ganzcn Zeit erfordert. Aacb treten hierbei
haufig WarmetonuDgen auf, welche bei der grossen Abhangigkeit der
Reaktionsgeschwindigkeiten von der Temperatur gleicbfalls erheblicbe
Fehler verursacben konnen. Diese Umstande sind um so storender, je
grosser die Reaktionsgeschwindigkeit ist.
Daher ist es nicht zweckmassig, die Zablung mit dem Augenblicke
der Vermischung za beginnen, sondern man thut besser daran, als Aus-
gangspunkt einen Moment zu wahleu, in welcbem die erwabnten Sto-
niDgen sich schon ausgeglichen haben. Die Rechnung erfolgt demgemass
nach der zweiten Formel auf S. 201, welche ohnedies nicht mehr Arbeit
bedingt, als die erste, und man verwendet als Ausgangswerte x^ und
^0 die des ersten Versuches.
Hiermit ist gleichzeitig ausgesprochen, dass man die Rechnung iiber-
haupt von jedem beliebigen Punkte der Versuchsreihe beginnen kann,
ohne dass das Ergebnis geandert wird. In der auf Seite 206 unten ge-
gebenen Tabelle z. B. soil die dort mit 300 bezeichnete Zeit zum An-
fangspunkt gewahlt werden. Die Zeiten sind dann um 300 und die
Grossen x um 2*00 zu vermindern, wodurch die folgende Tabelle entsteht.
^ X log ^ -- .
300
170
600
313
1140
523
1320
5-91
1620
674
1800
726
2580
8-87
3240
9-78
4020
10-46
oc
1198
*A X
Axuuovckiivc;
00665
0-000223
01315
0-000219
02493
0-000218
02952
0000224
0-3591
0-000222
0-4045
0000225
0-5850
0-000227
07352
0-000227
0-8996
0000224
^^
00002232
Der Mittelwert der Konstanten ist von dem friiher gefundenen
0-0002233 nicht verschieden.
Auf gleicher Grundlaga kann man auch die Reaktionskonstante fiir
jedes beliebige Intervall zwischen zwei Messungen bestimmen. Man hat
dann fur zwei Paar zusammengehorige Werte, x^^i "^^ Xj,^^:
ln(A— xj — ln(A — Xj,) = k(^g — ^i).
Die Grosse A ist wieder die Menge umsetzbaren Stoflfes zur Zeit
* = 0.
Diese Rechnung kann dazu dienen, Storungen, welche wahrend des
^organges eintraten, zu erkennen.
Ostwald, Chemle. U,2. 2.Aufl. 14
210 II- Chemische Dynamik.
7. Der Bndwert. Die Menge A des reaktionsfabigeu Stoffes lasst
sich haufig aus den Aufangsbedingungen des Versuches entnehmen.
Sicherer aber ist es, den Versuch so lange fortzusetzen, bis der End-
zustand, wo A — x = 0, eingetreten ist, und aus dem Unterschiede zwi-
schen Anfangs- und Eudwert die Grosse A zu berechnen. Betrachtet
man aber die Gleichung
ln(A-Xo)-ln(A-x) = k(^~^o),
so ergiebt sich, dass fiir A — x = 0 die linke Seite unendlich gross
wird, also auch ^ — ^^ = 00 wird: der Gleichgewichtszustand tritt,
tfaeorctisch gesprochen, erst nach unendlich langer Zeit ein.
Indessen lasst sich^) leicht die endliche Zeit bestimmen, in
welcher der Endzustand bis auf einen bestimmten Fehlbetrag erreicht
ist. Setzen wir, was bier keine Einbusse an Allgemeinheit bedingt,
A = 1, Xq = 0 und d-Q = 0, und fiihreu dekadiscbe Logaritbmen ein,
so haben wir _ log (i _ x) == 04343 k^.
Setzen wir nun folgeweise x = 0-5, x = 0-99 und x = 0-999, so
ergeben sich die zugehorigen Zeiten d-^^ d-^f d-^i
0.3010 » 0-4343 k»,
^ 2-00 » 04343 k»,
300 » 04343 k »,
Es verhalten sich also die Zeiten, in welchen die Umsetzung 0-5, 0-01
und 0*001 der urspriiuglichen Stofifmenge iibrig gelassen hat, wie:
^j : ^j: ,9^3 = 0-30 : 2: 3 = 1 : 67 : 10,
d. h., damit nicht mehr als 1 Prozent an der voUstandigen ReaJstion
fehlt, ist der 6*7-fache Betrag der zur halben Umsetzung erforderlichen
Zeit notig; damit der Fehler nicht liber ein Promille ist, der zehnfache
Betrag. Nun ist es leicht, einen angenaherten Wert von A aus der
Bcobachtung des Wertes ^on x zu entnehmen, bei welchem diese Grosse
nur noch kleine Anderungeu in der Zeit erfahrt;, die Zeit, welche zur
Halfte dieses Wertes von x gehort, ist die Zeit fiir x = 0'5, und da
die analytischen Hilfsmittel eine Genauigkeit von 0-OUl gewohnlich nicht
erreichen, so ist der zehnfache Betrag dieser Zeit ausreichend, uxn einen
praktisch richtigen Endwert zu erhalten.
Wendet man z. B. die Regel auf die Tabelle S. 206 oben an, so. ist
bei 399 Min. x= 1213, bei 539 Min. x = 13-09 beobachtet worden; die
Auderung ist so langsam gewordcn, dass man den Endwert bei 14 oder
15 erwarteu kann; x = 7 oder 7*5 ist also die Halfte der Reaktion.
>) Ostwald, JourD. f. pr. Chem. 28, 449. 1883.
Chemische Kinetik. 211
Fiir x = 7-59 finden wir ^=159 Min. in der Tabelle; nach der zehn-
fachen Zeit, oder 1590 Min., d.h. nach etwas mebr als 24 Stunden, habcn
wir fur x einen Wert zu erwarten, der auf ein Promille gleich A ist.
In der That haben die Versuche ergeben, dass der nach einem Tage
gefandene Titer sich wahrend mehrerer weiterer Tage unverandert hielt
Endlich ist zu bemerken, dass, wie sich leicht aus der Form der
Gleichung , A
In = k^
A — X
ergiebt, die Einheit, in welcher A and x gemessen wird, keinen Ein-
fla^ anf den Zahlenwert von k ausiibt. Denn misst man etwa in einer
B-mal kleineren Einheit, so erhalt man nA statt A and nx statt x;
nA
aus dem Bruch — hebt sich aber der Faktor n wieder fort.
nA — nx .
Es ist mit anderen Worten die Funktion — von der Dimension
A — X
Null in Bezug auf die Stoffmenge, und deshalb unabhangig von der
Einheit, in der sie gemessen wird.
8. Allgemeines. Aus den vorstehend mitgeteilten Versuchsergeb-
nissen ergiebt sich allgemein, dass unabhangig von der Natur der che-
mischen Reaktion, ihr Verlauf durch ein ganz bestimmtes Gesetz geregelt
ist, vrelches seiner Form nach mit dem fiir die Warmeleitung und Dififu-
sion giltigen iibereinstimmt. Von den Stofifen, an welchen die Reaktion
stattfindet, sowie von der Temperatur, und den anderen Umstanden
hangt nur eine Konstante ab; durch diese ist der zeitliche Verlauf des
Vorganges endgiiltig bestimmt.
Die Voraussetzung, aus welcher das Gesetz zuerst von Vt^ilhelmy
abgeleitet wurde, ist, dass die Wirkung in jedem Augenblicke
proportional der wirksamen Menge des aktiven Stoffes ist.
Dieee Annahme stimmt mit alien entsprechenden Annahmen Uber Wir-
kungen anderer Art liberein und hat schon dadurch eine gewisse Wahr-
scheinlichkeit; durch die Erfahrung wird sie ausserdem, wie eben ge-
zeigt wurde, allgemein bestatigt.
Indessen ist die Giltigkeit des Gesetzes an eine Reihe von Be-
dingongen gekniipft. Zunachst gilt es fiir homogene Gebilde, an welchen
keine Trennnngsflachen vorkommen. Die Abanderungen, welche es bei
heterogenen Gebilden erleidet, werden spater besprochen werden.
Femer ist eine notwendige Voraussetzung die, dass nur ein Sto£f
die Umwandlung erleidet, od^r dass nur die Umwandlung eines Stoffes
in Betracht kommt Der letztere Fall tritt ein, wenn zwar mehrere
14*
212 11- Chemische DyDamik.
Stoffe notwendig sind, aber bis auf einen in so grosser Menge vorhan-
den sind, dass die Anderung ihrer Menge durch den chemischen Vor-
gang nicht ins Gewicht fallt. In diese Kategorie gehoren die meisten
der besprochenen Vorgange, wenn nicht alle. £s kommt fiir die Ord-
nung der Reaktion also nicht auf die gesamte Anzahl der zur Reaktion
erforderlichen Molekehi an, sondem nur auf die Anzahl, welche wahrend
der Reaktion eine in Betracht kommende Anderung ihrer Gesamtmenge
erleiden.
9. Reaktionen zweiter Ordnung. Die eben eutwickelte Gleichung
fur den chemischen Vorgang gilt nur, wenn die Anderung der wirk-
samen Menge einen einzigen Stoff betrifft. Haufig sind aber zum Zu-
standekommen einer Reaktion mehrere Stoffe erforderlich, deren Menge,
wenn sie begrenzt ist, auf ihren Gang einen bestimmenden Einfluss
ausiibt.
Die Grundlagen bleiben auch fiir diesen verwickelteren Fall un-
yerandert; die Reaktionsgesch wind igkeit wird proportional der wirksamen
Menge jedes einzelnen Stoffes anzusetzen sein. Da sie jedesmal gleich
Null wird, wenn die Menge eines wirksamen Stoffes Null ist, so ist die
Funktion, welche die Reaktionsgesch windigkeit ausdriickt, durch das
Produkt der aufeinander wirkenden Mengen gegeben. Auch diese
Annahme stimmt ihrer Form nach mit dem Gesetz aller anderen Wech-
selwirkungen in der Natur iiberein.
Die Gleichung, welche fiir zwei aufeinander wirkende Stoffe den
Reaktionsverlauf ausdriickt, wird also Yon der Form sein:
-J^^ = k(A-x)(B-x).
Darin stellen A und B die urspriinglich vorhandenen Mengen der
wirksamen Stoffe und x den zur Zeit d- umgewandelten Anteil derselben
Yor. Damit man die Anderungcn beider Stoffmengen durch dieselbe
Veranderliche x ausdriicken kann, muss man diese nicht durch gewohii-
liches Gewichtsmass, sondem durch solche Gewichte messen, welche im
Verhaltnis der chemischen Aquiyalenz in Bezug auf die fragliche Reaktion
steben. Meist kann man als Einheiten die in Grammen ausgedriickten
Molekulargewichte benutzen, die friiher schon mit dem abgekiirzten
Namen Mol bezeichneten Grossen. So wird in Zukunft stets gerechnet
werden; die Menge 0-5 Mol Chlorwasserstoff z. B. ist gleich 18-23 g.
Unter diesen Bedingungen kann man sagen, dass bei jedem che-
mischen Vorgang gleichzeitig stets gleiche Mengen der wirkenden StofiFe
Yerschwindcn, und die Grosse x wird nicht nur das Mass dieser, son--
Chemische Kinetik. 213
dem auch das Mass des entstandenen Produktes sein, so dass sie den
Zostand des ganzen Systems eindeutig bestimmt.
Die Integration der obigen Gleichung nimmt etwas yerschiedonen
Verlanf, je nachdcm iiber die Grossen A und B verschieden verfugt
wird. Im einfachsten Falle, wo beide in Wecbselwirkung tretenden
Stoffe in aquiniolekularen Mengen vorhanden sind, haben wir A = B;
die Gleichung wird .
= k(A-x)«
QDd integriert
d^
1
A — X
= k^ + const.
Bestimmt man wieder die Eoustante so, dass x und d- gleicbzeitig
Kail sind, so folgt
11 X
-- = k^ Oder -r = Ak^.
A — X A A — X
Wird dagegen die Zeit von einem Augenblicke &q ab gerechnet, in
welchem x den Wert x^ hat, so folgt die Gleichung
1 1
A— X,
= k(*— {^o),
welche fiir die Rechnung bequemer ist.
Diese Gleichung hat eine ziemlich verwickelte Geschichte. Zuerst
fiodet sie sich (wenn auch in undurchsichtigerer Gestalt) von Berthelot^)
aof die Bildung der Ester aus aquivalenten Mengen Saure und Alkohol
tngewendet. Wir werden spater sehen, dass gerade fiir diesen Fall ein
anderer Ausdnick Platz greift, so dass die Gleichung zum ersten Male
fir einen Fall aufgestellt ist, auf welchen sie keine Anwendung findet.
Id sehr voUendeter Weise haben dann Harcourt und Esson') die
Geaetze des Yerlaufes chemischer Vorgange dargestellt, wobei dem erst-
geoannten der experimentelle, dem zweiten der theoretische Teil der
Untersuchong zufiel.
Die Autoren setzen gleichfalls, wie Wilhelmy, die Geschwindigkeit
des chemischen Vorganges der Menge umwandlungsfahigen Stoffes pro-
portional and gelangen, wenn nur ein solcher vorhanden ist, zu der-
wiben logaiithmischen Gleichung wie jener. Fiir den Fall, dass die
^erinderlichkeit der Menge zweier Stoffe in Betracht kommt, stellen
«e die eben gegebene Formel auf und zwar in richtiger Anwendung.
Dieselbe Gleichung findet sich unabhangig und fast gleicbzeitig von
') A. ch. ph. (3) ee, 110. 1862. •) Phil. Trans. 1866, 216.
214 n. Chemische Dynamik.
C. M. Guldberg und P. Waage entwickelt^) und ist dann spater voii
zahlreichen andereu Autoren angewendet worden.
10. Anwendungen. Es hat ziemlich lange gedauert, bis ein zu-
langliches Beispiel einer Reaktion zweiter Ordnung gefunden wurde. Die
altesten, ^on Berthelot herriihrendeu und von ibm in diesem Sinne bc-
rechneten Versuche gehorchen einer anderen Formel, und Harcourt und
Esson haben sicb vergeblich bemiiht, den typischen Fall mit aquiva-
lenten Mengen Oxalsaure und Kaliumpermanganat herzustellen; die
Abscheidung von Mangansuperoxyd storte jedesmal den regelmassigeD
Verlauf. Ebeusowenig batten Guldberg und Waage einen derartigen
Fall zur Verfugung.
Erst J. J. Hood^) fand «inen solchen in der Wechselwirkung zwi-
schen Kaliumchlorat und Ferrosulfat in saurer Losung. Doch enthalt
diese Reaktion eine prinzipielle Schwierigkeit, die spater Erorterung
finden soil, so dass sie bier nicbt als Beispiel angefiihrt werden kann.
Von solcben Schwierigkeiten frei ist eine von A. Warder*) unter-
sucbte Reaktion, die Verseifung der Ester mit Alkali. Sie erfolgt bei-
spielsweise nacb dem Scbema
CH»C00.C«H5 + Na + OH' === CIPOO'+Na + C«H^OH.
Seheinbar beteiligen sich drei Stoffe an der Reaktion, da sicb ebenso
viele auf der linken Seite der Gleicbung befindeu. Indessen iiberzeugt
man sich alsbald, dass der Stoff Na', das Natriumion, an der Reaktion
liberhaupt keinen Anteil nimmt, da es auf beiden Seiten in gleicher
Weise auftritt. Somit kann die Reaktion geschrieben werden
CH^COO.C^Hs + OH' = CH»COO'+ C«H^OH
und ist, da beide Stoflfe, Ester und Hydroxyl, bei der Reaktion ver-
anderlich sind, in der That zweiter Ordnung.
Warder hat wasserige Losungen von Athylacetat mit aquivalenten
Mengen Natron versetzt und von Zeit zu Zeit Proben des Gemenges
mit verdiinnter Saure titriert. Die zugesetzte Natronmenge wiirde bei
jedem Versuch 16-00 ccm Saure verbraucht haben. Da sie aber Essig-
saure abspaltete und sich mit derselben sattigte, waren zunehmeiid
geringere Sauremengen erforderlich, welche unter s angefiihrt sind;
daneben sind die Grossen von x = 16*00 — s verzeichnet. Die andcrou
X 1 X
Kolumnen der Tabelle enthalten die Werte : und - -7-7 :=Ak.
A — X 0- (A — x)
^) Etudes sur les affinitds chimiques, 10. GhriBtiania 1867.
*) Phil. Mag. i5) 6, 371. 1878.
*) Ber. 14, 13G1. 1881. Ausfabrlicher: Americ. Chem. Journ. 3, Nr. 5. 1882«
■
Chemische Kinetik.
& (Minaten)
s
X
A" X
Ak
5
1024
576 0563
0113
15
613
9-87 1601
0-107
25
4-32
1168 2705
0108
35
341
1259 3-69
0-106
55
2-31
13-69 5-94
0-108
120
110
14-90 1355
0113
215
Ein weiteres Beispiel sei einor Untersuchung entnommen, welche
ich iiber die Umwandlung des Acetamids durch Siiuren ^) ausgefiihrt
babe. Die Reaktion erfolgt nach dem Schema:
CH»CONH« + A'+ H + H«0 = NH*'+ A'+ CH»CO*H,
wo A' das Radikal irgend einer Saure and A'H' diese selbst darstellt.
Der Vorgang besteht also in der Bildung von Essigsaure und NH^'-
ionen auf Eosteii des Acetamids und der Wasserstoffionen; diese veF*
schwinden bei der Beaktion in aquimolekularer Menge. Das gleichjseitig
verbrauchte Wasser ist in so grosser Menge da, dass seine Mengen-
anderung nicht in Betracht kommt, und die entstehenden Produkte
sind bier ohne Einfluss aiif die Reaktion. Es folgt eine Tabelle iiber
die Wirkung der Trichloressigsaure bei 65 ^ Die Sjahlen sind com
Stickstoflf, A hat den Wert 26-80.
l^iMinuten) x — Ak
A— X
15 3-18 0-132 00088
30 552 0-260 00087
45 761 0-397 0-0088
60 923 0-525 00088
90 12-01 0-811 00090
120 13-82 1065 0-0089
150 1551 1-375 0-0092
180 16-59 1-623 00090
240 18-33 2-169 00090
Wieder zeigt sich eine geniigende Konstanz der Grosse Ak.
Endlich soil noch eine von Schwab ausgefuhrte und von van't Ho£f ')
mitgeteilte Versuchsreihe Platz finden. Sie bezieht sich auf die Um-
wandlung von monochloressigsaurem in glykolsaures Natron durch eine
aqoiyalente Natronmenge und erfolgt nach dem Schema:
CH«C1.C00'+ Na + Na + OH' = CH«OHCOO'+ Na + Na*+ CI',
') Jonrn. f. pr. Chem. 27, 1. 1883.
^ fitodes de dyn. chim. 20.
216 n. Ghemische Dynamik.
oder anter Fortlassung der unverandert bleibenden lonen
CH«C1C00'+ 0H'= CH«(OH)COO'+ CI',
ist also in der That zweiter Ordnung, da die bei der Reaktion ent-
stehenden Stofife ohne Einfluss auf den Vorgang sind.
Die Bestimmung der umgewandelten Menge lasst sich auf die Ab-
nahme der alkalischen Reaktion der Losuug begriinden.
cr
JL
A — X
JXK.
9
080
00568
000631
19
160
01204
0-00633
29
215
0-1608
0-00555
59
375
0-3365
000571
89
4-90
0-4900
000551
119
595
0-6648
0-00559
149
6-90
0-8625
0-00579
179
760
1-041
000582
254
8-85
1505
000592
314
975
1895
0-00603
864
10-35
2-275
0-00608
oo
1490
—
Die ersten Werte fallen zu bocb aus, weil die Neutralisationswarme
bei der Herstellung des Gemenges von Monocbloressigsaure und Natron
die Reaktion bescbleunigt.
11. Allgemeine Bemerkung. Von der Gleicbung erster Ordnung
untcrscheidet sich die zweiter Ordnung durch einen bemerkenswerten
Umstand^). Die erste ist von den gewahlten Einheiten fur die Kon-
zentration ganz unabhangig (S. 211).
Wesentlich anders verhalt sich die Gleichang zweiter Ordnang,
denn aus x , ^
A(A — x)
wird, wenn wir in einer n-fach kleineren Einheit messen,
nx X ,
liA'(n A'- n x') ~ A'(A'-^') — °'^^»
d. h. die Konstante wird urn das n-fache grosser, wenn die Masseiuheit
n-mal kleiner genommon wird. Man kann hieran die beiden Arten der
Reaktion aucb unterscheiden, wenn durch storende Umstande scblechte
Konstanten erhalten werden.
12. Niohtaquivalente Mengen. Wenn A und B verschieden sind,
so giebt die Gleicbung der Rcaktionsgeschwindigkeit
») van't Hoff, fitudes S. 83.
Cboxnische Kinetik. 217
dx
das Integral
d^
= k(A— x)(B-x)
'" -xi^-f*-*)"*.
▼0 Id wieder den natiirlichen Logarithmus bedeutet.
Fur die Rechnung ist es bequemer, die Formel in der Gestalt
log (A— x) — log(B— x) — (log A — log B) = 04343 (A— B) k^,
bez. der entsprechenden Gestalt des zweiten Ausdrucks zu benutzen.
Versuche zumNacbweis dieser Beziehung sind gleichfalls von Hood^)
gemacht worden, docb konnen sie aus dem eben erwahnten Grunde bier
Doch nicht erortert werden. Zur Erlauterung der Rechnungcn sollen
Versuche von Reicher*) herangezogen werden, welche die Formel
bestatigen.
Die Versuche wurden angestellt, indem eine Losung von Essigester
and eine von Natron bei konstanter Temperatur gemischt und nach
bestimmten Zeiten titriert wurde; ferner wurde der Endtiter nach
24 Stunden, nachdem die Umsetzung beendet war, ermittelt. In den
nachstehenden Tabellen steht unter & die Zeit in Minuten, unter C
der Titer, ausgedriickt in ccm einer ,.. ^„ -normalen Losung. Bezieht
24'07
sich das A der Gleichung auf die Menge des Alkalis, so ist der Wert
von C fiir ^ = 0 gleich A, und B ergiebt sich daraus, dass fiir ^ = oo
der verschwundene Titer gleich der vorhanden gewesenen Estermenge
ist, also B = Co — Cgp. Dementsprechend ist A — x gleich dem je-
weiligen Titer A — x = Ct, und B — x gleich diesem, vermindert um
den Alkaliiiberschuss 0^^ , also B — x = Ct — C^. Der Wert von
B — X fiir d- = 0 ist natiirlich gleich B.
&
C — A — X
B — X
k
0
06209
O2903
—
374
05433
0-2127
00347
628
O5060
04754
0-0348
1048
04628
0-1322
0-0343
1369
0-4387
O1081
0-0344
oc
03306
000
—
Die Konstante k ist nach der Formel
•
») Phil. Mag. (5) e, 378. 1878. «) Lieb. Ann. 228, 257. 1885.
218 n. Chemische Dynamik.
, 1 , 1(>^^)
04343 (A — B).N^^^^ A(B — x)
berechnet, wo N der Titer der Lauge f - -normal bei diesen Ver-
suchen) bedeutet.
Sine zweite Versuchsreibe mit geringerem Natroniiberschuss gab:
^
A-x
B — X
k
0
05638
03114
—
393
04866
0-2342
00335
669
04467
0-1943
00342
1010
04113
01589
0-0339
1265
0-3879
01354
00346
oo
0-2524
0-0000
Wie man sieht, ist k nicbt nur konstant in derselben Versuchs-
reibe, sondern aucb unabhangig von dem Verhaltnis zwischen Alkali
and Ester. Dies muss so sein, denn k bedeutet die Menge des Esters
in Mol, welcbe bei der Konzcntration Eins (eiu Mol im Liter) von Ester
und Alkali in einer Minute verseift wird, wenn diese Konzcntration
wahrend der Zeit konstant gebalten wird. Diese Deutung ergiebt sich
unmittelbar aus der Form der Differentialgleichung auf S. 217 oben.
Reicber bat ebenso Versucbe mit eincm Gberscbuss von Ester an-
gestellt. Bei diesen vorschwindet der alkaliscbe Titer ganz, und der
nach der Reaktion noch vorhandcne Ester wird ermittelt, indem man
die Schlusslosung mit einer bekannten iiberscbiissigcn Natronmenge Yor-
setzt, und nach vollstandigerVerseifung mit Saure zuriicktitriert. Dieser
Betrag ist zu den Werten des Titers C, die wie friiher die Alkalimeuge
A — X darstellen, binzuzufiigen, um B — x zu erlangen; er ist unter
^ = (x> angegeben. Einige solche Reiben sind nachstebend mitgeteilt;
die Einheit ist ~r- ^-normal, die Temperatur wie friiber 15-8^
i50-4y
&
A — X
B — X
k
0
0-3509
0-3853
—
329
0-3042
0-3386
00350
645
0-2710
0-3054
0-0345
947
0-24r,l
0-2805
0-0342
oo
00000
0-0344
—
0
0-3910
0-6593
■^^
342
0-2885
0-5568
00346
670
0.-2239
04922
00347
888
0-1925
0-4605
0-0345
1103
0-1677
0-4350
0-0344
oc
0-0000
0-2683
—
Chemische Kinetik. 219
In der ersten Reihe siiid Natron und Ester nahe aquivalent; in
der zweiten stehen sie fast im Verbal tnis 1 : 2. Die Konstante hat
wieder den gleichen Wert, wie beim Natroniiberscbuss.
13. Ober die Formulierung der Beaktionen. An diese Versucbe
baben sicb alsbald und in der Folge einige fiir die Frage wicbtige Er-
orteruDgen gekniipft. Es wurde bereits erwabnt, dass zu der Zeit, als
die Deutung des Koeffizienten i von van't Hoflf (S. 185) durcb die Dis-
sociationstbeorie noch nicbt gefundeu war, von diesem die Annabme
gemacbt vurde, dass dieser Koeffizient die gloicbe RoUe spielen miisse,
wie die Molekularzablen ^). Ebenso, wie bei einer Reaktion, die sicb
zwiscben zwei Molekeln A und einer Molekel B abspielt, die Gescbwindig-
keit proportional dem Produkt (A — x) (A — x) (B — x) = ( A — x)* (B — x)
zu setzen ist, sollten Stoflfe, deren i-Wert von Eins abweicbt, diesen
Wert in den Exponenten bekommen. Nun ist gerade fur Natronlauge
bei den bier vorkommenden Verdiinnungen sebr nabe i = 2, und die
Gcscbwindigkeitsgleicbung batte dcmnacbst beissen miissen:
-^|- = k(A-x)»(B-x),
da beim E^ter i = l ist. Die Beobacbtung ergab dagegen, dass diese
Formel unricbtig ist, und die einfacbe (A — x) (B — x) der Wabrbeit
entspricbt.
Die Deutung dieses Widersprucbes gescbab, wie erwabnt, durcb die
Dissociationstbeorie. Nacb dieser ist der wirksame Stoff nicbt das
ganze Natriumbydroxyd, sondern nur das Hydroxy! darin, und die Re-
aktionsgleicbung muss so formuliert werden, wie es auf S. 214 ge-
scbehen ist, und erweist sicb als eine Gleicbung zweiter Ordnung.
Nocb nacb einer andoren Seite koimte dor Nacbweis gefubrt wer-
den, dass fiir die Reaktion nur der Dissociationstbeorie gemass das
vorhandene Hydroxyl, nicbt das Metall in Frage kommt Wird nam-
licb die Verseifung durcb das Hydroxyl eines zweiwertigen Metalles bo-
wirkt, so baben wir gemass der alteren Ansicbt die Gleicbung
2CH»COO,C«H» + Ba(OH)« = (CH3CO«)«Ba + 2C«H«OH,
und da links zwei Molekeln Ester auf eine Molekel Baryt kommen, so
miisste der Ausdruck fiir die Reaktionsgescbwindigkeit sein:
dx
d^
= k.(A — x)(B — x)«.
^} Die BegrQndang dazu, die in der thermodynamiachen Ableitung der Glelch-
gewichtsformel lag, kann erst sp&ter mitgeteilt werden.
220 II* Chemische Dynamik.
■■
Altere Versuche von Reicher^) batten indessen bereits gezeigt, dass
die Verseifung mit Baryt, Strontian und Kalk in alien Einzelheiten
durcbaus denselben Verlauf nimmt, wie die mit Natron, und sich voUig
durch die Reaktionsgleichung zweiter Ordnung darstelleu lasst Ganz
dasselbe ergab sicb aus spateren Versucben von P. Henry ^) iiber die
Verseifung der Laktone.
Die Erklarung ist wieder, dass es sicb nur urn die Wirkung der
Hydroxylionen bandelt, fur deren Einfluss es gleicbgiiltig ist, ob ibre
Existenz in der Losung als freie negative lonen durcb einwertige posi-
tive Natrium-, oder zweiwertige Baryumionen ermoglicbt wird.
Es wird scbon an dieser Stelle auf die Notwendigkeit bingewiesen, die
Gleicbung im Sinne der wirklicb vorbandenen und reagierenden Stoffe,
bier der lonen, zu formulieren, da der Ausdruck der Reaktionen nach
den friiberen Ausdrucksformen baufig zu Widerspriicben fUbren wiirde.
Die unter § 1 1 gemacbte Bemerkung Uber den Unterscbied im Ver-
balten der Konstanteu der Reaktionsgleicbungen zweiter Ordnung gegen
die erster Ordnung beziiglicb der Messungseinbeit gilt, wie man sich
leicbt iiberzeugt, aucb fiir den Fall nicbtaquivalenter Mengen.
14. GrenzfSlle. Lasst man B sebr klein gegen A werden, A = nB9
so gebt die Gleicbung
iiber in
In 3_° =(n-l)Bk»
und fiir unbegrenzt wacbsende Werte von n
In g-^ = (n— l)Bk^ = Ak*.
Die linke Seite stimmt mit der Formel der Reaktionen erster
Ordnung iiberein. Auf der recbten Seite gebt (n — 1)B in A Uber, und
der Einfluss der Konzentration des iiberwiegenden Anteils aussert sich
nur nocb in der Gestalt, dass der Koeffizient von ^, der dem Ge-
scbwindigkeitskoeffizienten der Reaktion erster Ordnung analog ist,
proportional der wirksaraen Menge von A wecbselt. Desbalb wird bei
ciner solcben Reaktion, wenn man die gesamte Reaktionsmasse auf
das m-facbe verdiinnt, aucb der Gescbwindigkeitskoeffizient auf
na
») Lieb. Ann. 228, 274. 1885.
*) Zeitschr. f. ph. Ch. 10, 96. 1892.
GhemiBche Kinetik. 221
seines Wertes herabgehen, wahrend or bei einer Reaktion, bei der
thatsachlich nar ein Stoff beteiligt ist, von der YerdiinnuDg unab-
hangig bleibt.
Ist dagegen der Unterschied zwischen A und B klein, so nahert
sicb der Gang der Reaktion dem durch die Gleichung auf S. 213 dar-
gestellten. Alsdann wird es vorteilhaft, die urspriinglicbe Gleicbung in
etwas anderer Form zu entwickeln. Wenn A von B nur wenig ver-
8chieden ist, setzt man 6 = A — e; die Integralgleicbung lautet:
A(A— e —x;
and lasst sich umformen in
Entwickelt man den Logaritbmus nach der Formel In (1 -{- d) = 6 —
-^-|"~5 9 indem man beim zweiten Gliede steben bleibt, so folgt
nach Ersetzung von A — e durch B
^ ('- iAwi-^)="»-
B
Die Gleichung hat die Form, welche dem Falle A = B zukommt,
verbunden mit einem Korrektionsgliede. Fiir e = 0 geht sie, wie natiir-
lich, voUstandig in jenen Ausdruck iiber.
In dieser Gestalt ist die Gleichung zur Rechnung bequemer als in
der logarithmischen. Anscheinend ist die letztere auch uugenauer, da
der Yerhaltnismassig stark von den Versuchsfehlem beeinflusste Faktor
(A — B) im Ausdrucke steht. Indessen erfolgt bier eine Kompensation
mit dem unter der Klammer stehenden Werte, so dass die nach beiden
Formein berechneten Konstanten von Messungsfehlern ziemlich in glei-
chem Grade beeinflusst werden.
15. Chemiflohe Vorg&nge h5herer Ordnong. Wenn beim Verlauf
eines chemischen Vorganges drei oder mehr StoflFe Veranderungen ihrer
Mengen in der Art erfahren, dass diese in Rechnung gebracht werden
mussen, so gelten ganz ahnliche Gleichungen, wie die vorstehend ent-
wickelten. Seien zunachst drei Stoffe in Betracht zu ziehen, so haben wir
||- = k(A-x)(B-x)(C-x).
Wenn alle drei Mengen aquivalent, also A = B = C ist, so giebt
die Int^ration
1
2("A-x)
^-2=k^+ const.
222 n. Chemische Dynamik.
und bei Einfiifarang des Anfangszustandes x^, &q
2"(A=^)« ~ 2(A— Xo)*""''^^"'^^^'
Sind Ay B und C verschieden, so werden die Gleichungen viel
verwickelter.
Diese Falle hat A. Fubrmann^) berecbDet. Sind zunacbst noch
zwei Anfangswerte gleicb, etwa C = B, so ist
^|: = k(A-x)(B-x)«
Durch die Trennung in Teilbruche erhalt man
1 I r dx , r A— 2B + X ^1 , „ ,
(AlTBy. 1./ A^x- +J -W-^)'- ^^\ = ^» + «>»«*•
Hieraus folgt fur die Bedingung, dass ^ und x gleichzeitig Null sind,
B(B-x) + *" B(A-x) -^^ ^^ ^^'
was sicb leicbt aucb fiir den Fall x^^^ und x^^, umscbreiben lasst.
Sind endlicb alle drei Anfangswerte Terschiedeny so erhalt man
bei der Zerlegung des Integrals
dx ,
= k^+ const.
/
(A— x)(B— x;(C— X)
in Teilbriiche and Integration
ln(A— x) ln(B— x) In(C-x)
(A-B)(A— C) (B-A)(B— C) (C-A)(C— B)~ ''*"*" '^°***
Oder fur gleichzeitig ^ = 0 und x = 0 die iibersichtlichere Form
(B-C)ln-^^ + (C~A)ln3^+(A-B)ln^-^ =
= — (A-B)(B— C)(C— A)k^.
Wie schon bei der Reaktionsgleichung zweiter Ordnung ergeben
sicb die einfacheren Falle nicht unmittelbar aus dieser letzten Gleicbung,
da fur B = C oder A = B = C der Wert von ^ die vieldeutigo Gestalt
% annimmt. Da aber nacb einer bekannten Regel der Differential-
rechnung alsdann das Verhaltnis der Ableitungen von Zahler und Nenner
^) Zeitschr. f. phyp. Chemie 4, 89. 1889.
Gheznische Einetik. 223
den gesuchten Wert giebt, so dififerenziert man in dem Ausdruck fur
^ aus der letzten Gleichung Zahler und Nenner nach B oder C und
setzt in dem Quotienten der Ableitungen B = C» wobei man die friihere
Glcicbung erbalt. Aus dieser ergiebt sich durch ein gleiches Verfahren
weiter die Gleichung fiir den Fall A = B = C.
16. Beispiel: Zinnohlorur und BSisenohlorid. Reaktionen dritter
Ordnuug waren lange vergebens gesucht "worden. Schon van't Hoff
hatte bemerkt^), dass Vorgauge, die nach der Reaktionsgleichung poly-
molekular scin sollten, dennoch nach dem Schema der ersten oder
meistens der zweiten Orduung verlaufen. Erst Arthur A. Noyes*) fand
in der Wechselwirkung neutraler Losungen von Zinnchlorlir und Eisen-
cblorid einen Vorgang dritter Ordnung, welcher alien theoretischen Be-
dingnngen eines solchen in geniigender Annaherung entspricht.
An Stelle dcs gewobnlichen Formelschemas
2FeCl» + SnCl« = 2FeCP + SnCl*
hat gemass der Dissociationstheorie die einfache Gleichung zu treten
2Fe** + Sn • =2Fe* + Sn **,
d. h. der Vorgang besteht darin, dass zwei dreiwertige Ferriionen je
eine elektrische Einheit an ein zweiwertiges Stanniion abgeben, um es
iu ein vierwertiges Stanniion iiberzufubren, wahrend sie sich in zwei-
wertige Ferroionen vorwandeln; er reduziert sich demnach auf den t3ber-
gang der lonenladungen yom Eisen auf das Zinn. Da hierbei je drei
Molekeln (zwei Eisen und ein Zinn) beteiligt sind, deren Gesamtmengen
beide veranderlich sind, so ist ein Vorgang dritter Ordnung zu erwarten.
Die Bestimmung des Umsatzes geschah so, dass das Reaktions-
gemisch nach passender Zeit mit einem Oberschuss von Quecksilber-
chlorid zusammengebracht wurde. Dadurch wurde das noch vorhandene
ZiiiDchloriir sofort in Chlorid iibergefiihrt, und das noch vorhandene
Ferrosalz (das durch Quecksilberchlorid nicht verandert wird) konnte
nu&ssanalytisch bestimmt werden, was mittels Ealiumbichromat geschah.
Da bier notwendig B==C ist, so konnten nur die beiden ersten
Falle A = B=C und B = C experimentell behandelt werden. Der
erste Fall ergiebt fiir die Konstante k
x(2A — X) _ 1 / 1 1_\
2A«^(A — x)« "" 2* \(A — x)« AV'
der zweite Ausdiiick ist fiir die numerische Rechnung weit bequemer.
Von den zehn Versuchsreihen mit wechselnden Mengen, die Noyes
ansgefuhrt hat, seien die folgenden Beispiele mitgeteilt.
^) £tades. «) Zeitschr. f. ph. Ch. 16, 546. 1895.
224
II. Chemische Dynamik.
SnCl«
— FeCP — 0-0625
^
X
A — X
ki
k.
1
0-01434
004816
4-8
88
1.75
0-01998
004252
4-3
85
3
0-02586
0-03664
3-8
81
4-5
003076
003174
3.4
82
7
003612
0-02638
3-1
84
11
004102
0-02148
2-8
87
17
004502
001748
2-4
89
25
004792
001458
21
89
40
005058
001192
17
85
SnCP
— FeCF —
0-025; SnCl*
= FeCP =
: 0-025
25
000351
002149
2-6
113
3
0-00388
002112
2-5
107
6
0-00663
0-01837
2-4
114
11
0-00946
0-01554
2-2
116
15
001106
001394
21
118
18
001187
001313
2-0
117
30
001440
001060
•
1-8
122
60
001716
0-00784
1-5
122
Die ADgaben iiber den Tabellen beziehen sich auf den Aquivalent-
gehalt der LdsungeU) geben also die A-Werte. In dem zweiten Bei-
spiele ist von vornherein eine gewisse Menge der Umsetzungsprodukte
zu dem Reaktionsgemisch gefiigt worden. Unter k, steht die Kon-
stante, wie sie sich aus der Reaktionsgleichung zweiter Ordnung be-
rechnet, unter kg die fiir die Gleichung dritter Ordnung. Man iiber-
zeugt sich, dass die Reihen unter kg bei weitem die konstanteren sind.
Als jedoch versucbt wurde, die Reaktion bei nicfat aquiyalenten
Mengen der beteiligten Stoffe auszufuhren, orgaben sich ziemlich schlechte
Konstanten, wie die nachstehende Tabelle lehrt.
SnCl«
— 0-05, FeCP
— 0-025
^
X
A — X
k.
k.
1
0-00434
004566
4-0
176
2
0-00621
004379
3-1
142
3
0-00727
0-04233
27
130
5
0-00978
0-04022
22
116
8
001177
0-03823
1-8
104
10
0-01264
0-03736
1-7
98
13
0-01431
0-03569
1-6
102
20
0-01638
0-03362
13
99
26
0-01786
0-03214
1-2
104
30
0-01877
003123
1-2
112
43
0-02054
002946
1-1
127
Chemische Einetik. 225
Wiewohl iiuch hier die kg-Werthe viel bestandiger sind, als die
fiir kg, so zeigen sie doch einen unzweifelhaften „6ang*S indem sie bis
zu einem kleinsten Werte abnehmen und dann wieder wacbsen.
Durch einen anderen Umstand wird indessen bewiesen, dass es sicb
in der That um einen Vorgang dritter Ordnung handelt. Ware er
zweiter Ordnung, so miisste die Funktion fur aquivalente Mengen der
beiden Reagentien symmetriscb sein, d. h. ein bestimmter Oberschuss
TOQ Zinnchloriir miisste ebenso wirken, wie der aquivalente Uberscbuss
Ton Eisenchlorid. Dies ist durchaus nicht der Fall; ein Uberscbuss
▼on Eisen wirkt viel starker, als einer von Zinnchloriir. Dies muss sicb
so Yerhalten, denn die Menge des Eisens tritt in zweiter Potenz in die
Reaktionsgleichung, die des Zinnchloriirs nur in ersten
Endlich ergiebt ein Vergleich der nach den beiden Annahmen be-
rechneten Konstanten (fiir die Halfte der Reaktion), dass die kg -Werte
zwiscben 1-6 und 6-9 je nach der Verdiinnung schwanken, wahrend die
kj-Werte sicb zwischen 74 und 105 bewegen. Wenn also auch im
zweiten Falle noch storende Nebenwirkungen (vermutlich Hydrolyse des
Eisenchlorids oder dergleichen) den einfachen Reaktionsverlauf etwas
Terschleiem, so tritt doch das Verhalten der Vorgange dritter Ordnung
deutlich genug zu Tage.
Auf die weiter merkwiirdige Beobachtung von Noyes, dass dieselbe
Reaktion beim Zusatz von Salzsaure die ausgesprochene Tendenz auf-
weist, zweiter Ordnung zu word en, und es bei reichlicher Salzsaure auch
wird» kann an dieser Stelle nicht eingegaugen werden.
17. Sine Reaktion dritter Ordnoxig mit drei versohiedenen
Stoffen. Wie schon oben (S. 214) erwahnt, hat J. J. Hood ^) als erster
eine Reaktion zweiter Ordnung untersucht, indem er Ealiumchlorat und
Ferrosulfat bei Gegenwart verdiinnter Schwefelsaure aufeinander wirken
liess. Gemass der gewohnlichen Formulierung wiirde die Reaktion
nach dem Schema verlaufen
6FeS0* + KC10» + 3H«S0* = 3Fe«(S0*)» + KCl + 3H«0,
woraus hervorgebt, dass auch die Saure beim Vorgang verbraucht wird.
Schreibt man sie auf die lonen um, so hat man
6Fe-+C10»'+6H"=6Fe'* +C1'+3H20.
Aus der einen wie der anderen Gleichung wiirde folgen, dass sicb
das Ferrosalz und das Kaliumchlorat bei veranderter Konzentration
nicht symmetriscb verhalten konnten, wenn man die Anzahl der betei-
') Phil. Mag. (5) 6, 371; 8, 121; 20, 323. 1878-1885.
OMvild, Chemie. 11,2. 2.Anfl. 15
226 n. Ghemische Dynamik.
ligten Molekein in Betracht zieht; vielmehr- miisste ersteres in sechster
Potenz dem zweiten gegeniiber wirken. Aus den Versuchen von Hood
gebt aber im Gegensatz hierzu hervor, dass (bei grossem Saureiiber-
scbuss) die Reaktionsgleichung zweiter Ordnung gut erfullt ist, und
zwar sowohl fur reaktionsaquivalente Mengen der beiden Stoffe, wie
auch fur verschiedene Dberscbiisse des einen oder anderen.
Dieser Widerspruch vcranlasste A. A. Noyes, dem wir beziiglich
der Reaktionsgeschwindigkeiten die wesentlichste Forderung in den
letzten Jahren verdanken, die Reaktion eingehender zu studieren, und
in einer gemeinsam mit R. S. Wason^) veroffentlichten Arbeit hat er
gezeigt, dass es sich bier, venn man die Saure mit beriicksichtigt, um
einen ausgepragten Fail der Reaktion dritter Ordnung mit drei ver-
scbiedenen reagierenden Stoffen handelt.
Die Versucbe wurden angestellt, indem die abgemessenen Losungen
der drei Stoflfe, auf die Versucbstemperatur von 20® erwarmt, mitein-
ander und notigenfalls mit gemessenen Mengen gleichfalls vorgewarmten
Wassers vermischt wurden. Nach gemessener Zeit wurden bestimmte
Mengen herausgenommen und mit Kaliumpermanganat titriert. Durch
den Zusatz einer angesauerten und mit etwas Natriumpbosphat ver-
mischten Losung von Mangansulfat konnten genaue Titrierungen trotz
der Gegenwart der Salzsaure erhaJten werden. Es war Ferrochlorid
und Salzsaure an Stelle der von Hood angewendeten Ferrosulfat und
Scbwefelsaure genommen worden, weil wegen der einwertigen Natur und
der star ken Dissociation der Salzsaure des Chlorions die Verhaltnisse
theoretiscb einfacber werden.
In der nebenstebenden Tabelle sind die Versucbsergebnisse ent->
halten. Unter lO^k, sind die ^Konstanten'* verzeicbnet, die sicb bei
Anwendung der Formel zweiter Ordnung (obne Riicksicht auf die Saure)
ergeben. Unter x steben die in der Zeit d- gebildeten Mengen des
Ferrisalzes, ausgedriickt in den zufalligen Einbeiten der benutzten Per-
manganatlosung. Auf Grammaquivalente im Liter umgerecbnet ware
k, mit 247*2 und kg mit 61120 zu multiplizieren.
Aus der ersten Versucbsreibe ergiebt sich, dass obne Saure die
Reaktion kaum merklich vorschreitet. Die Reiben 5, 6, 7 und 8 mit
relativ viel Saure zeigen, dass die „Konstante'' zweiter Ordnung unter
kg einigermassen ibren Wert beibebalt, wenn auch ein regelmassiges
Grosserwerden gegen die Mitte der Reaktion nicht zu verkennen ist.
Die Roihen 1, 2 und 9 mit relativ weniger Saure zeigen aber so deut-
») Zeitechr. f. phys. Chemie 22, 210. 1897.
Chemische Kinetik.
227
Yermchs-
Normale Koxuentration ron
•«_
t
X
A— X
10%
lO'k,
reibe
Xr.
FeCI,
KCIO,
HCl
1
01
01
00
15
45
100
0-00
002
006
2472
2470
24-66
)
250
051
2421
2
01
01
0-1
5
iiy
2353
408
171
15
3-02
21-70
375
162
1
85
5-88
18-85
360
168
60
8-12
16-60
331
166
110
1117
13-55
303
173
01
02
170
1298
11-74
264
165
3
0-1
5
246
22-28
886
189
15
541
19-31
756
162
35
9-70
15-08
746
171
60
1230
12-40
670
160
107
1532
9-40
616
158
167
1762
710
600
136
4
01
01
03
5
332
21-40
1250
174
12
649
18-23
1200
170
22
952
1520
1150
168
35
12.25
1247
1130
174
55
14-54
10-18
1050
177
85
16-97
775
1030
166
5 '
01
0-1
05
1
116
23-56
2000
163
3
348
21-24
2210
181
7
6-96
17-76
2240
189
12
972
15-00
2180
185
22
13-24
11-48
2120
185
37
1612
860
2050
182
6
005
005
02
5
110
2362
708
153
15
318
21-54
796
164
50
802
1670
776
165
100
11-86
12-86
768
162
160
14-65
1007
738
165
250
16-90
7-82
700
160
7
01
005
0-2
5
2-30
47-14
788
157
12
4-80
44-64
790
160
40
1174
37-70
744
164
70
1553
3391
708
161
110
18-49
30-95
668
154
170
21-04
28-40
642
149
8
005
01
02
5
2-17
2255
762
161
12
500
19-72
804
166
22
807
1665
798
169
40
1192
12-80
762
168
70
1589
8-83
740
160
110
18-H2
5-90
700
162
'9
02
02
0-2
1
194
47-50
830
170
2
374
45-70
830
175
4
674
42-70
800
174
7
1026
39-20
749
170
15
1661
32-83
682
173
25
21-29
2815
612
170
15*
I
228 n. Ghemische Dynamik.
lich eine Abnahme von k^ im Laufe des Vorganges, dass sie auf keine
Weise iibersehen werden kann. Ferner ergiebt sich, dass die verschie-
denen Versuchsreihen nicht den gleichen Wert der Konstanten er-
geben, sondern Schwankangen derselben wie 1:8 aufweisen: ein sicheres
Zeichen, dass es sich um eine Reaktion anderer Ordnung handelt.
Ein wesentlich anderes Bild bietet die Spalte k,, deren Konstanten
nach den S. 222 gegebenen Formein, gemass den Werten der zweiten
bis vierten Spalte, berechnet sind. Wie man sich alsbald iiberzeugt,
sind die Konstanten nicht nur in derselben Versuchsreihe viel besser
iibereinstimmend, sondern sie behalten auch, was viel entscheidender
ist, bei geanderten Werten der Anfangskonzentration und der gegen-
seitigen Verhaltnisse ihren Wert bei. Nimmt man aus den Reihen die
Mittelwerte, so schwankeu diese zwischen den aussersten Grenzen 157
und 184, wahrend die Konzentrationen sich wie 1:10 andern. Dabei
sind in den Reihen sowohl solche vertreten, bei denen die Konzentra-
tionen von- alien drei Stoffen aquivalent sind, wie solche, bei denen
zwei, sowie alle drei verschieden sind. An der Giiltigkeit der Gleichung
dritter Ordnung kann somit kein Zweifel sein.
Uber den Widerspruch dieses Ergebnisses mit dem, das aus der
Zahl der reagierenden Molekeln zu erwarten war, finden sich weiter
unten eiuige Bemerkungen.
••
18. Graphische Darstellung. Uber die Verschiedenheiten des Re-
aktionsverlaufes in der Zeit erhalt man ein anschauliches Bild, wenn
man die Beziehung zwischen der umgosetzten Menge x und der dazu
erforderlichen Zeit in ein rechtwinkliges Koordinatensystem eintragt Alle
Kurven werden, da gleichzeitig ^- = 0 und x == 0 ist, im Anfangspunkte
beginnen, und da immer die Reaktion im ersten Augenblicke am schnellsten
ist, konkav gegen die Zeitaxe verlaufen; ebenso verlaufen alle asympto-
tisch gegen den Grenzwert, gehen also in eine Parallele zur Zeitaxe
iiber. Inuerhalb dieser Ubereinstimmungen zeigen sie aber charakte-
ristische Verschiedenheiten.
In der Fig. 2 sind die Beziehungen zwischen der Zersetzung x und
der Zeit fiir die Reaktionsgleichungen verschiedener Ordnung dargestellt,
und zwar sind die Verhaltnisse so gewahlt, dass alle Reaktionen mit
der gleichen Anfangsgeschwindigkeit dargestellt sind. Wie man
sieht, verlauft die Kurve fiir Reaktionen erster Ordnung zu oberst, d. h.
die anfangliche Geschwindigkeit vermindert sich im Verlaufe der Reaktion
am wenigsten, und ein bestimmter Umsetzungszustand, z. B. x=0*o,
wird friiher erreicht als bei irgend einem anderen Typus.
ChemiBche Eiaetik,
230 ^I- Chemische Dynamik.
Die Kurve zweiter Ordnung fur A = B = 1 verlauft niedriger, als
die erster Ordnung, obwohl sie gleichlaufend begonnen hatte, und er-
reicht die gleichen Zersetzungszustande erst spater. Urn den Anfang
mit I gleichlaufend zu erhalten, ist A = B = 1 und k = 1 zu setzen.
Ausserdem sind noch zwei Kurven fur A = 2, B = 1 und A = 3, B = I
eingetragen. Um den anfanglichen Yerlauf mit den anderen Eunren
iibereinstimmend zu erhalten, musste k=V2 und k=Vs angenommen
werden. Denn wie sich aus dem Anblick der Geschwindigkeitsgleichung
-^ = k(A-x)B-x)
unmittelbar ergiebt, ist fiir A = 1 und B = 2 die Geschwindigkeit im
ersteu Augenblicke, d. h. fur x = 0, gleich k X 1 X 2; um sie also gleich
Eins zu haben, muss k=Vs angenommen werden. Ebenso ergiebt
fiir A= 1, B = 3 die Annahme k= ^j^ die Anfangsgeschwindigkeit Eins.
Die Kurven II, 2 : 1 und II, 3 : 1 zeigen in sehr anschaulicher Weise,
»»
wie bei zunehmendem Uberschuss des einen Bestandteils sich der Yer-
lauf der Reaktion mehr und mehr dem erster Ordnung annahert. Im
zweiten Falle betragen die Unterschiede der zu gleichen Zeiten ge-
horenden x-Werte etwa 6^/o, und fur den Fall A =10, B=l etwa
2^/o. Da eine Zeichnung die Verhaltnisse nur ungenau darstellen
konnte, habe ich fiir die gemeinsame Anfangsgeschwindigkeit Eins die
gleichzeitigen Werte fiir x in Abstanden von 0-1 berechnet.
Zeit
I
11,10:1
korr.
105
X « 0.100
X = 0100
0-102
223
0200
0-198
0202
356
0300
0-296
0-302
511
0400
0-394
0-402
693
0-500
0-490'
0-500
915
0-600
0-586
0-598
1218
0-700
0-686
^ 0700
1611
0-800
0-785
0-801
2303
0-900
0-885
0-904
Da die Einzelbestimmungen der Geschwindigkeitskonstanten oft um
mehr als ein Prozent schwanken, so lasst sich iiber das Verbal tnis 10:1
hinaus eine Reaktion zweiter Ordnung nicht mehr sicher von einer
erster Ordnung unterscheiden.
Dies wird noch deutlicher aus der unter korr. gegebenen Reihe, in
welcher alle x- Werte um 2% erhoht sind, um die Einseitigkeit der
Abweichungen aufzuheben. In alien gewohnlichen Fallen wird man also
bei Reaktionen zweiter Ordnung mit einem Verhaltnis der Komponeaten,
GhemiBche Kinetik. 231
das grosser als 10:1 ist, schon nach der Gleichung erster Ordnung
rechneD konnen; innerhalb des wegen des Einflusses der Versuchsfehler
einzubaltenden Gebietes x = 0-2 bis x = 0'8 wurde die nach der ein-
fiachen Gleichung berechnete Eonstante bei 10:1 am etwa 5 ^/o zu-
nehmen.
19. Die Dimension der GteschwindigkeitkoSffisdenten. Vergleicht
man die Formeln fiir die einfachen Reaktionsgeschwindigkeiten ohne
Nebenwirkungen
^^=k,(A-x)
Ax
dd-
dx
= kj(A — x)(B — x) Oder =(A — x)»
= k,(A — x)(B — x)(C — x), oder=(A — x)»,
d&
so sieht man alsbald, dass die Dimensionen (II, 1, 2) der Geschwindig-
keitskoefSzienten k von Fall zu Fall verschieden sind. 1st [t] eine Zeit
and [c] eiue Konzentration oder wirksame Stoffmenge, so haben vir
folgende Dimensionen
k, = [t-l]
k, = [t-ic-i]
k,= [t-ic-2].
Daraus geht zunachst hervor, dass der Geschwindigkeitskoeffizient
der Reaktion erster Ordnung nur von Masseinheit der Zeit abhangig
ist, nicht aber von der der Konzentration. Man kann mit anderen
Worten die Konzentration des veranderlichen Stoffes bei einer Reaktion
enter Ordnung in jedem beliebigen Masse messen, ohne dass der Zahlen-
wert des Koeffizienten k, davon beeinflusst wird. Und ebenso kann der
thatsachliche Betrag der Konzentration jeden beliebigen Wert haben,
ohne dass die Untersuchung der Reaktion einen anderen Wert des
Koeffizienten ergiebt (vorausgesetzt natiirlich, dass die iibrigen Be-
dingungen unverandert bleiben).
Der Geschwindigkeitskoeffizient einer Reaktion zweiter Ordnung
hat dagegen die Dimensionen t~^c~~^; er hangt also ausser von der
Zeit noch von der Konzentration in solchem Sinne ab, dass er umge-
kehrt proportional der Einheit ist, in welcher die Konzentration ge-
messen wird.
Fiir eine Reaktion dritter Ordnung ist die Dimension des Koeffi-
zienten t~^c"'2, d.h. er andert sich umgekehrt proportional dem Quadrat
des Verhaltnisses, nach welchem die Einheit geandert wird; fiir eine
232 II- Chemische Dynamik.
Reaktion erster Ordnung geht die Anderung nach der verkehrten
(n — l)ten Potenz vor sich.
Was die Anderung des Koeffizienten k mit der Anfangskonzen-
tration der reagierendeii Fliissigkeiten anlangt, so findet, prinzipiell ge-
sprochen, eine solche nicht statt, so lange die iibrigen Umstande die-
selben bleiben. Dean der Geschwindigkeitekoeffizient wird definitions-
gemass gemessen durch die in der Zeiteinheit umgesetzte Stoffmenge,
wenn wahrend der ganzen Zcit die Konzentration konstant gleich Eins
gehalten wird.
In den Integralformeln der verschiedenen Ordnungen zeigen sich
gleichfalls die aus den anfanglichen Konzentrationen und der Veranderlichen
X zusammengesetzten Ausdriicke, welche gleich kd- sind, gemass den ver-
schiedenen Dimensionen von k von wechselnder Gestalt. Bei der Gleichung
erster Ordnung, wo k^ die Dimension t"~^ hat, ist k^^ von der Dimen-
sion Null, und es muss daher auch die entsprechende Fuuktion von der
A
Konzentration unabbangig sein, wie das fiir In thatsachlich zu-
A """• X
trifft. Die Integralformeln hoherer Ordnung lassen sich alle auf die
Gestalt —^ — ^ = kn^ bringen, wo r sich aus Anfangskonzeutrationen
r
(und bei katalytisch beeinflussten Vorgangen auch Geschwiudigkeits-
koeffizienten) zusammengesetzt, von der Veranderlichen x aber frei ist,
wahrend die Funktion f(x, A) von der Dimension Null bezuglich
der Konzentration ist. Daher muss denn auch rkn^ die Dimension
Null haben, und da kn die Dimension t""^c~(°~^^ besitzt, so hat r die
Dimension c'*"^
Bezeichnet man nun dies Produkt rkn mit dem Namen des Ge-
schwindigkeitsfaktors (zum Unterschiede vom Geschwindigkeitskoeffi-
zienten kn), so sieht man, dass bei Vorgangen zweiter Ordnung der Ge-
schwindigkeitsfaktor proportional der Konzentration zunehmen muss, bei
Vorgangen dritter Ordnung proportional dem Quadrate der Konzentration,
u. 8. w. Bei Vorgangen erster Ordnung fallt der Geschwindigkeits-
faktor mit dem Geschwindigkeitskoeffizienten zusammen und wird un-
abbangig von der Konzentration.
20. Bestimmimg der Beaktionsordnung bei gestdrten Vorggn^en.
Man kann sich dieser Verhaltnisse bedienen, um in Fallen, wo der nor-
male Reaktionsverlauf durch Nebenumstande getriibt wird, und dem-
gemass nicht mehr der Formel entspricht, die Ordnung der Reaktion
festzustellen. Gewohnlich ist man so verfahren, dass man auf die unter-
suchte Reaktion nach einander die Formel erster, zweiter, dritter u. s. w.
Chemische Kinetlk. 233
Ordnung angewendet hat, und zugeseben hat, welche Formel „gate"
KoDstanten, d. h. solche, die thatsachlich konstant bleiben, ergiebt.
Haufig findet dies nun bei keiner der Formeln statt, und dann muss
man scbliessen, dass Nebeneinfiusse vorhanden sind, welche den 6e-
schwiDdigkeitskoeffizienten selbst im Laufe der Reaktion verandern. Als*
dann lasst sich die Ordnung der Reaktion durch ein Verfahren be-
stisimen, welches diese Storungen rechnerisch moglichst ausschliesst, und
zwar lassen sich solche Rechnungen sowohl auf die Differentialgleichung
wie auf die Integralgleichung begriinden.
Die erste Methode ist schon vor langer Zeit ^) von van't HoiBf ent-
wickelt worden; sie beruht auf der Thatsache, dass die Geschwindigkeit
einer Reaktion n-ter Ordnung der n-ten Potenz der Eonzentration pro-
portional ist Am einfachsten werden die Verhaltnisse, wenn man dafiir
sorgt, dass die beteiligten Stoffe in aquimolekularen Mengen vorhanden
Bind. Dann gilt dx , ,,
d;^='^(^-^)'''
Oder, wenn A — x = c, also dx = — dc gesetzt wird,
dc ,
Macht man nun zwei Bestimmungen mit verschiedenen Werten von
'i 80 gilt dci , „ , <lc, , „
woraus durch Division und Logarithmierung folgt
n =
'■^(^'^)
log(Ci:c2)
AIs Beispiel dient die Einwirkung des Broms auf Fumarsaure unter
Bildnng von Bibrombernsteinsaure. Ein erster Versuch ergab
▼obei statt des DiflFerentials dc' die Diflferenz 8-88 — 7-87 genommen
^wde. Die reagierende Fliissigkeit wurde mit Wasser verdiinnt, und
6rgab dann wieder
A C
dc
13' Z '-^^^
0 fitudea, S. 87.
234 n. Ghemische Dynamik.
Hieraus folgt gemass der obenstehenden Formel, indem fur A!
and A'' die Mittelwerte 8-38 und 3-66 gesetzt werden,
n = 1-87,
welche Zahl geniigend nahe an 2 liegt, dass man die Reaktion als eine
zweiter Ordnung ansprechen kann.
Ein anderes, noch iiberzeugenderes Beispiel bietet die Polymerisierung
der Gyansaure^). Die Untersuchung der Reaktion bot besondere Schwierig-
keiten, da die Geschwindigkeit im hochsten Masse von dem Zustande
der Wande des Gefasses abhangig ist, in welchem der Vorgang erfolgt,
und dieser Zustand bestandigen, unbeherrschten Anderungen unter-
worfen ist. Durch das angegebene Rechnungsverfahren werden diese
Anderungen teilweise unschadlich gemacht, wenn auch die Werto noch
ziemlich schwankend sind.
^ (Stunden) A A — x n
2-9
23
20
72
48
24
48 160-34 152-33 i 29
24
23
47
24
73
48
365
17
23-5
c — 188-84
c"= 7907
und 153-46 \
76^4/
12644
2212
11766 1
189.14 /
35672
160-34
30466
320-68 1
152-33
280-56
244-97
11103
22037 1
105-30 i
55377
261-31
614-23 \
25396 /
568-70
28336
55556 )
27147 /
271-43
109-48
24497 1
10728 /
33
2-8
2-9
30
3-2
Der allgemeine Mittelwert ist n==3-0, und die Polymerisation der
Cyansaure zu Cyamelid erfolgt nach der Formel
3CN0H = (CN0H)».
Man kann sich den dieser Methode zu Grunde liegenden Gedanken
graphisch anscbaulich machen. Stellt die nebenstehende Kurve Fig. 3
den Reaktionsverlauf dar, so besteht das Verfahren dai*in, dass maa an
verschiedenen Stellen der Kurve die Geschwindigkeit, d. h. das Ver-
haltnis der Anderungen dx der Ordinate und der Abscisse dO- misst^
und zwar misst man an Stellen der Differentiate endliche Differeozen.
Diese Gescbwindigkeitswerte werden nun mit den zugehorigen Eonzen-
trationen A — x verglichen, und zwischen den Verhaltnissen zweier Gre-
«) a. a. 0. S. 90.
Chemische Kinetik.
235
schwindigkeiten zu den zugehorigen Eonzentrationen besteht nun die
erwahnte Beziehung.
Nun kann man die verschiedenen Konzentrationswerte auf zweierlei
Weise herstellen. Einmal, indem man die Reaktion stattfinden lasst,
and eine Reihe gleichzeitiger Werte von A — x und d- ermittelt; das
ist das gewohnliche Verfahren. Zweitens kann man von vornherein
Versuche verschiedener Konzentration ansetzen, und deren Anderung
untersuchen; man beginnt mit anderen Worten eine Reihe von Messungen
der Kurve an yerscfaiedenen Stellen ihres Verlaufes. Der wesentliche
Unterschied dieses Verfahrens vom vorigen besteht darin, dass man dort
X'
dx'
^^
^^
/
\dx'
d ^-
. J
•
1
fl
^
\'
1%
*
Fig. 3.
den Verlauf unter dem Einfluss der veranderlichen Menge der Reaktions-
produkte beobachten musste, wafarend bier jeder Teil der Kurve am
Anfange der Reaktion » also unter minimaler Beeinflussung durch die
Beaktionsprodukte, zur Untersuchung gelangt. Darum ist dies Ver-
fahren geeignet, etwaige Storungen von dieser Seite zuriicktreten zu
lassen.
21. Zweites Verfiahren. Auf der Benutzung der Integralformel
bemht ein ahnliches, aber strengeres Verfahren^), um die Ordnung
einer mit Stomngen behafteten Reaktion zu ermitteln. Es stiitzt sich
anf das folgende Theorem*): Lasst man zwei analoge Reaktionen
>) A. A. Noyes, Zeitschr. f. phys. Chemie 19, 604. 1896.
^ Ostwald, Zeitochr. f. phys. Chemie 2, 134. 1888.
236 n. Cbemische Dynamik.
bis zu dem gleichen Bruchteile des gesamten Umsatzes ver-
laufen, so verhalten sich die zugehorigen Zeiten umgekehrt
wie die Geschwindigkeitsfaktoren (S. 232). Dies ergiebt sicb aus
folgenden Betrachtungen.
Jeder Reaktionsverlauf lasst sich unter der Formel (S. 232)
r
darstellen, wo f(A, x) eine Funktion der Anfangskonzentrationen und
der Veranderlichen x ist, welche in Bezug auf diese von der Dimension
Null, also Yon der Masseinheit unabhangig ist. Wahlt man also bei
Versuchen mit verschiedenen Anfangskonzentrationen A^, Ag, . . . . die
Werte x^, x,, . . . . so, dass sie einen gleichen Bruchteil der zugehorigen
Aj, Aj, .... ausmachen, so wird {(A^^x^) = {(A^^x^) = - • • • Aus zwei
solchen Messungen mit den Gleichungen
f(Ai,xJ = rik^i; {(A^,x^) = r^k&^
wodurch der Satz bewiesen wird. Hierbei ist vorausgesetzt, dass bei
den verglichenen Versuchen der Verlauf durch die gleiche Funktion
der Veranderlichen dargestellt wird.
Stellt man nun Versuche mit yerschiedenen Konzentrationen an
und fiihrt sie bis zum gleichen Bruchteil derselben durch ^), dann gelten
folgende Beziehungen (S. 232).
Fiir einen Vorgang erster Ordnung sind die Geschwindigkeits-
faktoren, und somit die Zeiten gleicher relativer Umsetzung gleich.
Fiir einen Vorgang zweiter Ordnung verhalten sich die Faktoren
direkt, und die Zeiten gleicher relativer Umsetzung umgekehrt wie die
Konzentrationen.
Fiir einen Vorgang dritter Ordnung verhalten sich die Faktoren
wie die Quadrate der Konzentrationen, und die Zeiten gleicher rela-
tiver Umsetzung umgekehrt wie diese Quadrate u. s. w.
Als Beispiel fiir die Anwendung des Verfahrens diene die von
A. A. Noyes*) vorgenommene Untersuchung iiber die Ordnung der Re-
*) £zperimentell ist es nicht leicht, genau den gleichen Brachteil bei den
yerschiedenen Versuchen za erreichen. Sehr leicht ist es aber, einige Messungen
in der N&he des gewQnschten Bruchteils auszuf&hren und dann den Wert der
dem genauen Bruchteil entsprechenden Zeit durch Interpolation zu finden.
«) Zeitschr. f. phys. Chemie 18, 120. 1895.
Chemische Kinetik. 237
aktion zwischen Jodwasserstoff und Wasserstoffbyperoxyd. Sie erfolgt
oach dem Schema
H»0« + 2H + 2 J'= 2H«0 + JS
miisste also fiinfter Ordnung sein. Versuche, welche Magnanini^) ange-
stellt hat, ergebeii, wenn man die yerschiedenen Gleichungen versucht,
recht gute KonstaQten fiir die Formel dritter Ordnung, namlich
d
X
2k,
5
48
151
15
128
149
B»-llll
30
60
222
357
151
158
120
507
161
oc
1111
Um nun die Metbode der wecbseluden Konzentration anzuwenden,
hat Noyes entsprechonde Versuche von W. Scott ausfiibren lasscn, aus
deQen sicb uuzweideutig die zweite Ordnung ergab. Zur besseren
Veranscbaulicbung gebe icb die Zeiten fur ein Viertel der Reaktion, wie
8ie darch Interpolation aus den Tabellen zu ermitteln sind*); dabei sind
nur seiche Versuche brauchbar, bei denen beide Reagentien in gleichem
Verhaltnis und die Konzentration der Wasserstofifionen dieselbe ist').
KJ=001, HJ =0.01, H«0« = 0.02 *m = 21.7
K J -= 001, H CI « 001, H«0« ^ 001 &^ = 432
H J = 0005, H CI = 0005, H» 0« = 0005 ^^ = 974
Han sieht auf den ersten Blick, dass die korrespondierenden Zeiten
^a den Konzentrationen 0-02, 0-01 und 0-005 umgekehrt proportional
sind; die entsprechenden Produkte sind 0434, 0432 und 0487.
Der Vorgang ist also zweiter Ordnung.
Ahnlich sind die Ergebnisse von Versuchen iiber die Wechselwirkung
der Bromsaure mit Jodwasserstoff. Die Reaktion miisste nacb der Formel
BrO»'+ 6 J'+ 6H- = Br'+ 3 J« + 3H«0
Ton der siebenten Ordnung sein, wenn die Konzentration der Wasser-
stoffionen konstant gehalten wird, wie in den Versuchen geschah. Sie
erweist sich aber gleichfalls als zweiter Ordnung:
KJ^OOl, KBrO»«0.01, H CI = 004 ^m^^^-^
KJ« 0-005, KBrO' — OOOS, H CI — 004 ^^ = 23-2
>) Gazz. chim. ital. 21^ 476.
*) Noyes hat die Rechnung in anderer, weniger anschaulicher Weise geftlhrt.
*) Die letztere fiediogung gew&hrt nur einen ann&hernden Ausgleich des
bier Torhandenen EiDflasses, da sich diese Menge ungleich ver&ndert.
238 n. Chemische Dynamik.
Auch hier andem sich die korrespondierenden Zeiten fur 04 der
Gesamtmenge umgekehrt proportioDal der Konzentration, und erweisen
somit, dass die Reaktion zweiter Ordnung ist.
22. Die Methode der Isolierung. Ein drittes und wohl das beste
Verfahreu zur Bestimmung der Ordnung einer Reaktion besteht in der
allgemeinen Anwendung der Bemerkung, die bezuglich eines relativ
grossen Gberschusses eines der reagierenden Stoffe bereits S. 220 ge-
macht worden ist. In solchen Fallen tritt namlich der Einfluss, den
ein solcher Stoff auf den Reaktionsverlauf hat, der Form nach ▼oU-
kommen zuriick, und man erhalt Ergebnisse, die unabhangig davon
sind, in welcber Weise dieser Stoff seiner Menge nach auf den Verlauf
einwirkt. Dies gilt fiir jeden einzelnen beteiligten Stoff, und ebenso
fur eine Gruppe von solchen, so dass es immer moglich ist, das Massen-
wirkungsgesetz eines einzelnen, an der Reaktion beteiligten Stoffes fiir
sich zu ermitteln.
Darnach gestaltet sich eine Untersuchung nach diesem Verfahren
wie folgt. Es seien fur die Reaktion n Stoffe, A, B, C, . . . . N, erfor-
derlich. Dann stelle man ein konstautes Gemisch von B, G, . . . . N
her, versetze es mit einer bestimmten Menge von A und bestimme den
Reaktionsverlauf, woraus sich, falls keine Storungen vorliegen, ergeben
wird, welche Potenz von A fur den Vorgang massgebend ist. Um zu
priifen, ob Storungen vorliegen, bez. um das Ergebnis zu kontrollieren,
stellt man daneben Versuche mit wechselnden Anfangsmengen von A
an, wahrend die ubrigen Stoffe unverandert bleiben, und berechnet aus
den fiir die Umsetzung gleicher Bruchteile von A erforderlichen Zeiten
die Ordnung der Reaktion bezuglich A nach S. 236.
Dann stellt man ein Gemisch von A, C, D, . . . . N her und macht
ganz dieselben Bestimmungen fiir B, ebenso fiir C und so fort bis N,
womit die Aufgabe gelost ist.
Der wesentliche Unterschied des Verfahrens gegen die friiher ge-
schilderten Methoden, der gleichzeitig dessen wesentlichen Vorteil be-
dingt, besteht darin, dass man die Wirkungsweise^ jedes beteiligten
Stoffes einzeln ermittelt und dadurch die etwaigen storenden Einfliiase
eindeutig auf ihre Ursache zuriickfiihren kann.
Untersuchungen, in welcher dies Verfahren zur Anvirendung ge-
bracht worden ist, sind noch nicht veroffentlicht, doch ist es fur be-
sondere Falle in letzter Zeit in meinem Laboratorium mehrfach zur
Anwendung gelangt und bat sich auch in solchen Fallen bewahrt, wo
die beiden anderen Methoden fehlgeschlagen sind.
Chemische Kinetik. 239
23. Die Vereinfloohung der Beaktionen. Es hat lange Zeit ge-
danert, bevor man eine unzweifelbafte Reaktion dritter Ordnung auf-
gefunden hat, und von hoherer Ordnang ist bisner keiue bekannt.
Diese Thatsache ist nnerwartet, von welchem Standpunkte man sie auch
betrachten mag, denn unter den untersuchten Vorgangen befinden sich
Tiele, die hoherer Ordnung zu sein scheinen, wenn man ihre Formel-
gleichnng betrachtet, und zwar sowohl wenn man sie nach der alten
Weise, wie nnter Rlicksichtnahme auf die Dissociation schreibt.
Ein anffalliges Beispiel hierfiir bietet die von J. J. Hood zuerst
ond dann genauer von A. A. Noyes und R. S. Wason (S. 225) unter-
suchte Reaktion zwischen Ferrosalzen und Cfalorateu. Die gewohnliche
Gleichung
6FeCl* + KC10» + 6HCl = 6FeCP + KCl + 3H»0
lasst eine Reaktion dreizehnter Ordnung erwarten, und die lonengleichung
6Fe-+ C10»'+ 6H' = 6Fe"'4- Cl'+ 3H»0
ergiebt die gleiche Forderung; trotzdem ist sie dritter Ordnung.
Dieser Fall ist nicht der einzige; bei zahlreicben anderen Reak-
tionen tritt ahnliches auf, so dass gar kein Zusammenhang zwischen
der Ordnung der Reaktion und den Molekularverhaltnissen der Formel-
gleichung zu bestehen scheint (vgl. S. 225 ff.). Andererseits ist aber ein
solcher Zusammenhang zu erwarten. Zwar die Begriindung dieser Er-
wartong auf kinetische Hypothesen, nach welchen die Wahrscheinlich-
keit de8 „Zn8ammentre£Pens'' der erforderlichen Molekeln in der Losung
znassgebend fiir die Ordnung der Reaktion sein soli, wird man nicht
als bindend anerkennen, denn es ware hier nicht der erste Fall, in dem
die Erfahrung den auf die kinetischen Anschauungen gegriindeten Er-
fahniDgen stracks zu wider lauft Wohl aber besteht eine energetische
AbleituDg fur die Gesetze des chemischen Gleichgewichts, in welchen
die Molekularzahlen als Potenzexponenten der Eonzentrationen der be-
teiligten Stoffe auftreten. Diese Gleichgewichtsgleichung steht nun wie-
der in engem Zusammenhange mit den Gleichungen fiir die Geschwin-
digkeiten der direkten und der umgekehrten Reaktion, indem das
Gleicbgewicht dann eintritt, wenn beide Geschwindigkeiten entgegen-
gesetzt gleich geworden sind. Daraus folgt, dass die Formel fiir die
Geschwindigkeit der beiden Reaktionen (bis auf beiderseits gleiche
Paktoren) mit der entsprechenden Seite der Gleichgewichtsgleichung
Qbereinstimmen muss, d. h., dass sie die Molekularzahlen im Potenz-
exponenten enthalten muss.
240 ^I* Chemische Dynamik.
In Formeln stellt sich dies folgeudermassen dar. Haben wir die
Reaktionsgleichimg in molekularen Formeln
nij Aj -j- nij Aj + •••• = n^ Bj -f~ ^1^2 "f" '" *>
und bezeichnen wir mit a^a^-'^. und ^^^^ die molekularen Kon-
zentrationen der Stoffe A und B, so hat die Gleichgewichtsgleichung
die Gestalt ^ ^
mi ma
«! • Ctji . • •
■ — - — = const.
Pi 'Pi • • •
Anderorseits haben die Geschwindigkeitsgleichungen fiir die beiden
Reaktionen die allgemeine Form
-^- = kf («!, «3 . . .), "d^ - = '^V (ft, i^ji . . .)»
wo in der zweiten Gleichung — dx gesetzt ist, weil die fur die erste
Gleichung gewahlte Veranderliche x sich in der zweiten im entgegen-
gesetzten Sinne andert. Gleichgewicht tritt ein, wenn die Summe
beider entgegengerichteten Geschwindigkeiteu Null wird, d. L wenn
f(«i,ag...) k'
- Vd / — r = 1 - = const.
9>(ft,ft...) k
ist. Vergleicht man diese Formel mit der friiheren Gleichgewichts-
gleichung, so folgt
K^i > ^» • • •) = C. a™*, a™*. . .
9(ft » ft > . . .) = C\^\^^\ . .,
wo G und C' Konstanten sind, welche die Grossen a...|3...m...n nicht
oder als gleichen Faktor enthalten konnen.
£s liegt demnach allerdings ein erheblicher Grund vor, die Ord-
nung der Reaktion gemass der molekularen Formel des Vorganges zu
erwarten, und es muss nach den Griinden gefragt werden, welche die
Abweichungen yon den Thatsachen verursachen.
Die nachstliegende, zuerst wohl von yan't HofiF ausgesprochene Er-
klarung ist die, dass thatsachlich in jedem Falle die Ordnung der
Reaktion der Molekelzahl der bestimmenden Reaktionsgleichung ent-
spricht, dass aber in yielen Fallen das nachweisbarc Schlussergebnis der
Reaktion dadurch zu Stande kommt, dass die primar entstandeuea
Produkte eine weitere Umwandlung erfahren. Nimmt man weiter an
(was in manchen Fallen nachweisbar ist), dass die Reaktionsgeschwin*-
digkeit dieses zweiten Prozesses weit grosser ist als die des ersten, so
hiiugt die Ordnung der Geschwindigkeitsgleichung nur yon der Formel
Chemische Kinetik. 241
des erst en Prozesses ab, von der die Formel der beobachteten Ge-
samtreaktion wesentlich verschieden sein kann.
Als Beispiel hierfiir mag die yon van't Hoff und seinen Schiilern
QDtersachte Zersetzang des Arsenwasserstoffis ^) dienen. Gemass unseren
gegenwartigen Eenntnissen miissten wir sie schreiben
4A8H«=As* + 6H«,
da kleinere Molekeln des Arsens als As^ bei den in Betracht kommen-
den niederen Temperaturen nicht beobachtet sind. Wir batten also
eine Reaktion vierter Ordnung zu erwarten; statt dessen ist sie ausge-
pragt erster Ordnnng, wie die nachstebende Tabelle zeigt.
k-im ^
Zdt in Stunden
Druck in mm
0
784-84
3
878.50
4
90405
5
928-02
6
949-28
7
96908
'8
987-19
& A — X
00908
00905
0-0908
0-0905
0-0906
00906
Fiir die Berecbnung ist zu bemerken, dass, da vier Volume Arson-
wasserstoff sicb in sechs Volume Wasserstoff yerwandeln, der Druck bei
Tolktandiger Zersetzung urn die Halfte zunimmt. Benutzt man daher
den Anfangsdruck als Mass fur den vorbandenen Arsenwasserstoff, so
ist X, die zersetzte Menge, in gleicbem Masse durcb den doppelten
Betrag der Druckzunahme gegeben, da die Vereuche bei konstantem
Volnm ausgefubrt wurden.
Um auf diesen Fall das oben angegebene Erklarungsprinzip anzu-
weoden, muss angenommen werden, dass die Reaktion tbatsacblicb in
zwei Pbasen (oder mebreren) yerlauft. In der ersten folgt sie der Gleichung
AsH» = As + 3H,
and dies ist der Vorgang, der mit messbarer (geringer) Gescbwindigkeit
yerlauft An diese bestimmende Reaktion schliessen sicb die beiden anderen
4 As = As*
und 2H = H»,
welche beide so schnell yerlaufen, dass zu keiner Zeit eine nachweis-
baie Mange eines der links stebenden (unbekannten) Stoffe yorbanden
ist Da diese beiden letzten Vorgange nichts mit dem Ausgangsmaterial
^) Stadien zar chemischen Dyoamik, 2. Aafl. yon E. Cohen. Leipzig 1896, S. 2.
Otcwald, Chemto. 11. 3. 2. Aafl. 16
242 n. Ghemische Dynamik.
AsH* zu thuQ haben, so boeinflussen sie auch dessen Reaktionsge-
schwindigkeit und •gleichung nicht.
Ein anderer beachtenswerter Fall der Reaktionsvereinfacbung ist
von L. Th. Reicber^) bei der Verseifung des GbloralbydratB beobacbtet
worden. Die Reaktion ware nach der alteren Formulierung zweiter
Ordnung, namlich
CCPCH(OH)« + NaOH = CP + HCO«Na + H»0
und ebenso nach der lonenformel
CCPCH(OH)« -h 0H'= CHOP + HCOO'+ H«0;
sie verlauft aber durchaus nach der ersten Ordnung:
&
A— X
K,
Kx
0
28-68
—
—
181
26-70
3-52
8-94
396
• 2467
3-63
8-85
587
23-13
3-71
8-78
775
21-77
3-82
870
oo
10-89
—
Unter K^ steben die „Konstanien'' zweiter Ordnung; sie nehmen
stetig zu. Viel konstanter sind die Werte unter K^, wenn auch hier
ein geringer „Gang** unverkennbar ist.
Zur Erklarung nimmt Reicher an, dass der sich zersetzende Stoff
nicht das Ghloralhydrat ist, sondem ein durch Einwirkung des Natrons
daraus entstehendes Alkalisalz. Die Reaktion ware dann nach alter
Schreibweise etwa
CCl».CNa(OH)« = CCl»H + HCOONa,
Oder nach dem lonenscfaema
CC1»C(OH)«'=CCFH + H000',
in welchem das unverandert bleibende Natrium beiderseits fortgelassen ist.
Eine genauere Untersuchung des Falles, fiir welche jetzt hinrei-
chende Mittel zu Gebote stehen, ware nicht ohne Interesse.
Bei der Reaktion von Hood (S. 225) stosst eine ahnliche Deutung
auf grossere Schwierigkeiten. Man miisste eine primare Reaktion der
drei beteiligten Stoffe annehmen, bei welcher nur je eine Molekel be-
teiligt ist, etwa dergestalt
Fe-+H + C103'=Fe-+HC10»',
worauf der fiir sich nicht existenzfahige Komplex HCIO'' in irgend
einer Weise sekundar sich weiter umsetzen miisste, z. B. nach
2HC10«'=C10*'+C10»'+H«0
^) Rec. Pays-Bas 4, 347. 1885 nach Maanbl. y. Natuurwet. 12, 78. 1885.
Chemische Kinetik.. 243
in die lonen der Chlorsaure and der chlorigen Saure. Letzteres wiii'de
dann welter nacli
4Fe- + C10*'+4H=4Fe-+Cr+2H«0
reagieren, imd diese Reaktionen miisste dann so viel schneller als die
erste yerlaufen, dass ihre Geschwindigkeit dieser gegeniiber praktisch
nnendlich ist und sich bei den Messungen nicht geltend macht.
Za gunsten einer solchen Anschauung konnte man anfiihren, dass
ar&hningsmassig die samtlioben niedrigeren Oxydationsstufen des Ghlors
8chneller reduziert werden als die Chlorsaure. Dagegen spricht aber
die Yollige Willkiir in der Annahme eines solcben priinaren Reaktions-
Torganges, fiir den kein auderer cfaemischer Grund vorhanden ist. Ein
Fortschritt in dieser Frage erfordert vor alien Dingen weitere, auf diesen
Pankt gerichtete Experimentaluntersuchungen.
Schliesslich soil nicht unterlassen werden» zu bemerken, dass dnrch
die vorliegenden Thatsachen die S. 219 gemachte Bemerkung zu gunsten
der Dissociationstheorie einigermassen an Gewicht verliert.
24. Verhfiltnis mr Gleiohgewiohtsformel. Schliesslich muss noch
gefragt werden, wie sich diese Hypothesen mit den oben (S. 239) er-
ortertcn Beziehungen zwischen der Formel fiir die Reaktionsgeschwin-
digkeit and der fiir das chemische Gleichgewicht vereinigen lassen.
Die Antwort ist, dass die letzteren in diesen Fallen keine unmittelbare
Aowendnng finden und daher ein Einwand Yon dieser Seite ausge-
achlossen ist. Dies liegt im Wesen der Sache, denn da die Voraus-
•etning jenes Erklarungsversuches darin besteht, dass die Produkte des
primaren Vorganges dnrch den sekundaren alsbald weiter umgewandelt
werden, so ist die Grondbedingung des chemischen Gleichgewichts, dass
D&aUiGh die Produkte des Vorganges unter Bildung der urspriinglichen
Stoffe aofeinander wirken, nicht erfdllt, und die Gesetze des Gleich-
gewichts finden auf diesen Vorgang keine Anwendung.
In dieser letzten Betrachtung liegt voraussichtlich ein Kriterium
Ar die Berechtigung jener Annahmen. Denn hiernach soUten solche
Cotersehiede zwischen der Ordnung der Reaktion und der beteiligten
Molekelzahl nur in solchen Fallen moglich sein, wo der Vorgang nicht
nmkehrbar ist; bei Vorgangen, in denen die Ausgangsstoffe aus den
Prodokten sich wieder zuriickbilden konnen, sollte Molekelzahl und
Beaktionsordnung iibereinstimmen. Es sind bisher zu weuig Vorgange
in solchem Sinne untersucht worden, als dass man ein begriindetes
Orteil dariiber abgeben konnte, ob diese Forderung von der Erfahrung
erfOllt wird oder nicht
16*
244 n* Chemische Dynamik.
25. Das KoexiBtensprinsip. Die vorstehend geschilderten Falle
der chemischen Vorgange umfassen keineswegs alle vorkommenden. Sie
sind vielmehr Grenzfalle* denen sich die thatsachlichen Erscheinungen
unter UmstaDden mehr oder weniger nabern koDnen, die sie aber thatr
sacblicb nie erreicben.
Vor alien Dingen findet die bei der Recbnung yorausgesetzte Ein-
fachheit und Einbeitlicbkeit der Reaktion in den seltensten Fallen streng
statt. Vielmebr yerlaufen fast immer mebrere Vorgange gleichzeitig,
und nur wenn einer von ibnen den anderen stark iiberlegen ist, ent-
stebt ein scbeinbar einfacber Prozess. Es ist ein Verbalten, wie es uns
aucb iiberall in derPhysik entgegentritt. Beim freien Fall eines scbweren
Korpers ist die Gescbwindigkeit aucb nicbt genau proportional der Zeit,
gemass der Formel y = gt, sondem g ist yeranderlicb, und die Bemes-
sung yon y erfordert eine besondere Feststellung, da sowobl der Korper
sicb gegen die Erde, wie aucb diese sicb gegen den Korper bewegt
In der Cbemie wird aber wie in der Pbysik die yerwirrende Man-
nigfaltigkeit der gleicbzeitigen Wirkungen ubersichtlicb durcb ein gleiches
Prinzip: das der Unabbangigkeit des Verlaufes jedes indiyi^
duellen Vorganges yon alien anderen. Wie bei der Einwirkung
beliebig yieler Krafte auf einen Massenpunkt jede Kraft so wirkt, bIb
ware sie allein tbatig, so lasst sicb fiir jeden nocb so zusammenge-
setzten cbemiscben Vorgang der Satz aufstellen, dass seine Teilyorgange
nach den gleicben Gesetzen yerlaufen, welcbe oben fiir einfache Vor-
gange auseinandergesetzt wurden.
Dieses Prinzip der Koexistenz cbemischer Vorgange Uegt
implicite zablreicben Betracbtungen und tbeoretiscben Erdrtenmgen auf
diesem Gebiete zu Grunde. Indessen scbeint es docb notig, es formell
auszusprecben, denn es bildet neben dem Gesetz, dass die chemisobe Wir-
kung proportional der Menge ist, die Grundlage der cbemiscben Dynamik.
Das Prinzip bat an und fiir sicb den Gbarakter eines Axioms,
denn es ist yorausgesetzt, so wie man cbemiscbe Reaktionsgescbwindig-
keiten als Wirkungen bestimmter Ursacben ira allgemeinsten Sinno aaf-
fasst. Der Beweis aber, dass es sicb in Obereinstimmung mit der Weise
befindet,* in welcber cbemiscbe Reaktionen aufgefasst und dargestellt
werden, muss erfabrungsmassig erbracht werden. Es bat sicb nun thsit^
sacblicb bei alien Anwendungen, welcbe yon dem Prinzip gemacht
wurden, dasselbe durcb die Erfabrung bestatigt gefunden. In der Fol§^
wird eine Anzabl yon Anwendungen gezeigt, und seine Richtigkeit dii->
durcb bewabrt werden. Um die Art der Anwendung zu zeigen,
alsbald ein Beispiel gegeben.
Chemische Einetik. 245
In der friiher (S. 205) erwahnten Arbeit iiber den Zerfall wasse-
riger Losungen von Methylacetat bei Gegenwart von Sauron ist keiue
Riicksicht auf die Essigsaure genommen worden, welche iin Laufe der
Beaktion frei wird. Dies geht an, so lange die Reaktionsgeschwindig-
keit gross ist. Untersucbt man aber z. B. die Wirkung der Essigsaure
selbst, so wUrde die Vernachlassigung des erwahnten Umstandes erheb-
liche Fehler veranlassen.
Ist die Menge yon Methylacetat B, die von urspriinglich vorhan-
dener Essigsaure A, so wiirde die Gleichung ohne Riicksicht auf die
fireiwerdende Saure lauten
(4|r)='^^^B-.).
Daza tritt aber eine weitere Umwandlung des Methylacetats infolge
der freiwerdenden Essigsaure. Die Menge derselben zur Zeit d- ist x,
die daher riihrende Reaktionsgeschwindigkeit also
(w)='"(»-')
and die wirkliche Geschwindigkeit ist. die Summe der beiden Teilge-
schwindigkeiten
^ = k(A + x)(B-x).
Das Integral lautet
'»i^='(^+»)»-
Etwas verwickelter wird der Ausdruck, wenn eine andere Saure
genommen wird. Dann sind die Konstanten G nicht mehr in den
beiden Teilgleiehungen dieselben, sondern yerschieden, etwa k' und k.
Die Summengleichung lautet
-^ = (k'A + kx)(B-x)
ond die Integration giebt
k
Oder, wenn man -^rr = ^ setzt,
246
11. Chemische Dynamik.
Als Beispiel gebe ich eine Versuchsreihe mit Ameisensaure. Die
Einzelheiten der Rechnung sind in der Abhandlung^) nachzusehen; es
war A = 1338 und B = 1370.
1440
2880
5760
8640
11520
14400
17280
21600
■«. (b-It
B k'A + kx
183
261
483
665
810
917
1024
1136
-X k'A
1 AA-ra-u
0K)568
0-0000388
0.1135
00000394
0-2297
0O000399
0-3424
0-0000396
04539
0-0000394
0*5553
0-0000386
0-6785
00000393
0-8566
000003%
Der Wert k'A-)-kB zeigt sich der Theorie gemass konstant').
26. Formulierung des KoezistexuBprinaipeB. An den Yorge-
fuhrten Beispielen sieht man, in welcher Form von dem Koexistenz-
prinzip Gebraucb gemacbt wird. Man kann es in allgemeinster Fassung
so darstellen
dx
d^
oder abgekiirzt
dx
d^
=2'(kxr...),
wo X^X^'. . . u. 8. w. Funktionen yon x darstellen, welche im einfachsten
Falle die Form X = A + x baben; man kann dann aucb schreiben
dx
2'k(A + x)(B + x)...
Die Summierung JS erstreckt sich iiber so viel Glieder, als Teil*
vorgange yorhanden sind; letztere konnen von gleicher oder verschie-
dener Ordnung sein.
27. Verwiokeltere Beaktionen. Wir yerlassen nunmehr die Vor-
aussetzung, dass ausser der Anderung in der wirksamen Menge oder
Konzentration der bei der Reaktion beteiligten Stoffe keine Ursache
vorhanden ist, welche auf die Geschwindigkeit einwirkt Denn diese
Voraussetzung ist in aller Strenge nie erfiillt, und es ist bereits er—
wahnt worden, dass sowohl die Temperatur, wie die Beschaffenheit der
«) J. pr. Ch. (2) 28, 482. 1883.
*) Streng gonommen liegt hier ooch eioe weitere Yerwickelung wegen d^r
Yer&nderlichkeit des Dissociationsgrades der vorhandenen Sfturen vor; Ton dieaer
ist der £infachheit wegen oben abgesehen wordeo.
Ohemische Einetik.. 247
Stoffe, welche im Reaktionsgebiete zugegen sind, auch wenn diese nicht
nachweisbar an der Reaktion teilnehmeD, einen unter Umstanden sehr
grossen Einfluss ausiibt. Den Temperatureinfloss kann man im allge-
meinen durch ezperimen telle Hilfsmittel genugend ausschalten, indem
man die Reaktion in einer Umgebung yon konstanter Temperatur ver-
laiifen lasst, deren Warmekapazitat gross genug ist, um etwaige Warme-
entwicklungen oder -aufnahmen seitens des Reaktionsgemisches ohne
wesentliche Temperaturandemng auszugleichen. Nicht ganz so steht es
mit dem Einflnsse der Stoffe, welche bei der Reaktion zugegen sind.
Zwar diejenigen, die von vornherein Torhanden waren, und auch durch
das Verschwinden der Ausgangsmaterialien, wie durch das Entstehen
der Reaktionsprodukte nicht geandert werden, behalten wahrend des
Vorganges einen konstanten Einfluss, der sich nur in dem absoluten
Weile der Konstanten k bethatigt, nicht aber in einer Veranderlichkeit
des Geschwindigkeitskoeffizienten. In sehr vielen Fallen haben aber
uoch sowohl die bei der Reaktion entstehenden, wie die verschwinden-
den Stoffe einen Einfluss auf den Reaktionsverlauf, der nicht in der
oben behandelten primaren Massenwirkung besteht. Von solchen Ein-
fliiasen lassen sich folgende Arten unterscheiden: Reaktionen mit Neb en-
wirkungen, solche mit Gegenwirkungen, mit Folgewirkungen und end-
licb katalytische Beeinflussungeu. Die wesentlichen Eigentiimlichkeiten
dieser Eomplikationen bestehen in folgendem.
Nebenwirkungen erfolgen, wenn die Ausgaugsstoffe, statt nach
einer einzigeu chemischen Formel zu reagieren, dies nach mehreren thun,
Oder statt eines einzigen Produktes (bez. einer einzigen Gruppe zusammen-
gehoriger Produkte) deren mehrere geben. Nach dem Eoexistenzprinzip
wird man den Fall derart behandeln konnen, dass man zu der die
Hauptreaktion darstellenden Gleichung noch additiv so viele andere
hinzusetzt, als Nebenreaktionen vorhanden sind. Da nach der Voraus-
setzung diese die Ausgangsstoffe treffen, so tritt in alien Formein die
Veranderliche x in der Gestalt A — x, B — x, etc. auf, und wir haben
als allgemeines Schema
~ = k,(A-x)(B-x)(C-x) • • . + k,(A-x)(B-x) - . + k,(A-x) • • • ..
wobei keineswegs alle Grossen A, B, C . . . . in jedem summatorischen
Gliede der Gleichung wiederzukehren brauchen; yiehnehr konnen die
sich superponierenden Reaktionen ganz wohl von verschiedener Ord-
nnng sein.
Gegenwirkungen bestehen darin, dass die entstehenden Stoffe sich
wieder in die urspriinglich vorhandenen zuriickverwandeln konnen. Diese
248 n. Chemische Dynamik.
Art Yon Reaktionen ist ausserordentlich verbreitet, und man wird priii*
zipieU zugeben diirfen, dass alle chemischen Vorgange von Gegeuwir-
kuDgen begleitet sind, wenn diese auch meist nur in unmessbar geringer
Menge stattfinden. Vorgange dieser Art unterliegen der Formel
-||- = k,(A-x)(B-x)(C-x) k,x-,
WO wieder n die bei der Gegenreaktion beteiligte Zahl der Molekeln
angiebt.
Diese beiden verwickelteren Falle chemischer Vorgange haben die
Eigenschaft, dass ibre Ordnung durcb das Zusammentreten mehrerer
Prozesse nicbt geandert wird; sie ist gleich der hochsten Ordnung der
Yorhandenen Teilvorgange, wie sicb das aus dem Anblick der Formeln
unmittelbar ergiebt, in welchen die mit x behafteten Glieder der Teil-
vorgange nur additiv zueinander treten. Anders verhalten sich die
katalytischen Vorgange.
Katalytisch nennt man solche Vorgange, bei denen die Gescbwia-
digkeit durcb die Anwesenheit von Stoffen geandert wird, die nach
Ablauf der Reaktion sich in demselben Zustande befinden wie zu An-
fang. Sind solche Stoffe zwar vorhanden, aber bei der Reaktion nicht
veranderlich, so beeinflussen sie nur den Zahlenwert der Geschwindig-
keitskonstanten, ohne sonst etwas an der Formel zu. anderu. Anders
wird es, wenn die an der Reaktion teilnehmenden Stoffe daneben noch
katalytische Wirkung aussern. Dann erfolgt die katalytische Geschwin-
digkeitsanderung in wechselndem Masse. Wir konnen sie in erster An-
naherung der Erfahrung gemass proportional der Konzentration des
katalytischen Stoffes annebmen, und haben an Stelle des konstantea
Geschwindigkeitskoeffizienten einen entsprechend veranderlichen zu setzeu.
Ist z. B. einer der Ausgangsstoffe katalytisch wirksam, so ist statt
k zu setzen k4-k'(A — x) und die Reaktionsgleichung wird
-J|- = [k + k'(A-x)](A-x)(B-x)(C-x)....,
wahrend sie im Falle der katalytischen Wirkung eines der Produkte
die Gestalt annimmt
^ = (k + k'x)(A-x)(B-x)(C-x)....
In beideu Fallen andert sich die Ordnung der Reaktionsgleichung,
indem sie urn eine Stufe hoher wird. Entstehen mehrere katalytische
Stoffe, Oder wirken die vorhandenen auf mehrere Reaktionsbestandteile,
Chemische Kinetik. 249
80 tritt eine entsprechend grossere Anzahl von Faktoren binzu, UDd
die OrdnuDg der Reaktion 8teigt um mehr als einen Grad.
Nicht immer erscbeint die Formuliening des katalytiscben Ein-
flosses so einfacb. Zuweilen ist der BescbleuniguDgsfaktor der Menge
des freiwerdenden Sto£fes nicbt einfacb proportional, sondem eine ver-
wickeltere Fnnktion dieser Grosse^). Prinzipiell wird dadurcb nicbts
neaes gescbaffen; man bat eben nur jene Funktion von x an Stelle
dieser Grosse in die Gesdbwindigkeitsgleicbung zu setzen.
Folgewirkungen endlicb sind vorbanden, wenn die Produkte
der Reaktion aufeinander oder auf die Ausgangsstoffe wirken. Sie wer-
den darch das gleicbzeitige Besteben mebrerer Differentialgleicbungen
fiir die Gescbwindigkeit gekennzeicbnet.
In den nacbstebenden Paragrapben sollen die wicbtigsten Verbalt-
nisse eingebender dargelegt werden, die sich bei der Anwendung des
allgemeinen Scbemas auf die tjpiscben Falle ergeben.
28. Fllle mit IN'ebenreaktionen. Die einfacbsten Bedingungen
baben wir, wenn neben einer Reaktion erster Ordnung eine andere,
gleich&Us erster Ordnung, mit einem anderen Gescbwindigkeitskoeffi-
zienten verlauft. Die Gleicbung lautet dann:
i|- = kj(A-x) + k,(A-x) = (k, + k,)(A-x).
Man sieht, dass es sich wieder um eine Reaktion erster Ordnung
h^delty deren Gescbwindigkeitskoef&zient gleich der Snmme der beiden
KoefSzienten ist, welcbe den gleicbzeitig verlaufenden Reaktionen ange-
boren. Die entsprechendc Integralgleicbung lautet:
nod lasst nur die Summe beider Gescbwindigkeiten berecbnen. Um
die Grossen k^ und k, einzeln zu baben, muss man nocb eine andere
Gleicbung zwiscben ibnen ermitteln. Man erbalt eine solcbe, wenn
man zu irgend einer Zeit das Verbaltnis der beiden Umwandlungs-
produkte der urspriinglicben Substanz bestimmt. Da die Gescbwindig-
keit, mit welcber sicb jedes von ibnen bildet, sowobl der wirksamen
Menge A — x des Ausgangsstoffes, wie auch dem Gescbwindigkeitskoeffi-
rienten k proportional ist, der erste Faktor aber fiir beide Reaktionen
in jedem Augenblicke gleicb ist, so muss wabrend des ganzen Reaktions-
^} Dies tritt z. B. ein, wenn bei der Reaktion eine S&are gebildet wird, die
teilweise dissociiert ist, and deren freiwerdende Wasserstoffionen die katalytische
Wtrknng ftben.
I
250 n. Chemische Dynamik.
yerlaufes das Verhaltnis der beiden Prodakte stets dasselbe sein uDd
auch das Verhaltnis der Geschwindigkeitskoeffizienten darstellen. Be-
zeichnen wir die gleiohzeitigen Mengeu dieser Produkte mit x^ und x^,
so ist ki x,
K] Xj,
und mit Hilfe dieser und der vorigen Gleichung kann man kj und k,
k
einzeln bestimmen; aus ki + k, = K und -^ = a folgt
k^ = — r-^ und k, =
Am einfachsten wird die Bestimmung yon a, wenn man die Re-
aktion praktisch zu Ende ^ehen lasst, da sich dann die Analyse nur
auf die beiden Umwandlnngsprodukte zu erstrecken hat, wahrend ?or-
her auch noch der urspriingliche Stoff zugegen war.
Die Erweiterung der Betrachtung auf den Fall dreier und mehrerer
Reaktionen erster Ordnung nebeneinander macht gar keine Schwierig-
keiten; man erhalt einerseits die Summe der Eoeffizienten ki + tj-}-
1^3+ ••••9 andererseits durch die Analyse die Yerhaltnisse kirk^xk^: ,
wodurch immer die notigo Zahl von Gleicbungen gegeben ist
Falle dieser Art sind, obwohl sie unzweifelhaft sehr zahlreich in
der Laboratoriums- und Fabrikpraxis vorkommen, bisher unter diesem
Gesichtspunkte noch nicht untersucht worden.
29. IN'ebenwirkungen hdherer Ordnung. Haben wir zwei Re-
aktionen zweiter Ordnung, die unter gleichen Verhaltnissen zu zwei
yerschiedenen (z. B. isomeren) Produkten fuhren, so gilt zunachst
||^ = k,(A-x)(B-x) + k,(A-x)(B-x),
Oder ^- = (k, + k.)(A-x)(B-x)
und das Integral fur ^ = 0 und x = 0
(A— B)^ A(B— x)
Auch hier gilt, wie iiir den ersten Fall, dass die Reaktion mit
der Summe der Geschwindigkeitskoeffizienten genau wie eine gewohn-
liche Reaktion zweiter Ordnung yerlauft, und dass deren Untersuchung
k
nur die Summe kj + k, = K kennen lehrt. Das Verhaltnis -~^ = a,
ermitteln wir gleichfalls am besten aus dem Verhaltnis der beiden Pro-
dukte nach Vollendung der Reaktion, denn ganz die gleichen Betracli-
Chemische Kinetik. 251
tungeii wie im ersten Falle lehren, class wahrend des ganzen Yerlaufes
and daher auch nach Beendigang der Reaktion die Mengen der eat-
stehenden Produkte im Verhaltnis der Geschwindigkeitskoeffizienten
stehen.
Weitere Falle ergeben sich, wenn Reaktionen verschiedener Ord-
DUDg gleichzeitig nebeneinander verlaufen. Die ReaktionsgleichuDgen
dafur lassen sich leicht aufstellen, doch ist naher auf sie einzugehen
noch kein Grund vorhanden, da keine durchgefuhrten Yersuchsreihen
Torliegen, welcbe rechnerische Bearbeitung verlangen.
30. Gtogenreaktlonen. Eine zweite Art der Verwickelung tritt ein,
wenn die erzeugten Stoffe unter den Versuchsumstanden so aufeinander
reagieren konnen, dass sich die urspriioglichen Substanzen zuriickbilden.
Die hier auftretende Reaktionsgeschwindigkeit ist als der Unterschied
2weier entgegenlaufender Reaktionen anzusehen, da hier die zweite
Reaktion den Umsetzungsbetrag der ersten zu vermindern strebt.
Im einfachsten Falle der Reaktionen erster Ordnung haben wir:
-jf- = ki(Ai-x) — k,(A, + x),
indem die urspriingliche Menge A^ des ersten Stoffes durch die Re-
aktion sich yermindert, wahrend die urspriingliche Menge A^ des um-
^ewandelten Stoffes sich gleichzeitig um ebensoviel vermehrt.
Aus der Gestalt der Formel
i|: = (lqA,-k,A,)-(k, + k,)ic = (k, + k,)(A^=^-x)
sieht man, dass es sich wieder um eine Reaktion erster Ordnung handelt,
k A k A
in der nur an Stelle des Anfangswertes A der Ausdruck — '.^ J ^,
iiod an Stelle des Geschwindigkeitskoeffizienten die Summe beider ge-
treten ist. Der erste Ausdruck geht fiir den Fall, dass vom Umwand-
lungsprodukt von vornherein nichts Torhanden war, also A, = 0 ist, in
k
die einfachere und in ihrer Bedeutung anschaulichere Form , ^ , A^
1^1 + ^«
1j j^ t ^
iib^. Setzen wir der Kurze wegen die Konstante — ^ , ^ J * , bez.
"•1 4~ ^2
k A, •
T ^r\ gleich C, so haben wir
-l|- = (k, + k,)(C-x)
nnd das Int^ral
In (C— Xo) — In (C— x) = (k^ + k,)*.
252 n. Chemische Dynamik.
Aus der Beobachtung des Reaktionsverlaufes erfahrt man nur eine
Beziehung zwischen den beiden Eoeffizienten. Eine zweite erhalt man,
wenn man in der Differentialgleichung -r-— = 0 oder in der Integral-
dxr
gleicbung ^ = 00 setzt, d. h. den Gleichgewichtszustand beobachtet
Man erhalt ^^ _ A, + g _
wenn man mit § den besonderen Wert bezeichnet, welchen x beim
Gleichgewicht annimmt. In Worten heisst das Ergebnis: Die Gescbwin-
digkeitskoeffizienten verhalten sicb wie die Mengen der bei den ent-
sprechenden Reaktionen gebildeten (nicht verbrauchten) Stofife im Gleich-
gewicht.
Man erhalt natiirlich das gleiche Ergebnis, wenn man, statt die
Reaktionsgeschwindigkeit Null zu setzen, die Reaktionsdauer unendlich
gross nimmt, also
Kj Aj ""~~ Ka ijL*
In
-^h'^C'il+t' -^)=^^^+^'^-'
k,+k.
Da das erste Glied eine Konstante ist, muss das zweite = — 00
werden, d. h. der Klammerausdruck unter dem Logarithmus gleich NulL
^^^ k A — k A
WO g wieder den bestimmten Wert von x bedeutet, bei dem Gleich-
gewicht besteht, folgt durch einfache Umformung wie fruber
K A, + g"
Um die Integralgleichung auf S. 251 mit der Beobachtung zu ver-
k
gleichen, ist die vorgangige Kenntnis des Verhaltnisses -—- = a not*
J; X k A k A
wendig. Fiihrt man es in die Grosse C =— ^.^ ' '-, bez. -j— V-r —
ff \ j\ /z A
eiu, so folgt C = ' ^ , bez. — — -^ und in der Integralgleichung
WO jetzt links nur experimentell zugangliche Zablen stehen.
Chemische Kinetik. 253
31. Versuohe von P. Henry. Der erste hergehorige Fall der
wisseDschafUich untersucht worden ist, ist die Umwandlung der /-Oxy-
battersaure in ihr Lakton:
CH«(OH).CH«.CHVCOOH = CH«.CH«.CH«.CO + H«0.
• 0 '
Wahrend bei der gleichzeitig untersuchten /•Oxyvaleriansanre diese
Umwandlung fast vollstandig ist, wandelt sich die /-Oxybuttersaure nar
teilweise um^), und fiir diesen Yorgang ist somit die Formel
-^ = ki(A— x) — kjx
anzQwenden. Aus spater zu erwahnenden Griinden wurde die Reaktion
bei Gegenwart Ton Salzsaure ansgefiihrt
k
Zunachst wurde das Verhaltnis -y^ ermittelt, indem das Gleichge-
^1 dx
vicht nach langer Zeit beobachtet wurde. Alsdann ist -r— = 0, und
es wurde gefunden
Damit ergiebt sich die Integrationsformel (S. 251)
Die Beobachtungen entsprechen der Formel recbt gut, denn sie ergeben
»
X
A(k,+k,)
21
241
0-0355
36
373
0-0358
50
496
0-0374
65
6*10
00382
80
7-08
0-0386
100
811
00384
120
890
0.0377
160
10-35
00382
220
1155
00370
CO
1328
Die Losung enthielt ein Mol in 5*66 Liter und war mit Salzsaure
▼ersetzt. Der Wert von A war 18«23.
Leider ist unterlassen worden, die entgegengesetzte Reaktion, die
Umwandlung des Laktons in die Saure bei Gegenwart eincr gleichen
Menge Salzsaure gleichfalls zu untersuchen; es batte sich so der gleiche
Wert kj + ^i ergeben miissen.
^) P. Henry, Zeitschr. f. phys. Chemie 10, 115. 1892.
L
254
II. Chemische Dynamik.
32. Versubhe von F. W. K^ter. Mit der ezperimentellen Unter-
suchnng eines anderen Falles hat sich F. W. Kiister ^) beschaftigt, nacb-
dem J. Wislicenus') iiber einige hergehorige ReaktioDeD, doch ohne
EiDgehen auf die uns bier bescbaftigeDden Fragen, berichtet batte. Das
Versuchsmaterial war durcb die von Kiister vorher*) studierte IJmwand-
lung des Hexacblor-a-keto-j9-R-penten in die isomere a-y-Verbindung
gegeben, die bei boherer Temperatur freiwillig erfolgt und zu einem
Gleicbgewichtszustande zwischen beiden Stofifen fuhrt. Die Analyse wurde
darauf gegriindet, dass die erste Verbindung mit Anilin ein in ver-
diinntem Alkohol fast unloslicbes Anilid bildet, wabrend die zweite un-
verandert in Losung bleibt.
Zunachst warde gepriift, ob der UmwandlungSTorgang tbatsachlich
der logarithmischen Formel folgt. Dies ist der Fall, denn der Wert
^1 4- ^s ^^^ Gleicbung, welcber der Theorie nach konstant sein soil,
war es tbatsachlich bei der Umwandlung der jS- in die y-Verbindung,
wie aus der nachstehenden Tabelle ersichtlich ist; die Messungen wurden
bei 210-5^ vorgenommen.
^
K+K
1
0046
0-0551
16
0-066
0-0543
2
0.085
0-0540
3
' 0114
0-0507
3
0116
0-0517
4
0148
0-0526
5
0173
0-0516
6
0-206
0-0562
8
0-256
0-0586
10
0-283
00574
12
0-304
0-0561
15
0-330
00532
18
0362
0-0588
21
0-362
0-0574
25
0-373
0-0589
30
0-375
0-0515
36
0-382
0-0542
42
0-383
0-0503
oo
0-386
1] Zeitschr. f. phys. Chemie 18, 161. 1895.
*) Leipziger DekaDatsprogramm 1890.
») Ber. 22, 2212. 1890.
Chemische Kinetik. 255
Daflir ^ = 00 x = g= 0-386 ist, so folgt a = -^ = 0-0629, wo-
0'bl4
bei, da x in Bnichteilen der AnfaDgsmenge der reinen /9-Verbindung
ansgediiickt worden ist, A, = 1 und A^^ = 0 zu setzen ist.
Wie man sieht, ist die Fordemng der Theorie gut bestatigt, da
sdbst bis in onmittelbarster Nahe des Endzustandes (d- = 42, x = 0*383)
die Eonstante sich nor wenig vom Mittelwerte entfemt
Als iodessen die umgekehrte Reaktion, die Umwandlung der 7- in
die j3-Verbindungy untersucht wurde, wobei fiir die Summe k^ + ks
wieder derselbe Wert von 0-055 zu erwaxten war, ergaben sich die
Zahlen grosser als erwartet und dabei noch bestaudig zunehmend. Als
Uisache wurde alsbald die Abspaltung von Chlorwasserstoff aus der
7-Verbindung erkannt, wodurch eine grosse und wachsende Beschleu-
oigang der Reaktionsgeschwiudigkeit bewirkt wird. Es gelang nicht,
diese Erscbeinung soweit zu unterdriicken, dass ein unzweifelbafter
Vergleicb moglicb war, und so steht von dieser Seite der Frage noch
die experimentelle Priifuug aus.
33. Gegenreaktioneii zweiter Ordnong. In dem Falle, dass eine
Reaktion zweiter Ordnung zwei Stoffe ergiebt, die wieder uuter Bildung
der urspriingiichen Stoffe aufeinander reagieren konnen, haben wir die
Geschwindigkeitsgleichung
|| = k,(A-x)(B-x)-k,(C+x)(D+x),
Oder, falls die Umwandlungsprodukte urspriinglich noch nicht vorhanden
waren^ dx
-|^ = k,(A~x)(B-x)-k,x«.
dx
Fiir -7^ = 0, den Zustand des Gleiohgewichts, ergiebt sich
k, _ (A-g)(B-g) (A-§)(B-|)_
ki ~ (C + |)(D + §)' ''^'- -|S-~ -"'
mittelst weleher Beziehung sich einer von beiden Geschwindigkeits-
koefifizienien eliminieren lasst. Die Geschwindigkeitsgleichung bleibt
aoch in diesem Falle vom zweiten Grade in Bezug auf x, und das
Integral lantet nach der Elimination von kg durch a
1
^lA-fB+a(C + D)]«— 4(1 — «)(AB— aCD)
2fl-^g)x— (A + B)-«(C + D) — V[A + B + ct(C+D)]»-4(l-«)(AB-gCD)
2a-cjx_ (A + B)-a(G + D) + V[A+B + a(C+D)]«-4(l-a)(AB-aCD)
= ki^ + const,
256 n. Chemische Dynamik.
oder in einfacherer Gestalt, wenn C = D = 0 angenommen wird,
1 ,^ 2(l-.)x-(A+B)^V(A+B)^+4(I-aJAg_ _^
V(A + B)« + 4aAB 2(l-a)x-(A+B)+V(A+B)M-4(l-a)AB
Beide Gleichungen entsprechen dem Schema der gewohnlichen Glei-
chuDg zweiter Ordnung, Dur dass an Stelle der dort Torhandenen wirk-
samen Mengen oder Eonzentrationen A und B ?erwickeltere Ausdriicke
der Versuchskonstanten treten. Lasst man die Gegenreaktion verscbwin-
dend gering werden, so wird a = 0 und die Gleichungen gehen, wie
notwcndig, in jeue iiber.
Durch eine von Guldberg und Waage^) angegebene Umformong
kann man die Analogic noch weiter treiben. Die Gleichung
(A— x)(B— x)— a(C + x)(D + x) = 0
hat zwei Wurzeln; bezeichnet man diese mit r^ und r,, so gilt die Gleichung
(A-x)(B-x)-a(C + x)(D + x) = (r,-x)(r,-x),
und daher ergiebt sich fiir die Geschwindigkeitsgleichung
^ = ki(ri— x)(r8— x),
wodurch wir voUig die der einfachen Reaktion zweiter Ordnung zu-
kommende Gestalt erhalten.
Was nun den Wert dieser Wurzeln anlangt, so ist einer yon ihnen
eine bereits erwahnte Grosse, namlich g, die umgesetzte Stoffmeage
beim Gleichgewicht Denn es gilt
(A - |)(B-g)- « (C + g) (D + g) = 0.
was mit der obigen Gleichung zusammenfallt, wenn x = § gesetzt wird.
Berechnet man hiernach §, so folgt
_ A + B + «(C + D) __ I/7a"+B + c(C + D)\« AB— gCD"
^~ 2(1— a) +r V 2(i-«) / i:^ ■
Von den beiden Zeichen gilt das obere fiir a <C 1 und das untere
fiir a >^ 1, denn g muss immer kleiner als A oder B sein. Das andere
Zeichen giebt die zweite Wurzel der Gleichung; nennen wir sie h, so ist
, _ A + B + a(C+D) . l/?X+B + a(C + D)y AB— ^05"
^— 2(i-a) -r V 2(1— a) ) i::^
Damit wird die Geschwindigkeitsgleichung
») Journ. f. pr. Ch. 19, 81. 1879.
Chemische Kinetik. 257
und ihr Integral fiir z = 0, ^" = 0
ln-f\- ^^ = k*.
h-g h(g-x)
Setzt man, um den einfachsten Fall zu haben, A = B und C = D
=0, 80 ist
g= 7=r und h= pr-
l+Va 1— Va
Es werden also keineswegs auch die beiden „scheinbaren Mengen*^
einander gleich, wenn es die wirklicben Mengen der Ausgangsstoffe
waren, und die Reaktionsgleicjiung zweitcr Ordnuug mit Gegenreaktion
nimmt niemals die diesem Falle ohne Gegenreaktion entsprechende
hjperbolische Gestalt (S. 213) an. Der einzige Fall, wo § und h gleich
wturden, ware ya = 0; das heisst aber: es findet keine Gegenreak-
tion statt
Die experimentelle Priifung der Gleichung geht in verhaltnismassig
frahe Zeiten der Lehre ?on den Reaktionsgeschwindigkeiten zuriick,
denn sie ist, gleichzeitig mit der ersten Aufstellung der Gleichung, von
Gnldberg und Waage^) im Jahre 1867 gegeben worden. Allerdings
varen die Umstande des gewahlten Versuches — die von Berthelot und
St GUles (S. 76) untersuchte Verbindung zwischen Essigsaure und
Alkobol bei gewohnlicber Temperatur — nicht besonders geeignet, da
die Zimmertemperatur nicht nur schwankend, sondern langsam in einem
bestimmten Sinne yeranderlich war, doch ist immerhin jener erste Nach-
weis Yon Interesse. Es sind nicht die berechneten Konstanten mitge-
teilt worden, sondern die aus deren Mittelwert zuriickberechneten
x-Grossen.
1 Mol Essigs&ure + 1 Mol Alkohol.
Tage
X beob.
X ber.
10
0087
0054
19
0121
0-098
41
0-200
0.190
64
0.260
0-267
103
0-345
0-365
137
0421
0-429
167
0-474
0-472
190
0-496
0499
^ £tDde8 sar las aff. chim. Cbristiania 1867, S. 10, vgl. auch Journ. f. pr.
Ch. 19, 83. 1879.
Ostwald, Chemie. n,a. 2.Aufl. 17
258 n. Chemische Dynamik.
Die tlbereinstimmung lasst, namentlich in der ersten Zeit» noch
recht yiel zu wiinschen iibrig. Noch schlechter stimmon andere Ver-
suchsreihen.
34. PrtUtmg durch O. Knoblauch. Sine Untersuchung der Frage,
ob das durch das Teilungsverhaltnis beim Gleichgewicht zu ermittelnde
Verbaltnis der beiden entgegengesetzten Geschwindigkeitskoeffizientea
thatsachlich sich mit dem aus der Messung der entsprechenden Reak-
tionsYorgange zu ermittelnden iibereiustimmend erweist, war bisher noch
nicht Yorgenommen worden. Erst in jiingster Zeit hat 0. Knoblauch^),
den ich auf die hier vorhandene Liicke aufmerksam gemacht hatte, cine
entsprechende Reihe von Messungen ausgefiihrt, deren Ergebnisse den
zu hegenden Erwartungen entsprochen habeu.
Yorlaufige Versuche mit den reinen Stoffen Athylalkohol, Essig-
saure, Essigester und Wasser ergeben, dass die beiden letzten sehr viel
langsamer aufeinander wirken, als nach dem Teilungsverhaltniss zu er-
warten war. Das zeigt, dass die beiden entgegengesetzten Reaktioneu
offenbar nicht dem einfachen Gesetz folgen, das auf S. 255 ausgedriickt
ist, und als Grund ergiebt sich alsbald der, dass bei der ersten Reak-
tion Alkohol und Saure durch die Gegenwart der letzteren eine kata-
lytische Beschleunigung vorhanden ist, die bei der anderen fehlt. Durch
die Reaktion vermindert sich die Saure beim ersten Vorgange und
vermehrt sich beim zweiten; beim Gleichgewicht sind beide Mengen
gleich, und ihr Einfluss auf beide Vorgange somit auch gleich, so das8
kein Widerspruch gegen die Forderung vorhanden ist, dass beim Gleich-
gewicht sich die entgegengesetzten Geschwindigkeiten aufheben. Be-
trachtet man die oben mitgeteiite Zahlenreihe unter diesem Gesichts-
punkt^ so findet man ihn bestatigt, denn am Beginn der Reaktion, wo
alle Saure im freien Zustande vorhanden ist, wird x viel grosser be-
obachtet als berechnet, wahrend gegen Ende der Reaktion das umge-
kehrte einzutreten beginnt.
Um diese Storungen, zu denen noch die durch die Anderung des
Mediums kommen, auszuschliessen, wurden die Versuche folgendermassen
eingerichtet. Eine Losung von aquimolekularen Mengen Alkohol und
Wasser wurde einerseits mit Essigsaure, andererseits mit Essigester
versetzty wobei im ersten Falle Ester gebildet, im letzteren der vor--
handene teilweise zerlegt wurde. Die Losung enthielt, um die wechseln--
den Einfliisse der Essigsaure auszuschliessen, eine gewisse Menge Sa.lz~
saiire, welche so bemesscn war, dass die Geschwindigkeit bei 25®
1) Ztschr. f. ph. Ch. 22, 268. 1897.
Chemische Kinetik. 259
passende Grosse annahm (etwa 0-5 Aquivalent der Essigsaure, bez. des
Esters). Die Losungen batten die Zusammensetzung in Molen pro Liter
12-76 Alkohol, 12-76 Wasser, 1 Essigsaure, bez. 1 Essigester, 0491 HCl.
Von Zeit zq Zeit wurde 1 ccm der Losung titriert, woraus der Betrag des
DiQsatzes sich leicht berechnen liess. Das Gleichgewicht wurde praktisch-
nach 24 Stunden erreicht, und ergab fur das Verhaltnis beider Geschwin-
digkeitskoeffizienten 2*81. in der direkten, 2-67 in der umgekehrten Re-
aktioD, d. h. es bildet sich auch uuter den hier vorhandenen Umstanden
Torwiegend Ester und Wasser, wenn auch in geringerem Verhaltnis, als
bei der Yermischung aquimolekularer Mengen Saure und Alkohol, wa
das Verhaltnis der Eonstanten rund 4*0 betragt.
Berechnet man gemass der Formel von S. 225 unten den Ge--
schwindigkeitskoeffizienten k^ aus den Beobachtungen, so ergiebt sich
fojgende Tabelle:
^
Titer kj.lO*
44
217 . 096
53
266 100
62
302 099
70
348 1.04
108
4.87 102
117
511 101
124
636 102
148
608 102
Mittel 101x10-*
155
6-27 1.03
318
922 104
322
9.29 103
374
978 1-02
384
9-87 102
433
10.25 102
442
10.28 101
CO
1169 —
Unter Titer stehen die Verminderungen im
Sauretiter der Lo
velcbe den ntngewandelten Mengen Essigsaure, bez. Alkohol proportional
sind. Der gesamten Essigsauremenge wiirde der Titer 16-35 entsprechen;
diridiert man daher die gegebenen Zahlen durch 16.35, so erhalt man
die Werte Yon x, welche in die Gleichung zu setzen sind, wahrend
gemass den oben gemachten Angaben A = Alkohol = 12*76, B = Essig-
saure = 1, C = Ester = 0, sowie D = Wasser =r 12.76 betragen.
Ebenso wurde fur die entgegengesetzte Reaktion A = 12-76, B = 0,
0=100 und D=: 12.76 gemacht. Die Zunahme des Sauretiters ent-
sprechend dem Zerfall des Esters, betrug in der Zeit 9-
17*
260 II- Chemische Dynamik.
^
Titer
k,.10*
78
1-27
0-97
86
141
100
94
152
100
131
1*93
098
188
2.04
101
162
224
0-98
169
231
099
Mittel 099x10-*
342
334
0-96
348
342
1.00
405
364
1.02
415
867
102
458
373
0.98
464
3.80
1.03
oc
432
Auch bier ergiebt sicb x aus den Zablen der zweiten Reibe durch
Dmsion mit 16-35.
Wie man siebt, geben beide Reiben den ubereinstimmenden Mittel-
wert 1«01, bez. 0-99 XlO^* fur den Gescbwindigkeitskoeffizienten, und
beweisen somit, dass in der Tbat zwiscben dem cbemiscben Gleicbge-
wicbt and der Gescbwindigkeit der beiden entgegengesetzten Reaktionen
die von der Tbeorie geforderte Beziebung bestebt.
35. iitere Formulierangsyersaohe. Es wurde S. 213 bereits er-
wabnt, dass fiir die Wecbselwirkung zwiscben Saure und Alkobol durch
den Erforscber des Vorganges, Bertbelot, zuerst eine unricbtige Formel
aufgestellt worden ist. Die Uberlegung dabei war folgende^).
Sei 1 die anfanglicbe Menge von Saure und Alkobol in der aqui-
valenten Miscbung und x die davon nacb der Zeit & verbundene Menge.
dx
Die Reaktionsgescbwindigkeit -r-— wird gleicb Null, wenn eine be*
stimmte Menge 1 der Ausgangsstoffe sicb verbunden bat; daber ist nicht
die ganze Menge Alkobol und Saure wirksam, sondern nur der Bruch-
teil, der sicb verbinden kann, und die nacb der Zeit d- vorbandene
wirksame Menge in diesem Sinne betragt nicbt 1 — x, sondern 1 1- -
Dies gilt sowobl fur die Saure, wie fiir den Alkobol, so dass die Glei*
ebung des Vorganges gegeben ist durcb
dx
d^
=Ki-v) = f(^-^)'-
>) Ann. chim. phys. (3) 66, 110. 1862
Chemische Einetik.
261
Diese Formel unterscheidet sicb yon der friiher gegebenen, die wir
for die richtige halten miissen, in einem wesentlichen Punkte. Wahrend
der Yerlauf jener von dem Werte a, der das Gleichgewicht zwischen
den reziproken Stoffpaaren darstellt, abhangig ist, so dass je nacbdem
dieser verscbieden ist, aucb bei gleicber Anfangsgescbwindigkeit ein
wesentlicb verscbiedener Reaktionsyerlaaf stattfindet, so ist bier der
Verlauf von a ganz unabbangig and erfolgt immer in Gestalt einer
Hyperbel.
«57
Um den Unterscbied beider Formeln anscbaulicb zu macben, babe
Jch iiir den meist nntersucbten Fall der Esterbildung, wo a = ^ ist,
beide Formehi berecbnet and in Fig. 4 gezeicbnet, and zwar fiir
A = B = 1, C=D = 0. In der Gleicbung von Bertbelot ist die An-
2
f*ng8geschwindigkeit (fiir x = 0), da § = — ist, wegen
3
(
2
/2 \* 4
k = .(^l ^^"q"' ^^^^^ sie der anderen Formel vergleicbbar =1 wird,
9
moss beiderseits mit -j- multipliziert werden.
262 n. Chemlsche Dynamik.
Wie man sieht, verlaufen beide Eurveu stark verscbiedcn. Es ist
dies urn so bemerkenswerter, als Bertbelot*) bei der Berechnong seiner
Versuche nach seiner Formel eine ihn befriedigende tlbereinstimmung
gefunden hat. Thatsachlich geben die Reihen nach der logarithmischen
Formel sehr schlechte „Konstauten'*.
Auf den Fall nichtaquimolekularer Anfangsmengen lasst sich die
Gleichung gar nicht anwenden, da die „wirksamen'S d. b. sich that-
sachlich umwandelnden Mengen notwendig immer aquimolekular sind.
Der Ausdruck dieser Verbal tnisse wiirde nach Berthelot (a. a. 0. S. 128)
„neue Hypotbesen" verlangen, deren Darlegung nicht unternomraen
Tvurde.
36. Eatalytisohe Beaktionen. Das Wesen katalytischer Vorgange
ist, soweit es hier in Betracht kommt, bereits als eine Beschleunigung^)
<ler Reaktionsgeschwindigkeit durch einen der anwesenden Sto£fe ohne
Anderung von dessen Meuge gekennzeichnet worden. So lange der
katalytisch wirksame Stoff oder Katalysator weder durch die zu Beginn
der Reaktion vorbandenen, noch durch die entstehenden Stoffe ver-
aiidert, vermehrt oder vermindert wird, macht sich sein Einfluss nur in
Bezug auf den Wert des Geschwindigkeitskoeffizienten geltend, nicht
aber in Bezug auf den Charakter der Formel fiir den zeitlichen Ver-
lauf des Vorganges. So erfolgt z. B. die typische Reaktion erster Ord-
nung, die Inversion des Rohrzuckers, mit messbarer Geschwindigkeit
nur unter der Einwirkung vorhandener Sauren, wahrend diese doch mit
der Reaktion selbst, die in einer Wasseraufnahme besteht, nichts er-
sichtliches zu thun haben, und auch in keinem Augenblicke eine nach-
weisbare Anderung ihrer Menge erleiden. Ebenso wird die S. 257 be-
sprochene Esterbildung durch die Gegenwart einer sehr geringen Menge
Salz- oder Schwefelsaure ungemein beschleunigt, wahrend im iibrigen
die samtlichen charakteristiscben Eigentiimlichkeiten, wie das Gleich-
gewicht, die Umkehrbarkeit, der relative Zeitverlauf u. s. w. unverandert
bleiben. Die Katalysatoren wirken mit einem Worte so, dass sie dem
Vorgang eine andere Zeiteinheit geben, wahrend alles iibrige unverau-
dert bleibt.
Eine Anderung im Charakter des Yerlaufes wird somit nur dann
eintreten, wenn die Konzeutration des Eatalysators, der seiner Wirkung
in erster Annaherung proportional zu setzen ist, sich wahrend der Reak--
») A. ch. ph. 66, 114. 1862.
*) Es BoUen sowohl positive wie negative Beschleunigungen, also auch V
zOgerungen gemeint sein.
Chemische Kinetik. 263
lion, und durch sie selbst andert^). Die Form dieser Anderung kann
9chr mannigfaltig sein, da die Anderuug iu der Konzentration des Ka-
taljsators nicht uotwendig proportional der Menge des einwirkenden
Stoffes erfolgt, wie denn in der That solche verwickeltere Falle bereits
untersucht worden sind. Fur die bier vorzunehmenden Botracbtangen,
die una das Tjpiscbe dieser Art Beeinflussung des Reaktionsverlaufes
vorfuhren sollen, wird indessen diese vereinfachende Yoraussetzung ge-
macht werden.
Alsdann baben wir zwei Hauptfalle zu unterscheiden: der Kataly-
sator ist entweder einer der Ausgangsstoflfe, oder er ist eines der Re-
aktioQsprodukte. Im ersten Falle erfolgt eine abnebmende Veranderung
des Gescbwindigkeitskoeffizienten, welcbe proportional der entsprechenden
Grosse A — x ist, im anderen eine zunebmende, die proportional x ist.
Die einfacbste Moglicbkeit ist die, dass eine Reaktion erster Ord-
QUDg eine katalytische Bescbleunigung erfabrt. Ist der ursprunglicb
vorbandene Stoff der Katalysator, so wird die Gestalt der Geschwindig-
keitsgleichung folgende sein')
^^ = [ki + k,(A-x)](A-x) = k,(A-x)H-k,(A-x)«.
Hier ist k^ der Geschwindigkeitskoeffizient, wclcber der Reaktion obne
(\ie katalytiscbe Bescbleunigung zukommen wiirde, und k, der von letz-
*) In dieser Annahme liegt kein Widerspruch gegen die oben gegebene De-
finition eioes Eatalysators, als eines Stoffes, der einen Yorgang beschleunigt, ohne
iaine Menge dabei zu &ndem, sondem nur eine Erweiterung derselben. Es ist
gemeint, dass F&lle eintreten kOnnen, in welchen vorbandene Stoffe, die sicb ver-
mdge ibrer gewObnlichen Massenwirkong an einem Vorgange beteiligen, neben
dieier Wirkung nocb eine weitere, beschleunigende, bez. verzOgernde auf den
GesamtTorgang ausQben, welcbe den gleichen Gesetzen gehorcbt, wie die ein-
fache Katalyse. An sp&terer Stelle werden derartige F&lle unter dem Namen der
Aatokatalyae bescbrieben werden.
*) Es ist bier die Bescbleunigung durcb die Gegenwart des Eatalysators in
der Gestalt eingefQbrt worden, dass ein additives Glied, das diesen Einfluss
darstellt, zu der Gleichang fQr die unbescbleunigte Reaktion gefQgt wird. Man
kdonte fragen, ob nicbt vielmebr der Einfluss des Eatalysators durch einen mul-
tiplikatiyen Zusatz, einen der Eatalysatormenge proportionalen Kaktor, mit
dem man den KoSffizienten der unbeschleunigten Reaktion multipliziert, ange-
massener dargestellt wQrde. Die Antwort muss verneinend lauten. Denn im
zweiten Falle wQrde die Gescbwindigkeit der unbeschleunigten Reaktion im Falle,
diss kein Eataljsator anwesend ist, durch das Nullwerden des katalytischen
Faktors gleichfalls Null werden, was falsch w&re. Um dies zu vermeiden, mQsste
nan diesem Faktor die Gestalt 1 + ac geben, wo c der Konzentration des Eata-
lysators proportional ist, d. h. man wQrde auf die im Text gegebene Form bin-
aeskommen.
264 n. ChemiBche Dynamik.
terer herriihrende Koeffizient. Aus dem Vorgange erster Ordnuug ist
ein solclier zweiter geworden.
Das Integral lautet
1 . ki + k,(A— x) ^ ,
T- In ^ ' ./^ — ^ = ^ + const,
kj K^{k — x)
und fur ^ = 0, x = 0
1 , A[k, + k,(A-x)]_
k/ (k, + k,A)(A-x)-''-
Eine unabhangige Bestimmung von k^ oder kg ist nach den Vor-
aussetzungen ausgeschlossen, da die durch k, gekennzeichnete kata-
lytische Beschleunigung von dem reagierenden Stoffe selbst herriihrt.
Doch wird sich das Vorhandensein einer solchen katalytischen Wirkiing
dadurch kennzeichnen, dass der Vorgang in seinem Verlaufe lang-
samer wird, als er nach der Gleichung erster Ordnung werden sollte,
mit andern Worten, dass die nach der Gleichung erster Ordnung berech-
neten Konstanten abnehmen. Der ausserste Fall tritt offenbar ein»
wenn k^ im Verhaltnis zu k, verschwindend klein ist; alsdann geht
die Geschwindigkeitsgleichung iiber in
mit dem Integral
Aus der Figur 2, S. 229^ ist ersichtlich, dass in den Raum
zwischen der Kurve der ersten Ordnung und der der eben gegebenen
Formel entsprechenden Eurve zweiter Ordnung alle andern Eurven
zweiter Ordnung hineinfallen. Aus dem thatsachlichen Yerlauf der Re-
aktionskurve wird sich demnach im gegebenen Falle entscheiden lassen,
ob iiberhaupt eine katalytische Beschleunigung durch die urspriingliche
Substanz vorbanden war, und wenn, in welchem Verhaltnis der kata-
lytische Eoeffizient zu dem eigentlichen Reaktionskoeffizienten 8teht.
Auf welchem Wege dies Verhaltnis am besten abzuleiten ist, ist eine
rechentechnische Frage, deren Behandlung bis zur experimentellen Ce-
arbeitung eines entsprechenden Falles aufgehoben werden kann.
37. Zweiter Fall. Die zweito Moglichkeit, dass das entstehende
Produkt beschleunigend wirkt, ergiebt fiir eine Reaktion erster Ordnung
folgende Gleichung
-^J- = (k, + k,x)(A-x)
mit dem Integral
Chemische Kinetik. 265
1 , kgX + kj ^ ,
In , ' ■ .^ \ = * + const.,
kj + k, A kj (A — x)
and liir x = 0, ^ = 0
1 1 n A(k,X+k,) _
ki + k,A kj(A— x) ~
For k, = 0 geht die Gleichung, wie sie soil, in die gewohnliche Glei-
chung erster Ordnung iiber.
Diese Gleichung zeigt ein Verhalten, das bei keinem der bis-
herigen FaUe vorgekommen war. Bisher war immer die Geschwindig-
keit der Reaktion im ersten Augenblicke am grossten, und nahm weiter-
hin bestandig ab, um schliesslich Null zu werden. Hier nimmt im
Gegenteil in yielen Fallen die Geschwindigkeit zuerst zu, erreicht friiher
Oder spater ein Maximum, und nimmt dann weiterhin wie gewohnlich
bis auf Null ab. Dies ist schon an der urspriinglichen Geschwindig-
keitsgleichung .
-^=rk,+k.x)(A-x)
ersichtlich, wo die rechte Seite nicht notwendig, wie bisher immer, mit
wachsendem x kleiner werden muss, sondem unter Umstanden zuerst
zonehmen kann. Man iibersieht die hier obwaltenden Verhaltnisse, wenn
man die rechte Seite nach x differenziert und gleich Null setzt; es ist
dx
dies die Bedingung dafur, dass die Geschwindigkeit -j-^- ein Maximum
hat Die Rechnung ergiebt, wenn wir den zugehorigen x-Wert mit
Xb bezeichnen, , ,
__ kg A Ki
2k,
Da unter unseren Voraussetzungen x notwendig positiv sein muss,
so ist ein Maximum erst vorhanden, wenn kgA^^k^, oder da wir un-
beschadet der Allgemeinheit A = l setzen diirfen, wenn i^^^i* ^* ^'
wenn der katalytische Eoeffizient grosser ist, als der der unbeschleu-
nigten Reaktion.
Ist diese Bedingung erfiillt, so lasst sich umgekehrt, wenn an der
beobachteten Reaktionskurve der Wendepunkt Xm aufgesucht worden ist,
daraus das Yerhaltnis der Reaktionsgeschwindigkeiten bestimmen, denn
es ist 1
kg
Mit Hilfe dieser Beziehung lasst sich dann k, aus der Integral-
{^eichnng eliminieren, wobei gleichzeitig k^ unter dem Logarithmus
266
II. Chemische Dynamik.
verschwindet, und nur als Faktor davor stehen bleibt, so dass es sich
leicht berechnen lasst.
Ist dieser Weg nicht zuganglich, so kann man eine zweite Ver-
suchsreibc ausfuhren, indem man von vornberein eine bestimmte Menge
B des Reaktionsproduktes hinzufiigt. Die Geschwindigkeit ist dann
-d|- = [k, + k,(B + x)](A-x).
und man erhalt zwei unabhangige Gleicbungen, urn die beiden Unbe-
kannten k^ und k^ zu ermitteln. Die einfachsten Beziehungen erhalt
man fiir B = A, docb sollen die entsprechenden Rechnungen bier nicbt
ausgefdhrt werden.
*o
Fig. 5.
Entsprecbend dem Gesagten weicben die Reaktionskurven fiir den
jetzt betracbteten Fall yon alien friiberen dadurcb ab, dass sie erstens
alle oberbalb aller anderen verlaufen, und dass sie zweitens fiir
k2>^ki einen Wendepunkt besitzen, wo die anfangliche Zunabme der
Gescbwiudigkeit in eine Abnabme iibergebt. Die zu diesem Wendepunkt
geborige Abscisse stellt den oben mit Xm bezeicbneten Wert dar*
Um liber diese Verbaltnisse einen Uberblick zu geben, sind in
Fig. 5 die Falle k2 = l, \i^ = 2 und ks,=4 fur A = l, kj = 1 ge-
zoicbnet und mit den Bezeichnungen I, II und IV verschen. Die unterste
Kurye 0 ist die fiir die Reaktion erster Ordnung. Die AnfangBge*
scbwindigkeiten sind wie immer bei alien Kuryen gleich Eins gesetzt.
Die Wendepunkte der Kurven II und IV, die bei x = 0-25 und x = 0-367
liegen, sind durcb kleine Kreise beryorgcboben.
Cbemische Einetik. 267
38. Bin besonderer Fall. Wenn k^ = 0 gesetzt wird, so ergiebt
sich das merkwiirdige Resultat, dass die Reaktion (falls vom entstehen-
deo Stoffe von yomherein nichts zugegen war) nicht anfangen kann,
obwohl ale, wenn sie einmal in Gang gebracbt ist, mit zunacbst be-
schleunigter Gescbwindigkeit verlauft. Denn zu Beginn der Reaktion
ist UDter der gemachten Voraussetzung auch x = 0, und die Gescbwin-
digkeit bat gleicbfalls den Wert Null.
Thatsacblicb kann ein solcber Zustand in aller Strenge nicbt ber-
gestellt werden, da es erstens nie moglicb sein wird, den Stoff absolut
irei Ton seinem Zersetzungsprodukt zu gewinnen, und zweitens die
Geachwindigkeitskonstante k^ der unbeschleunigten Reaktion zwar sehr
Uein sein kann, in aller Strenge wobl aber nicbt gleicb Null gesetzt
iverden darf. Demgemass wird das Verbalten solcber Stoffe das sein,
dass sie sicb lange scbeinbar voUig unverandert balten, dass aber nacb
einiger Zeit die Reaktion einzutreten beginnt und dann gewobnlicb
sehr scbnell zu Ende gebt. Die erste, bestandige Periode wird aus
naheliegenden Grunden um so langer dauem, je reiner die urspriing*
liche Substanz gewesen war; ferner kann man sie sebr bedeutend ver-
laogem, wenn man einen Stoff binzufugt, welcber den Katalysator in
eine andere, unwirksame Substanz zu verwandeln vermag.
£in einfaches zahlenmassiges Beispiel fiir diese Vcrbaltnisse ist
Doch nicht bekannt, doch sind die oben gescbilderten allgemeinen Ziige
an zahlreichen, zum Teil technisch wicbtigen Vorgangen zu erkennen.
So hat schon Millon^) gefunden, dass reine Salpetersaure auf Metalle
wie Kupfer, Silber u. s. w. fast obne Wirkung ist, wabrend sie bei
Gegenwart you etwas salpetriger Saure sie scbnell angreift. Die Re-
aktion setzt dabei langsam ein, steigert sicb, indem durcb sie mebr
QDd mehr der katalytiscben Substanz, der salpetrigen Saure, entstebt,
geht durcb ein Maximum der Gescbwindigkeit und nimmt mit Erschopf-
luig der Saure scblicsslicb auf Null ab. Dass bier eine heterogene
Reaktion zwiscben einem fliissigen und einem festen Korper vorliegt,
indert zwar etwas die numeriscben Gesetze des Verlaufes (s. w. u.), nicbt
aber das Typiscbe der Erscbeinung. Dass auch bei homogenen Re-
aktionen gauz ahnliche Yerhaltnisse eintreten, lasst sicb aus vielen in
der Litteratur vorbandenen Beobachtungen entnehmen, wenn diese auch
nicht durcb Messungeu der Berechnung zuganglich gemacht worden sind.
Ein Beispiel ist die Zersetzung, welche die Salzo der sauren
Aikylsnlfate, z. B. der Athylscbwefelsaure, erfahren. Es ist bekannt.
') Ann. chim. phys. (3) 6, 73. 1842.
268 U. Chemische Dynamlk.
dass z. B. athylschwefelsaures Kali, das ein wenig Ealiamcarbonat
enthalt, sich sehr lange ohne Zersetzung aufbewahren lasst; ebenso
lasst sich die schwach alkalisch gemachte wasserige Losung in der
Hitze ohne merkbare ZersetzuDg eindampfen. Sowie aber die schwachste
saure Reaktion sich geltend macht, geht der Zerfall in Alkohol und
saures Kaliumsalfat an und wird bald vollstandig. Nach der traditio-
nellen Lehre von der „pradispoiiierenden Verwaudtschaft*' soUte man im
Gegenteil erwarten, dass die Gegcnwart yon Alkali den Zerfall heryor-
rufen miisste, da sich dabei die Aciditat verdoppelt und somit das
^Vereinigungsbestreben" des Alkalis mit der Saure Befriedigung fande.
Thatsachlich handelt es sich um einen Fall, wo die Reaktionsgeschwin-
digkeit fiir den Zerfall des reinen Salzes ausserordentlich klein let,
wahrend sie durch die Gegenwart von Wasserstoffionen stark, und zwar
proportional deren Konzentration beschleunigt wird. So lange die Fliis-
sigkeit nicht sauer reagiert, besteht die erste, unmessbar kleine Zer-
setzungsgeschwindigkeit. Sowie aber die ersten Spuren freier Saure,
d. h. von Wasserstoffionen, vorhanden sind, vermehren sie die Reak-
tionsgeschwindigkeit, es entstehen neue, die Geschwindigkeit nimmt
weiter zu, und die Zersetzung wird in kiirzester Frist analytisch nach-
weisbar.
Wie jeder Gbemiker weiss, ist der zuletzt geschilderte Vorgang
typisch fiir eine grosse Anzahl „freiwilliger Zer8etzungen'^ Eine langere
Oder kurzere scheinbare Unveranderlichkeit und eine schnell sich stei-
gernde Zersetzung lassen regelmassig auf die Thatigkeit eines kata-
lytischen Stoffes schliessen, welcher durch die Reaktion entsteht and
sich vermehrt. In sehr haufigen Fallen handelt es sich um Wasserstoff-
ionen, doch sind auch andere Katalysatoren, z. B. salpetrige Saure, nicht
selten thatig.
Ein sehr lehrreiches Beispiel bieten die Erfahrungen, welche man
mit Cellulosenitrat und anderen Schiess- und Sprengstoffen gemacht
hat und die seinerzeit zum voriibergchenden Aufgeben des sonst so
vielversprechenden Materials gefiihrt batten. Auch sorgfaltig gewaschene
Schiessbaumwolle ist fahig, sich beim Lagern zu andem, und die Zer--
setzung wird bei grosseren Mengen bald so schnell, dass Explosion
erfolgt Hier handelt es sich sehr wahrscheinlich um Spuren von Saure,
die auch durch langes Waschen schwer vollstandig zu entfernen ist.
Dies geht aus dem Umstande hervor, dass nach den Untersuchungen
von Hess^) eine Schiesswolle, die wahrend mehrerer Jahre in fliessen-
*) Git. nach Romocki, Gesch. der Explosivstoffe II, 151. Berlin 1896.
Ghemlsche Kinetik. 269
dem Wasser aufbewahrt worden war, durch Erhitzen auf 70^ sich in
absehbarcr Zeit nicht zersetzen liess (der Versuch wurdc 30 Stunden
fortgesetzt), wahrend weniger gewaschene Schiesswolle in dem Masse
Zersetzang zeigte, als die Waschung weniger voUstandig war. War die
Zersetzung eiumal eingeleitet, so bescbleunigte sie sich unter gleich-
bleibenden ausseren Umstanden und ging leicht in Explosion iiber.
Die Zahl solcher Beispiele liejBse sich leicht yermehren. In der
That sind sie so haufig, dass dadarch ein sonst ganz verdienstlicher
Forscher, V. H. Veley ^), sich zu der ganz unhaltbaren Annahme verleiten
liess, der geschilderte Reaktionsverlauf mit aufanglicher Beschleunigung
8ei der tjpische Fall der chemischen Vorgange Uberhaupt, wahrend er
dock nur das Kennzeichen fur das Auftreten eines mit zunehmender
Zersetznng sich vermehrenden Beschleunigers ist.
39. Beaktionen h5herer Ordnung. Ist ein Vorgang zweiter Ord-
nong gegeben, der durch einen der bei der Reaktion veranderlichen
Stoffe katalytisch beeinflusst wird, so haben wir die beiden Formeln
||=(k, + k,(A-x))(A-x)(B-x)
""^ -^ = (k, + k,x)(A-x)(B-x).
von denen die erste fur den Fall gilt, dass einer der Ausgangsstofife
als Kataljsator wirkt, wahrend die zweite die Thatsache ausdriickt,
dass eines der Produkte diese Eigenschaft besitzt In beiden Fallen
entsteht rechts ein Ausdruck, der in x vom dritten Grade ist.
Gewisse Thatsachen, die von A. A. Noyes*) hervorgehoben worden
Bind, legen den Gedanken nahe, dass die katalytische Beschleunigung
nicht die Reaktion als Gauzes trifft, sondern durch eine spezifische
Beeinflussuog eines reagierenden Stoffes bewirkt wird. Sind mehrere
Stoffe bei einer Reaktion beteiligt, so kann jeder von ihneu katalytisch
beeinflusst warden, und dann wiirdeu so viele neue Faktoren in die
Gleichung treten, als katalytisch beeinflusste veranderliche Stofife in
der Reaktion vorhanden sind. Der Grad des Ausdrucks fur die Ge-
schwindigkeit kann durch diesen Umstand verdoppelt werden.
Endlich soil nochmals darauf hingewiesen werden, dass neben der
lutalytischen Beeinflussung, die proportional der Konzentration des
Eatalysators erfolgt, und auf die allein bisher Riicksicht genommen
*) Phil. Mag. (5) 87, 165. 1894.
^ Zeitschr. f. phys. Chemie 19, 5d9. 1896.
270 II* Ghemische Dynamik.
war, noch andcrc, verwickeltere Beziehungen nicht allein moglich, 8on-
deru auch schon tbatsachlich nachgewiesen sind. Dadurch entsteht
eine ausserordentlich grosse Mannigfaltigkeit der Geschwindigkeitsglei-
chungen, die unter der Form
-^ = (k,+2;kf(x))(A-x)(B-x)....
zusammengef'asst werden konnen, wo 2^kf (x) die vorhandenen verander-
lichen katalytischen Eiufliisse darstellen soil. Es ist nicht wahrschein-
licb, dass es homogeoe isotherme Reaktionsverlaufe geben wird, die
sich nicht in dieser Gestalt darstellen liessen; freilich weiss ich umge-
kehrt keine allgemeine Methode anzugeben, um aus dem beobachteten
Verlauf einer bestimmten Reaktion auf die Form der Funktion f(x)
einen Riickschluss zu ziehen.
Das eine kann indessen gesagt werden, dass, wenn ein Reaktions-
verlauf durch einen Wendepunkt geht, derart, dass die Geschwindig-
keit erst zu- und dann abnimmt, jedenfalls ein katalytischer Einfluss
vorhanden ist, und zwar wahrscheinlich ein solcher, der mit x wachst,
der also von einem Produkt der Reaktion und nicht von einem Stoffe,
der beim Vorgange verschwindet, herruhrt. Ausserdem ist (worauf mich
Dr. Luther aufmerksam gemacht hat) ein ahnlicher ReaktionsTerlauf in
dem Falle zu erwarten, dass ein verzogernder Katalysator wahreiul
der Reaktion verschwindet. Doch sind derartige Falle noch nicht be-
obachtet worden.
40. Eatalytisohe Verzdgerangen. Falle, in welchen die Reaktions-
geschwindigkeit katalytisch verkleinert wird, sind in der ausgezeich-
neten Gestalt, wie die katalytischen Beschleunigungen, bisher nicht
mitgeteilt worden^). Doch ist weder aus allgemeinen, noch aus ex-
perimentellen Griinden die Moglichkeit eines solchen Einflusses ia Ab-
rede zu stellen. Die Form, unter welcher die Erscheinung darzustellen
ist, ware die, dass entweder bei konstant bleibender Konzentration des
Katalysators die Geschwindigkeitskonstante verkleinert wird oder bei
veranderlicher Konzentration des Katalysators an St6lle des Faktors
kj + kg f (x), welcher im Falle der katalytischen Beschleunigung vor das
Produkt der wirksamen Mengen gesetzt wird, der Faktor k^ — k, f (^x)
zu treten hat. Dabei unterliegt k2f(x) natiirlich der Beschraakuiig,
^) Dass solche YerzOgerungen, zum Teil in ausserordentlich hohem Grade^
thats&chlich bestehen, bat sicb inzwischen aus Yersucben, die in dieser Richtung
in meinem Laboratorium in Gang gebracht sind, ergeben, docb sind sie noch nicht
welt genug vorgeschritten, um an dieser Stelle mitgeteilt zu werden.
Cliemische Kinetik. 271
es za Anfang der Reaktion nicht grosser als k^ sein darf, da
sonst iiberhaupt keine Reaktion eintreten konnte. Dagegen iibersieht
maBt dass, wenn f(x) mit x zunimmt, ganz wohl ein Verhaltnis moglich
ist, bei welcbem die Verzogerung Doch vor Beendigung der Reaktion
so gross wird, dass ein Stillstand des Vorganges eintritt.
Der einfachste Fall der katalytisch verzogerten Reaktion erster
Ordnung mit veranderlicber Eonzentration des Katalysators hat die Gestalt
dx
^ = (^1 — M)(A — x),
, Dfld deren Integral lautet
In ./~ ^^ = ^ + const.
K\ ^~~ aX Aa A ILa "~~" J£a X
Oder fiir .9- = 0, x = 0
1 ^ Ak,(ki — k,x) ^ ^
= k,(^i-x)(A-x),
Die Kurve verlauft, da mit fortschreitender Reaktion der verzogernde
Einfluss zunimmt, unterhalb der Kurve fiir die Reaktion erster Ord-
Qong. Sie fallt mit einer Kurve zweiter Ordnung zusammen; denn
scbreibt man die Differentialgleichung in der Gestalt
dx
d^ ^2
30 sieht man, dass eine derartig verzogerte katalytiscbe Reaktion genau
wie eine Reaktion zweiter Ordnung verlauft, als ware ein zweiter Stoflf
k
mit der Anfangsmenge r^ zugegen, dessen Konzentration gleichfalls um
oen zunehmenden Betrag x geringer wird.
Bestimnit man also in einem solchen Falle den Wert, welcben man
der Konzentration dieses imaginaren Stoffes erteilen muss, damit der
I'e^rf'acbtete Heaktionsverlauf durch eine Gleicbung zweiter Ordnung dar-
gestellt wird, so kann man daraus das Verhaltnis r^ der beiden 6e-
Bchwindigkeitskoeffizienten finden, wahrend sich gleicbzeitig k^ allein als
faktor von ^ ergiebt.
Ebenso nimmt die katalytisch verzogerte Reaktion zweiter Ordnung
die Gestalt eines Vorgangs dritter Ordnung an:
^ = (ki-k,x)(A-x)(B-x) = k,(^-x)(A-x)(B-x),
velche Gleichung nach S. 222 zu integrieren ist und zu ahnlichen Be-
merkuDgen, wie die vorige Anlass giebt
272 n. Chemische Dynamik.
41. Die Ordntmg verwiokelter Beaktionen. Eine wichtige Frage
ist es, ob die friiher dargelegten Methoden zur Bestimmung der Ord-
nung einer Reaktion sich auch auf solche Falle anwenden lassen, wo
Neben-, Gegen- und katalytische Reaktionen stattfinden. Die beiden
ersten Falle lassen sich alsbald erledigen. Da durch Neben- und Gegen-
reaktionen von gleicher oder niedrigerer Ordnung die Ordnung des Ge-
samtverlaufes keine andere wird, so wird man sowohl die Differential-,
wie die Integralmetbode unbedenklich anwenden konnen, wie man auch
bei eingeheuder Piiifung der betreffenden Formeln erkennt.
Anders liegt es im Falle der katalytischen Beeinflussung. Haben
wir den ersten Fall (S. 263) mit der Beschleunigung durch den Aus-
gangsstoff, so ist die Gleichung
^ = [k, + k, (A - X)] (A - X) = (k, + k,c)c
und das Verhaltnis der Anfangsgeschwindigkeiten y' und t" bei zwei
yerschiedenen Konzentrationen c' und c'' ist
v' kic' + k^c'*
V kjC +k8C *
Hier verhalten sich also die Anfangsgeschwindigkeiten keineswegs
wie die Konzentrationen, und die Differentialmethode versagt.
Anders verbalt sich dagegen die Integralmetbode: sie ist anwend-
bar. Denn aus dem Anblick der Integralformel (S. 264) ergiebt sich
sofort, dass vor dem Logarithmus kein von der Konzentration abhangiger
Faktor steht, und dass somit die korrespoudierenden Zeiten unabhangig
von der Verdiinnung sind, wie das einem Vorgang erster Ordnung zu-
kommt.
Im zweiten Falle, dass das Produkt beschleunigend wirkt, verhalten
sich beide Methoden gerade umgekehrt. Fiir den Beginn der Reaktion,
wo noch nichts vom Produkt da ist, geht die Geschwindigkeitsgleichung
durch X = 0 in die einfache Gleichung erster Ordnung iiber, und die
Differentialmethode ist somit anwendbar. Andererseits befindet sich in
der Integralgleichung vor dem Logarithmus der Geschwindigkeitsfaktor
, , ; er ist somit nicht unabhangig von der Anfangskonzentratioa^
Kj -f- Kg A
und ebensowenig sind es die korrespoudierenden Zeiten. Der Faktor^
besteht vielmehr aus einem konstanten und einem der Anfangskouzeo.-*
tration A proportionalen Anteile; bestimmt man ihn aus den korrespoix^
dierenden Zeiten bei verschiedenen Werten von A, so lassen sich die
Grossen k^ und k| berechnen.
Chemisclie Kinetik. 273
Ahnliche Verhaltnisse gelten fur katalytisch beeinflusste Reaktionen
zweiter Ordnung» desgleichen for katalytische Verzogerungen.
Man sieht hieraus, dass die S. 232 u. ff. geschilderten Methoden
zur unmittelbaren Bestimmung der Ordnung einer Reaktion keineswegs
allgemein anwendbar sind. Gleichzeitig aber ergeben sich aus der an-
gemessenen Deutung der Ergebnisse beider Methoden wertvoUe Auf-
schliisse iiber die Natur der Torhandenen „Storungen*'.
42. BeispieL Eine Untersuchung, in welcber die Mannigfaltigkeit
chemiscber Reaktionsverlaufe in sehr schoner Weise zur Anschauung
kommt, ist die von Paul Henry ^) uber die wecbselseitige Umwandlung
der Laktone und dor /-Oxysaureu. Bekanntlich verwandelt sich bei
letzteren die Gruppe :C(OH)— CH«— CH«— COOH unter Wasser-
austritt in die Laktongruppe :C — CH*--CH* — CO, wobei die saure
' ^ '
Reaktion in die neutrale iibergeht. Der Vorgang ist umkehrbar, indem
namentlich unter dem Einflusse der Alkalien sich die Laktone wieder
in die Oxysauren verwandek, und auch ohne diesen Einfluss geht, je
nach der Natur der Verbindung, die eine Form in die andere iiber und
mngekchrt.
Was zunachst die ^Verseifung'* der Laktone, oder die Bildung der
Qxysaure unter dem Einflusse von starken, d. h. nahezu vollig disso-
ciierten Basen anlangt, so ist sie ein Vorgang zweiter Ordnung^ ent-
sprechend der Formel
R:C-(CH«)> — CO + OH' = R:C(OH) — (CH«)« — COO',
. 0 '
nach welcher das Hydroxyl an das erste Kohlenstoffatom tritt, wahrend
es seine negative Ladung der Gruppe COO abtritt Es wurde nachgewiesen,
dass der Prozess in der That den entsprechenden Formeln gemass yer-
lauft, and zwar sowohl bei aquivalenten, wie bei nicht aquivalenten
Mengen des Laktons und der Base. Von dem Metall des basischen
Hydroxyls ist die Reaktionsgeschwindigkeit nicht abhangig, denn es
wurden folgende Werte fiir den Geschwindigkeitsfaktor Ak gefunden:
131 196
128 1-99
124 195
126 199
125 1*98
Die erste Reihe bezieht sich auf Butyrolakton, die zweite auf Valero-
lakton. Die Unterschiede konnen Versuchsfehlern zugeschrieben werden,
>) Zeitschr. f. phys. Ghemie 10, 96. 1892.
Ostwald, Qiemle. IL3. 2.AQiL 18
KOH
253
KaOH
255
V,Ca(OH)«
241
V,Sr(OH)«
250
%Ba(OH)«
247
274 n. Chemiscbe Dynamik.
da die Messungen wegen der grossen VerdiiDnung (200 Liter) einiger-
massen schwierig waren. In letzter Reihe sind die Verbal tniszahlen
beider Reiben asgegeben; sie sind natiirlicb gleicbfalls konstant.
Fiir die Tbatsache, dass die Reaktion nor vom Hydroxyl, nicbt Yom
Metall der Basis ansgeht, wurde ein zweiter Beweis abnlicber Art bei-
gebracbty wie der S. 219 aus den Versucben von Reicber gezogene: der
Vorgang blieb immer zweiter Ordnung, gleicbgiiltig, ob das basiscbe
Metall ein- oder zweiwertig war. Ebenso bebielt die Eonstante k an-
nabernd den gleicben Wert, welcbes Verbal tnis zwiscben den beiden
Eomponenten der Reaktion aucb gewablt wurde. Bei der Berecbnung
Yon k aus Henrys Versucben (die von diesem nicbt bewerkstelligt wor-
den ist) ergeben sicb folgende Werte, die bei der Verseifung von Valero-
lakton mit Baryt gefunden wurden.
BaVsOH C*H»0«
k
1:1
0.0039
1:2
0*0040
1:3
00043
2:3
00040
Mittel 00089
2:1
00034
3:1
0.0087
3:2
0.0041
Die nicbt ganz geringen Abweicbungen sind Versucbsfeblem (a. o.)
zuzuscbreiben, da sie keinen „6ang^* zeigen.
Ein Versucb, die Reaktion nacb der Gleicbung dritter Ordnung zu
berecbnen, ergab iiberdies die Unzulassigkeit der Formel.
In wasseriger Losung geben die Oxysauren freiwillig in die ent-
sprecbenden Laktone liber, und zwar ist bei der Oxyvaleriansaure die
Umwandlung fast vollstandig (0*93), bei der Oxybuttersaure unvoll-
standig (0.65). Der Vorgang ist erster Ordnung, und zwar im ersten
Falle obne, im zweiten Falle mit erbeblicber Gegenreaktion. Demgemass
finden die Formeln von S. 201 und S. 251 Anwendung.
Die Umwandlung der reinen Sauren in wasseriger Losung ist trotz
der scbeinbaren Einfaebbeit eine ziemlicb verwickelte Erscbeinung. Sie
erfolgt zunacbst proportional der Konzentration der Saure. Zweitena
ist aber ibre Gescbwindigkeit katalytiscb beeinflusst durcb die Konzen-
tration der vorbandenen Wasserstoffionen, und diese bleibt wabrend der
Reaktion nicbt konstant, sondem wird in dem Masse geringer, als Saare
verscbwindet Die Abnabme ist aber docb wieder nicbt proportional
der Abnabme der Sauremenge, sondem, da die Dissociation der Sauren
Chemische Kinetik. 275
mit der Verdiinnung nach einem verwickelteren Gesetz (II, 1, 668) er-
folgt, so hat diese Funktion in die Gleichung zu treten, wie weiter
Doteo gezeigt werden wird.
Diesen Verwickelungen entgeht man, wenn man durch Zusatz einer
stark dissodierten Saore die Eonzentration der Wasserstoffionen gross
nnd im Fordaufe der Reaktion praktisch unveranderlich macht. Dann
ist der katalytische Faktor der Wasserstoffionen, den wir mit h be-
zeichnen wollen, konstant, und die Gleichung
^ = kh(A-.)
giebt integriert
In^^ =kh*.
A — X
So wurde mit Oxyvaleriansaure und 04-normaIer Salzsaure die
Gleichung erster Ordnung bis etwa x = 0-2 gut erfullt gefunden, und
» ergab sich hik = 0«0120. Mit 0-04-normaler Salzsaure, die nach
ihrer Leitfahigkeit 0-110 soviel Wasserstoffionen enthalt, wie normale,
ergab sich liiQk = 0-00130; nach der Proportionalitat zwischen Wasser-
stofEonenkonzentration und Geschwindigkeit berechnet sich 0*00132 in
gnter tlbereinstinmiung.
Die /-Ozybuttersaure erleidet nur eine teilweise Umwandlung zu
etwa 65 Present, und bei ihr muss daher die Formel der Reaktion
erster Ordnung mit Gegenreaktion (S. 251) angewendet werden. Es ist
bereits (S. 253) dariiber berichtet worden, dass sich Theorie und Be-
ohachtong auch hier in guter Cbereinstimmung befinden.
Auch beim Aufbewahren der Losung der /-Oxysauren ohne Zusatz
oner fremden Saure nimmt der Titer ab, indem eine freiwillige Um-
wandlung in das Lakton erfolgt. Da, wie wir oben gesehen haben, die
G^chwindigkeit der Umwandlung proportional der Eonzentration der
Wasserstoffionen ist, in diesem Falle aber die letzteren Ton der /-Oxy-
mre selbst herriihren, so liegt der interessante Fall vor, dass die Saure
sich selbst katalytisch umwandelt, oder Autokatalyse^) erfahrt.
Da die Reaktionsgeschwindigkeit proportional der Sauremenge A — x
unI proportional den Wasserstoffionen, d. h. dem dissociierten Anteil
der Saure a (A — x) ist, so haben wir die Gleichung
^ = ka(A-.)«
in der noch a eine Funktion der Konzentration A — x ist. Diese Funk-
tion ist gegeben durch (II, 1, 668)
*) Ostwald, Ber. s&chs. Ges. der Wiss. 1890, 189.
18*
276 ^ Chemische Dynamik.
a* c
= cv
woraus a = g.^_ c (V4c(A — x) + c« — c|
Hiermit wird die Diflferentialgleichung
^^ =Sd^.
(A— x)(y4c(A — x) + c«— c) ^
Um sie zu integrieren, setzen wir
4c(A — x) + c« = z«,
z* — c* — 4cA J , zdz
woraus x = -. una ax= rr—
4c 2c
und durch Substitution
— 2zdz k^^
= ~d^
(z + c)(z — c)* 2
dz dz dz ^ ^ a
^^^^ -(z-c)*~2c(z-c)"*"2c(z + c) ""¥"**•
Nach der Integration und dem Ersatz yon z durch seinen Wert folgt
«
1 , 1 , V4c(A— x)+"^+c k^ , ^
y4c(A— x) + c«— c 2c V4c(A — x) + c«— c 2
wonaoh sich der Beaktionsverlauf berechnen lasst.
Zu diesem Zwecke muss noch die Konstante c bekannt sein;
erhalt sie durch Messungen der elektrischen Leitfahigkeit (II, 1, 668),
und sie wurde fiir Oxyvaleriansaure gleich 0*0000202 gefunden. Wegen
der Eleinheit dieses Wertes kann man c' gegen c Yemachlassigen, ohne
einen messbaren Fehler zu begehen, wodurch die Rechnung etwas
leichtert wird. .
Nach dieser Formel ergab sich folgende Konstante -^i
d'
A— X
k
2
0
3735
0-00718
490
3103
0-00751
1160
24-71
0-00700
1520
22-16
0-00712
1938
19-58
0-00702
2560
16-67
0-00695
3360
13-81
0-00685
4110
11-83
000707
4700
10-78
0-00698
5520
9-39
Mittel 0-00707
Chemische Kinetik. 277
Die Gleichung stellt somit die Versuche befnedigend dar, da die
Werte ?on — unregelmassig um das Mittel schwanken. Berechnet man
sie nach der Formel erster Ordnung, so nehmen die k -Werte bis auf
etwa die Halfte des Anfangswertes ab, von einer Geltung dieser Formel
kann also keine Rede sein.
P. Heniy berechnet noch einige kompliziertere Falle beim Zusatz
anderer schwacher Sauren, sowie den Fall der /-Oxybuttersaure, wo
Doch auf die Gegenreaktion Riicksicht zu nehmen ist; doch zeigt das
Mitgeteilte dentlich genug den Weg, auf dem derartige Aufgaben ge-
lost worden konnen, so dass auf jene Entwicklungen verwiesen werden
faum.
Die gleiche Theorie in etwas anderer Gestalt wurde gleichzeitig ^)
Ton Uno Gollan entwickelt und an der Autokatalyse der Losungen von
Oxymethylbenzoesaure (deren Lakton das Phtalid ist) gepriift und
bestatigt.
43. Folgewirkungen. Die bisher erorterten Falle chemischcr Vor-
gange besassen alle die Eigenschaft, dass der Zustand des Gebildes in
der Zeit durch eine einzige Veranderliche darstellbar war, wenn die
Anfangsmengen und die Koeffizienten gegeben waren. Dies ist aber
keine notwendige Eigenschaft chemischer Gebilde, und es ist nicht
schwer, f^lle aufzufinden, in denen die Bedingung nicht mehr erfiillt
ist. Sie treten ein» wenn mehrere Reaktionen so nebeneinander yer-
laafen, dass bei einer (oder einigen) sowohl urspriinglich vorhandene
Stoffe, wie Beaktionsprodukte beteiligt sind. Dann ist die Konzentration
der so in Anspruch genommenen Anfangsstoffe nicht nur von dem Be-
trage der ersten, sondern auch von dem der zweiten Reaktion abhangig,
und eine Analyse, durch die die Menge eines solchen Ausgangsstoffes
zu irgend einer Zeit bestimmt wird, giebt keinen vollstandigen Auf-
tchluss iiber den Zustand des Ganzen, da sie nichts iiber die Betrage
anasagt, die in den verschiedenen Reaktionen verwendet worden sind.
Zur Kennzeichnung eines solchen Gebildes sind daher mindestens
^cif gegebenen Falles auch mehrere unabhangig Veranderliche zu be-
stimmen, und die Dififerentialgleichungen fiir die Reaktionsgeschwindig-
keit enthalten ebenso viele Variable neben der Zeit. Damit der Zustand
in jedem Augenblicke ein bestimmter ist, miissen so viele voneinander
Qoabhangige Gleichungen vorhanden sein, als Veranderliche. Man erhalt
sie, indeno man fur jeden vorhandenen Stoff dem Massenwirkungs-
*) Zeiticbr. f. ph. Ch. 10, 130. 1892.
278 n. Chemische Dynamik.
gesetz gemass eiDe Geschwindigkeitsgleichung ansetzt uDd dann mittels
der vorhandenen stochiometrischen Beziehuogen zwischen den einzelnen
Stoffen 80 viele Veranderliche eliminiert, als solche Beziehungen vor-
handen sind. In den friiheren Fallen blieb dadarch nar eine einzige
Gleichnng iibrig, wie man sich leicht aus ihrer Berechnung uberzeugen
kann, doch ist das keine Notwendigkeit
Ein Beispiel, bei welchem solche Verhaltnisse eintreten, bieten die
Versuche von Reicher^) iiber die Verseifung von Athylsuccinat. Wurden
sie nach der gewohnlichen Formel zweiter Ordnung berechnet, so er-
wiesen sich die Konstanten als stark abnehmend, wenn die Messungen
bald nach der Vermischung beider Losungen vorgenommen wurden.
Wurde dagegen einige Zeit gewartet, bevor die Titrationen begaonen*
so erwiesen sich die Werte als ganz konstant. So gaben Messungen
unmittelbar nach der Mischung und weiter k = l*56, b38, 1'33, 1-24;
wurde dagegen 15 Minuten gewartet, so wurde gefunden k = 0«75, 0<73,
0-73; nach 45 Minuten 0-65, 0-63, 0-65 und nach 2 Stunden 0-63, 0-62,
0*59, 0*62. Die beiden letzten Reihen konnen als ganz konstant ange-
sehen werden.
Die Ursache der Erscheinung ist darin zu suchen, dass die Ver-
seifung eines Esters einer zweibasischen Saure in zwei Stufen vor sich
geht; zuerst wird das Salz des sauren Esters gebildet und dann erst
mit viel geringerer Geschwindigkeit das der zweibasischen Saure. In
unserem Falle haben wir die Reaktionen:
C«H*(CO«C«H«^)« + OH = C«H*(CO«C«H^)COO'+ C«H^H
und C«H*(CO«C«H^)COO'+ 0H'= C»H*(COO')» + C»H*OH.
Was die Geschwindigkeit dieser beiden Vorgange anlangt, so habea
wir vier Stoffe, deren Konzentrationen nach der Zeit d- folgende seien:
Alkali, bez. Hydroxyl Ci = A— x dCi = — dx
Ester Ca — B— y d C, — — d y
Salz der Estersiure Cg « z — 2y — x dC, => dz •= 2dy — dx
Salz der Bernstein sfture C^ «- w =- x— y dC^ — dw =- dx— dy
Zwischen den vier Veranderlichen x, y, z und w haben wir folgende
Beziehungen: , ,^
° x = z + 2w
y = z + w.
Die erste Gleichung driickt aus, dass fiir jedes Mol Estersaure ein,
und fur jedes Mol Bernsteinsaure zwei Mol Alkali verbraucht warden
1) Rec. Pays-Bas 4, 350. 1S85.
Chemische Kinetik. 279
sind; die zweite, dass der verbrauchte Ester gleich der Summe der
entstandenen Estersaure und Bernsteinsaure ist, alle in Molen gerechnet
Daraus folgen die in der Tabelle angegebenen Werte von z und w in
X und y.
Fiir die Tier Stoffe gelten yier Geschwindigkeitsgleichungen, Ton
denen aber nur zwei unabhangig sind, namlich
dC,
d»
= — J^isCjCg — t^jCiCj,
'^'^ -^ = k„(A-x)(B-y) + k,3(A-x)(2y-x);
Oder i|- = k„(A-x)(B-y);
Oder 2-||— i|^ = k,,(A-x)(B-y)-k„(A-x)(2y-x);
and
A^ — ir r r
Die Gleichungen driicken aus: 1) dass das Alkali sich durch Ver-
eeifang dee Esters zu Estersaure und durch Verseifung der letzteren
zn Bernsteinsaure yermindert; 2) dass der Ester nur durch Verseifung
mit dem Alkali abnimmt; 3) dass die Estersaure durch Verseifung
zwiscben Alkali und Ester entsteht, ferner aber durch Verseifung
mit dem Alkali auch yerschwindet; 4) dass Bernsteinsaure durch
Alkali und Estersaure sich bildet
dx
Ist die Reaktion zu Ende, so muss sowohl -r^ = 0, wie auch
dy ^*
--r^ = 0 sein. Diese Bedingung kanu auf zweierlei Weise erfullt wer-
den, namlich durch A — x = 0, d. h. durch ToUigen Verbrauch des
Alkali, Oder durch B — y = 0, d. h. ToUigen Verbrauch des neutralen
Eaters. Im ersten Falle bedarf es keiner Zusatzbedingung, da A — x
in alleD Gliedem der Gleicbungen Torkommt, und diese somit alle
gleiduEeitig Null werden. Ist aber Alkali uberschiissig, so muss nicht
nor aller Ester, sondern auch alle Estersaure Terschwunden sein, da-
280 Il.-Ohemische Dynamik.
mit keine Reaktion weiter moglich ist, d. h. es muss B — xr=rO und
ancb z = 0 sein. Letzteres giebt die BediDguDg 2y — x = 0, dnrch
welche in der That auch die nicht den Faktor B — y enthaltenden
Glieder der Oeschwindigkeitsgleichuugen verschwinden.
,,Die Integration wird durch Division der Gleichungen
ermoglicht, wenn man bedenkt, dass
dC^ = d Cj — d Ci ,
C3 = 2B— A— 2(B— y) + (A— x) = (2B — A) — 2C, + Ci.
Setzt man dabei zur Abkurzung
2B — A = r, Y^=x, 1— 2x = /,
80 wird ^*
dc, .dc, _ c, _ ^/r+c, \_ dc, dc,
"d^' d* ~ c, ~ \ C, /~ d* • d*
dc, .dc, _ ,c, + r
d* ' d* —f'^"' c,
Dieser Di£ferentialgleichung geniigt man durch den folgenden Za-
sammenhang zwischen den Eonzentratioaen G^ nnd G,:
wobei c eine Integrationskonstante ist, die sich ana den zar Zeit ^=s=0
gegebenen Eonzentrationen G^^A, G, = B bereohnet zu
1
*'"" (X— l)B»-i'
Aus dem Zosammenhang zwischen G^ und G, folgt durch Differentiatioo
d
In dem Ausnahmefalle x=l ware
G, = cG. + yG,lG,-r, ^ = ^{c + ylG, +r}.
Nachdem so der Zusammenhang zwischen den beiden Konzentra-*
tionen C^ und C,, sowie zwischen den entsprechenden Reaktionsge--
scbwindigkeiten ermittelt ist, bleibt endlich noch eine derselben als
Funktion der Zeit darzustellen. Wir setzen den fur Cj gefimdenen Weir^
c. _ dG, ( ,_i r I
Ghemische Rinetik. 281
X — 1 '
in die eine der beiden Differentialgleichungen, von denen wir ausgingen,
namlich in ^Q
3
Qnd eriialten
d^
dC,
= — kijCiCg
X — 1
= — kijd^.
Hierdurch ist die Aufgabe auf eine Quadratur zariickgefiihrt, die
je nach den Werten der Konstanten verschieden auszufuhren ist*' ^).
44. Heterogene Gfrebilde. In Gebilden, in denen eine Trennungs-
flache zwiscben verschiedenen Teilen vorbauden ist, kann der Vorgang
nur an dieser Trennungsflacbe stattfinden, und erfolgt proportional deren
Ansdehnung, wahrend im iibrigen das allgemeine Massenwirkungsgesetz
galtig ist, nacb welcbem die Reaktionsgescbwindigkeit der wirksamen
Menge proportional ist. Wir konnen bier mebrere Falle uiiterscbeiden,
je nachdem wabrend des Vorganges die Oberflacbe unveraudert bleibt,
ab- oder zunimmt
Nebmen wir den ersten, einfacbsten Fall, so kann dieser experi-
Dnentell in drei Gestalten auftreten, dass namlicb die Konzentration an
den beiden Seiten der Trennungsflacbe unverandert bleibt, dass sie sicb
an einer Seite, und scbliesslicb, dass sie sicb an beiden Seiten der Tren-
nungsflacbe andert
Der erste Fall ist am scbnellsten zu erledigen. Experimentell lasst
er sich etwa in der Weise ausfubren, dass man an der Grenzflacbe eines
festen Eorpers vorbei einen auf ibn wirkenden fliissigen oder gasformigen
Stoff entlang fiibrt, wobei die entstebenden Produkte immer so scbnell
entfemt werden, dass die Konzentration des einwirkenden Stoffes als
unveranderlicb angeseben werden kann. Dann wird die Reaktions-
gesdiwindigkeit konstant bleiben, weil alle massgebenden Verbaltnisse
es sind, und wir baben die Gleicbung
dx ,,
d*
oder integriert ^ ^
X — Xq = k (^ — ^o), bez. X = k ^,
wobei die letzte Gleicbung fur den Fall gilt, dass man x und d- gleicb-
zeitig zu zablen angefangen bat
^^ Die Yorstehende Integration ist mir von G. Helm mitgeteilt worden, dem
icb auch hier dafilr meinen herzlichen Dank ausspreche.
282 n* Cbemische Dynamik.
Die Eonstante k' lasst sich noch in zwei Faktoren zerlegen. Sie
ist offenbar proportional der Oberflache w, an welcher die Wirkung
stattfindet, und im iibrigen eine Funktion der reagierenden Stoffe, ihrer
Eonzentration und Temperatur. Fasst man letztere tinter dem Zeichen
k zusammen, so haben wir demgemass
Die ausserordentliche Einfacbheit dieser Formel macbt sie sebr ge-
eignet, zur Untersuchung der massgebenden Einflusse auf den Koeffi-
zienten k angewendet zu werden, wo sicb die vorausgesetzten Verhalt-
nisse experimentell herstellen lassen. Doch werden sich die technischen
Schwierigkeiten nur selten iiberwinden lassen, wenn nicht einer der
Stoffe ein fester Korper ist, und selbst in diesem Falie halt es schwer,
die Yoraussetzung von der unveranderten Grosse der Oberflache fest-
zuhalten, da man selten feste Korper von solcher Homogenitat finden
wird, dass der cbemische Angriff auf eine ibrer Oberflacben in streag
parallelen Schichten erfolgt. Daneben wird die Bedingung, dass die
Eonzentration des zweiten Stoffes unverandert bleibt, dass also das ent-
stebende Reaktionsprodukt von der reagierenden Flacbe binreicbead
vollstandig entfernt wird, gleicbfalls grosse Schwierigkeiten machen, da
es bierbei entscbeidend auf die mit der Oberflache des festen Korpers
unmittelbar in Beriihrung stebenden Schichten aukommt Wie schwer
solche Oberflacbenscbicbten zu entfernen sind, ist Jedem aus den
Schwierigkeiten des Auswaschens analytischer Niederscblage bekannty
und wohl in den moisten Fallen ist in der beobachteten Geschwindig-
keitskonstante noch ein Koeffizient entbalten, welcher von der Adsorption
und der DifiFusionsgeschwindigkeit des Reaktionsproduktes in die Gesamt-
fiiissigkeit abbangig ist. Daraus folgt, dass namentlich sebr langsam
verlaufende Reaktionen zur Untersuchung nach dieser Methode geeignet
sind, da bei ihnen die storenden Ursachen verbaltnismassig geringere
Wirkung haben.
45. ErBtammgBgesohwindigkeit dberkalteter Sohmelsen. Ein Fall,
in welchem eine Anzabl der eben genannten Schwierigkeiten vorschwindet^
ist der der iiberkalteten Schmelzen, die man zum Erstarren bringt.
Zwar andert sich bier die Oberflache unaufhorlich, indem sie von iomier
neu entstandener fester Substanz gebildet wird; ordnet man aber deu
Versuch so an, dass man die Fliissigkeit in engcn Rohren hat, so bleibt
die Grosse der Oberflache stets annahernd dem Querschnitte der Robre
gleich, und somit konstant. Indem sich die Flussigkeit voUig in den
festen Korper verwandelt, bringt die Reaktion keine Anderung der Zu^
Chemische Einetik. 283
sammensetzung an der Trennungsflache hervor; der einzige Einfluss, der
als Storong verbleibt, ist der der entwickelten Erstarrungswarme. Dieser
Fehler kann dadurch vermindert werden, dass man den Querschnitt der
Rohre nnd ihre Wandstarke moglichst klein nimmt, und sie in ein leb-
haft bewegtes Wasserbad von konstanter Temperatur senkt Der Ein-
fluss der Temperatur ist im allgemeinen der, dass durch Erhohung der-
selben oder Annahemng an den Schmelzpunkt die Erstamingsgeschwin-
digkeit abnimmt, indem sie beim Schmelzpunkt selbst unendlich klein
werden muss; doch virkt diesem Einfluss der andere entgegen, dass mit
abnehmender Temperatur die Geschwindigkeit aller Reaktionen geringer
wird. Aus dieser Gegenwirkung der beiden Einfliisse folgt, dass mit
fallender Temperatur der Einfluss derselben immer kleiner wird, und
dass bei einer gewissen Temperatur ein Maximum der Erstarrungsge-
schwindigkeit erreicht wird, Uber welches hinaus die Geschwindigkeit
wieder abnehmen muss. Handelt es sich daher um moglichst genaue
Messungen dieser Geschwindigkeit, so wird man sie womSglich in der
Nahe dieses Maximums vomehmen, weil dort der Einfluss der Tempe-
ratur, and zwar sowohl der zufalligen Schwankungen, wie der Erhohung
dnrch die Erstarrungswarme am kleinsten ist, und leicht praktisch gleich
Noll gemacht werden kann.
Die ersten Messungen auf dem Gebiete hat D. Gernez ^) angestellt,
der die theoretisch zu machenden Voraussetzungen bestatigt gefunden
iiat Er experimentierte mit iiberkaltetem Phosphor, den er in diinn-
wandige U-Bohren yon etwa 1 m Gesamtlange brachte; die Rohren wur-
den in einem grossen Wasserbade auf bestimmte Temperaturen unter-
balb des Schmelzpunktes abgekiihlt, und dann wurde an einem Ende
die Erstarruug durch Beriihrung mit einem Platindraht, an dem sich
etwas fester Phosphor befand, eingeleitet. Gernez iiberzeugte sich, dass
die Erstarrung mit konstanter Geschwindigkeit durch die ganze Rohre
erfolgte, und dass sie Ton der Weite der Rohre unabhangig war, wenn
diese 2 mm nidit iiberstieg. Bei weiteren Rohren macht sich die un-
zoreichende Ableitung der Erstarrungswarme geltend. Im iibrigen hing
die Geschwindigkeit nur von der Temperatur ab, und insbesondere hatte
die langere oder kiirzere Dauer des fiiissigen Zustandes ebensowenig
einen Einfluss, wie die Temperatur, auf welche der fliissige Phosphor
erbitzt gewesen war. Es handelte sich also um eine wirkliche Konstante,
die nur von der Natur des Stoffes und der Temperatur abhangig ist').
<) Compt rend. 95, 1278. 1882.
*) Dieser Umstand muss als der regelmassige besonders betont werden, da
Gernez zu derselben Zeit seine interessanten Beobachtungen am Schwefel ver-
284 II* Chemische Dynamik.
Dass die lineare Erstarrungsgeschwindigkeit, wie sie durch das
Fortschreiten der leicht zu beobachtenden TrennuDgsflache zwischen
fliissiger und fester Substanz gemessen wird, von der Robrenweite un-
abhangig ist, obwohl sich init dieser die Reaktionsflache andert, lasst
sich leicht einsehen. Denn wenn in einer Rohre von doppeltem Radius
die Reaktionsflache viermal so gross wird, so erstarrt in derselben Zeit
anch die vierfache Menge des Stoffes. Diese Menge fiiUt aber in bei-
den Rohren Cylinder von gleicher Lange, und somit ist die lineare 6e-
schwindigkeit zahlenmassig gleich der auf die Volumeinheit bezogenen
gewohnlichen Reaktionsgeschwindigkeit fur den Querschnitt Eins. Will
man die Oeschwindigkeit auf ein Mol beziehen, so muss man demnach
die lineare Oeschwindigkeit mit dem Molekularrolum des untersuchten
Stoffes dividieren.
Gemez hat fur die Thatsache der konstanten Erstarrungsgeschwin-
digkeit keine zahlenmassigen Belege gcgeben; deshalb seien aus einer
auf ein etwas anderes Ziel gerichteten Arbeit von B. Moore ^) die folgen-
den Zahlen mitgeteilt, die von dem Grade der zu erwartenden Genauig-
keit eine Vorstellung geben. Die Versuche sind mit Eisessig angestellt
worden, und die Zahlett bedeuten die Sekunden, die zum Durchschreiten
von je 2 cm erforderlich waren.
Bei 5.4<>:
U, 14-5, 14, 13-5, 14, 14, 14, 14-5, 14, 14*5.
Bei 8-2 •:
19, 185, 185, 19, 19, 185, 195, 19, 19, 19.
Bei 11.5«:
36, 35-5, 35-5, 36, 36-5, 355, 36, 35*5i 36, 35-5.
Ferner gaben Versuche mit verschiedenen Rohrenweiten folgeude Sjahlen:
Weite: 1mm 3 mm 7 mm
a 14-7 Sek. 151 Sek. 14-9 Sek.
b 215 214 217
c 29-6 290 29-3
OffeDtlichte, bei dem sich ein aasserordentlich grosser Einfluss der Vorgeschichte
des Schwefels auf die Erstarrungsgeschwindigkeit seiner tlberkalteten Schmelze
nachweisen liess. Dies rQhrt dahcr, dass der Schwefel beim Schmelzen (Tberg&nge
in allotrope Formen erHlhrt, die beim Abktthlen sich nicht sofort zurftckbilden*
Bondem einige Zeit bestehen. Da nun durch Beimischung fremder Stoffe im all-
gemeinen die Erstarrungsgeschwindigkeit bedeutend beeinflusst wird, so sind aach
diese Yer&nderungen darauf zurQckzufahren, dass man es je nach der Behandlnni^
mit ganz verschiedenen Mischungen der verschiedenen Formen des Schwefels su
thun hat. Auf diese Erscheinungen wird an sp&terer Stelle eingegangen werden.
1) Zeitschr. f. pb]rs. Ghemie 12, 545. 1893.
Chemische Kinetik. 285
Unter a, b und c sind drei Versuchsreihen bei yerschiedenen Tem-
peratoren verzeichnet Man eieht, dass man auf mindestens ein Prozent
Genauigkeit bei einigen Wiederholungen rechnen kann.
Die Erstarrungsgeschwindigkeit ist in sehr hohem Masse von der
Katur der Substanz abhangig, und andert sich in erster Annaherung
proportional dem Grade der Uberkaltung. Gemische zeigen meist eine
▼iel geringere Geschwindigkeit als die reine Substanz, und zwar ist die
Abnahme der Geschwindigkeit bedeutend grosser, als sie infolge der
Schmelzpunktserniedriguug wegen der entsprechenden Verminderung der
Uberkaltung sein soUte. Hieriiber wird das Erforderliche an anderer
Stelle mitgeteilt werden.
46. G^enaeitige Umwandlnng fester KOrper. Ganz ahnliche £r-
scheinnngen, wie die Erstarmng einer iiberkalteten Schmelze lassen sich
bei uberkalteten, bez. iiberhitzten festen Korpern beobachten. Zwischen
dem rhombischen und dem monoklinen Schwefel besteht bekannt-
lich das Verhaltnis, dass oberhalb 98^ der monokline, unterhalb dieser
Temperatur der rhombische bestandig ist; doch lassen sich beide Arten
auch innerhalb eines Temperaturgebietes erhalten, in welchem sie nicht
bestandig sind. Beriihrt man unter solchen Umstanden die unbestandige
Form mit einem Krystall der bestandigeu, so erfolgt eine Umwandlung,
die mit einer bestimmten Geschwindigkeit fortschreitet, die denselben
Gesetzen folgt, wie sie fur die Erstarrung iiberkalteter Schmelzen
giiltig sind.
Auch hier verdanken wir solche Messungen D. Gemez ^). Von einer
eingehenderen Darstellung der beobachteten Verhaltnisse, die einiger-
massen verwickelt sind, muss hier gleichfalls abgesehen werden; sie
findet sich weiter unten.
47. Verftnderliohe KonBentration. Eine erste Verwickelung tritt
eioy wenn man eine begrenzte Menge eines fliissigen (oder gasformigen)
I Stoffes auf einen heterogenen Anteil wirken lasst, dessen Oberflache
koDstant sein soil. Dann andert sich die Konzentration A des erst-
genannten Anteils proportional der yerbrauchten Stoffmenge x, und
wir haben dx
-j^- = kw(A-x),
WO w die Oberflache ist Kann man sie wahrend des Versuchs als kon-
sUmt betrachten, so ist das Int^ral
In — = kwt
A — X
^) Compt. rend. 98, 915. 1884; 100, 1882. 1885.
286 n. Chemische Dynamik.
£s gilt also eine Gleichung von derselben Form, wie bei einer
homogenen Reaktion erster Klasse, well hier wie dort nur einer der
wirkenden Stoffe Anderungen erleidet.
Die Gleichung ist in komplizierterer Form zuerst von Galdberg
und Waage^) aufgestellt worden, indem diese der Veranderung der
Oberflache Rechnung zu tragen suchten, welche bei der Einwirkung
Yon Saoren auf Metalle, speziell Zink, eintreten. Den gleichen Fall be-
arbeitete Hurter') mit demselben Ergebnis. Boguski^) entwickelte 1876
von neuem dieselbe Gleichung in sehr umstandlicher Weise; auch ge-
lang es ihm, in carrarischem Marmor ein Material zu finden» das hin-
langlich regelmassig angegriffen wurde, um einigermassen konstante
Werte zu geben.
Boguski hat Marmorplattchen von gemessener Oberflache in Saore
von verschiedener Eonzentration in Bewegung gehalten und nach be-
stimmter Zeit herausgezogen; der Gewichtsverlust des Plattchens ergab
den Betrag der Einwirkung. Aus seiner Versuchsreihe gebe ich eine
Auswahl von Konzentrationen und den dazugehorigen Eonstanten, die
unter der Yoraussetzung berechnet worden sind, dass die Reaktions^
geschwindigkeit der Eonzentration der Saure und der Oberflache des
Marmors proportional ist.
Eonzentration
Konstante
7.8
0^190
172
0.0172
216
0-0178
250
0-0178
667
00138
Wahrend von 7-8 bis 25-0 die Eonstante ziemlich gut ist, nimmt
sie fiir die starkere Eonzentration 66*7 bedeutend ab.
Es mag erwahnt werden, dass Boguski urspriinglich eine andere
Annahme fiir berechtigter angesehen hatte. Indem er sich iiberlegte»
dass bei verschiedener Eonzentration der Saure auf die flacheneinlieit
des benutzten Marmors Vc' Molekeln kommen, wo c die Eonzentration
ist, versuchte er eine entsprechende Rechnung durchzufiihren. Diese
ergab indessen keine Eonstante, so dass fur die Erscheinung in der
That nicht die Zahl der Sauremolekeln massgebend ist, die in der Zeit>-
einheit auf die Flache „auftreffen'^ sondem nur die raumliche Kon
>) £tade8, 68.
«) Chem. News 22, 193. 1870.
») Ber. 9, 1646. 1876.
Chemische Kioetik.
287
zentratioQ. Es ist dies einer der vielen Falle, wo mechanistische Be-
trachtuDgen in der Verwandtschaftslehre zu Ergebnissen fiihren, die
isit der Erfahning nicht vereinbar sind.
Ein anderes Beispiel finden wir in einer Untersuchung von W. Spring^)
Ober die Einwirkung der Sauren auf Ealkspat. Es hatte sicb ergeben,
dass die Reaktionsgeschwindigkeit je nach der krystallographischen
fieschafFenheit der Flache verscbieden war; die nacbstehenden Zablen
beziehen sicb auf die Spaltungsflacbe des Hauptrbomboeders.
For die Berecbnung dient nicht die Integral-, sondem die Diffe-
rentialgleichiing, da die Versucbe so gefiihrt worden sind, dass die
Zeiten gemessen wurden, in welcben immer derselbe Bmchteil der
Reaktion ('/i«) verlaufen war; dieser wurde aus dem Volum der ent-
wickelten Eoblensaure bestimmt'). Zar Eonstanthaltung der Oberflacbe
diente das von Wenzel angegebene Verfabren (S. 83), dass alle Seiten
eines Prismas bis auf eine mit einem unangreifbaren tiberzuge ver-
sehen warden.
Entwickelte
KoUens&ore
Eonz. d. S&ure
Geschwindigkeit
Eonstante
v..
X5/
/xa
000115
0-00123
*/..
/xa
000106
0-00115
V,.
/xa
0-00098
0-00120
*/«
xs/
/xa
000091
0-00120
•A.
/xa
000082
0-00120
%.
"A.
0-00074
0-00118
'A.
•A.
000067
0-00118
%.
•A.
0-00061
000122
•A.
'A.
0-00055
0-00126
XO/
/la
•/«
0-00044
0-00117
/la
V,.
0-00036
0-00115
/ta
v..
0-00031
0-00125
/la
%.
0-00027
0-00144
/xa
•A.
000016
000128
Wiewohl die einzelnen Bestimmnngen keine grosse Genauigkeit
haben, so sieht man doch, dass die unter der Voraussetzung der Pro-
^ Zeitsehr. f. phys. Chemie 2, 13. 1888.
*) Die einzelnen Mengen betrugen eigentlich je ein Zwanzigstel der mdglichen
6«i&intmenge ; doch hatte sich erwiesen, dass Salzs&ure anterhalb einer bestimm-
tea Yerdftnnong, die hei einem FQnftel der arsprClnglichen lag, nberhaupt nicht
nehr auf Kalkspat einwlrkt Als wirksame Menge ist daher nur der tTberschuss
fiber dlesen unth&tigen Anteil genommen worden, ein Verfabren, das theoretisch
nicht ohne Bedenken ist Die Tbatsache selbst ist indessen bemerkenswert, zu-
oai Manner, der auch aas Ealkspat besteht, die £rscheinang nicht zeigt. Es
ksodelt sich Tielleicht am eine besondere EigentQmlichkeit nnverletzter Spaltfl&chen.
288 II- Chemische Dynamik.
portionalitat zwischen Geschwindigkeit und Konzentration berechneten
KoDstanten keinen Gang zeigen, sondern unregelmassig um den Mittelwert
schwanken. Nur fiir die letzten Werte, die wegen der Kleinheit der
Geschwindigkeiten bereits fiir die Rechnung sehr ungiinstig werden, sind
grossere Abweichungen vorhanden.
Ganz analog, wie die erwahnten chemischen Prozesse verlauft die
Losung eines Salzes in Wasser, sowie die Ausscheidang fester Stoffe
au8 iibersattigten Losungen, insofern die letztere gleichMls von dem
Vorhandensein des festen Stoffes und der Grosse seiner Oberflache ab-
hangig ist. Je naher die Losung dem Gleichgewichtszustand kommt,
um so geringer wird die Reaktionsgeschwindigkeit. Daher riihrt die
Schwierigkeit, genau gesattigte Losungen eines Stoffes zu erlangen. Da
die Geschwindigkeit proportional der Oberflache ist, so empfiehlt es sich,
gerade in den letzten Stadien des Vorganges diese uach Moglichkeit zu
vergrossern. Man wird daher eine gesattigte Losung in kiirzester Frist
erhalten, wenn man eine leicht zu gewinnende nahezu gesattigte Losung
mit einer grossen Menge moglichst fein abgeriebener fester Substanz
zusammenbringt. Fiihrt man die Operation statt mit ziemlich gesattig-
ter Losung mit dem unbeladenen Losungsmittel selbst aus, so wird der
Zweck verfehlt, weil zunachst die wirksamen kleinsten Teilchen des
festen Stoffes aufgelost werden, und nur die yiel weniger Oberflache
bietenden grosseren Stiickchen nachbleiben.
Ahnliche Betrachtungen gelten fiir die Vorgange zwischen Gasen
und festen Stoffen, sowie fiir Gase und Fliissigkeiten, doch wird es hier
meist noch viel schwerer sein, die wechseh)den Umstande mathematiach
zu formulieren.
£in Versuch dazu liegt von G. Lemoinc') vor, welcher die Ge*
schwindigkeit der Dampfbildung aus rotem Phosphor, sowie die Ge-
schwindigkeit der Bildung des roten Phosphors aus (mittels gelben
Phosphors erhaltenem) Phosphordampf einer eingehenden Untersuchung
unterzogen hat. Die Ergebnisse sind nur annahernde, da zu den eiv-
wahnten Schwierigkeiten noch die weitere tritt, dass der rote Phosphor
durch langeres Verweilen bei hoherer Temperatur eine Veranderung
seiner Beschaffenheit erleidet, welche die Geschwindigkeit der Umwand-
lungsvorgange in erheblichem Masse beeinflusst.
48. Verftnderliohe Oberflftohe. 1st die Oberflache dee festen
Korpers veranderlich, so ergiebt sich eine entsprechend verwickeltere
Formel, und zwar hangt diese yon der Gestalt des festen Korpers ab«
1) A. ch. ph. (4) 27, 311. 1872.
Chemische Einetik. 289
Ist diese Ton der Beschaffenheit, dass sie durch den Yerlust gleich dicker
Schichten von alien Seiten sich selbst ahnlich bleibt, handelt es sich
mit anderen Worten um einen allseitig symmetrischen Eorper, z. B. eine
Kngel Oder eine Form dee regolaren Systems, so ist die Substanzmenge
proportional der dritten, die Oberflache proportional der zweiten Potenz
der homologen Dimensionen, und die Oberflache ist von der Potenz %
der yerbrauchten Substanzmenge x abhangig.
Beispielsweise handele es sich um eine Eugel mit dem anfang-
lichen Radius ro, der nach der Zeit ^^ in welcher die Substanzmenge z
aofgelost ist, auf den Radius r reduziert worden ist. Das Volum der
anfgelosten Stoffmenge ist q>Xy wo g> das Molekularyolum des festen
Stoffes ist; andererseits ist es gleich dem Unterschiede der beiden Kugeln
mit den Radien r^ und r. Wir habcn demnach
-^(rj — r^) = 9^x
and daher r= 1/ r8 ^— .
Die Oberflache w zur Zeit &■ ist aber gleich 4;rr', und somit ist
Darans ergiebt sich die Geschwindigkeitsgleichung
dz
K'!-^)V-')
= 4jpd*.
^Das Integral einer Gleichung von der Gestalt
k(«-|9x)i(A-x) = ^''^*
Jautet) wenn man die Abkiirzungen (a — /Sxy/» = z und (a — j3A)^» = C
einfuhrt,
4k;r*=-liln(z-C) + 2^1n(z* + 2C + C»)
+ -7^^ arc tang — = 1- const.,
wo die Konstante in gewohnter Weise eliminiert werden kann.'^
Etwas einfacher werden die Verhaltnisse bei sehr gestreckter Gestalt
der Versuchskorper. Dann bleibt eine Dimension praktisch unyerander-
Oatwald, Chemie. II,S. 2.Aiifl. 19
290 n. Chemische Djnamik.
lichy und statt der dritten Wurzeln treten zweite auf. Wir baben wie-
der das aufgeloste Volum fpx gleich der Volumverminderang des Zylin-
ders zu setzen und erhalten, wenn 1 dessen (anverandert bleibende)
Lange ist,
4^1(rg — r*) = (pn
I' « 4jrl
. = 2,.|/r.-£l
und die Geschwindigkeitsgleicbung
===f.L = 2jrkld*.
V
r§-S(A-x)
4jrl
,J)a8 Integral einer Gleicbung
dx
= 2jrkld{^
Va — /9x(A — x)
bat die Form
4k^^ = -;; r~ hi . L — ' — y -L ^ const,
y^^=^/9A ya-/9x~y^^/3A
deren Eonstante, wie iiblich, zum Verschwinden gebracht werden kann" ^).
Bei diinnen Flatten werden zwei Dimensionen praktiscb konstant,
und die Oberflache wird von der verbrauchten Substanzmenge unab-
bangig. Ebenso kann man eine konstant bleibende Oberflacbe erzwingen,
wenn man an zylindriscben oder prismatischen Stiicken alle Flacben bis
auf eine Stirnflacbe (oder beide) mit einem durch das Losungsmittel
nicht angreifbarem tJberzuge bedeckt, ein Mittel, das schon Wenzel
gekannt bat Die vorstebenden Recbnungen, die sich zum Teil schon
in der Litteratur vorfinden % wenn aucb fiir etwas andere Falle durch-
gefiihrt, baben daber kaum irgend welche praktiscbe Bedeutung, zumal
man nur selten so homogenes Material finden wird, dass die Auflosung
des Korpers in genau parallelen Schicbten, obne jede Bildung von Un«
ebenbeiten erfolgt, durcb welcbe die vorstebenden Recbnungen fiir die
Yeranderlichkeit der Oberflacbe illusoriscb werden.
^) FQr die Aasftlhrung der Integration dieser und der vorigen Formel biA
ich Herrn Dr. 0. Enoblaach za Dank verpflichtet.
*) Cesaro, Ann. chim. phys. (6) 17, 12. 1889.
Chemische Einetik. 291
49. Heterogene Vorgftnge sweiter Art. Nebeu den Vorgangen,
bei denen das Gebilde von vornherein heterogen ist, giebt es solche,
die in homogenem Gebilde b^nnend, zu einer Heterogenitat fiihren.
Solche sind nur selten Gegenstand von Geschwindigkeitsmeesungen ge-
vesea, und in der That aus einem in der Natur der Sache liegenden
Grande wenig dazu geeignet.
Es ist schon bei friiherer Gelegenheit betont worden, dass die
AosscheiduDg eines heterogenen Bestandteils anter den geeigneten Um-
standen oft nur ein moglicher, nicht aber ein notwendiger Vorgang
ist; Yielmehr sind die Oberschreitungen des Verhaltnisses der vorhandenen
Stoffe, bei dem Heterogenitat eintreten kann, sehr baufig, und unter
dem Namen der Ubersattigung, tlberkaltung u. dgl. bekannt. Von sol-
chen Znstanden giebt es zwei Arten, die wir als metalabil nnd labil
onterscheiden konnen^). Bei geringer tiberschreitung des Punktes, bei
welchem ein Gleichgewicht beider Formen bestehen konnte, bildet sich
die zweite, nocb nicht yorhandene nicht freiwillig, und die einzige
Moglichkeit, ihre Bildung hervorzurufen, ist die Einfiihrung einer wenn
anch sehr kleinen Menge dieser Phase oder eines „Keimes^ Solche
ZoBtande sollen metastabile heissen; sie kommen bei den nachfolgenden
Betrachtungen wesentlich in Frage. Wird die Uberschreitung des Gleich-
gevdchtspunktes betrachtlicher, so tritt friiher oder spater ein Punkt ein,
Ton dem ab die Bildung der zweiten Phase freiwillig, d. h. ohne die
Mihrirkung eines »Keime8** erfolgt; solche Zustaude sollen labile heissen.
Geht man nun. von einem homogenen Gebilde (z. B. einem Gemenge
Yon Natriamthiosulfat und Salzsaure) aus, so wird anzunehmen sein,
dass der Zerfall des Ions S^O^" in S und SO'" (bez. die Reaktion
ff+S»0»"=HSC+ 8) alsbald beginnt, indem der entstehende Schwefel
in der Fliissigkeit gelost bleibt. Da sich Schwefel in alien Modiiikationen
nnr wenig in Wasser auf lost, so ist die Fliissigkeit sehr bald mit Schwefel
ibenaUdgti und stellt ein metastabiles Gebilde dar, welches bei weiterem
Fortschreiten der Reaktion „freiwillig^, d. h. infolge Eintretens in das
labSe Gebiet Schwefel als heterogene Phase absondert. Es ware nicht
richtig, deo Augenblick des Erscheinens der Schwefeltriibung als den
Augenblick aufzufassen, in welchem erst das Thiosuifation zerfallt; es
lit Tielmdir nnr der Augenblick, in welchem die Cbersattigung der
visBrarigen Scbwefellosung freiwiliig aufgehoben wird, und zur Ent-
itdnng dieser Ubersattigung ist notwendig eine vorgangige Bildung
Ton Sdiwefel (4n gelostem Zustande) erforderlich.
^ Ofttwald, ZUchr. f. phys. Chemie 2^ B02. 1897.
19*
292 II- Chemische Dynamik.
Hat sich der Niederschlag gebildet, so hebt er die Cbersattigung
in alien Teilen der Fliissigkeit auf, die mit ihm in Beriihrung stehen.
Dies kann zweierlei Wirkung haben. Ist die Reaktion eine solche, die
aach bei Anwesenbeit des gelosten Produktes voUstandig wird, so hat
die Aufbebung der Ubersattigung keinen Einfluss aaf den weiteren Ver-
lanl Ist dagegen die Reaktion umkehrbar, so muss durch die Vermin-
dening der Eonzentration des Produktes (da nur der geloste, nicht
der aufgeschlammte Anteil wirksam ist) die Gegenreaktion vermindert,
die Hauptreaktion somit beschleunigt n^erden. In diesem Falle wirkt
der Niederschlag wie ein katalytischer Beschleuniger, und der allgemeine
Verlauf der Reaktion wird dem S. 265 geschilderten Falle ahnlioh seiui
dass durch die Reaktion ein deren Fortschritte proportionaler Kataly-
sator gebildet wird.
Nach den Untersuchungen von Foussereau^) liegt bei der Zer-
setzung der Thiosulfate durch Salzsaure in schweflige Saure und Schwefel
der zweite Fall vori woraus zu schliessen ist, dass sich schweflige Saure
und geloster Schwefel wenigstens teilweise zu Thioschwefelsaure zu
verbinden vermogen, wie das in neutraler Losung das Ion 80^' yoU-
standig thut, entsprechend der Bildung der Thiosulfate aus Sulfiten
durch Kochen mit Schwefel. Die fortschreitende Einwirkung der Salz-
saure auf Thiosulfat lasst sich leicht an der Anderung der elektrischen
Leitfahigkeit verfolgen, welche alsbald nach der Herstellung des Ge-
misches sich vermindert und bei Vs ^^^ urspriinglichen Wertes unyer-
andert bleibt Die Kurven 1, 2, 3 und 4 der Fig. 6 zeigen den Vor-
gang in der Gestalt, dass die Zeiten als Abscissen, die Widerstande
(nicht die Leitfahigkeiten) als Ordinaten eingetragen sind. Insbesondere
an den Kurven 2 bis 4 lasst sich der fiir katalytische Beschleunigungen
durch einen entstehenden Stoff charakteristische Wendepunkt (S. 266)
der Reaktionskurve erkennen. Die vier Kurven beziehen sich auf Lio-
sungen, die ein Mol Thiosulfat und zwei Mol Salzsaure in 24>5, 133*1,
631 und 2402 Liter enthielten und bei Ib^ gehalten wurden.
Die Richtigkeit der Auffassung, dass der ausgeschiedene Schwefel
katalytisch wirkt, ergiebt sich daraus, dass durch den Zusatz kleiner
Mengen bereits zersetzter, von aufgeschlammtem Schwefel triiber FlQa*
sigkeit zu frischer die Reaktion bedeutend beschleunigt wird. Die Kurven
5 und 6 beziehen sich auf die gleiche Flussigkeit wie 4, nur war der
einen Losung Vv6» ^^^ anderen '/^^ ihres Volums zersetzter triiber
Losung von gleicher Konzentration hinzugefugt worden. Schon bei
>) G. r. 104, 1842. 1887; auafabrlicher Ano. chim. pbys. (6) 15, 683—544. 188a.
Chemische Einetik.
293
einem Zasatze yon 0*5 Prozent der zersetzten Losung lasst sich eine
Beschleunigang nachweisen. Foussereau hebt besonders hervor) dass
der Reaktionsverlauf bei den Losungen mit Zusatz zersetzter Fllissigkeit
anders ist, als ohne diesen Zusatz, indem sich die eDtsprecbenden Kurvea
5 imd 6 nicht mit 4 zur Deckung bringen lassen, wenn man sie um
die erforderlicheu Stiicke nach rechts yerschiebt, dass ihre Anfangs-
pankte aaf die Kurye 4 fallen. Er fiihrt dies auf den Umstand zuriick,
dass in frisch zersetzten FlUssigkeiten der Schwefel in sehr kleinen
Tropfchen yorhanden ist, welche die Brownsche Bewegung zeigen, wah-
rend in der alten Fliissigkeit der Schwefel in grosseren Komchen yor-
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Fig. 6.
kanden ist. Anch ist der am andern Tage abgesetzte Niederschlag bei
freiwilliger Sohwefelausscheidung gallertartig, wahrend er beim Zusatz
alter Losong komig ausfallt.
Indessen miisste, wenn die Gross e der Schwefelteilchen massgebend
ware, beim Zusatz alter Losung, wo die Teilchen grosser, ihre gesamte
Oberflache bei gleichem Gewicht also kleiner ausfallen, die Reaktions-
gesdiwindigkeit ge ringer sein, da sie bei gleichem Zersetzungszustande
offenbar der Grosse der Beriihrungsflache proportional sein muss. Ein
Blick auf die Kuryen lehrt aber, dass das Gegenteil der Fall ist: die
Losungen mit altem Schwefel zersetzen sich yiel schneller. Die Er-
Uimng hierfiir diirfte wohl darin zu suchen sein, dass der komige
Sdiwefel der alten Flussigkeiten eine weniger losliche Form dar-
394 II. Chemische Dynamik.
stellt, als die Tropfchen der frischzersetzten; der erstere lasst also in
der angrenzenden Fliissigkeit weniger aufgelosten Schwofel iibrig und
lasst daher die Gegenreaktion weniger wirksam werden. Ein zweiter
Grund liegt in der Kleinheit der frischen Tropfchen. Ebenso, wie sehr
kleine Tropfchen einer flachtigen Fliissigkeit einen grosseren Dampf-
druck haben als grosse, so haben auch sehr kleine Teilchen eines lo^
lichen Stofifes eine grossere Loslichkeit; in beiden Fallen damm, weil
der Ubergang von kleinen Tropfchen in grossere eine Verringerung der
Oberflachenergie and damit eine Abnahme der freien Energie bedingt,
und somit ein freiwillig eintretender Vorgang ist.
Weitere Bestatigungeu der Beriihrungswirkung des Schwefels liegen
darin, dass Foussereau erstens die klar filtrierte alte Losung unwirksam
fand, zweitens eine Beschleunigung auch durch Zusatz von gepulvertem
oktaedrischem Schwefel zur Fliissigkeit hervorbringen konnte. Seine
Vermutung, dies riihre wahrscheinlich von einem kleinen Gehalt an
amoi*phem Schwefel her, erscheint nach dem Gesagten nicht begriindet;
vielmehr ist bei gleicher Oberflache fiir den oktaedrischen Schwefel
seiner geringeren Loslichkeit wegen eine grossere Beschleunigung zu er-
warten, als fiir den amorphen.
50. Schlassbemerkungen. Die Darlegungen des vorstehenden Kapitels
haben sich an die for male Seite der Frage von den Reaktionsgeschwin-
digkeiten gehalten, und die wirksamen Ursachen nur so weit beriihrt,
als zum Verstandnis der mitgeteilten Beispiele erforderlich war. Ebenso
sind Zahlenwerte der charakteristischen Geschwindigkeitskonstanten in
ihrem Zusammenhange mit der Natur der reagierenden Stoffe und der
etwaigen Losungsmittel, sowie der Temperatur nicht erortert worden.
Diese beiden Fragen gehoren in einen andem Teil dieses Werkes, und
es ist an dieser Stelle nur der Hinweis erforderlich, dass ihre Behand-
lung in diesem Kapitel nicht beabsichtigt war.
Vorlaufig mag nur so viel bemerkt werden.. dass gemass der all*-
gemeinen Definition der chemischen Energiefaktoren ein chemischer
Vorgang stattfinden kann, wenn durch ihn das chemische Potential der
beteiligten Stoffe sinkt. Man wird hieraus unmittelbar den Schloss
Ziehen diirfen, dass die Geschwindigkeit des Vorgangs dem Potential-^
fall der beteiligten Stoffe proportional zu setzen sein wird, and in erster
Annaherung ist ein solcher Satz zweifellos begriindet Doch ist schon
jetzt hervorzuheben, dass diese Grosse allein nicht massgebend fiir dita
Reaktionsgeschwindigkeit ist. Schon die Thatsache, dass eine Erhohan^
der Temperatur rogelmassig die Geschwindigkeit steigert, und zwsur
meist in einem so erheblichen Betrage, dass diese Temperaturkoefl&«>
Gbemische Einetik. 295
zienten zu den grossten gehoren, welcbe iiberhaupt Yorkommen, spricht
dagegen; denn durch Temperaturerhohung kann der Potentialfall der
Beaktion sowohl in positivem wie in negativem Sinne beeinflusst wer-
den, je nachdem das Potential der Ausgangs- oder der Endstoffe sich
sdmeller mit der Temperatur andert. Ein weiterer Umstand, welcher
die Mitwirkung anderer Faktoren beweist, ist das Vorhandensein kata-
Ijtischer Wirknngen. Solche sind allgemein (S. 248) als Anderungen
des Geschwindigkeitskoeffizienten der betreffenden Reaktion zu definieren.
Nun sind wir in den meisten Fallen sicher, dass eine erhebliche Ande-
Tong des Potontialfalles der Reaktion durch den Katalysator nicht be-
wirkt wird, wahrend Anderungen der Geschwindigkeit wie Eins zu Tausend
eiotreten: somit wird auch hierdurch bewiesen, dass ausser dem Potential-
abfall noch andere Faktoren die Reaktionsgeschwindigkeit beeinflussen.
Hiennit steht im Zusammenhange, dass es bisher nicht moglich
war, und yoranssichtlich niemals moglich sein wird, aus den energe-
tischen Bedingungen eines Gebildes all ein seine Reaktionsgeschwindig-
keit zahlenmassig abzuleiten. Denn von alien bisher bokannten Energie-
grossen enthalt nur die Bewegungsenergie die Zeit in ihren Faktoren, und
Eni9rgiegleichungen konnen demnach nur dann liber den Zeitverlauf irgend-
welcher Yorgange etwas aussagen, wenn in ihnen die Bewegungsenergie
aosdriicklich yorkommt, wie denn auch die iibliche Definition und Messung
der Zeit auf den Verhaltnissen der Bewegungsenergie der Erde beruht
Die ZeitgroBse in den Erscheinungen der chemischen Yorgange hat
eine ganz andere Quelle; sie stellt einen Koeffizienten dar fur die Art
ond Weise, in welcher freie Energie in gebundene iibergeht, oder mit
andem Worten freie Energie vernutzt wird. Dies geschieht nicht nur bei
chemischen Yorgangen, sondern Warme- und Elektrizitatsleitung, Reibung,
kmz alle ahnlichen Ausgleichungserscheinungen stellen solche Yernut-
zongen freier Energie dar, und in alien solchen Yorgangen finden wir das
Gesetz wieder, dass fiir derartige Yorgange Zeit erforderlich und dass
dieeeZeit erstens vom Intensitatsgefalle im Gebilde, zweitens aber auch von
spezifischen Faktoren des Materials und der Form abhangig ist, und bei
gleichem Gefallwert noch die verschiedensten Grossen annehmen kann.
Demgemass wird an spaterer Stelle einerseits auf die enorgetische
Seite der Frage eingegangen werden, andererseits werden die einzelnen
Dntersachungen fiber die Geschwindigkeit chemischor Yorgange mit
Racksicht auf den spezifischen Gharakter der beteiligten Stoffe und
die etwaigen Beziehungen der Geschwindigkeitskoeffizienteu zu anderen
Grossen Darstellung finden.
296 n. Cbemische Dynamik.
Eapitel.
Das chemische Gleichgewicht. Gnmdlagen and
Oleicli^ewichte erster Ordnnng.
1. AllgemeineB. £s sind viele Falle bekannty in denen chemische
Yorgange mit Gegenreaktion verlaufen, d. h. in denen aus den entstandenen
Stoffen sich die Ausgangsstofife wieder zuriickbilden konnen. Anfangs
als Ausnahmen angesehen, haben sich diese Falle bestandig vermehrt;
ja die Entwicklung der allgemeinen Anschauungen hat es mit sich ge-
bracht, dass man die Fahigkeit der Reaktionsprodakte, sich zu den
urspriinglichen Stoffen wieder zuruckzubilden, als die Reg^l ansehen
muss, und dass die Ausnahmen von ihr als nur scheinbare, durch die
ungeniigende Entwicklung der analytischen Hilfsmittel im gegebenen
Falle bedingte betrachtet. Das Ergebnis eines chemischen Vorganges
wird darnach in der Regel das sein, dass sich aus den urspriinglichen
imd den entstandenen Stoffen schliesslich ein Gebilde herstellt, das
seine Zusammensetzung nicht mebr andert und sich, in einem mecha«-
nischen Bilde gesprochen, im Gleichgewicht befindet
Es ist wesentlich, diesen durch Wirkung und Gegenwirkung ent-
standenen Ruhezustand von dem Zustande zu unterscheiden, in welcbem
ein Gebilde zwar unveranderlich erscheint, aber sich nicht in einemi
wirklichen Gleichgewicht befindet. Es giebt ein ganz allgemeines Hilfis-
mittel fiir die Erkennung und den experimentellen Nachweis dieses
Unterschiedes. Ein wirkliches Gleichgewicht ist von beiden Seiten her
erreichbar; ob man also von der einen Stoffgruppe ausgeht, oder von
der anderen, die aus ihr entstehen kann, darf auf den schliesslichen
Zustand keinen Einfluss haben, falls nur entsprechende Mengen and
libereinstimmende sonstige Verhaltnisse (Temperatur, Druck, Losungs-
mittel u. dergL) in beiden Fallen yorhanden sind. Scheinbare Gleich^
gewichte dagegen zeigen diese Eigentiimlichkeit nicht; bei ihnen gelangt
man nicht zu demselben.Endzustande, wenn man von den reziproken
Systemen ausgeht, sondem beido bleiben dauernd verschieden.
Als Kriterium des wirklichen Gleichgewichts ergiebt sich daraaa.
dass das Verhaltnis der schliesslich vorhandenen Stoffmengen sich stetig
durch die Anderungen der Gleichgewichtsbedingungen verandem lasst.
Anderungen der Temperatur, des Druckes, der Mengenverhaltniase
der Bestandteile sind hier die Reagentien auf das Gleichge¥richt £s
kann Falle geben, und sie werden weiter unten eingehend erortert
werden, wo eines oder das andere dieser Reagentien versagt, weil das
untersuchte Gebilde fiir Anderungen dieser bestimmten Art unempfindlidi
Das chemische Gleichgewiclit. 297
ist; doch giebt es keinen einzigen Fall, wo sie alle glcichzeitig ver-
sagen, and so hat man immer die Moglichkeit einer prinzipiellen
Entscbeidung.
Urn diese allgemeinen Erorterungen an Beispielen anschaulich zu
iDacben, wird der Zustand, der sich bei der Einwirkung einer verdiinn-*
ten Salzsaurelosung anf Galciumozalat herstellt, als ein Gleicbgewicht
m eigentlichen Sinne zu bezeichnen sein. Denn die Menge des auf-
gelosten Oxalates andert sich mit der Temperatur, der Verdiinnung und
der Gegenwart anderer Stofife, und man erreicht denselben Zustand, ob
man Salzsaure auf Galciumoxalat, oder Oxalsaure auf Chlorcalcium in
aquiTalenten Verhaltnissen ein¥drken lasst; ebenso wird, wenn man den
Zostand etwa durch Erwarmen geandert hat, nach dem Abkiihlen auf
die friihere Temperatur der friihere Zustand nach einiger Zeit wieder
erreicht Zwar geht aus den friiheren Darlegungen (S. 210) hervor, dais
solch ein Endzustand, theoretisch gesprochen, immer erst nach unend-
lich laoger Zeit erreicht werden kann; doch ist an gleicher Stelle auch
dargelegt worden, dass der noch iibrig bleibende Fehler im allgemeinen
leichtunter den Betrag des analytisch Nachweisbaren gebracht werden kann.
Ein Gemisch aus Knallgas und Wasserdampf bei gewohnlicher
Temperatur ist dagegen nicht als im Gleichgewichtszustande befindlich
au&ofassen, obwohl es sowohl die Ausgangsstoffe, Sauerstoff und Wasser-*
8toS^ wie auch das Produkt, Wasserdampf, nebeneinander enthalt. Denn
das Mengenverhaltnis dieser Stoffe andert sich durch Anderungen des
Dmckes und der Temperatur (wenn diese innerhalb gewisser Grenzen
bleiben) nicbt, und wenn schliesslich beim Uberschreiten dieser Grenzen
eine Anderung eintritt, so ist diese nicht stetig, sondern erfolgt sprung*
weise; auch stellt sich beim Abkuhlen auf die friihere Temperatur der
anfangliche Zustand nicht wieder her. Ebensowenig hat eine Anderung
in der relativen Menge der beiden Gase einen Einfiiuss auf die Menge
des dritten. Es liegt also nur ein (vielleicht scheinbarer) Ruhezustand
▼or und kein Gleicbgewicht, obwohl das Gebilde die Eigenschaft hat,
seinen Zustand innerhalb zuganglicher Zeitraume nicht zu andern.
Es liegt nahe, die scheinbaren Gleichgewicbte samtlich in solchem
Sinne aufzufassen, dass sie Gebilde darstellen, in welchen allerdings
^ Reaktion stattfindet, nur mit so geringer Geschwindigkeit, dass sie
sich dem Nachweise entzieht. Dafur spricht, dass man in der That alle
iBogUchen Abstufungen der Geschwindigkeiten bereits experimentell
keonen gelernt hat, und dass nach dem allgemeinen Stetigkeitsgesetz
uidi eine unbegrenzte Zahl yon Geschwindigkeiten angenommen werden
niossen, die unterhalb der ^Schwelle'^ liegen. Ferner spricht dafur, dass
298 ll* Chemische Dynamik.
in solchen Gebilden durch die Anwendung von BeschleunigerD, zu denen
in erster Linie erhohte Temperatur gehort, Geschwindigkeiten in mess-
barem Betrage erzeugt werden konnen, die vollkommen stetig von sehr
kleinen Werten zu hoheren iibergehen. Jedenfalls wird man, so wait
die gegenwartigen Kenntnisse gehen^ mit den Thatsachen nicht in
Widerspruch geraten, wenn man diese Annahme macht, und sie schliesst
sich dem allgemeinen Gange der Naturerscheinungen so sehr an, dass
yielmehr die umgekehrte Annahme, es gabe Gebilde, die sich zwar
nicht im eigentlichen Gleichgewicht befinden, in denen aber doch abso-
lat keine Reaktion stattfindet, als eine unnatiirliche und durch keine
Analogien gestiitzte bezeichnet werden muss.
2. Hylotrope Formen und Gruppen. Bevor wir weiter gehen,
wird es niitzlich sein, fur einen Begriff, der den vorzunehmenden Er-
orterungen vielfach zu Grunde liegt, einen kurzen Namen einzufuhren.
Wii* nennen die Gesamthoit der moglichen Umwandlungsformen eiues
gegebenen chemischen Komplexes eine hylotrope Gruppe. Hjlotrop
sind demnach solche Stoffe, welche eine Umwandlung in andere Stoffe
erfahren konnen, so dass die elementare Zusammensetzung des Um-
wandlungsproduktes mit der der Ausgangsstoffe gleich ist. Von den
isomeren Stoffen, mit denen sie die Gleichheit der elementaren Zusam-
mensetzung teilen, unterscheiden sich die hylotropen dadurch, dass sie
thatsachlich ineinander verwandelbar sein sollen, was bei isomeren
Stoffen nicht stattzufinden braucht; andererseits dadurch, dass sie nicht
notwendig einzelne chemische Individuen sein mtissen, sondern auch
aus Gemengen mehrerer Stoffe bestehen konnen. Driickt man irgend
einen thatsachlich stattfindenden chemischen Vorgang in der iiblichen
Weise durch eine Formelgleichung aus, so stellt jede Seite dieser Glei-
chung eine hylotrope Form der bezeichneten Stoffe und die ganze Glei-
chung eine hylotrope Gruppe dar.
Zu den hylotropen Formen sind die Aggregatzustande ebenso, wie
die sogenaiinten chemischen Umwandlungen zu rechnen. So bildeu Eis,
Wasser und Dampf die hylotrope Gruppe H*0, und ebenso Cyansaore,
Cyanursaure, Cyamelid und deren Dampfe die hylotrope Gruppe CNOH.
Die hylotrope Gruppe Schwefel cnthalt sechs bis acht yerschiedene
Formen; die Gruppe H* + CO* = H*0 + CO bildet im gasformigen Zu-
stande deren zwei, die durch die Formeln zu beiden Seiten des Gleicli->
heitszeichens angegeben sind.
Chemische Vorgange bestehen in der Umwandlung einer Form in eine
andere hylotrope; befinden sich zwei hylotrope Formen nebcneinander,
ohne sich weiter zu beeinflussen, so findet chemisches Gleichgewicht 8tatt«
Das chemische Gleicfagewicht. 299
Je nach der Zabl der beteiligten Bestandteile kann man die Ord-
nongen bylotroper Gruppen unterscheiden. Wir habcn es zunacbst mit
solchen erster Ordnung zn tbun, bei dcnen jede einzelne Form dieselbe
Zusammensetzung hat.
Fenier kann man nach der Zahl der moglichen hjlotropen Formeu
iwei-, drei- und mehrzahlige Gruppen unterscheiden.
3. Homogene tind heterogene G^bilde. Phasen. Man unter-
scheidet homogene und heterogene Gebilde, und in abgeleiteter Sprech*
weise auch homogene und heterogene Gleichgewichte, je nachdem das
betrachtete Gebilde in jedem Teile die gleiche Beschafifenheit hat oder
nicht Im zweiten Falle, dass die Beschafifenheit an verschiedenen Stellen
DDgleich ist, miissen wir alsbald fordem, dass diese Verschiedenheit
nnstetig bezuglich des Raumes auftritt. Denn ein Gebilde, bei dem
Druck, Temperatur oder chemische Zusammensetzung sich dem Raume
nach stetig andem, kann nicht im Gleichgewicht sein (II, 35 und 46).
Somit muss sich das Gebilde, wenn Verschiedenheiten vorhanden
sind, in Gebiete teilen, welche in sich gleichformig sind und durch
spimngweise Ubergange, die sich als physische Trennungsflachen dar-
stellen, yoneinander geschieden sind. Solche getrennte Gebiete nennt
man die Phasen des Gebildes.
So stellen Wasserdampf und fliissiges Wasser, die sich nebenein-
aoder in cinem Raume befinden, zwei vcrschiedene Phasen des Stofifes
Wasser dar, ebenso Eis und Wasser, oder Eis und Dampf. Befinden
sich solche Phasen im Gleichgewicht nebeneinander, so miissen nach
der Definition die Intensitatsgrossen der vorhandenen Energien einander
gleich sein. Wir schliessen zunacbst alle anderen Energien^ als Volum*
energie, Warme und chemische Energie, aus; demgemass miissen in
Pbasen, die aneinander grenzen und sich im Gleichgewicht befinden,
Oder kiirzer gesagt, in koezistenten Phasen, Druck, Temperatur und
cbemisches Potential gleich sein. Die Unterschiede zwischen den Phasen
mossen somit darin bestehen, dass ihre Kapazitatsgrossen verschieden
sind, und in der That sind Volum, Entropie vtnd StofiFmenge verschieden.
Zwar die absoluten Werte konnen jeden beliebigen Betrag annehmen,
also auch etwa gleich sein; die spezifischen Werte indessen sind not-
wendig verschieden. Unter spezifischen Werten der Kapazitatsgrossen
sind solche zu verstehen, die auf die Einheit einer anderen Kapazitats-
irosse bezogen sindL Solcher spezifischer Werte giebt es hier zwei fiir jede
Kapazitatsgrosse, da jede auf die Einheit der beiden anderen bezogen
warden kann. So konnen wir spezifisches Volum fiir die Mengen- und
fiir die Entropieeinheit, spezifische Entropie fiir dio Volum- und fiir
300 II* Chemische Dynamik.
die Mengeneinheit und schliesslich spezifische Menge oder Dichte fiir
die Entropie- und die Volumeinheit unterscheiden. Da aber yon diesen
Grossen nur zwei, das Volum und die Menge, von Null ab gezahlt
werden konnen, wahrend die Entropie einen willkiirlichen Nullpunkt ent-
halt, so haben die auf die Einheit der Entropie bezogenen spezifiscben
Kapazitaten zur Zeit keine experimentell aufweisbare Bedeutung. Am
gelaufigsten ist uns die Beziehung auf die Mengeneinheit; so finden
wir, dass beim t)bergang aus einer Phase in die andere sich das Volum
und die Entropie der Mengeneinheit des Stoffes sprungweise andern
muss: dies ist die Definition des Phasenunterschiedes. Ebenso andert
sich naturlich die in der Volumeinheit enthaltene Menge des Stoffes,
sowie der Entropie beim Cbergange aus einer Phase in die anderen,
und auch dieser Umstaud kann zur Definition des Phasenunterschiedes
benutzt werden.
Der hier fur einen Stoff entwickelte Phasenbegriff kann auf Ge-
bilde aus beliebig yielen Stoffen ausgedehnt werden. Finden sich in
solchen Gebilden raumlich unterscheidbare Anteile, zwischen denen die
spezifiscben Kapazitatsgrossen der vorhandenen Bestandteile sprungweise
Anderungen erfahren, so werden wir sie Phasen des Gebildes nennen.
Jede Phase kann mehrere Bestandteile, insbesondere alle vorhandenen
Bestandteile gleichzeitig enthalten; ja wir konnen allgemein annehmen,
dass in jeder Phase eines aus mehreren Stoffen zusammengesetzten
Gebildes samtliche Bestandteile, wenn auch oft in unmessbar geringer
Menge, enthalten sind. Zwar ist diese Annahme nicht iiberall experi-
mentell nachweisbar, doch eriangen wir durch sie fur die allgemeinen
Betrachtungen so wichtige methodische Erleichterungen, dass es wohl
gerechtfertigt erscheint, sie zu machen, zumal sie mit den Thatsachea
niemals in Widerspruch tritt, sondem vielmehr in urn so weiterem Um-
fange bestatigt wird, je feiner unsere analytischen Hilfsmittel werden.
Die Einfiihrung des Begriffs der Phase verdanken wir W. Gibbs
(S. 116). Von den hylotropen Formen siud die Phasen zu unterscheiden*
Im Falle einfacher Stoffe fallen beide Begriffe zuweilen zusammen, bei
mehreren pflegen sie ganz verschieden zu sein. So sind die koezistenten
Phasen Dampf und Fliissigkeit eines Gemenges zweier fliichtiger Stoffe
im allgemeinen verschieden zusammengesetzt, also nicht hylotrop, uud
umgekehrt bestehen die beiden hylotropen Formen der Gruppe Eisen-
oxyd, Wasserstoff; Eisen, Wasserdampf aus je zwei verschiedenen Phaseiu
Durch die Phasen werden die raumlich zusammengehorigen Komplexe
zusammengefasst, durch die Hylotropie die chemisch aufeinander
ziehbaren.
Das chemische Gleichgewicht. 301
4. Die Phasenregel. Durch die Arbeiten von Gibbs und seinen
Nachfolgern hat sich der Begriff der Phase fiir die Beurteilung und
BestiiDmung der Gleichgewichtszustande als von grundlegender Wichtig-
keit erwiesen, und zwar vornehmlich durch eine numerische Gesetz-
massigkeit, welche unter dem Namen der Phasenregel (S. 124) be-
kaoDt ist uiid die Zahl der Bestandteile eines Gleiohgewichts, die Zahl
der Phaseu und die der Freiheitsgrade des Gebildes in eine einfache
Beziebung bringt; sind diese Zahlen nacheinander B, P und F, so gilt
n + 2 = P + F,
Oder die um zwei vermehrte Zahl der Bestandteile ist gleich der Summe
der Phasen und der Freiheitsgrade.
Als Bestandteile gelten die Stoffe, aus denen man die verschie-
denen Phasen des Gebildes durch Vermischung oder chemische Um-
setzong herstellen kann. Die Aufgabe, solche Stoffe anzugeben, lasst
aid) meist auf mehrfache Weise losen, docb giebt es immer eine kleinste
Zahl Yon unabhangigen Bestandteilen, unter die man nicht herunter-
gehen kann. Diese kleinste Zahl ist in der obigen Regel gemeint.
Der Begriff der Phasen ist eben erlautert worden; der des Frei*
beit^rades wird durch die Anzahl der unabhangigen Veranderlichen,
die in der Zustandsgleichung des Gebildes vorhanden sind, gekenn-
zeichnet. Ist das Gebilde von der Beschaffenheit, dass sein Zustand
Tollig bestimmt ist, wenn man einer der bestimmten Grossen, unter die
▼orziiglich Druck, Temperatur und die chemischen Potentiale der Yor-
haodenen Stoffe zu rechnen sind, einen bestimmten Wert zuerteilt hat,
so hat es einen Freiheitsgrad; lassen sich drei solcher Grossen unab-
liaogig Yariieren, so dass jeder Gruppe Yon drei solchen Werten ein
bestimmter Zustand entspricht, so liegen drei Freiheitsgrade Yor.
Der Inhalt der Phasenregel ist somit, dass die hochste Zahl der
unabhangigen Veranderlichen in den Gebilden der Art, wie wir sie
hier betrachten, zwei mehr betragt, als die Zahl der unabhangigen
Bestandteile, und dass das Auftreten jeder Phase aquiYalent ist der
Verfugung iiber eine der Veranderlichen.
Eingehendere Betrachtungen iiber die Ableitung der Regel werden
spater gegeben werden (Ygl. S. 126).
5. Die abBolnten und relatlTen Mengen. Das homogene che-
mische Gleichgewicht ist dadurch definiert, dass jeder Teil des Gebildes
jedem anderen chemisch und physikalisch gleichartig ist, also neben
gleicbem Druck und gleicher Temperatur gleiche Zusammensetzung hat.
Daraus gebt herYor, dass jeder Teil eines solchen Gebildes fiir sich,
302 II> Chemische Dynamik.
nnabhangig yon den anderen Teilen im Gleicbgowicht sein muss, und
dass umgekehrt, wenn man yon einem solchen Gebilde einen beliebigen
Toil abtrennty oder eine beliebige Menge eines ubereinstimmenden 6e-
bildes zufiigt, das Gleicbgewicht nicht gestort werden kann.
Da dies fiir jedes derartige Gebilde gilt, so wird es auch, wenn
zwei solche Gebilde untereinander im Gleicbgewicht sind, indem sie
zwei Phasen bilden, fiir jede dieser Pbasen Geltung haben. Die rela-
tiyen wie absoluten Mengen der Phasen haben somit keinen Einfloss
auf das Gleicbgewicht, und dieser Satz lasst sich, wie unmittelbar er-
sichtlich, auf ein Gleicbgewicht aus beliebig yielen Phasen erweitern.
Andererseits muss eine Phase fur sich im Gleicbgewicht sein, um
mit anderen Phasen zusammen im Gleicbgewicht sein zu konnen. Die
Gesetze des homogenen Gleichgewichts sind somit die allgemeinen
Gleichgewichtsgesetze und miissen in jeder Phase yoUkommen erfiillt
sein, gleichgiltig, ob nur diese eine Phase yorhanden ist, oder mehrere.
Die Gegenwart anderer Phasen beschrankt nur die Moglichkeiten der
Yeranderungen , gestattet aber keine Abweichungen yon den Gesetzen
des homogenen Gleichgewichts. Letztere sind, da sie sich auf den Fall
beziehen, dass das Gebilde aus einer cinzigen Phase besteht, die allge-
meinsten, indem sie n -j- 1 unabhangig Veranderliche enthalten.
Fiir eine Anzahl allgemeiner Gleichgewichte, wie Dampf — Fltissig-
keit, Salz — Losung ist uns diese Unabhangigkeit yon den Mengenyer*
haltnissen der Phasen gelaufig. Fiir chemische Gleichgewichte ist der
Satz im Falle fester Phasen yon Guldberg und Waage derart zum Aus-
druck gebracht word en, dass sie sagen, die wirksame Menge fester
StoflFe sei konstant (S. 109).
Abweichungen yon diesem Satze treten ein, wenn eine Phase in
sehr kleiner Menge oder auch zwar in endlicher Gesamtmenge, aber in
eine grosse Zahl sehr kleiner Massen zerteilt yorkommt; so hat Wasser
in Gestalt sehr kleiner Tropfchon sicher einen grosseren Dampfdruck
als Wasser in Masse, und ein StoiBF ist im Zustande sehr feiner Ver-
teilung loslicher als in groben Stiicken. Es riihrt dies daher, dass in
solchen Fallen die Oberflachenenergie der Stoffe einen messbaren Bmch*
teil ihrer gesamten Energie ausmacht, was bei makroskopiscben Massen
nicht der Fall ist. Die bier darzulegenden Gleichgewichtsgesetze sind
aber ohne Riicksicht auf die Oberflachenenergie entwickelt
6. Einteilongsprinsipien. Bereits in dem einfachsten Falle eines
einzigen Bestandteils lassen sich 15 wesentlich yerschiedene FtLlle
licher Gleichgewichtszustande unterscheiden. Es ist demnach
die moglichen Falle der Gleichgewichtszustande auf systematischer
Das cbemische Gleicfagewicht. 303
Grondlage za entwickelD, damit ein voUstandiger Uberblick gewonnen
and kein nioglicher Fall tiberseben wird.
AIb Einteilungsgrundlagen fiir die Betrachtung der moglicbeD Gleicb-
gewichte dienen folgende. In erster Linie die Zahl der unabbangigen
Bestandteile, aus denen die betrachteten Systeme gebildet werden konnen.
Der Begriff des nnabhangigen Bestandteils bedarf einer scharfen Be*
stimmiing, welcbe spater TorgeDommen werden wird.
In zweiter Linie dienen una die Freiheitsgrade des betrachteten
Gebildes, wie sie sich aus der Zahl der Phasen gemass der Phasenregel
ergeben. Nach dioser ist die Zahl von Phasen, die bei n Bestandteilen
nebeneinander bestehen konnen, gleich n-{-2; ein solches Gebilde kann
flor bei ganz bestimmten Werten der unabbangigen Veranderlichen be-
stehen und hat somit den Freiheitsgrad Null oder ist invariant. Sind
nor n 4" 1 Phasen zugegen, so entsteht ein Gebilde mit einer Freiheit
Oder ein monovariantes ^) Gebilde; bei n Phasen sind zwei Freiheiten
foritanden, oder das Gebilde ist divariant und so fort, bis bei einer
einzigen Phase n -{- 1 Freiheiten Yorhanden sind.
Es werden somit die Gebilde mit einem Bestandteil drei Gruppen
mit den Freibeitsgraden 0, 1 und 2 bilden; Gebilde aus zwei Bestand-
teilen bilden yier Gruppen mit 0, 1, 2 und 3 Freiheiten, und Gebilde
BBS n Bestandteilen n 4- 2 Gruppen mit 0, 1 , 2 .... n — 1 Freiheiten.
Jede dieser Gruppen kann nun nach einem dritten Prinzip unter-
geteilt werden 9 namlich nach den Aggregatzustanden der vorhandenen
Phasen. Dabei kommen folgende Eigentiimlichkeiten in Betracht.
Die Zahl der Dampfphasen kann Eins nicht iiberschreiten, da
&lle Case miteinander mischbar sind. Die Dampfphase ist im allge-
meinen Ton veranderlicher Zusammensetzung und Dichte.
Fliissige Phasen konnen in beliebiger Zahl nebeneinander be-
stehen. Sie sind im allgemeinen von veranderlicher Zusammensetzung
Bod Dichte, doch ist die Veranderlichkeit der Dichte mit dem Druck
in der Regel so klein, dass ihre Beschaffenheit als nur in geringem
Grade vom Druck abhangig ist und deshalb bei vielen Betrachtungen
in grosser Annaherung als unabhangig vom Druck angesehen werden
burn.
Feste Phasen konnen gleichfalls in beliebiger Anzahl nebenein-
ander bestehen; sie unterscheiden sich von den fliissigen durch den
Umstandy dass ihre Zusammensetzung konstant ist. Beziiglich des
Dmckes gelten die fiir Fliissigkeiten gemachten Angaben gleichfalls.
^) Die Bezeichnungsweise nonvariant, mono-, di- . . . variant ist von E. Trevor
vorgeichlagen werden.
304 II* Chemische Dynamik.
Der Begriff der festen Phase, wie er hier definiert ist, fallt nicht
ganz mit dem des festen Korpers zusammen. Denn bei den letzteren
ist zuweilen wechselnde Zusammensetzung moglich, wie bei den iso-
morphen Krystallgemischen nnd bei den festen Losongen iiberhanpi
Solcbe Falle sind dann zu den fliissigen Phasen zu rechnen. Man konnte
sogar prinzipiell einwenden, dass alle festen Korper als Losungsmittel
fiir Yorhandene StofiPe dienen konnen, dass somit die Gruppe der festen
Phasen streng definitionsgemass nicht besteht. Man kann dies zugeben,
ohne dass die theorotische Bedeutung dieser Gruppe als des Grenzfalles,
noch die praktische, als eines im Bereich unserer Messhilfsmittel liber-
aus haufigen Falles dadurch eine Einbusse erlitte.
Die charakteristische Eigentiimlichkeit der Gasphase liegt in der
grossen Veranderlichkeit der Dichte, die sie gestattet, wodurch sie sich
den mannigfaltigsten anderen Phasen zur Koexistenz anbeqnemen kann.
Die der festen Phase liegt darin, dass sie dnrch ihre Unveranderlioh-
keit die Konstanz des chemischen Potentials der in ihr enthaltenen
Stoffe in den koexistierenden Phasen bedingt.
7. Die mdgliohen FftUe. Bezeichnen wir die festen, flossigen
nnd gasformigen Phasen mit e, w und d (Eis, Wasser, Dampf), so
haben wir folgende Eombinationen fiir den Fall eines einzigen Stoffes,
der somit hochstens drei Phasen bilden kann:
Freibeitsgrad
Null eee eew eww www
eed ewd wwd
Eins ee ew ww
ed wd
Zwoi ewd
Insgesamt 15 Falle.
Haben wir zwei Stoffe mit vier Phasen, so giebt es folgende Falle:
Freibeitsgrad
Null eeee eeew eeww ewww wwww
eeed eewd ewwd wwwd
"^ www
ii.ms
eee
eew
eww
eed
ewd
wwd
Zwei
ee
ew
WW
ed
wd
Drei
0
w
d
Insgesamt 24 Falle.
Das chemisclie Gleicligewicht. 305
Vergleicht man diese Tabelle mit der vorigen, so ergiebt sicb, dass
in ibr nur die erste Gruppe mit der Freiheit Null nea ist. Die Gruppe
mit der Freiheit Eins stimmt vollkommen mit der Gruppe Null der
Yorigen Tabelle, und ebenso stimmen die Gruppen Zwei mit Eins und
Drei mit Zwei. Die Zahl der Falle hat sich somit um die der ersten
Gmppe vermehrt Nun bildet die Anzahl der Falle in jeder Gruppe
die Reihe der unpaaren Zahlen, 7 -j- 5 4- 3 = 15 in der ersten Tabelle
mi 9-J-7-f*5-f-3 = 24 in der zweiten. Man kann also die Zahl der
moglichen Falle fur die dritte Tabelle mit drei Bestandteilen gleich
24-)- 11 = 35 Torausbestimmen und erhalt die Tabelle aus der yorigen,
indem man in dieser die Freiheitsgrade um je Eins erhoht, und die
Dadi einem leicht ersichtlichen Gesetz aus der friiheren NuUgruppe zu
bildende neue NuUgruppe hinzufugt In gleicher Weise ergiebt sich
die Zahl der Falle fiir vier Bestandteile zu 48, fur fiinf zu 63, fiir
sechs zu 80 u. s. f.
8. Gleiohgewicht erster Ordnung. Eine Gkuiphase. Wenn es
anch bei den Gleichgewichten zweiter und hoherer Ordnung zweck-
massiger sein mag, von einem invarianten Gebilde auszugehen, und die
xnit dem Auftreten der Freiheitsgrade verbundenen Erscheinungen im
Anschluss an diese zu erortern, so. wird im Falle der Gleichgewichte
erster Ordnung, die aus einem einzigen Stoffe in dessen hylotropen Formen
sich entwickeln, der umgekehrte Weg anschaulicher sein. Wir beginnen
deshalb mit dem freiesten Fall, dass das ganze Gebilde aus einer ein-
zigen gasformigen Phase besteht, in welcher sich zwischen den verschie-
denen Formen des Stoffes ein Gleiohgewicht herstellt.
Die einzige MogUchkeit, die hier vorliegt, ist die isomere Umwand-
lung eines Gases in ein anderes. Diese isomere Umwandlung kann
entweder eine metamere oder polymere sein, d. h. es kann eine Um-
wandhmg ohne Yolumanderung eintreten, oder eine solche, bei welcher
die Volume der verschiedenen hylotropen Formen in einfachen rationalen
Verhaltnissen stehen. Beide Falle werden durch die Formel dargestellt
mA^nB,
wo A den Stoff im anfanglichen Zustande, B ihn nach der Umwand-
lung darstellt, und m und n die Molekularkoeffizienten sind. Das
Zeichen ^ soil besagen, dass die Reaktion vor- wie riickwarts statt-
finden kann und somit zu einem Gleiohgewicht fiihrt.
Das Gesetz, durch welches ein solches Gleiohgewicht geregelt wird,
laotet, wenn c^ die wirksame Menge oder, was im vorliegenden Falle
der Gase damit identisch ist, die Konzentration des urspriinglichen
Stoffes, und c, die des entstandenen ist,
Ostwftld, Chemie. 11,2. 2.Aafl. 20
306 n. Chemische Dynamik.
m
WO k eine Funktion der Temperatur sein kann, aber keine des Dmckes
Oder Volumens ist.
Die Ableitung der Formel kann auf zweierlei Wegen erfolgen: aus
der Geschwindigkeitsgleichung vermoge des Massenwirkungsgesetzes, and
aus energetischen Betrachtungen. Die erste Ableitung ist unmittelbarer,
die zweite allgemeiner. Da sie sich gegenscitig beleuchten, sollen sie
beide gegeben werden.
Dass eine Reaktion mit Gegenwirkung zu einem Oleichgewicht
fuhrty ist schon friiher betont worden. Haben wir eine solche Reaktion,
in welcber sich m Mole des ersten StofiPes in n Mole des zweiten um-
wandeln, und sind k^ und k, die zugehorigen GeschwindigkeitskoefS-
zienten, so gilt die Geschwindigkeitsgleichung
4^ = ki(a-x)--k,(b-x)»,
dx
und nach Eintritt des Gleichgewichts, wo -—- = 0 geworden ist, wenn
dxr
wir die zugehorigen Konzentrationen mit c^ und c, bezeichnen,
0 = kicr — k,C2 Oder — ^ = — i- = k.
Ci ^
Das Verhaltnis k der Geschwindigkeitskoeffizienten kann noch von
der Temperatur abhangen; von den Werten der Eonzentration und so-
mit des Druckes oder Volums ist es definitionsgemass frei.
Der Inhalt der Gleichung geht dahin, dass nur im Falle mz^n
der Druck einen Einfluss auf das Gleichgewicht hat, und zwar in sol-
chem Sinne, dass, wenn m>>n ist, also die Reaktion mit Volumver-
minderung verkniipft ist, bei steigendem Druck sich der zweite Stoff
yermehrt und umgekehrt Man sieht dies am leichtesten, wenn man
n
die Gleichung, indem man Vk == k' setzt, in der Gestalt schreibt
m
kf n
Pi •
1st m == n, also — = 1 > so andert sich das Volum bei der Re*
n
aktion nicht, und der Druck hat keinen Einfluss auf das Gleichgewicht*
indem p, und p^ bestandig proportional bleiben. Ist m^n, so ist der
Exponent von p^ positiv, d. h. wenn p, geandert wird, so muss sich
Pj weniger als proportional andern. Bei Verdoppelung des Druckes p^
Das chemische Gleichgewicht. 307
n
m
wird beispielsweise der Partialdruck p^ nur auf das 2 -fache steigen,
und es wird hernach relati? mehr des zweiten Stoffes, der unter Vo-
lomYerminderang aus dem ersten entsteht, vorhanden sein, als vorher.
Ebenso wirkt Volumvergrosserung dahin, dass relativ mehr von dem
ersten Stoffe sich bildet Umgekehrt ist es, wenn m<<n.
Bequemer iibersieht man die Beziehongen, wenn man das Yerhalt-
nis der beiden Teildrucke r = -^ bildet^ die obige Gleichung einfuhrt
Pi
und r nach p^ differenziert. Es ergiebt sich
.™ ^
P«
Pi
Pi
m _
dr , , m — n ^
^—z — Pi
n
dpi
Somit wird fur m = n die rechte Seite gleich Null, d. h. das Ver-
haltnis r=-^ ist unabhangig vom Druck. Fur m>-n ist -^ — posi-
tiy, d. h. bei zanehmendem Druck wachst das Yerhaltnis — an, es bil-
Pi
det sich mit anderen Worten der zweite, unter Volumverminderuug
entstehende Stoff auf Kosten des ersten. Umgekehrt verhalt es sich
bei der Volumvergrosserung unter Verminderung der Teildrucke.
Wir finden hier ein weiteres Beispiel flir die allgemeine Kegel,
dass bei einer Verschiebung des Gleichgewichts immer die Reaktion
eintritt, welche sich dem Zwang, durch den die Verschiebung bewirkt
wird, widersetzt. Es ist dies kein besonders herzuleitender Satz, sondern
eine unmittelbare Konsequenz der Definition des stabilen Gleichgewichts.
9. Energetisohe Ableitung der Massenwirkuiigsformel. Was die
eaergetische Ableitung der gleichen Formel anlangt, so machon wir
vom Prinzip der virtuellen Energieanderungen Gebrauch. Wir denken
nns das fragliche gasformige Gebilde im Gleichgewicht und benutzen
den Satz, dass bei einer virtuellen Verschiebung des Gleichgewichts
die Somme der Energieanderungen Null sein muss, wobei es im Begriffe
des Gleichgewichts liegt, dass keine neue Energieform auftreten soil.
Die homogene Gasphase besteht aus den beiden Bestandteilen A
uid B, deren Partialdrucke p^ und p, sein mogen. Bei einer virtuellen
Verschiebung des Gleichgewichts unter Konstanthaltung der Temperatur
iodert sich der Partialdruck von A um mdp^ und dor von B um ndp,,
vnd zwar haben beide Anderungen entgegengesetztes Zeichen. Die
Anderung der Volumenergie oder die aussere Arbeit bei einer unend-
20*
308 ^^* Ghemische Dynamik.
lich kleinen isothermen Druckanderang eines Gases ist pdv = — vdp =
— RX — = — RTdlnp, und die virtuelle Energieanderung bei der
P
Reaktion betragt somit iDSgesamt RT(n d In p^— m d In pj), und muss
;gleich Null sein. Aus
RT(n d In p^— m d In pj = 0
p5
erbalten wir d In — - = 0,
pr
und integriert
p° p*^
In — ^ = const. Oder — -=:ki,
wo die Konstante k^ nocb eine Temperaturfunktion sein kann.
Um von den Partialdrucken auf die Konzentrationen iiberzugehen,
1 — y y
bedienen wir uns der Definitionen c. = ~ und c« = — , wo y der
in die zweite Form libergegangene Anteil des Stoflfes, 1 die Gesamt-
menge (1 Mol) und v das Gesamtvolum ist. Andererseits sind die
Partialdrucke gleicb Pi = (l— y)p und Pj = yp, wo p der Gesamt-
druck ist. Wegen pv = RT haben wir pi = RT— ^ und p2=RT^,
und somit Ci = ^^ und c^ = -^- Wird dies in die Gleichgewichts-
gleichung gesetzt, so folgt
^ = CRT)^°'"°l const. Oder -^ = k,
die friihore Gleichung.
10. Bas VerhaLtnis bolder Ableitimgen. Die Gleichgewichtsforniel
wird in iibereinstimmender Form erbalten, ob man sie aus der Gesohwin-
digkeitsformel, der nur das Massenwirkungsgesetz zu Grunde liegt, ab*
leitet, Oder auf energetischem Wege, unter Voraussetzung der beiden
Hauptsatze und des Gasgesetzes. Es scheint auf den ersten Blick, daas
die erste Ableitung den Vorzug hat, weniger Voraussetzungen zu machen,
doch ist dies nur scheinbar. Denn das Gasgesetz ist nur eine Form
des Massenwirkungsgesetzes; die Moglichkeit, Konzentration und wirk*-
same Menge proportional zu setzen, wie das im Massenwirkungsgesetz
geschieht, liegt nur bei Gasen und verdiinnten Losungen vor, und zwB,r
ungefahr in demselben Umfange, wie die Giiltigkeit der Gasgesetze
reicht
Das chemische Gleichgewicht. 309
Ausserdem ist noch ein wesentlicher Unterschied vorhanden. Wenn
man das Gesetz der Massenwirkung anwendet, so ist bei der Formu-
lieruDg der Beaktion keine eindeutige Hegel yorhanden, wie man die
Molekularkoeffizienten bestimmt Schreibt man zufallig Aquivalent-
formeln statt der molekularen, so erbalt man andere Eoeffizienten, und
die Exponenten m und n der Gleichung werden andere. Die Regel,
dass man eben Molekebi und nicbt Aquivalente schreiben soil, ist
offenbar willkiirlich, da sie bestenfalls auf kinetische Hypotbesen iiber
die „Haufigkeit der Zusammenstosse*' begriindet werden kann» und man
ist auf den unmittelbaren Versuch angewiesen, um die ricbtigen Expo-
nenten ausfindig zu machen.
Dagegen ergiebt die energetiscbe Ableitung unmittelbar die Not-
wendigkeit der molekularen Formulierung. Hier liegt keineswegs die
ATogadrosche Hypotbese zu Grunde, sondern es sind rein erfabrungs-
massig die zu vergleichenden Mengen so gewablt, dass ibre Gaskon-
stante R den gleicben Wert annimmt. Davon bangt der Wert der iso-
thermen Arbeit RT.dlnp ab, und ob man in solcben Mengen, welcbe
gleiches R ergeben, eine gleicbe Anzabl Molekeln annimmt, oder gar
keine, ist fiir die Ableitung der Formel obne Belang. Thatsacblicb
geht demnach die energetiscbe Ableitung tiefer in die Sacbe ein und
fiihrt daber zu bestimmteren Ergebnissen. Dass sie dabei aucb auf die
Vorstellung des dynamiscben Gleicbgewicbts infolge der entgegenge-
setzten gleicben Reaktionsgescbwindigkeiten verzicbtet, mag erwabnt
werden. Die Angemessenbeit dieser Vorstellung stebt allerdings ausser
Frage, docb darf es immerbin als ein Yorzug der zweiten Ableitung
angeseben werden, dass aucb diese Yoraussetzung entbebrt werden kann.
Der wesentlicbste Yorzug der energetiscben Betracbtung ist indessen,
dass sie aucb iiber eine Frage Auskunft giebt, welcbe dem Massen-
wirkungsgesetze zur Zeit ganz unzuganglicb ist: die Frage nacb dem
Einflusse der Temperatur auf das Gleicbgewicbt. Es ist bereits in dem
▼origen Kapitel darauf bingewiesen worden, dass die einzige tbeoretiscbe
Aoskunft beziiglicb des Einflusses der Temperatur auf die Reaktions-
geschwindigkeit aus der Anwendung der energetisch abgeleiteten
Beziebung zwiscben Temperatur und Gleicbgewicbt sicb ergiebt; so-
mit kann natiirlicb von einer umgekebrten Ableitung nicbt die Rede
sein. In der obenstebenden Entwicklung des Gleichgewicbtsgesetzes ist
die Tirtoelle Anderung nur im Sinne der Druckanderung vorgenommeii
worden; das Ergebnis sagt daber nur etwas iiber den Einfluss des Druckes
auf das Gleicbgewicbt aus. Der Eiufluss der Temperatur wird sicb erst
ergeben, wenn wir den Zustand aucb nacb dieser Ricbtung virtuell andern.
310 I^* Chemische Dynamik.
11. Beziehnng zwisohen dem Gleiohgewioht und dem Gtesamt-
dmok. Der Einfluss des Druckes auf das Gleichgewicht ergiebt sich
aus der Isothermengleichung
JO.
= kx,
wenn man den Gesamtdruck P als Summe der Teildrucke p-hq ^'
stellt. 1st der Anteil der Gesamtmenge des Stoffes, der in die zweite
Form iibergegangen ist, gleich y, so ist der unverandert gebliebene Teil
1 — y, und die Teildrucke werden p = (l — y)P und q = yP. Dai-aus
woraus sich die Beziehung zwischen dem Gesamtdrucke P und dem
Zersetzungsgrade y ergiebt.
Man sieht aus der Formel, dass, wenn m>>n ist, beide Seiten der
Gleichung bei wachsendem Gesamtdruck P unbegrenzt zunehmen; so-
mit muss sich 1 — y gleichzeitig der Null nahern und y der Eins. Das
heisst, der Stoff mit dem kleineren Faktor n in der Molekulargleichung
wird auf Kosten des andern gebildet werden, wenn der Druck gestei-
gert wird. Da der Stoff mit dem kleineren Faktor der mit der grosse-
ren Dichte ist, so findet man den Satz wieder, dass durch Druckzu-
nahme die Reaktion befordert wird, welche Volumabnahme ergiebt
Umgekebrt verbalt es sich bei der Verminderung des Druckes P. Ist
m:=n, so verschwindet P aus der Gleichung, und der Druck hat
keinen Einfluss auf das Gleichgewicht.
Um Yon den vorkommenden Beziehungen eine anschauliche Vor-
stellung zu geben, babe ich nachstehend fiir die wichtigsten Falle
m = 2, n = l; m = 3, n = l; m = 4, n = l den Verlauf der Disso-
ciationsisotherme gezeichnet, indem die Eonstante k^ gleich Eins gesetzt
wurde. Um die Zeichnung fur jeden beliebigen Wert der Konstanten
anwendbar zu machen, hat man nur die Druckeinheit entsprechend zu
wahlen. Eine grosse Konstante k^ bedeutet, dass die Anderung des
Gleichgewichtszustandes wesentlich im Gebiete der kleinen Drucke er*
folgt, und umgekebrt.
Wie man sieht, verhaltcn sich die verschiedenen Kurven alle ilber-
einstimmend. Mit steigendem Druck nimmt das Verhaltnis des dichteren
Bestandteils zunachst am schnellsten, dann immer langsamer zu, und
zwar ist der Druckeinfluss um so grosser, je mehr die beiden Koeffi->
zienten verschieden sind, und umgekebrt
Dai chemiBche Glelcfagewlcht. 311
Dem entsprechend yerlaufen die Kurveo um so flaober, je grSsser
das Verhaltnie m:Q vird; umgekehrt h&t die Kurve io der N^e tod
7=0>& eiiiQ um bo scharfere Biegung, je naher das Verhaltnia m:n
der Eins kammt Fiir den Grenzfall m^D gebt die Enrve in eia
Gebilde iiber, das sich aua zwei rechtwinklig zueinander stehendea
Fig. 7.
Geiaden zasammensetzt, iodeDi die Kurve von y^O-0 bia y^O-5 in
der AbscisseQaze von dort als senkrecbte Ordinate rerlaufen wUrde.
Dies bedentet sacbgemass, dass im Falle der Reaktiou obne Volum-
indemng der Druck keineo Einfluss auf das Gleichgewicht bat. Das&
die Knrre in der Ordinate 7^0-5 liegt, bat naturlicb seinen Grand
in der willbiirlicheu Annahme k^ = 1.
312 n. Ghemische Dynamik.
12. Das TemperatnigesetB. Um das Temperaiiurgesetz dieses Gleich-
gewichtes kennen zu lernen, denken wir uns mit dem Gebilde einen
Kreisprozess innerhalb der Isotbermen fur T — dT ausgefiihri Dann
besteht die Gleichung (II, 1, 482)
dT_dQ
T ~ Q '
wo dQ der in Volumenergie umgesetzte Anteil der beim Yorgang be-
thatigten WarmemeDge ist.
Wir nehmen eine grosse Menge des Gemisches und andern bei
koDstantem Druck das Volum so, dass mdx Teile der ersten Form ver-
schwinden und ndx der zweiten entstehen. Dadurch gebt der Partial-
druck der ersten um mdp^ herunter und der des zweiten um ndp,
herauf. Nun ist die Volumenergie, die ein Gas bei der isothermen
Anderung des Druckes um dp aufnimmt, fiir ein Mol gleicb RTd In p;
daraus folgt
dT RT(ndlnp,— mdlnpi) RT , , P?
-r= Q =-Q-^^"F
P?
din
Oder
pr Q
dT RT«
welches die gesuchte Gleichung ist. In dieser sind Q und R auf gleiche
Gasmengen, also unserem Gebrauch gemass auf ein Mol zu bezieben,
und Q stellt die gesamte Warmemenge dar, welche das Gas aufnimmt,
wenn sich bei konstanter Temperatur und konstantem Druck m Mol
des ersten Gases in n Mol des zweiten verwandeln; Q ist also die
Warmetonung fiir die umgekehrte Reaktion bei konstantem Druck.
Um den Gleichgewichtskoeffizienten k in die Gleichung einzu-
fiihren, substituieren wir dessen Wert aus der Gleichung:
^1 Pi
Wir erhalten zunachst durch Logarithmieren und Dififerenzieren
dlnk = dln4 + -^^^dT.
. , .^ dink Q , m— n Q— (n— m)RT
unci damit — ,^ = -^^r^i;^ H ?r> — =^ ^^^ •
dX RT* T RT*
Das chemische Gleichgewicht. 313
Der Ausdruck (n — in)RT hat eine einfache Bedeutung: da beim
Verschwinden eines Mols Gas die Volumenergie um py = RT zunimmt,
80 stellt (n — iu)RT die beim Verschwinden yon n Mol des zweiten und
beim Entstehen von m Mol des ^rsten Gases aufgenommene Energie dar.
Somit ist Q — (n — m)RT = q die Warmemenge, die bei dem betrach-
teten Yorgang aufgeuommen wird, wenn dabei keine Yolumanderung
stattfindet, oder die WarmetoDung der Uwandlung des zweiten
Gases in das erste bei konstantem Volum, und wir konnen die
Gleichung einfacber scbreiben
d In k q
"dT"~RT«'
Diese Gleichung ist zuerst allgemein von van't Hoff^) aufgestellt
worden, wenn sich auch die entsprechende Betrachtungsweise, welcbe
2am Temperatorkoeffizienten des Gleicbgewichts bei Gasen fuhrt, schon
froher bei Guldberg and Gibbs angewendet findet. Sie besagt folgendes.
Die Verschiebung des Gleicbgewichts nach der Temperatur erfolgt
proportional der Reaktionswarme bei konstantem Volum und hat das
gleiche Zeichen wie diese. Wird bei der Reaktion Warme aufgenommen
(q=:positiY), so nimmt auch der Gleichgewichtskoeffizient zu, d. h. die
Reaktion schreitet mit steigender Temperatur vor, und umgekehrt. Es
wird also mit steigender Temperatur die Reaktion begiinstigt, welche
Wanne yerbraucht, d. h. sich der Temperatursteigemng widersetzt: ein
neues Beispiel fiir einen mehrfach ausgesprochenen Satz.
Ist q NuUy so wird Ink und damit k unabhangig yon der Tem-
peratur: das Gleichgewicht yerschiebt sich nicht» wenn man die Tem-
peratur andert
Wird T sehr gross, so konyergiert ^ gleichfalls gegen Null:
bei hoher Temperatur wird das Gleichgewicht unabhangig yon der
Temperatur. Es folgt nicht notwendig, dass etwa k = oo wird, oder
die mit Warmeyerbrauch yerbundene Reaktion yoUstandig wird, wie
das haufig angenommen wird.
Die Gleichung ist bier fiir den Fall' der Umsetzung eines Gases
in ein anderes, gleichzusammengesetztes entwickelt worden. Doch ist
diese Voraussetzung nicht wesentlich, und die Entwicklung andert sich
nicht, wenn auch die m Molekeln des ersten Gases und die n Molekeln
des zweiten yerschiedene Zusammensetzung haben. Ebenso ist es ohne
Belang, wenn sich nichtfliichtige Stoffe an dem Vorgange beteiligen:
>) Kgl. Syenska Yet-Ak. Handl. 21, Nr. 17. 1885.
314 n. Chemische Dynamik.
endlich lasst sich die Gleichung ohne weitereB auf den Fall, dass
mehrere Gase entstehen und verschwindeiiy erweitern. Sie geht dann
in ihrer ersten Form in den Ausdruck iiber
d j^ q?\q?.q5«.... __ q
wo p^, P2, Ps**** die Teildrncke der yerschwindenden^ q^, q,, qs*...
die entstehenden Gase, und m^, m,, m^...., bez. n^, n^, n, die
entsprechenden Molekularkoeffizienten sind. Geht man yon den Teil-
dmcken auf die Eonzentrationen iiber, so erhalt man wieder die ein-
fache, und somit ganz allgemeine F'orm
dink q
dT ~RT«'
Auf diese letzteren Bemerkungen wird spater Bezug genommen yirerden.
13. Die IntegralfbrmeL Die Integration der Gleichung lnk =
:^=^dT lasst sich nicht allgemein ausfiihren, da man q nicht ak
unabbangig yon der Temperatur ansehen darf. Thut man dies zom
Behufe der ersten Annaherung, so folgt
/
<i
liik = — ^5^ + C Oder k = Ce **,
yro G die Integrationskonstante ist
Sodann kann man die Reaktionswarme in der Gestalt q = qo 4~ /''^
setzen, welche folgende Bedeutung hat. Ist die gesamte Warmekapazitat
der Ausgangsstofife Ca yerschieden yon der der Produkte Ce, so wird
die Warmetonung yon der Temperatur abhangig, indem sie sich fiir
jeden Grad um Ca — Ce> fiir den Temperaturunterschied also um (ca — Ce)
yermehrt (U, 1, 79) und erhalt die Form qo + /3T, wie angenommen.
Das Integral ist
Oder k = C.e ^^.T^^-
Von diesen Formeln ist bisher meist die erste gepriift worden, und hat
oft eine geniigende Annaherung innerhalb nicht allzuweiter Temperatur-
grenzen gegeben.
Aus der ersten Integralformel ergiebt sich, dass fiir T = 00 der
Gleichgewichtskoeffizient k = C wird, also einen endlichen Wert behalL
Die zweite dagegen ergiebt k = oo fiir T=:oo. Man darf weder aus
Das chemische Gleichgewicht. 315
der ersten schliessen, dass bei unbegrenzt hoher Temperatur die Zer-
setznng endlich bleibt, wie dies yoq einigen Autoren geschehen ist,
noch aus der zweiten, dass sie voUstandig wird, was dem Werte k = oo
entsprechen wiirde; sondern es bleibt nur iibrig, hervorzuheben, dass,
80 lange wir iiber das Verhalten der Reaktionswarme bei sebr hohen
Temperaturen nichts wissen, jeder derartige Schluss die Grenzen der
ErfahruDg liberschreitet und nur den Wert einer mehr oder weniger
begriindeten Yermntung hat.
Auf eine Anwendung von Belang, welche yon der ersten Integral-
formel von van't Hofif^) und Boltzmann') gemacht worden ist, soil
Boch hingewiesen werden. Bestimmt man k fiir zwei nicht zu weit
aoseinander liegende Temperaturen, innerhalb deren man q = const.
Toraussetzen kann, so folgt aus
lnk, = -^ + C und lnk,= -^^ + C
Ink. -Ink, = 1(4— 4-) Oder ^^^0"^.-!°^.
* * R \T, T,/ ^ 1 1
Hiemach ergiebt sich die Moglichkeit, aus der Verschiebung des
Gleichgewichtskoeffizienten mit der Temperatur einen Schluss auf die
Reaktionswarme zu Ziehen. Dieses Verfahren ist insbesondere bei hohen
Temperaturen wertvoU, weil kalorimetrische Versuche unter solchen
Umstanden meist weit schwieriger auszufuhren sind, als Bestimmungen
des Gleichgewichtszustandes. An spateren Stellen soil gelegentlich der
Einzeluntersuchungen auf die verschiedenen Anwendungen der Formel
bingewiesen werden.
14. GraphiBohe Darstellnng dea TemperatoreixifluaseB. Um femer
«in Bild von der Veranderung des Gleichgewichtszustandes mit der
Temperatur zu erhalten, benutzen wir die voUstandigere Formel
lnk = --^^ + |-lnT + C,
welche wir, da es auf die Einheiten nicht ankommt, vereinfachen auf
logk=-^+logT.
Wird L=10 gesetzt, so erhalten wir ein Bild, welches vorhandenen
Beobachtungen entspricht. Die Rechnung wurde ausgefiihrt, indem
*) fitudes 127.
■) Wied. Ann. 22, 68. 1884.
316
II. Ghemische Dynamik.
Werte von 1, 2 ... . fur T gesetzt, daraus log k berechnet, und aus dem
80 gefundenen Werte von k der Zersetzungsgrad y mittcls der Kurven
Fig. 8 abgelesen wurde. Hierbei wurde der Fall m : n = 2 : 1 ange-
nommen, da dieser der einzige bisher beobachtete ist. Ausserdem
wurden die Falle L = 5 und L = 20 berechnet und eingetragen. Die
Eurven gelten fur konstanten Druck und nahem sich deshalb bei stei-
gender Temperatur dem Werte y=l.
Das Gharakteristische dieser Erscheinungen, dass die Zersetzung
fiir eine Reihe anfanglicher Werte von T sehr klein ist und dann fast
plotzlich in das Gebiet der Messbarkeit ubertritt, tritt sehr deutlich
zu Tage. Dieser Teil der Erscheinung hangt wesentlich Yom Werte L
70 T
ab; je grosser L ist, um so langer behalt logk sehr kleiue Werte. Das
heisst: die Dissociation tritt caeteris paribus bei um so hoheren Tempera-
turen auf, je grosser die Dissociationswarme ist. Die Erfahrung bestatigt
im allgemeinen diesen Schluss, doch kann die Formel eine Integrations-
konstante neben — -j^ enthalten, durch welche mehr oder weniger be-
deutende Abweichungen von dieser einfachen Beziehung verursacht werden.
15. Der Temperattirko§ffizient der Beaktionsgesohwindi^keit. JELs
ist hier der Ort, auf die Anwendung der Gleichung fiir die Beurteilung
des Einflusses der Temperatur auf die Reaktionsgeschwindigkeit hinza*
deuten. An friiherer Stelle ist darauf verwiesen word en, dass die
Gleichgcwichtsformel einen derartigen Anhalt gicbt, und dieser ist der
folgende.
Das chemische Gleichgewicht. 317
Da ein chemisches Gleichgewicht als das Ergebnis entgegengesetzt
gleicher Reaktionsgeschwindigkeiten aufgefasst werden kann, so kann
in der Gleichung
dink q
dT "~ RT*
der Gleichgewichtskoeffizient k durch das Verhaltnis zweier Geschwin-
digkeitskoeffizienten k^ und k^ ersetzt werden, so dass man hat k =
^il^ ^nd d(lnk^ — Ink,) _ q
dT ""RT«'
Nun lasst sich allerdings aus einer solchen Gleichung nichts mehr
uber die Form der Temperaturfunktion fiir Ink^ und Ink, schliessen,
als dass die vorhandenen Glieder fur beide Eoeffizienten soweit gleich
sind, am sich bis aaf den Wert -^^ gegenseitig aufzuheben. Doch
lasst sich immerhin vermuten, dass diese sich auf hebenden Glieder ein-
facher Beschaffenheit sind, und als erste Moglichkeit stellt sich die
dar, dass sie sich auf je eine gleiche Konstante reduzieren. Nennen
wir diese B^, und A den Koeffizienten von -mj-fso dass A^— A, = ^j,
so folgt die Yon van't Hofif vorgeschlagene Formel
-^ = A- + B, Oder lnk, = -^ + B,T + C,.
Ton deren Priifung und Anwendung bereits die Rede gewesen ist
16. Beispiele. Der erste FalL Nach dieser allgemeinen Cbersicht
sollen die in der Litteratur vorhandenen Beispiele von Gleichgewichts-
znstanden erster Art hier im einzelnen erortert werden.
Ein Yorgang, bei welchem sich ein Gas ohne Yolumauderung in ein
anderes yerwandelt, ist experimentell nicht erforscht Unmoglich erscheint
ein solcher Fall durchaus nicht , insbesondere ist eine grossere Anzahl
organischer Verbindungon bekannt, welche sich ineinander umwandeln
nnd fliichtig sind. So yerwandelt sich z. B. moglichst reine Isocroton-
saure bei der Destination teilweise in Crotonsaure, destilliert aber zum
grosseren Teile unverandert iiber; andererseits kann man Crotonsaure
destiUieren, ohne sie zu verandern^). Daraus geht hervor^ dass die
^) Es ist wahrscheinlich, dass sich der destillierten dotons&ure etwas Ibo-
crotoas&Qre beimischen wird, da der im Gleichgewicht befindliche Dampf beide
Stoffe nebeneinander enthalten muss. Dass man solche bisher nicht beobachtet
bat, liegt wohl daran, dass das Gleichgewicht offenbar bei stark Qberwlegender
Menge des OrotoDS&oredampfes liegt und dass die Bildungsgeschwindigkeit des
Itocrotonsfturedampfes sehr klein ist
318 n. Ghemische Dynamik.
beiden Sauren im Dampfzustande ihre Eigentiimlichkeit bewahren, und
da ihre Molekulargrosse und Dampfdichte gleich ist, so haben wir hier
den Fall, dass ein gasformiger Stoff in zwei Formen moglich ist 9 die
nicht nur isomer> sondern auch bylotrop sind, d. h. die nicht nur gleiche
Zusammensetzung haben, sondern auch sich gegenseitig umwandeln
lassen.
Gleiches gilt fur eine Anzahl anderer Stofife, die sich ineinander
umwandeln, wie Brenzterebinsaure und Isocaprolacton u. a. In keinem
dieser Falle ist indessen bisher eine auf die moglichen Gleichgewichts-
Yerhaltnisse im gasformigen Zustande gerichtete Untersuchung angestellt
worden.
Das theoretisch vorauszusehende Verhalten ware hier nach dem
Gesagten, dass sich nach langerem Verweilen bei bestimmter Tempe-
ratur und bestimmtem Drucke ein Gleichgewicht zwischen beiden Formen
herstellen miisste, welches unabhangig yon der urspriinglichen Zusammen-
setzung und unabhangig vom Volum ware. Dagegen ist eine Abhangig-
keit Yon der Temperatur zu erwarten, und zwar gemass der allgemeinen
Kegel in solchem Sinne, dass mit steigender Temperatur sich das Gleich-
gewicht so yerschiebt, dass der zugehorige Vorgang Warme verbraucht.
17. Der ssweite Fall. Etwas mannigfaltigere Verhaltnisse treten
ein, wenn man die Exponenten m und n verschieden macht, d. h. wena
die hylotropen Formen yerschiedene Dampfdichte oder Molekulargrosse
haben. Hier treffen wir auf den Fall, der das zuerst und bisher auch
am besten untersuchte Beispiel eines homogenen Gleichgewichts im
Gaszustande darstellt, die Reaktion 2N0^ = N^0^. Bezieht sich p auf
die erste, q auf die zweite Form, so hat die Gleichgewichtsgleichung
die Gestalt kp« = rq, oder wenn wir die beiden Geschwindigkeits-
koeffizienten yereinigen und als Funktionen der Temperatur bezeichneD,
p*/q = f(t).
Hier ist das Gleichgewicht yom Drucke abhangig (wie im allge--
meinen auch yon der Temperatur), da der Formel gemass sich das
Volum bei der Umwandlung auf seinen halben Wert yermindert.
Zur Kenntnis der Grossen p und q gelangt man durch die Messung
der bei einem gemessenen Drucke yorhandenen Gasdichte. Sehen wir
zunachst yon den Abweichungen der beteiligten Gase yon den Gas*
gesetzen ab, so ist die Dichte der Form NO^ die Halfte yon der der
Form N'O^; bezeichnet man die erste mit d, so ist die zweite 2d«
Die Dichte eines bei bestimmter Temperatur und bestimmtem Drucke
beobachteten Gemisches sei D. Nennen wir den in die zweite Form
iibergegangenen Bruchteil der urspriinglichen Menge 7, so konnen -wir
Daa chemische Oleichgewicht. 319
das Gemisch als aus entsprechenden Volumen der beiden Bestandteile
bei dem gemeinsamen Gesamtdracke bestehend ansehen. Da die Volume
den Dichten umgekehrt proportional sind» so folgt die Gleichang
1 _i-y , y
D~ d ■^2d'
2(D — d) , , 2d — D
woraus y=— i~- — ^ und 1— y =
D — ' D
Die wirksamen Mengen p und q der Gleichgewichtsformel sind
1 — y y
— 7~- und -~, wo V das Volum der Mengeneinheit (ein Mol) des Ge-
miscfaes ist. Ersetzt man Y durch den umgekehrt proportionalen Druck
P, am experimentell gemessene Werte in der Formel zu haben, so ist
p = (l— y)P und q = yP, und beim Einfuhren in die Gleichgewichts-
gleichnng kommt
Oder wenu man j durch die Dichten ausdriickt,
(2d— D)»P
2D(D— d)
= f(t).
Die Gleichung stellt allgemein fiir die Umwandlung eines Gases in
eiu anderes von doppelter Dichte die Beziehung zwischen dem Drucke P
and der Dichte D des Gemisches dar. Sie ist in Bezug auf d und D
Tom Grade Null; es ist also gleichgiiltig, in welcher Einheit man diese
ausdriickt Wird der Druck P in einer beliebigen Einheit gemessen,
80 bedingt dies einen entsprechenden Faktor zur Grosse f(t); will man
ein rationelles Mass fiir ihn, so ware gemass der oben benutzten Be-
ziehung -r=- = P der Druck Eins der, welcher unter Voraussetzung der
Gasgeeetze ein Mol eines Gases auf das Volum Eins (1 ccm) bringt;
diese Druckeinheit ware (ygL I, 165^)) gleich 22376(1 + at) Atmo-
sph&ren. Soil der Druck in Atmospharen gerechnet werden, so ist
') An der angefflhrten Stella (Lehrb. I, 165, Zeile 9 y. o.) befindet sich ein
Dnickfehler; es mass helssen:
das Molekularvolum 22376 !iil±f[i^
320 n. Ghemische Dynamik.
18. SticskstofPhyperoxyd. Sine Prufang der Formel ist zuerst am
Stickstoffhyperoxyd Yorgenommen worden. Ausser alteren Yersachen
von Playf'air und Wanklin^), Troost*), Naumann*), Guldberg und Waage*)
liegen neuere, sehr genaue von E. und L. Natanson^) vor, welche die
Abhangigkeit der Dissociation dieses Stoffes sowohl vom Druck wie
von der Temperatur erkennen lassen. Da die Autoren nur die in der
zweiten Mitteilung gegebenen Messungen aJs definitiv ansehen, so gebe
ich nur diese; iiber die etwas komplizierte» aber einwurfsfreie Methode
ist die Abhandlung nacbzusehen.
Die nachstehenden Tabellen geben die bei konstanter Temperatur
und wechselndem Drucke beobachteten Dichten, die Dissociations-
isothermen.
Temp. — 0«
p
D
Dber.
Diff.
1-y
3796
2-483
2-545
— 0-062
0-289
8657
2-674
2-720
— 0-046
0-197
17248
2-820
2837
0-017
0137
25066
2903
2-892
Temp. = 21.00*
+ 0011
0102
49160
2-684
2-664
+ 0-020
0-192
51-696
2-702
2-676
+ 0026
0-184
55*650
2-712
2-681
+ 0-021
0-180
63917
2-746
2-717
Temp. = 49-70"
+ 0-029
0*166
2680
1-663
1655
+ 0-008
0-930
9.375
1788
1-782
+ 0-006
0789
18-269
1-894
1-901
— 0-007
0-690
26-137
1-963
1-977
— 0-014
0-630
49-774
2-144
2-143
Temp. =- 73-70"
+ 0001
0-493
4-965
1-632
1-616
+ 0-016
0-964
6475
1-643
1-625
+ 0-018
0-950
6-772
1-632
1-626
+ 0006
0-963
10747
1-660
1-646
+ 0014
0930
16-459
1679
1672
+ 0007
0-908
30204
1740
1.7-29
+ 0011
0846
50-414
1813
1-801
+ 0012
0-767
63327
1853
1-840
+ 0013
0-728
') Proc. Roy. Soc. £dinb. 4, 395. 1862. >) G. r. 86, 1395. 1878.
») Ber. 11, 2045. 1878. *) J. pr. Ch. (2) 19, 69. 1879.
*) Wied. Ann. 24, 454. 1885 und 27, 606. 1886.
Das chemische Gleichgewicht. 321
Temp. — 9980^
p
D
Dber.
Diff.
1-y
1178
1-603
1.592
+ 0011
0997
2322
1602
1594
+ 0-008
0998
3480
1.611
1595
+ 0-006
0-986
5-735
1.608
1-597
+ 0011
0-990
7.957
1.618
1600
+ 0-018
0-978
8-967
1611
1-602
+ 0.009
0-988
10-865
1614
1-604
+ 0-010
0-984
11-658
1612
1-605
+ 0007
0-986
14229
1614
1-608
+ 0-006
0-984
20-224
1-626
1-616
+ 0-010
0-969
37-127
1647
1-636
+ 0-011
0-944
52-098
1-665
1-652
+ 0013
0-923
62-531
1682
1-668
0-016
0-904
67-538
1682
1669
0013
0-904
73251
1-693
1-676
Temp. — 129-90'^
0017
0892
3.599
1-599
1592
+ 0-007
0-999
6694
1-600
1-592
+ 0-008
0-999
7-873
1599
1593
+ 0-006
0-999
10.477
1598
1-594
+ 0-004
0-099
15-246
1.595
1595
-H 0-000
1-000
16.971
1-600
1-596
+ 0-004
0-999
24-786
1601
1-598
+ 0.003
0-998
29-795
1-597
1.599
+ 0002
1-000
55-079
1-608
1-607
Temp. « 15140*
+ 0-001
0-992
11.798
1591
1592
— 0-001
1.000
47541
1588
1-596
0-008
0-999
66622
1.593
1598
0-005
1000
Wie man aus den Werten der Differenzen ersieht, wird im all-
gemeinen die Theorie sehr gut von der Erfabrung bestatigt, indem die
Uaterschiede selten mehr als ein Prozent betragen. Indessen fallt die
Regehnassigkeit im Zeichen der vorhandenen Abweichungen auf, und
beanspmcht ein naheres Eingeben.
Die unter ^berecbnet" angegebenen Werte der Dichte sind erhalten
worden, indem die Werte der Eonstanten der Formel auf S. 319 nacb
Redmungen von Gibbs, fiber welche weiter anten berichtet werden wird,
^enommen wnrden; fur d wurde der aus dem Molekulargewicht berecb-
oete Wert d= 1*5900 gesetzt. Die Autoren zeigen nun, dass, wenn man die
Beziebnng zwischen Druck und Dichte graphiscb auftragt, die Isothermen
^ den Druck Null, wo die Zersetzung theoretisch voUstandig ist, nicht
^of den Wert D = 1*5900 fuhren, sondern auf folgende Grenzwerte:
Ostvald, Chemle. U,i. 2.Aufl. 21
322 ^I* Ghemische Dynamik.
Temp. 73-7®
lim. D -» 1.602
k » 454
99-8
1601
1937
129-9
1597
13128
1574
1590
88261
Gleichzeitig sind die Werte der Konstanten angegeben. Mit diesen
Grossen lasst sicb die theoretische Formel vollig den Beobachtnngen
anpassen.
Die Autoren zogern, den so erhaltenen Werten von lim. D, welcher
die Dichte des vollstandig dissociierten Hyperoxyds darstellt, eine physi-
kaliscbe Bedeutnng zuzuscbreiben, doch, wie mir scbeint, mit Unrecht
Der Gang dieser Werte zeigt sicb sehr abnlicb dem, welcben die Dicbte
des Cblor- oder Bromgases bei steigender Temperatur einbalt (I, 163
und 164)» so dass ein gleiches Yerhalten des Gases NO' keineswegs
unwabrscbeinlich ist
Die den verscbiedenen Temperaturen angeborigen Dicbten zeigen
in deutlicbster Weise den Einfluss der Temperatur auf die Dissociation.
Icb babe, um dies noob anscbaulicber zu macben, die Dissociationsgrade
1 — y = =r — binzugefiigt^ wie man siebt, sind bei 100® erst zwei
Proz. N*0* vorbanden, wenn der Druck 12 cm ubersteigt, und bei 130®
und 151® ist die Yerbindung so gut wie vollstandig dissociiert.
19. Der Temperatoreinfliiss. Fiir den Einfluss der Temperatur
auf die Dissociation des Stickstoff byperoxyds bat W. Gibbs ^) nach den
Messungen von Deville und Troost') die nacbstebende Formel entwickelt
(vgl. S. 139 u. 140):
. (3>178-D)«P Q,__ 3118-6
^"8 2(D-1.589) =947056 ^.
Hierin ist D die beobacbtete, auf Luft bezogene Dicbte, 1-589 und
3*178 deren Grenzwerte. Der Druck P ist in Atmospb&ren gemessen
und ist bei den Versucben von Deville und Troost stets gleicb Eins,
die Logaritbmen sind Briggscbe. Daraus ergiebt sicb
D = 3-178 + 6 — Ve(3.178 + e),
worin log 6 = 947056 - ^^^ — log P
ist Die Tabelle, welcbe den Vergleicb zwiscben Messung und Rechnung
giebt, ist bereits (S. 140) mitgeteilt worden.
^) Thermodyn. Stadien. S. 209.
«) a r. 64, 27S. 1867.
Das chemische Gleichgewicht. 323^
£. UDd L. Natanson fanden bei ihren Versuchen, wie erwahnt, die
Notwendigkeit, statt der theoretischen Dichten empirische einzufuhren.
Die mit diesen erhaltenen Werte ^) des Koeffizienten A in der Gleichung
(2d-D)« p_,
2(D-d) ''-'^ _„
lasseo sich durch die einfache Gleichung A = Me ^ von Gibbs- nicbt
darstellen, ebensowenig durch eine yon Boltzmann vorgeschlagene
a
A =r M e * . T. Fiir eine Priifang des YoUstandigeren Ausdruckes^
a
A=Me *.T/^ reichten die Beobacbtangen nicht. Die A- Werte waren:.
Temp.
Beob.
Ber. nach Gibbs
Ber. nach Boltzmann-
787 «
4542
4542
—
99*8
19369
19369
33979
1299
181284
81658
251190
1514
882614
201419
..^
Die Abweichongen der A -Werte bei hoberen Temperaturen er*
Kheinen enorm, entsprechen aber nur geringen Unterschieden der be-
obachteten Dichten.
20. Guldberg und Waages Bereohnnng. Im Jahre 1879 baben
Gnldberg nnd Waage unter Anwendung auf den gleichen Fall eine
Theorie der Dissociation gegeben, welche in ihren Ergebnissen aller-
dings mit den Erfahrungen in Ubereinstimmung gebracht ist, deren
Pramissen') aber unzulassig sind. Die Autoren finden zunacbst, dass,
wenn ein Gas in mehrere andere, z. B. drei zerfallt, die Geschwindig-
keit der Riickbildung gegeben ist durch kp^q/'r^ wo p, q und r die
Mengen der drei entstandenen Gase und a, j}, / die Zahl der Molekeln
der Komponenten sind, welche zu einer Molekel der urspriinglichen
Verbindung zusammentreten. Sie fahren dann folgendermassen fort:
lyFassen wir zunacbst einen speziellen Fall ins Auge, indem wir
annefamen, dass nur eben gerade vollstandige Dissociation eingetreten
isty wie sich dies fur die yerscbiedenen Temperaturen durch Anwendung
eines genugend niedrigen Druckes erreichen lasst. In diesem Falle ist
ee gleichgiiltig, ob die urspriingliche Verbindung fest oder gasformig
ist, nnd die Gleichnng p"q/'r>' = f(t) kann also auch hier in Anwen-
«) Wied. Ann. 27, 617. 1886.
*) Dietelben shid schon von G. Lemoine (Encycl. chim. I, 2, 809. Paris 1892),
doch okoe n&here Begrflndung, beanstandet worden.
21*
324 II* Chemische Dynamik.
dung gebracht werden. Um den Gleichgewichtszustand in diesem Falle,
wo also YoUstandige Dissociation eingetreten ist, uns geniigond erklaren
zu konnen, werden wir uns nun vorstellen miissen, dass in jeder Zeit-
einheit sich immer eine gewisse Menge der Verbindung aus den Be-
standteilen bildet, die sich aber sofort, und in derselben Zeit, aufs neue
wieder durch Dissociation in ihre Bestandteile auflost. Diese Menge
konnen wir also als eine Funktion der Temperatur ansehen, und be-
zeichnen wir dieselbe durch F(t), so kann die Gleicbung geschrieben
werden
kp«q/*ry = k'F(t).
Betrachten wir nun den allgemeinen Fall, wo sich neben den
Mengen p, q und r der dissociierten Bestandteile noch die Menge P
der urspriinglichen Verbindung vorfindet, so wird, dem entsprechend, die
aktive Masse der urspriinglichen Verbindung im Gleichgewichtszustande
gleich P-(-F(t) zu setzen sein. Die Geschwindigkeit, mit welcher die
Dissociation yor sich geht, wird demgemass durch k'rP-4-'F(t)] auszu-
driicken sein, und die Gleichgewichtsgleichung lautet somit kp"q/'r3^ =
k'(P+F(t))."
Das Unhaltbare in dieser Ableitung ist offenbar die Grosse F(t)*
Ist Yorausgesetzt, dass die Dissociation voUstandig sei, so kann der Yon
den Autoren angenommene Prozess der Bildung einer gewissen Menge
der Verbindung, die sich „sofort*' wieder zersetzt, gar nicht stattfinden,
da die Geschwindigkeit der Bildung und Zersetzung nicht Yoneinander
unabhangig sind. Wenn also F(t) eine Bedeutung hat, so ist es die
einer unendlich kleinen Grosse, und als solche muss sie in der Schluss-
gleichung neben P Yerschwinden.
Dasselbe ergiebt sich aus der Form der Gleichung, zu welcher die
Autoren bei der Anwendung auf Stlckstoffhyperoxyd gelangen, Ist x
der Partialdruck der unzersetzten, jt der der zersetzten Verbindung, ao
finden sie Jt'* = tp(jr + 1), wo ^ und 1 Yon der Temperatur, nicht aber
Yom Druck abhangen. Setzt man hierin jr=:0, so dass die urspriing-
liche Verbindung Yollstandig zersetzt ist, so ist 3t^ = ^\ und die
Autoren sagen: „Die Grosse 1 bedeutet also den Partialdruck, welcher
Yon der in der Zeiteiuheit gebildeten Menge der Verbindung ausgeiibt
wird.** Dies heisst aber doch nichts anderes, als dass trotz YoUstau-
diger Zersetzung die Zersetzung nicht Yollstandig ist, und die Gleichang
hat wieder nur einen Sinn, wenn 1 gegen x unbegrenzt klein ist Tit>tz-
dem stimmt sie ganz gut mit der Erfahrung, wie die nachstehende
Tabelle ausweist, in der 1=1-0 cm gesetzt ist
Das chemische Gleicbgewicht. 325
Temp.
Drack
V
1— ybeob.
1 — yber
57 •
157
76.0
990
0-49
0-50
407
990
064
0.63
r29.8
'29-8
76-0
U'O
022
0.21
395
140
0-28
029
27
27
760
115
020
019
3-5
115
099
0-98
22-5
13*65
73
0-35
0.37
22-5
104
73
039
043
Dies Ergebnis zeigt, wie wenig man berechtigt ist, eine Theorie
iur ricbtig zu halten, well ibre Fonpeln sicb mit einer Anzahl von
Beobachtungen in tlbereinstimmung bringen lassen.
21. Anwendung der Formel von van der Waals. Durcb die von
deo Briidem Natanson beobacbtete Abweicbung der Grenzdicbten des
Stickstoffhyperoxyds von dem tbeoretiscben Werte wird der Gedanke
oabegelegt, die Formel von van der Waals (I, 223) fiir die Abwei-
chang von den Gasgesetzen fiir eine genauere Theorie in Anwendung
ZQ nehmen. £in solcber Yersucb ist von A. J. Swart ^) gemacbt worden,
indem die Gasgleicbnng in der Form
(
p+-^J(v-i>)=RT
aogewandt worde und die Konzentration oder wirksame Menge nicbt
den reziproken Wert des Volums, sondem r-, den reziproken Wert
des kompressiblen Yolums erbielt.
Indem wegen der Einzelbeiten der Recbnung auf die Abhandlung
▼erwiesen wird, sei die nacbstebende Tabelle mitgeteilt, welcbe den
hoheren Betrag der so erzielten tJbereinstimmung zur Anscbauung
hnogt Dabei ist zn bemerken, dass die Grosse b, da der Druck nicbt
uber eine Atmospbare stieg, stets unter 0*3 Prozent blieb nnd desbalb
Ternachlassigt wurde. Die Tabelle entbalt unter t die Temperatur,
unter D die Dicbte, unter pbeob. die gefundenen, unter p^ die nacb
der gewohnlicben Formel und unter p^ die nacb der Tan der Waals-
scben Formel berecbneten Druckwerte. Man Uberzeugt sicb, dass die
Werte unter p^ ber. baufig besser mit den Messungen stimmen, als die
QDter pi ber.
') Zeitschr. f. phys. Ghem. 7, 120. 1891 nach der holl&ndischen Dissertation:
De wvtten der dissociirende Gassen.
326 ^^' Chemische Djrnamik.
t
D
p beob.
pi ber.
p, ber.
222 •
2024
436
422
421
22-8
2-099
62
596
59.4
217
2144
59.7
57.7
57-5
232
2165
78.1
79
785
23-3
2.173
806
817
81-3
23-2
2234
1016
101-3
100.8
21.3
2-318
1176
118-7
1177
221
2399
1762
171-9
1693
217
2.486
2306
2334
2282
213
2-589
327-1
347-2
332-8
213
2.599
367-1
361-3
344-8
21-6
2-674
492-1
526
489
218
2709
6176
639
579.3
20
2762
6408
7385
651-1
0
24832
38
36-6
36-5
0
2.6732
866
84-2
83-2
0
2.8201
1725
190
182-5
0
29028
2507
343.7
3174
18
27318
491-6
5323
4917
198
27213
517
580.5
532
16-2
27791
5565
596-8
5425
193
27702
6392
734-3 .
654-8
49.7
1*6634
268
305
30-7
49-4
17918
938
95.9
954
49.7
1-8945
182-7
171-9
171-2
50-6
19491
2614
234
232-2
601 •
2.1364
496-8
482
473-7
738
16811
49.7
718
70-9
742
16415
64-8
92-2
90-5
73.5
16323
677
725
72-1
73.7
166
107-6
124-6
122-5
73.8
1'6784
164-6
1612
160-1
741
1.7377
302
2962
294
732
1.8178
504-1
4853
4806
73-5
18562
6333
609-4
604-2
1001
16132
142-3
1365
^ 135.5
99.7
1-6266
202.2
251-3
248-2
1002
1-6462
3713
403-9
381-2
100
1-864
521
536-9
526-8
99-4
16847
6583
686
6822
99.8
16818
6754
673
6596
99.9
16927
7325
767-8
760
22. Bereohnung der Dissooiationswfinne aoB der Tempermtiir-
versohiebuiig des OleiohgeiTiohts. Man kaun die Andenmg dea Gleiclk*
gewichtszustandes dissociierender Gase, wie S. 315 erwahnt, zur
Das chemische Gleichgewicht. 327
rechnnng der DisBociationswarme ebenao benutzen, wie man aus dem
TemperaturkoeffizienteD dee Dampfdrnckes die Verdampfungswarme ab-
leitet Solche Rechnangen sind von Boltzmann^) beziiglich des Stick-
stoffhyperozyds und des Joddampfes gemacht worden. Die erste ergab
N'O^ = 2 NO' -|- 139*2 K, wahrend die unmittelbaren Bestimmungen
(n, 1, 147) 129 K, also eine geniigend nabe Zahl ergeben batten. Ans
dea Rechnangen von A. J. Swart') folgt in nocb viel besserer Ober-
eiDstimmang 131-7 und 130*5 E.
23. Andere Stoflb. Fiir die Umwandlung des Chlors^ Broms und
Jods bei hoherer Temperatur in Gase von der halben Dichte (1, 182 u. ff.)
sind ganz die gleichen Gesetze zu erwarten, welche fiir Stickstoffhyper-
ozyd gelten. Docb sind die vorhandenen Messungen kaum geniigend,
mn eine eingehendere Berechnung zu lohnen oder zu recbtfertigen.
Insbesondere scheinen die von Crafts und Meier versprochenen ') ein-
gehenderen Mitteilungen iiber den Dissociationsverlauf des Jods bei
Terschiedenen Drucken und Temperaturen nie voroffentlicht worden
ZQ sein.
Nach den gegebenen Eurven schatzt Boltzmann^) die Umwand-
hiDgswarme beim Jod auf J' = 2 J -|- 2*85 E.
24. Ein allgemeiiierer Fall. Polymerisiert sicb ein Gas n-fach^
so daas wir baben nA = B, so gelten ganz analoge Betrachtungen.
1st wieder j die umgewandelte Menge, so baben wir
D d ' nd
, n(D— d) ,
und y=T-^ — rrrf; ^ — y=
_ nd— D
(n — 1)D' * •'~(n— 1)D
Die Gleiohgewichtsfonnel ist
(l_y)npn-l
y - = f(t).
oder ausgedriickt durch die Dicbten
(^^-^Y . pn-l _ f ft)
n(D-d)[(u— l)Dp-i ~^^*
Die Gleichung geht natiirlicb fur ns=2 in die oben gegebene iiber.
Beispiele sind fiir derartige Falle mit n>>2 nicbt bekannt.
*) Wied. Ann. 22, 68. 1884.
«) Ztschr. f. ph. Ch. 7, 124. 1890.
*) C. rend. 92, 39. 1881.
*) Wied. Ann. 22, 72. 1884.
828 n. Ghemische Dynamik.
26. Die polymeren BohwefeldSmpfe. Anch der Schwefel gehort
in die Elasse der gasformigen Stoffe yon wechselnder Didite. Nach-
dem er in Temperaturen, die nicht hoch iiber seinem Siedepunkte
liegen, auf Grundlage der Messungen yon Dumas and Mitscherlich lange
als nach der Formel S^ zusammengesetzt angesehen worden ist, zeigten
Deyille und Troost^) 1860, dass bei boheren Temperaturen yon etwa
860^ die „nonnale'S der Formel S' entsprecbende Dicbte eintritt>
welcbe auch Bineau als yon ibm gleichfalls gefanden bestatigte '). Auch
V. Meyer') bestatigte nach seiner Metbode das kleinere Molekular-
gewicbt, und 1888 unternabm Biltz^) eine eingehendere Untersuchung
iibcr die Abbangigkeit der Dicbte yon der Temperatur. Die Messungen
ergaben, dass yon der Siedetemperatur des Scbwefels aufwarts mit stei-
gender Temperatur seine Dicbte abnimmt, und zwar ist sie bei Atmo-
spbarendruck (0 = 32):
Temp.
Dicbte
Temp.
Dicbte
468»
227
528 •»
205
481
215
534
202
482
211
581
159
502
202
606
134
518
203
Nacb dem Luftyerdrangungsyerfahren yon V. Meyer ergaben sich
sebr wecbselnde Werte, die darauf zuriickzufiibren sind, dass durch die
teilweise Vermiscbung mit Luft der Teildruck des Scbwefeldampfes
erniedrigt und dadurcb die Dissociation yermebrt worden ist. Eigens
dabin gericbtete Yersucbe ergaben denn in der Tbat, dass, je mehr
diese Vermiscbung erleicbtert wurde, um so kleinere Werte fiir die
Dicbte auftraten.
Die Frage, welcbe Molekularformel dem Scbwefel bei niedrigerer
Temperatur zuzuscbreiben ist, wurde yon Biltz yermutungsweise dahin
beantwortet, dass es sicb nur um Abweicbungen yon den Gasgesetzen
bandele. Indessen zeigte bald darauf Beckmann^), dass im gelosten
Zustande jedenfalls Molekeln S^ existieren, und demgemass ist es eine
naberliegende Annabme, eine Dissociation des Scbwefeldampfes S^ in
einfacbere Molekeln S' anzunebmen.
Diese Annabme kann nun in solcbem Sinne yerwertet werden^ dass
man nur die Reaktion
^) Ann. chim. phys. (3) 58, 257. 1860. *) Ann. cbim. phys. (3) 59» 456. 1860.
») Ber. 1878, 2259; V. und C. Meyer, Ber. 1879, 1115.
*) Ztschr. f. ph. Ch. 2, 920. 1888.
») Ztschr. f. ph. Ch. 5, 76. 1890.
Das cbemische Gleichgewicht. 329
stattfinden lasst, oder auch in dem anderen Sinne, dass inzwischen sich
Molekeln Yon der Formel S^ bilden, so dass nebeneinander die Reak-
tionen yerlaufen:
S8 = S« + S» und S« = 3S».
Daneben kann noch die Reaktion S® = 4S* und 6S® = 8S® beiderlei
Richtung stattfinden, doch wird durch sie nichts nenes in den Ansatz
gebracht, da sich das Gleichgewicht beziiglich der dritten Reaktion
nicht Yerschieden Yon dem bezuglioh der beiden ersten ergeben kann.
Denn haben wir zwei Umwandlungen Atl^B und B ^ C nebeneinander,
80 geniigen zu deren Bestimmung zwei Gleichgewichtskoeffizienten, und
der Eoeffizient der weiteren moglichen Umwandlungen A^G und
Al^B-f G muss durch jene beiden eindeutig darstellbar sein, widrigen-
falls eine Uberbestimmung des Zustandes eintreten wiirde, oder eine
Verletzung des zweiten Hauptsatzes moglich ware.
Um die Frage allgemein anzufassen ^), stellen wir uns die Reaktion
aA = iSB = 7G = dD = . .-
YOT, wo a, j3, 7, d.... die Molekularkoef&zienten der Reaktion sind.
Bei einer isothermen Yirtuellen Anderung haben wir ahnlich wie S.308
ad In Pa = /Jd In Pb = /d In pc = rfd In pd
und daraus die Gleichungen
p: , P'i K PS u
WO k^By kBc> otc. die Gleic^gewichtskonstanten der angegebenen Reak-
tionen sind. Aus denselben Gleichungen folgen aber auch die Formeln
Pa . Pi , Pi^ t
-7- = Kac, -j =kAD, -T- = kBP,
re Fd rj)
und Yergleicht man sie mit den Yorigen, so folgt als notwendige Be-
ziehong zwischen den Gleichgewichtskonstanten
kAB-kBC = kAC5 kAC'kcD = kAD, kBC'kcD = kBD> .
so dass man jeder Konstante die Form kAB==^i — zuschreiben kann,
kB
wo jedes kA9 ks, . . . . nur Yon der Natur des zerfallenden Stoffes, aber
nicht Yon der des Stoffes, der sich bildet, abhangig ist. £s liegt nahe,
') Vgl. mecke, Ztscbr. f. ph. Ch. 6, 430. 1890, wo' die Recbnnog anders
and wohl etwas weniger Qbersichtlich geftthrt ist.
330 n* Chemische Dynamik.
diese Teilkonstanten mit der Reaktionsgeschwindigkeit far den Zerfall
des bezeichneten Stoffes in Zusammenhang zu bringea.
Untcr Benutzung dieser Zerlegung konnen wir die Gleiohgewichta-
gleichung einfacher schreiben:
Pa p£ P^ Pd
kx kfi kc kp
wodurch wir einen libersichtlichen Ausdruck fiir eine derartige zusam-
mengesetzte Reaktion mit beliebig vielen Stufen haben. Die Teilkon-
stanten kx*... konnen zwar nicht einzeln ermittelt werden, sondem
nur das Yerhaltnis je zweier. Da aber auch die letzte Gleichungsreihe
nicht die Absolutwerte der kA-... erfordert, sondem diese mit einem
beliebigen gleichen Faktor multipliziert erscheinen konnen , so kann
man durch den Yersucb stets geniigende Daten scbaffen, indem man
willkiirlich eine der Teilkonstanten, z. B. kx^ gleich Eins setzt
Ebenso lasst sich der Einfluss der Temperatnr auf ein derartiges
Gebilde behandeln.
Sind n verschiedene Formen da, so haben wir n — 1 unabhangige
Reaktionsgleichungen von der Gestalt
aA = |9B, aA = yC, aA = rfD....,
ans denen gemass den Betrachtungen auf S. 332 die Formeln entstehen:
lnkAB=/|^dT, lnkAc=/-^dT, \nkj^=f^dT.
Auch hier muss wegen des Auftretens iiberschiissiger Gleichungen
kA
die Beziehung der Koeffizienten kAB = -i— oder lnkAB = lnkA — Inks
Kb
bestehen, wodurch wir die obigen Gleichungen auf die Form bringen
konnen:
lnkA=/*^|^clT, lnkB=/^dT, lnkc=/-^dT,
Unter dem Integralzeichen erscheint nur q als abhangig von der
Natur der betrachteten Sto£Fe, und bei der Zerlegung treten Groesen
qA> qBf** Auf, welche eine einfache Bedeutung haben. Der Wert q^B
ist nach der Definition des § 12, S. 313 die Umwandlungswarme bei
konstantem Volum fur den betrachteten Vorgang des Oberganges von
A in B; demgemass kann qA> qs b>1s der Energieinhalt des be-
zeichneten Stoffes aufgefasst werden. Dass man den Absolutwert dieser
Energie nicht kennt, kommt hier nicht in Betracht, da nur Differenseii
Das chemische Gleichgewicht.
331
zweier Energiewerte, also Reaktionswarmen, in Frage stehen. Aucb
hat das Auftreten einer iiberall gleichen additiven Eonstante in den
Werten Qa, qB9«--« keinen fiinflnss auf das Ergebnis.
Was scbliesslich den Vergleicb der Formeln mit der Erfabrung
anbingty so kann er g^enwartig nocb in keinem Falle durcbgefubrt
werden. Zar analytischen Bestimmung des Zustandes eines Stoffes, der
n Terscbiedene Formen bilden kann, fur den also n — 1 unabbangige
Gleichgewichtsgleicbungen besteben, gehoren n — 1 unabbangige quanti-
tfttire Beziebungen. Daber kann z. B. eine Dampfdicbtebestinunung
des Scbwefels, im Falle er die Dissociation S® = S* + S* = 4S* erleidet,
1
»-— -.
^ — *-ft.
^
v^,
MV^sfiu ^
t
^\
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.:.
C'lrmAs Da.
C^,
• AA
< — -^
, --^
' ■ •■
Fig. 9.
keinen Anfscbluss iiber das Yerbaltnis der Anteile S^ S^ und S' geben,
sondem es gebort dazu nocb irgend eine andere analytiscbe Bestim-
mimgy dorch welcbe eine unabbangige Gleicbung gewonnen wird. 1st
X der Anteil des Scbwefels in der Form S^ und y der Anteil S^ so
ist 1— X — y die Menge von S®; sind ferner die Dicbten von S® = 8d,
TOO S*=6d9 von S'=:2d, so ist die Dicbte eines Gemenges D gleicb
D = [8(l-x-y) + 6x + 2y]d = (8-2x-6y)d,
8d-D , ^
- = x + 3y,
Oder
2d
welche Gleicbung innerbalb der Grenzen 0 < x + y <1 1 durcb unend-
licb Tiele zusammengeborige Werte von x und y befriedigt werden kann.
332 II* Cbemische Dynamik.
Riecke^) hat sich deshalb begDiigt, nachzusehen, ob unter passen-
den Annahmen fur die Konstanten der Gleichungen sich eine Kurve
erzielen lasst, welche mit der yon Biltz (I, 188) gefundenen Beziehang
von Dichte and Temperatur geniigend iibereinstimmt. In der beistehen-
den Fig. 9 (S. 331) ist A die so berechneto Dichtekurre; die Beobachtungen
sind durch Krenze wiedergegeben. Wie man sieht, lasst sich der eigen-
tiimliche Verlauf, indem die der Formel S^ entsprechende Dichte iiber
eine gewisse Temperaturstrecke fast konstant bleibt, in der That darch
die gemachten Annahmen darstellen, wodnrch diese einigermassen walir-
scheinlich gemacht werden.
Einfachere Verhaltnisse wiirden sich ergeben, wenn man die Dichte
des Schwefeldampfes als Funktion des Druckes bei einigen konstanten
Temperaturen ermittelte und so die Dissociationsisothermen feststelite.
Auch ware bei dieser Gelegenheit die Frage zu untersnchen, in welcher
Zeit sich das Gleichgewicht der verschiedenen Schwefeldampfarten
herstellt, dessen Bestohen bei den bisherigen Versuchen yorausgesetzt
worden ist.
26. Zweiter FalL Homogenes Qleichgewioht in ElasBJgkeiteii.
Ganz ahnliche Verhaltnisse wie bei Gasen werden sich ergeben, wenn
die zwei hylotropen Formen fiiissig sind und miteinander ein homo-
genes Gemisch bilden. Dann findet solange eine Umwandlung statt,
bis die Wirkungsgrossen der beiden Formen, welche Funktionen ihrer
Konzentrationen sind, gleiche Werte angenommen haben.
Diese Werte sind ganz wie im Falle der Gase Funktionen von
Druck und Temperatur; abweichend von jenen darf man aber nicht
mehr Konzentration und wirksame Menge proportional setzen. Darum
giebt es auch nicht mehr die Moglichkeit, wie dort eine einfache Formel
fiir den Einfluss des Druckes (der wegen der geringen Zusammendriick-
barkeit iiberhaupt unerheblich ist) aufzustellen, und auf Grand der
bisher benutzten Prinzipien haben wir nur die beiden Satze, dass darch
Erhohung des Druckes und der Temperatur das Gleichgewicht sich
nach der Seite verschiebt, durch welche der Anderung entgegengewirkt
wird; es werden also im ersten Falle die mit Volumverminderung, im
anderen Falle die mit Warmeverbrauch verbundenen Verschiebongen
des Mengenverhaltnisses eintreten.
Die experimentelle Ermittelung solcher Gleichgewichtszustande kaan
zunachst auf die Messung begleitender physikalischer Anderungen be-
griindet werden. Jede Eigenschaft, die sich im Verhaltnis za der er--
>) Ztechr. f. ph. Ch. (^ 435. 1890.
Das chemische Gleichgewicht. 333
reichbaren Genauigkeit in geniigendem Masse bei der Umwandlang
andert, kann diesen Zweck erfiillen; allerdings muss, wenn etwas bohere
Genauigkeit erfordert wird, eine Untersuchung dariiber yorausgebeu, ob
die Zusammensetzung mit der Anderung jener Eigeuscbaft proportional
Terlauft, oder wenn nicht, welcbe Beziehung zwiscben beiden besteht.
Dies kann in dem FaUe, dass die Umwandlungen nicbt allzuschnell er-
folgen, am sicbersten auf syntbetiscbem Wege gescbeben, indem man
aus abgewogenen Anteilen eine Roibe von Miscbungen herstellt und
aof ihre Eigenscbaftswerte untersucbt.
Die zuletzt ausgesprocbene Yoraussetzung der langsamen Reaktion
ist namentlicb im Falle der organiscben Stoffe, bei denen die Umwand-
limgsvorgange erst bei boberer Temperatur einzutreten pflegen, meist
bei Zimmertemperatur reichlicb erfiillt In solcben Fallen kann man
voQ analytiscben Trennungs- und Messungsbilfsmitteln^ wie sie sicb
gerade fiir den Fall als geeignet erweisen, Auwendung macben.
Was die Deutung der Ergebnisse anlangt, so ist scbliesslich nocb
zu bemerken, dass in der Formel
kp™ = rq"
nor die ganzen Ausdriicke auf beiden Seiten des Gleicbbeitszeichens
zor Geltung kommen, und die Ermittelung der Exponenten, bez. eine
Antwort auf die Frage, ob eine mono- oder polymolekulare Reaktion
Yorliegt, durcb die Beobacbtung derartiger Gleicbgewicbte nicbt ge-
wonnen werden kann. Dies gebt scbon iaus dem Umstande bervor, dass
68 uberbaupt nicbt (bez. nur in sebr geringem Grade) moglich ist, das
Yerbaltnis der wirksamen Mengen p und q, die sicb das Gleicbgewicbt
balten, zu andern, dass also Auskiinfte iiber den Einfluss einer solcben
Anderung bier nicbt zu erlangen sind. Zudem muss daran erinnert
werden, dass der Begriff der Molekulargrosse bisber nur bei Gasen
und verdiinnten Losungen eine bypotbesenfreie experimentelle Deutung
besiizt
In der Litteratur sind ziemlicb viele Falle yerzeichnet, in denen
bomogenes Gleicbgewicbt einer bylotropen Fliissigkeit beobachtet worden
ist So giebt Volbard ^) an, dass beim Scbmelzen von Rbodanammonium
dieses nur teilweise in Sulfobarnstoff iibergebt, wabrend sicb umgekebrt
aus diesem beim Scbmelzen Rbodanammonium zuriickbildet Indessen
bat sich Kiister^) iiberzeugt, dass neben diesen Hauptreaktionen nocb
andere stattfinden, welcbe die einfiskcben Verbaltnisse iiberdecken und
') J. pr. Ch. », 11. 1874.
•) Ztichr. f. ph. Ch. 18, 161. 1895.
334 II- Chemische Dynamik.
nicht zur Geltung kommen lassen. Genauere Messnngen, welche ergeben,
dass Yon beiden Seiten thatsacblich das gleicbe Verhaltnis beider Stoffe
erreicht wird, liegen von J. Wislicenus^) vor, welcher die gegenseitige
UmwandluDg geometriscb isomerer Sto£Pe untersucht hat So ergab nach
vierstundigem Erhitzen auf 210^ das plansymmetrische Tolandibromid
0*534 centrischsymmetriscbes Dibromid, und dieses nach der gleidien
Zeit 0479 plansymmetrisches; beide Zahleii gebea die Summe 1-01 1,
erganzen sich also sebr nahe zu Eins.
Eine weitere Bestatigung lieferte F. W. Eiister*) in seiner schon
oben erwahnten Arbeit iiber die Umwandlung der Hexacbiorketopentene
ineinander (S. 254). Bei 210-5** war das Gleichgewicht von der ^-Yer-
bindung aus bei 0-614 dieser und 0-386 der /-Yerbindung eingetreten,
wahrend es von der /-Yerbindung aus die Zahlen 0*610 bis 0*617,
Mittel 0*614 /3-Yerbindung, identisch mit dem vorigen Werte ergab.
Bei hoherer Temperatur, 237-6^ war das Yerbaltnis etwas ver-
schoben; die /-Yerbindung hatte 0*607/? gegeben, p dagegen 0-3957.
Bei 300*50 endlich waren die Zahlen 0*539 und 0445. Das Gleich-
gewicht verschiebt sich also bei steigender Temperatur in dem Sinne,
dass die /-Yerbindung relativ zunimmt und die beiderseitigen Mengeu
sich der Gleichheit nahern.
27. End- und Aldo-y bez. Ketoformen. In neuester Zeit sind
Erscheinungen, die hierher gehoren, den Forscheni in der organischen
Chemie vielfach entgegengetret^n, und es ist abzusehen, dass, nachdem
einmal die Aufmerksamkeit auf sie gelenkt und die Scheu vor denoi
Widerspruche gegen die gebrauchlichen Anschauungen iiberwunden ist^
zahlreiche weitere Falle zur Mitteilung gelangen werden. Die hierher-
gehorigen Tbatsachen sind mit einer Reihe verschiedener Namen, wie
Tautomeric , Desmotropie, raumliche Isomeric u. a. m. bezeichnet wer-
den; sie zeigen hylotrope Umwandlungserscheinungen, die namentlich
durch die Geschwindigkeit, mit welcher das Gleichgewicht aufgesucht
wird, in weitestem Umfange abgestuft sind.
Die ersten Fragen dieser Art bezogen sich auf den Acetessigestery
der in einigen seiner Reaktionen sich wie eine Keton-, in anderen wie
eine ungesattigte Hydroxylverbindung verhalt Es kamen somit die
beiden Formeln CH^CO.CH'CO^C^H^ und CH».C(OH):CH.CO»C»H«
in Betracht, zwischen welchen auf chemischem Wege keine Entschei--
dung gefunden werden konnte, weil bei keiner Reaktion die Moglichkeit
einer „Atomverscliiebung'' ausgeschlossen werden konnte. Ob diese
') DekanatSBchrift, Leipzig 1890. *) Ztschr. f. ph. Ch. 18, 161. 1885.
Das chemische Gleichgewicht. 335
weiter dadurch bedingt wurde, dass das ^labile Wasserstoffatom zwischon
den beiden Stellangen oscilliert", oder ob je nach der Temperatur uiid
den anderen Bedingungen die eine oder die aiidere Form vorhanden
ist, konnte ebensowenig ausgemacht werden, wenn auch der Streit liber
diese Frageu eifrig geuug gefuhrt wurde.
£s war deshalb ein ganz rationeller Gedanke, statt der cbemischen
Methoden die physikalischen anzuwenden, und sich insbesondere der
konstitutivcn Yerschiedenbeiten der pbysikalischen Eigenscbaften za be-
dienen. In solchem Sinne machten Perkin und Briihl Bestimmungen
der magnetiscben Drehung, bez. Licbtbrechung des Acetessigesters, welcbe
rennoge des Unterschiedes der Werte fur gesattigte und ungesattigte
Verbindungen (I, 435) zu der Anerkennung der Ketonformel flihrten.
Mit Hilfe der magnetiscben Drebung der Polarisationsebene, welcbe
Tiel bedeutendere konstitutive Einfliisse aufweist als die Brecbung, unter-
SQchte dann W. Perkin^) eine grossere Anzahl bergehoriger Falle, ins-
besondere Yon Di- und Triketonen. Die Zablen fielen verscbiedenartig
ans, insbesondere lagen sie bei den letztgenannten zwiscben denen, die
fnr die eine und fur die andere Formel berecbnet waren^ und Perkin
schloss darans, dass die untersucbten Stoffe nicbt cbemiscb gleicbartig^
sondem Gemische aus den beiden moglicben Isomeren waren.
Wenn aucb dieser Scbluss, der auf einer ziemlich weitgebenden
Extrapolation der bei Monoketonen gefundenen Zablen auf die Verbalt-
Bisae bei den mehrfachen Eetonen berubt, nicbts weniger als einwurfs-
frei ist, da der Unterscbied ebensowobl von der Anhaufung der Keton-
gruppen berriibren kann, so wurden docb bei dieser Gelegenheit Beob-
aditnngen gemacht» welcbe auf das reelle Vorbandensein von Gemiscben
hinwies. Erstens zeigten sich bei mebreren Sto£Fen Anderungen der Drebung
mit der Temperatur, die weit grosser waren, als die sonst bei organiscben
Verbindungen beobachteten, und eine Anderung in der Konstitution des
Stoffes in der That sebr wabrscbeinlicb machten. Dann aber traten
thermische Nachwirkungen auf, d. h. die erwarmt gewesenen Sto£fe
nahmen die ihnen bei niederer Temperatur zukommende Dicbte und
magnetische Drebung nicbt unmittelbar nach dem Abkiihlen an, son-
dem brauchten dazu langere, nach Stunden bis Tagen zu bemessende
Zeit Dies beweist sicherer als alle die erwahnten Beobach-
tnngen, dass es sich um wirkliche chemische Anderungen
bandelt, und dass die fraglichen Stoffe thatsachlich Gemische aus ver-
achiedenen Bestandteilen sind, deren Gleichgewichtsverbaltnis sich mit
>) Joam. Chem. Soc. 1892, 800.
336 n. Chemische Dynamik.
der Temperatur verandert, und dereii Gleichgewichtszustand namentlich
bei niedrigerer Temperatur nicht unmittelbar erreicht wird, soodern
sich erst im Yerlaufe eiuiger Zeit herstellt Hier haben wir es also
mit einem Gleichgewicbt der oben geschilderten Art, mit homogencr
Miscbung zweier bylotroper Formen zu thun.
Dies trat sehr deutlicb beim Methylacetylaceton, CH».CO.CH(CH»)COCff ,
hervor. Die molekulare Drehung betrug bei 17.4® 7-290, bei 964® nur
6-670, also 0*620 weniger, wabrend unter gewobnlichen Umstandeo
durcb diesen Temperaturunterschied die Drebung nur um einige Ein-
heiten der zweiten Dczimale abnimmt. Als die erhitzte Probe abgekiihlt
wurde, gab sie nur nocb die Drehung 6*765, hatte also ihren bei hoherer
Temperatur angenommenen Zustand im wesentlicben beibehalten; nacb
einigen Wochen batte sie ibren anfanglichen Zustand wieder ange-
nommen und gab die bohe Drehung.
Eine wichtige Bestatigung fanden diese Beobachtungen durch den
Nachweis von Volumnachwirkungen. Eine frisch erhitzte Probe desselben
Stofies wurde in ein Dilatometer gefiillt und nach einigen Minuten, als
die Temperatur ausgeglichen war, beobachtet. Nach zwei Stuuden war
der Stand um 5 mm, nach 24 Stunden um 12 mm gesunken, einer Tem-
peraturanderung von etwa 5® oder einer Dichteanderung von O-00S6
entsprechend. -
Einige andere Stoffe liessen ahnliches erkennen, doch wurde leider
in keinem Falle eine eingehendere Untersuchung angestellt. Die ein-
tretenden Anderungen lagen alle in solchem Sinne, dass mit steigender
Temperatur die Ketonform zu iiberwiegen scheint.
In einer spateren Arbeit^) sind entsprechende Mitteiiungen iiber
ahnliche Falle entbalten. Eine Yerbindung, die grosse Veranderlichkeit
der Drehung mit der Temperatur aufwies, war AUylacetylaceton (yod
Claisen hergestellt), das nach dem Erhitzen auf die Temperatur des
siedenden Amylalkohols und schnellem Erkalten in einem Dilatometer
die folgenden Stande aufwies:
Zeit
0
22
50
71
93 Stunden
Stand
0
— 35
10-0
-170
— 21-0 mm
Nach einer Woche betrug die Zusammenziehung 25 mm. Die ent-
sprechende Dichteanderung betragt 0*0032.
Auch die molekulare Drehung nimmt beim Erhitzen stark ab,
0*746 fiir 80^. Gleiches gilt fur die molekulare Brechung.
^) Journ. Chem. Soc. 1894, 815.
Das chemische Gleicbgewicht. 337
Ferner wurde Acetylaceton, welches gleiche Veranderlichkeit mit
der Temperatur zeigt, einmal fiir sich, sodann ia Essigsaureanhydrid
gelost untersucht. Es ergab sich^ dass im zweiten Falle die Drehung
merklich kleiner war, entsprechend einem teilweisen t)bergange in die
KetoDform darch deii Einfluss des Losungsmittels. Es goht hieraus
herTor, dass ausser durch die Temperatur auch durcb die Beschaffeh-
heit des Losungsmittels das GleicbgewichtsverhaltDis der beiden Formen
Terschoben werden kann.
Diese ziemlich unvoUstandigen pbysikalischen Beobachtungen wurden
bald durch chemische erganzt Nach einigen vorbereitenden Arbeiten
haben gleichzeitig Claisen und W. Wislicenus^) Falle beschrieben, wo
zwei Sto£fe von unzweifelhafter chemischer Yersohiedenheit iiberaus
leicht erfolgende gegenseitige Umwandlungen zeigten. Es handelt sich
auch hier urn die beideu moglichen Strukturformelu der Gruppe
— CO— CH*— , bez. — C(OH):CH, und die Gesamtheit der gemachten
Beobachtungen lasst sich dahin zusammenfassen, dass bei mehreren der
untersuchten Stoffe beide Formen fiir sich im reinen Zustande herstell-
bar sind, dass sie sich aber in fliissiger Gestalt gegenseitig umwandeln,
so dass ein Gemenge beider Isomeren ontsteht, dessen Mengenverhalt-
nisse von der Temperatur, und bei Auwendung eines Losungsmittels
auch Yon dessen Natur abhangt
Die beiden Formen lassen sich dadurch voneinander unterscheiden,
dass die eine eine sehr auffallige Rcaktion mit Eisenchlorid — rote,
nolette bis blaue Farbung — giebt, die andere nicht. Aus chemischen
Gruuden wird der ersten die „Enol"-Formel mit der Doppelbin^ung
und dem Hydroxyl zugeschrieben, wahrend der gegen Eisenchlorid in-
diflferenten Form die gesattigte „Keto"-, bez. „Aldo"-Formel zugeteilt wird.
Die Stoffe, bei denen dies Verbal ten beobachtet wurde, sind das
Acetyldibenzoylmethan, das Tribenzoylmethan und der Mesityloxydoxal-
ither (Claisen), der Formylphenylessigester (W. Wislicenus), wozu noch
die neaerdings von Knorr*) untersuchten Diacetyl- und Dibenzoyl-
bemsteinsaureester kommen.
Quantitative Untersuchungen des Gleichgewichts beider Formen,
^lerdings nur an Losungen, sind von Wislicenus (a. a. 0. S. 177) mit-
geteilt worden, aus denen hervorgeht, dass die Forderungen der Theorie
so einen solchen Vorgang erfdllt sind. Insbesondere ergab sich, dass
der gleiche Zustand erreicht wird, ob man von der einen oder der
M Lieb. Ann. 291, 147. 1896.
*;. Lieb. Ann. 298, 70. 1897.
Ostvald, Chemie. 11,2. 2.Aufl. 22
338 n. Chemische Dynamik.
anderen Form des Esters ausgebt. Die Messungen wurden kolorimetrisch
auBgefuhrt, indem die Losungen immer mit derselben Menge Alkohol
verdiinnt und mit einer gleichfalls konstanten Menge Eisenchlorid ver-
setzt wurden. Wahrend von den frischbereiteten Losungen die eine
sehr starke, die andere gar keine Reaktion gab, waren am anderen
Tage beide Losungen fur den Augenschein gleich geworden, und die
Schicbthohen gleicher Farbung verhielten sicb wie 1 : 1-19, nacb 45
und 68 Stunden wie 1 : 105. Der Unterscbied mag auf Versucbsfeblern
beruben, da das Verfabren wobl nicbt viel genauer ist, ab die Abwei-
cbung betragt.
Von grossem Interesse ist, dass das Gleicbgewicht in weiten Grenzen
von der Art des Losungsmittels abbangt. Die nacbstebenden Zahlen
geben die mit dem Kolorimeter unter vergleicbbaren Umstanden erhal-
tenen Werte; sie baben die gleicbe Reibenfolge und aucb einigermassen
dieselben Unterschiede, wie die wirklicb vorbandenen Mengen der „Enol"-
form, sind letzteren aber nicbt genau proportional.
Methylalkohol
200
—
Athylalkohol
100
100
Ather
0-48
051
Schwefelkohlenstoff
042
—
Methylal
035
039
Aceton
0.33
—
Chloroform
024
0.27
Benzol
0-24
—
Auf die Beziehung, welcbe zwiscben dieser Reibe und der „disso-
ciierenden Kraft^S sowie der Dielektrizitatskonstante der benutzten Lo-
sungsmittel bestebt, kann an dieser S telle nicbt eingegangen werden.
Die erste Reibe der Zablen beziebt sicb auf Losungen, die aus
dem Enolester bereitet waren, die anderen auf solche aus dem Aldo-
ester.
Aucb auf anderem Wege, durcb Anderung des Brecbungskoeffi-
zienten^), bat sicb gleicbfalls die Veranderlicbkeit im Zustande der
gelosten Ester, sowie die beiderseitige Aimaberung an den gleicben
Endzustand ergeben.
Indessen ist weder die eine, nocb die andere Metbode bisber zu
eingebenderen Studien des Falles benutzt worden. Obwobl der Fall
der Losungen streng genommen in die Lehre vom Gleicbgewicbt zweiter
Ordnung gebort, sind docb die gemacbten Beobacbtungen schon bier
») BrOhl, Lieb. Ann. 291, 223. 1896.
Das chemische Gleichgewicht. 339
erwahnt worden, da sich das Losungsmittel nicht unmittelbar an der
Reaktion beteiligt und 8omit keinen Einfluss auf die Form der obwal-
tenden Beziehungen hat
28. Diitter FalL Eine feste Phase. Da nach der Definition bei
festen Phasen eine yeranderliche Konzentration verschiedener Formen
aosgeschlossen ist, so wird der dritte Fall yon einem einheitlichen
festen und krystallinischen Korper^) dargestellt. Die beiden Freiheits-
grade kennzeichnen sich dahin, dass man einem solchen Korper inner-
halb seines Existenzgebietes jede beliebige Temperatur und jeden Druck
geben kann.
Chemische Beziehungen yon Interesse sind unter diesen Umstanden
aosgeschlossen.
Das chemische Potential fester Korper lasst sich wie bei Fliissig-
keiten aus der Konzentration einer mit diesem im Gleichgewicht stehen-
den verdiinnten Phase (Dampf oder verdiinnte Losung) ermitteln. Doch
kann die Erorterung dieser Verhaltnisse erst bei Gelegenheit der zwei-
phasigen Gleichgewichto yorgenommen werden.
29. Die zweiphasigen Qlelchgewichte. Erster Fall: Fl&aigkeit
ond Dampfl Tritt ein hylotroper Korper in zwei Phasen auf, so bleibt
dem Gebilde ein Freiheitsgrad, demzufolge dafiir eine Funktion yon der
Gestalt p=rf(T) besteht, yermoge deren zu jeder Temperatur ein be-
stimmter Druck geordnet ist. Dieser Druck ist unabhangig yon den
relatiyen oder absoluten Mengen beider Phasen, hangt aber yon der
Natur der Fliissigkeit wie des Dampfes ab und ist eine Funktion
beider. Deshalb ist es ein yergebliches Unternehmen, eine allgemeine
Formel fur die Beziehung p = f(T) zu suchen, die sich ausschliesslich
&af die Eigenschaften der Dampfe stiitzt, wie dies yielfach bei den
£rdrterungen der Dampfdruckformel fliichtiger Fliissigkeiten geschehen
i^; yielmehr werden wir alsbald sehen, dass in dieser Funktion die
Eigenschaften der Fliissigkeit sich yicl ausgesprochener geltend machen»
&ls die des Dampfes.
Der einfachste Fall tritt ein, wenn die Fliissigkeit sich einheitlich
^erhalt^ d. h. wenn die etwaigen metameren oder polymeren Umwand-
Itmgen in ihr so schnell stattfinden, dass keine Nachwirkung an ihr
sichtbar wird. Ob die Fliissigkeit thatsachlich einheitlich ist, oder aus
einem Gr^menge von isomeren Formen besteht, die sich bei Temperatur-
inderungen wechselweise umwandeln, urn alsbald einen neuen Gleich-
*) Amorphe „feste" Kfirper gehfiren zu den FlttsBigkeiten, wenigstens in dem
^oet in Frage kommenden Sinne.
22*
340
II. Ghemische Dynamik.
gewichtszustand zu erreichen, ist fur die Form des obwaltenden 6e-
setzes ohne Belang. Auch im Falle, dass die Umwandlungen langsam
genug erfolgen, um experimentell beobachtet werden za konnen, wird
das Gleichgewichtsgesetz nicht geandert; nur wird dann eben der zu
jedem Zustande gehorige Dampfdruck sich nicht eher einstelleD, als bis
in der fliissigen Phase das Gleichgewicht vorhanden ist.
Bei praktisoh augenblicklicher Einstellung des Gleichgewichtszu-
standes zwischen Flussigkeit und Dampf haben wir es mit einem soge-
nannten physikalischen Gleichgewicht zu thun, wie es beispielsweise
Flit
Fig. 10.
im Falle flussiges Wasser : Wasserdampf sehr eiugehend studiert worden
ist. Die allgemeinen Verhaltnisse solcher Gleichgewichte sind bereits an
friiherer Stelle (1,289 u.flf.) eingehend geschildert worden; unter Bezug-
nahme auf das dort Gosagte soUen hier noch einige Punkte naher
erortert werden.
Die Beziehung zwischen dem fliissigen und dampfformigen Zustande
lasst sich an der Volum-Druckkurve bei konstanter Temperatur, oder
an der Isotherme bequem iibersehen. Betrachten wir einen Dampf
bei sehr kleinem Druck, so wird er bei abnehmendem Volum den Gas-
gesetzen folgen; sein Druck wird wachsen und seine Isotherme ab wird
durch ein Stiick einer rechtwinkligen Hyperbel pv = const, dargestellt.
Das chemische Gleichgewicht. 341
Bei einem bestimmten Druck b kann Fliissigkeit neben dem Dampf
bestehen, and sorgen wir, dass sie yorhanden ist, so bringt eine weitere
YolnniTermiDderung keine DruckyermehruDg, sondern nur eine Ver*
mehrung des fliissigen Anteils auf Rechnung des dampfformigeD her-
Tor, und wir erreichen den Punkt b, in welchem aller Dampf flussig
geworden ist. Von da ab steigt die Eurve scbiiell und fast geradlinig
auf, da eine weitere Yolumyerminderung nur durch sehr bedeutende
Dnick?ennehrung erzielt werden kann.
Eine zweite Isotfaerme bei boherer Temperatur yerlauft der ersten
ganz analog, nur tritt die Moglichkeit der fliissigen Phase erst bei
hdherem Druck und kleinerem Volum des Dampfes ein, wahrend das
Volum der fliissigen Phase selbst grosser geworden ist. Die gerado
Linie d^ heterogenen Gebietes wird somit beiderseits kiirzer, und
gleichzeitig ist der Unterschied zwischen Fliissigkeit und Dampf kleiner
geworden. Dies setzt sich mit steigender Temperatur fort, bis diePunkte
a and b zusammenfallen. Wir haben alsdann einen kritischen Punkt.
In Riicksicht auf spatere Anwendungen stellen wir die allgemeine De-
finition auf: Ein kritischer Punkt ist ein solcher, in welchem
zwei Phasen identisch werden.
Da in koexistierenden Phasen Temperatur, Druck und chemische
Potentiale ohnedies gleich sein miissen, so kann die Identitat beim
kritischen Punkt sich nur auf das beziehen, was in ihnen verschieden
ist) namlich die speziiischen Kapazitatsgrossen. Es muss also die spe-
zifische Entropie, das spezifische Volum und die chemische Zusammen-
setznng der beiden Phasen im kritischen Punkt identisch werden. Das
erste bedingt, dass die Verdampfungswarme (oder allgemein Transfor-
2nation8warme) beim kritischen Punkt Null wird, das zweite, dass keine
Voiumanderung dabei erfolgt, das dritte schliesst chemische Vorgange
beim Obergang aus. AUe drei Kriterien miissen bei denselben Werten
▼on Druck, Temperatur und Volum (oder einer anderen aquiyalenten
Grappa Ton drei Veranderlichen) erfiillt sein, und sie konnen es nur
bei einer einzigen Gruppe bestimmter Werte der Veranderlichen sein.
Man kennzeichnet den kritischen Punkt einer Fliissigkeit gewohn-
lich durch die drei kritischen Werte des Druckes, der Temperatur und
des Volums. Daneben kann man noch kritische Werte der Energie
imd Entropie und bei Fliissigkeiten, die aus mehreren hylotropen
Formen bestehen, der Zusammensetzung beziiglich dieser Formen an-
geben. Doch sind solche Angaben bisher nicht gemacht worden, da
man Energie und Entropie nicht ohne willkiirliche Konstante messen kann,
ond for den letzten Fall weder Beobachtungen noch Messungen yorliegen.
342
II. Chemische Dynamik.
30. B&omliche Darstellong. Da in die Zustandsgleichung eines
Stofifes drei Veranderliche eingehcD, so kann ein voUstandiger Cberblick
der Yorhandenen Verhaltnisse erst darch eine raumliche DarstelluDg
gewonnen werden, in welcher diese drei Veranderlichen als recht-
winklige Koordinaten dienen. Die Wahl der Veranderlichen kann ver-
schiedenartig getroffen werden. Wegen der bequemen und unmittel-
baren Messbarkeit sind vorzugsweise Druck, Volum und Temperatai
benutzt worden, doch hat W. Gibbs^) gezeigt, dass andere Koordinaten,
insbesondere die beiden Kapazitatsgrossen Volum und Entropie, neben
Fig. 11,
der Fundamentalgrosse Energie manche erhebliche Vorteile bieten. Wir
bedienen uns zunachst der gebrauchlicheren p-y-T-Koordinaten.
Einen Oberblick iiber die Flache, welche die Verhaltnisse eines
Eorpers in fliissigem und gasformigem Zustande darstellt, erhalten wir
am leichtesten, wenn wir uns die einzelnen Isothermen der Fig. 10
proportional den entsprechenden Temperaturen in den Raum hinein-
geriickt und stetig verbunden denken. Wir erhalten dadurch das Bild
eines Abhanges, an welchem sich eine Art Terrasse befindet, die in der
Hohe schmal anfangt und sich, breiter werdend» nach vorn abseukt.
In der Fig. 11 ist diese Flache in perspektivischer Zeichnung veran-
schaulicht; die Linien, die iiber den Abhang gezogen sind, stellen Iso-
thermen dar. Die krumme Flache zerfallt in die drei homogenen
Gebiete: fliissig, Gas und Dampf, und das heterogene fliissig -|- Dampf.
>) Thermodyn. Stud. S. 25, Leipzig 1892.
Das chemische Gleichgewicht.
343
Die drei ersten Gebiete sind stetig miteinander verbunden und durch
die kritisclie Isotberme nebst den beiden Randern der Terrasse abge-
teilt Das beterogene Gebiet fliissig + Dampf ist eine Gylinderflache,
die der Y-Axe parallel ist; verlangert man sie bis zum Durchscbnitt
mit der p-T-Ebene, so erbalt man, wie natiirlich, die Dampfdruckkurve.
Denkt man sich dnrch die Flacbe Ebenen senkrecht zur p-Axe
gelegt, 80 erhalt man die Linien konstanten Druckes, die Isobar en.
Sie haben die Eoordinaten Volum and Temperatur und sind im ausseren
Gasgebiete Gerade, die rUckwarts verlangert dorch den Anfangspunkt
T=0, y = 0 geben wiirden. Dies ergiebt sich aus der Gasgleichung
p Y = R T, die bei konstantem p in die Gestalt v = a T nbergeht
Fig. 12.
(a =
eine solche Gleichung stellt Gerade der geschilderten Art
dar. Je grosser der Druck wird, um so mehr neigen sich die Linien
nach rechts abwarts und nehmen gleichzeitig einen Wendepunkt an,
der beim kritischen Druck eine horizontale Tangente hat. Von dort ab
setzen sich die Isobaren ebenso wie die Isothermen aus drei StUcken
zosammen, von denen der mitUere, geradlinige Teil die heterogenen
Zustande darstellt.
Schliesslich kann man die Linien konstanten VolumSy die Iso-
cboren, untersuchen, welche die Eoordinaten p und T haben und
beim Durchscbnitt der Flache mit Ebenen senkrecht zur Volumaxe
entstehen. Sie besitzen die Eigentiimlichkeit, dass sie im heterogenen
Gebiete alle in einer Kurve, der Dampfdruckkurve, iibereinander liegen
344
II. Ghemische Dynamik.
and nur fiir die homogenen Gcbiete der Fliissigkeit und des Dampfes
auseinandergehen. Die Fig. 13 etellt schematisch eine Anzahl Isochoren
dar. Ist das Volum zuuachst das kleinste, welches die Fliissigkeit bei
ibrer tiefsten Temperatur einnehmen kann, so wird eine Steigerung der
Temperatur alsbald eine enorme Zunahme des Druckes bewirken, und
man erhalt als Zustandskurve die fast senkrecht aufsteigende, schwach
nach rechts geneigte Linie 1. Ist das Volum etwas grosser, so besteht
bei der niedrigsten Temperatur Dampf neben Fliissigkeit, und die Be-
ziehuDg zwischen Druck und Temperatur beira Erwarmen wird durch
Fig. 13.
einen Teil der Dampfdruckkurve dargestellt. Bei weiterem Erwarmen
wird die Fliissigkeit allmahlich den Raum ganz ausfuUen, und die
Kurve 2 verlasst unter einem Winkel die Dampfdruckkurve, um wieder
iiahezu senkrecht, aber doch etwas mehr nach rechts geneigt, anzu-
steigen. Je grosser das Volum genommen wird, um so spater wird
die Dampfdruckkurye verlassen, und um so starker ist wegen des
wachsenden Verhaltnisses Kompressibilitat : Warmeausdehnung der der
Fliissigkeit angehorige Anteil nach rechts geneigt, 4, 5. Beim kritischen
Volum eudlich wird die ganze Dampfdruckkurve dd durchmessen^and
der weitere Verlauf der Isochore schliesst sich stetig an diese any'ln-
dem sie in eine Gerade iibergeht.
Ist das Volum grosser als das kritische, so erfullt die Fliissigkeit
nie mehr den ganzen Raum, sondern bei steigender Temperatur 4^er*
grossert sich der Dampfauteil auf Kosten der Fliissigkeit, und ^ noch
vor der kritischen Temperatur wird die Dampfdruckkurve unter einem
Das chemiBche Gleichgewicht.
345
bestimmten Winkel verlassen, indem die Fliissigkeit ToUkommen ver-
schwunden und der Baum homogen mit Dampf erfullt ist. Weitere
Temperaturerhohung bringt dann, dem Gasgesetz entsprechend, bald
eine der Temperatur proportionale Druckzunahme hervor, 6. Je grosser
das Volum ist, um so eher wird die Dampfdruckkurve verlassen, 7, 8, 9,
und die Gasgesetze treten schliesslich unmittelbar io Wirksamkeit, 10.
31. Die stetigen Kurven, Nachdem von James Thomson*) im
Anschlusse an die Untersuchun-
gen von Andrews die Vermutung
ausgesprochen worden war, dass
die Stetigkeit im Verlaufe der
Isothermen, welche sich bei den
Gasen bis zur kritischen Iso-
therme zeigt, auch bei tieferen
Temperaturen theoretisch ange-
nommen warden konne, indem
man die beiden homogcnen Teile
ab and cd (Fig. 14) durch einen
S-formigen Zug verbindet, hat
?an der Waals*) gezeigt, dass
aos seiner vervollstandigten For-
mel fur den Gaszustand sich nicht
nar einfache Beziehungen zwi-
schen den Konstanten der Formel
und den kritischen Grossen her-
leiten lassen, sondern sich auch
der von J. Thomson vermutete
Verlauf des stetigen (Iberganges
^ou Dampf und Fliissigkeit ergiebt.
Die Berechtigung dieser Ansicht beruht vor alien Dingen darauf,
dass es moglich ist, die Zustandskurve der Dampfe dc iiber den Punkt
d nach oben und die der FlUssigkeiten ab iiber a nach unten zu ver-
folgen, also einen Teil dieser Zustande wirklich zu beobachten (I, 297).
Nimmt man die theoretische Existenz der ganzen Kurve an, so lasst
sich, wie Maxwell und Clausius') gezeigt haben, eine einfache Beziehung
zwischen der Lage der Geraden der heterogenen Zustande und der
Fig. 14,
>) Phil. Mag. (4) 43, 227. 1872.
*) Die Kontinuit&t des gasfdnnigen und fltissigen Zustandes. Leipzig 1881.
*) Maxwell, Nature 1875; Cl&usius, Wied. Ann. 9, 127. 1879.
346 n. Chemische Dynamik.
Form der theoretischen Eurve aussprechen: Die Gerade muss so
liegeu, dass die von ihr und den beiden Schleifen der theo-
retischen Eurve begrenzten Flachenstiicke gleich sind.
Der Beweis beruht auf dem Satze, dass bei einem isotbermeu
Ereisprozesse keine Warme in Volumenergie verwandelt werden kaon.
Denn der verwandelbare Anteil der Warme ist proportional -7^-, wo dT
der Unterscbied der Temperaturen ist, zwiscben denen die betrachtete
Mascbine arbeitet, und wird Null, wenn dT = 0 ist, d. b. wenn die
Vorgange isotbenn verlaufen.
Nun denke man sicb roit dem Stoffe folgenden Ereisprozess aus-
gefubrt. Wir geben vom fliissigen Zustande a (Fig. 14) aus und fubren den
Eorper unter dem durcb die Eurve abed angegebenen veranderlichen
Drucke bomogen in den Zustand d iiber. Er giebt dabei Volumenergie
d
im Betrage A) dv ab, welcbe durcb den Flacbeninbalt der Figur fabgcde
a
dargestellt wird. Daun fubren wir den StojQF beterogen von d nacb a
langs der Geraden da zuriick. Dazu mtissen wir Volumenergie zufubren,
welcbe durcb das Recbteck edaf gemessen wird und baben den Sto£f
dann wieder als Fliissigkeit in seinem Anfangszustande a. Die beim
Ereisprozess ausgegebene Volumenergie muss nacb dem obigen Satze
gleicb Null sein, folglicb Flacbe fade = Flacbe fabgcde, und folg-
licb aucb Flacbe abg = Flacbe gcd, was zu beweisen war.
Der obige Satz, dass bei konstanter Temperatur im Ereisprozesse
keine Warme in Volumenergie iibergeben kann, gilt ebenso fiir den t}ber-
gang der Warme in andere Energieformen, und ebenso fiir die t)ber-
gauge aller Euergiearten ineiuander. Er lautet demnacb allgemein:
Wird bei einem Ereisprozesse die Intensitatsgrosse irgend
welcber Euergiearten konstant gebalten, so kann von diesen
Euergiearten kein Teil in andere Formen iibergeben. Der Be-
weis dieses allgemeinen Satzes berubt auf der Definition der Intensitats-
grossen und der Unmoglicbkeit eines Automobile zweiter Art.
32. "RRnmllohe Darstellung. In derselben Weise, wie man durcb
eine Flacbe die Gesamtbeit der bomogenen und beterogenen Zustande
einer fliissig-dampfformigen Masse in Gestalt einer Flacbe in den Eo
ordinaten Druck, Volum und Temperatur darstellen kann, ist dies unter
der Voraussetzung des stetigen t)berganges moglicb. Die „Terras8e** der
beterogenen Zustande in Fig. 11 verscbwindet, und an ihrer Stelle ent-
stebt ein Tbal, welcbes an der recbten Seite von einem relativ immer
bober werdenden Wall begleitet wird. Wegen der S. 345 dargelegten
Das chemische Gleichgewicht
347
BeziehuDg zwischen den empirischen und theoretischen Isothermen
stehen Thai und Wall in einem solchen Verhaltnis, dass, wenn man
sich ersteres aus der Terrasse ausgescbaufelt denkt, das gewonnene Erd-
reich gerade geniigt, um den Wall anzuhaufen. Fig. 15 stellt die
Fig. 15.
theoretische Zustandsflache nebst einer Anzahl in ihr liegender Iso-
thermen perspektivisch in schematischer Weise dar.
33. Metastabile nnd labile Formen.
An die eben erwahnte Thateache, dass so-
woU der Pankt b vom Dampfe, wie der >
Ponkt d (Fig. 16) von der Fliissigkeit iiber-
schritten werden kann, kniipft sich alsbald
die Frage nach dem Betrage der moglichen
Obersdireitung. Da auf diesem Gebiete
2iiir?ereinzelte gelegentlicheBeobachtungen,
aber keine systematischen Arbeiten vorlie-
gen, so miissen wir uns hier mit Andeu-
tongen begniigen.
Aus der Isotherme ergiebt sich, dass
die Cberschreitung des Gleichgewichts- Fig. 16.
A.
^
u
i
348 ^I* ChemiBche Dynamik.
punktes Dampf - Fliissigkeit beiderseits auf der „theoretischen" Kurve
erfolgt, also iiber b nach j3 und iiber d nach 7, wenn wir uns des
Diagramms Druck-Volum bedienen. Es ist dort betont worden, dass ao
beiden Stellen Uberschreitungen experimentell bewerkfitelligt werden
konnen.
Wio weit wird man nun bestenfalls auf diesem Wege gelangen?
Die Antwort findet sich, wenn man den Wert des Differentialquotienten
-^~ langs der Kurve betrachtet. Von links bis zum Minimum 7 ist -r^
Ay ' dv
negatiy; jedem vergrosserten Druck entspricbt ein verkleinertes Volum,
and eine Druckyermehrung findet in dem Anwacbsen des Gegendruckes
infolge des verkleinerten Volums seine natiirliche Grenze. Dasselbe gilt
von dem rechten Teile der Kurve vom Maximum j9 bis a. Dies sind in
sich stabile Zustande.
Ganz entgegengesetzt verhalt sich dagegen der mittlere Teil yc^.
Hier ist -^ positiv; die Druckvermehrung bedingt eine Vergrosserung
des Volums und die Verminderung eine Verkleinerung. Eine einmal
eingeleitete Zustandsanderung begrenzt sich nicht selbstthatig, sondern
setzt sich freiwillig fort Es sind in sich labile Zustande, die, wenn
sie einmal hergestellt sein sollten, bei der kleinsten Anderung sich urn
endliche Betrage, namlich bis zur Erreichung des stabilen Zustandes
verschieben miissen.
Die erst geschilderten Zustande sind also in sich stabil; sie werden
aber unmoglich bei Gegenwart der andcren Phase und unterscheiden
sich dadurch von den eigentlich stabilen Zustanden, die es unter alien
Qmstandeu bleiben. Es ist deshalb niitzlich, fur sie einen eigenen
Namen einzufiihren, und es ist schon an friiherer Stelle die Bezeichnung
metastabil fiir sie in Vorschlag gebracht worden^), welchen Vorschlag
ich hiermit mit der eben gegebenen genaueren Kennzeichnung des
Begriffes erneuere.
Diese Darlegungen stutzen sich auf einen zwar sehr wahrschein-
lichen, experimentell aber nur zu einem kleinen Teile nachgewieeenen
Verlauf der Druck -Volumkurve, sind also noch einigermassen hypo*
thetischer Natur. Aus ihnen ergiebt sich indessen auch leicht ein ez-
perimentelles Kriterium fiir die Kennzeichnung der beiden Gebiete.
^) Die DeiiDition der tnetastabilen Zust&nde an der angef&hrten Stelle ent-
behrt noch der Sch&rfe, die sich erst spttter bei genauerer Untersuchung (Ztschr.
f. ph. Ch. 22, 302. 1897) ergeben hat.
Das chemische Gleichgewicht. 349
Eine metastabile Form ist in sich stabil und verliert diese Eigea-
schaft nur bei Beriihrung mit der anderen Phase. Daraus folgt, dass
ein Zastand, der experimentell dadurch gekennzeichnet ist,
dass er durch keine andere Ursache, als die Beruhrung mit
der anderen Phase umgewandelt wird» als metastabil zu be-
zeichnen ist, wahrend ein Zustand, bei welchem die Umwand-
lung auch bei nacbweisbarer Abwesenheit der anderen Phase
^freiwillig" eintritt, dem labilen Gebiet angebort.
Dabei ist zu bemerken, dass weder die Umwandlung aus dem
metastabilen Znstande bei Beriihrung mit der stabilen Phase, noch auch
die freiwillige Umwandlung der labilen Phase eine zeitlose Augenblicks-
reaktion ist Vielmehr orfordern beide Vorgange Zeit, und diese kann
sich je nach Umstanden yon Bruchteilen einer Sekunde auf Stundeo,
Tage, ja Jahrc und Jahrhunderte ausdehnen.
Die Eigentiimlichkeiten des metastabilen Gebietes ergeben sich aus
der Betrachtung der raumlichen Fig. 15.
Wird einerseits die tiefste Thallinie, andererseits die Kammlinio
des Dammes nach links auf die p-T-Ebene projiziert, so entstehen zwei
Karven, welche die Dampfdrucklinie oben und unten begleiten, ihr mit
steigender Temperatur naher kommen und sich im kritischeu
Punkte mit ihr vereinigen. Diese beiden Kurven begrenzen das
metastabile Gebiet, das sich an die Dampfdruckkurve nach unten fur
die Fliissigkeiten, nach oben fiir die Dampfe anschliesst. Innerhalb der
beiden Grenzkurven kann jeder Punkt sowohl einer Fliissigkeit wie
einem Gase zukommen, donn jede Senkrochte aus diesem Gebiete
schneidet die Flache dreimal, einmal im Fliissigkeitsteile, sodann ini
«anmoglichen** Teile, dem linken Abhange des Walles, und schliesslidk
am rechten Abhange, im Dampfteile. Ausserhalb des eingeschlossenen
Gebietes giebt es oben nur Fliissigkeit, unten nur Gas.
Von diesen Bemerkungen ist die wichtigste die, dass in der Nabe
des kritischen Punktes die Breite des metastabilen Gebietes sich ver-
mindert, um bei diesem selbst gleich Null zu werden. Dies besagt,
dass Oberkaltungserscheinungen dort nicht moglich sind. In der That
liegt der gebrauchlichen Methode, die kritische Temperatur durch Er-
hitzen eines zu etwa ^/g mit der Fliissigkeit gefuUten Rohrchens bis
zur Homogenitat und Beobachten der ersten Nebelbildung beim lang-
samen Abkiiblen die Voraussetzung zu Grunde, dass unter solcheu
Umstanden keine Verzogerungen auftreten. Der Umstand, dass man
auf diese Weise wirklich zu iibereinstimmenden Zahlen gelangt, beweist.
350 II. Chemische Dynamik.
dass, falls bier tJberkaltungen uberhaupt auftreten konnen, sie jedenfalls
anmerklich gering sind.
Umgekehrt wird das metastabile Gebiet urn so breiter und die
Moglichkeit einer Uberschreitung des Gleichgewicbtspunktes fliissig-
dampfformig um so ausgedehnter, je weiter der Zustand vom kritischen
entfernt ist. Wir werden von dieser Bemerkang an spaterer Stelle
Gebrauch macben.
34. Das Temperatnrgesetz des Dampfdmckes. Die Beziehung,
welche zwiscben der Temperatur und dem Dampfdrucke bestebt, lasst
slob allgemein nicbt formulieren (I, 312); wohl aber kann man eine
ganz allgemeine Formel fiir die differentielle Anderung des Dampf-
dmckes mit der Temperatur aufstellen. Sie lasst sicb auf ganz dieselbe
Weise ableiten, wie der Ausdruck fiir die Anderung des cbemischen
Gleichgewicbts mit der Temperatur; nur wird durcb den Umstand,
dass bei einer isotbermen Anderung der Druck konstant bleibt, wenn
Fliissigkeit und Dampf nebeneinander besteben, die Formel wesent-
licb einfacber. Fiir eincn Kreisprozess zwiscben zwei unendlicb nahen
Isotbermen baben wir dv.dp = d^.dT, und da die Anderung des Vo-
lums V der der Entropie tj (Verdampfungswarme dividiert durcb die
Temperatur) auch iiber endlicbe Strecken in diesem Falle proportional
ist, so konnen dv und d^ durcb V und S ersetzt werden, wo V eine
beliebige endlicbe Zunabme und S die entsprecbende endlicbe Entropie-
anderung bedeutet. Fiir letztere kann Q/T gesetzt werden, wo Q die
Verdampfungswarme ist, und wir erhalten die woblbekannte Formel
dp/dT = Q/TV.
Diese Formel ist allgemein; beziebt man sie auf einen Fall, in
welchem der Dampf den Gasgesetzen geborcbt, so kann (unter Yemach-
lassigung des yerscbwindenden Fliissigkeitsvolums) pV = RT gesetzt
werden. Substituiert man V aus dor Gasgleicbung und beacbtet, dass
dp|p = dlnp ist, so erbalt man die Formel in der Gestalt
dlnp/dT = Q/RT«,
welcbc der auf S. 313 ganz abnlich ist.
In der Formel miissen, der Ableitung gemass, Q und R auf gleiche
Mengen bezogen werden, am rationellsten auf ein Mol des betrachteten
Stoffes. Dann bat R den bekannten Wert 2cal/T und Q ist die mole-
kulare Dampfwarme.
Fiir die Integration der Formel gelten ganz dieselben Bemerkangen,
wie fiir die der abnlichen Formel auf S. 314; da Q eine meist onbe-
kannte Funktion der Temperatur ist, so ist das Integral nicbt allgemein
Das chemische Gleichgewicht. 351
angebbar. Der an friiherer Stelle (S. 339) hervorgehobene wesentliche
Einflnssy den die Natur der Fliissigkeit auf den Verlauf der Dampf-
druckkurye iibt, tritt in der Gestalt zu Tage, dass dieser von dem
Werte Q abhangig ist; nun muss offenbar jeder durch die Temperatur
bedingte Einfluss auf die Beschaffenheit der Fliissigkeit sich durcb eine
entsprechende Anderung der Yerdampfungswarme geltend machen, in-
dem z. B. ein in der Fliissigkeit unter Warmebindung verlaufender
Vorgang die Yerdampfungswarme um einen gleichen Betrag vermehrt
und umgekehrt.
Beziiglich Q ist noch zu bemerken, dass darunter die gesamte
Yerdampfungswarme, eingeschlossen die dabei geleistete aussere Arbeit,
zu verstehen ist, wie aus der Ableitung sich ergiebt. Fiir mancbe Be-
trachtungen ist es bequemer, an Stelle des Druckes die Konzentration
der Dampfphase in der Formel zu haben; man hat dann, wie friiher,
c = — = ^
V RT
lnc = lnp — InR — InT
d lnc=dlnp — dlnT = dlnp =r~'
und substituiert man dies in die Gleichung fiir dp, so folgt
dlnc_ Q 1^ Q— RT _ q
dT ~RT» T"^ RT« ""RT^'
Hier hat wieder Q — RT die Bedeutung der gesamten latenten
Wanne, vermindert um die fur die Bildung eines Mols Dampf ausge-
gebene Volumenergie pv = RT, d. h. der sogenannten inneren Yer-
dampfungswarme. Diese Warme ist die zur Bildung eines Mols
Dampf in einen vorhandenen leeren Raum erforderliche Warme. Was
diesen Ausdruck wichtig macht, ist die Thatsache, dass bei der Auf-
losung eines Stoffes in einem Losungsmittel praktisch dieser Fall ein-
tritt, indem das Losungsmittel fiir den Stoff ein Yakuum darstellt; auoh
ist in diesem Falle die Konzentration die der Messung unmittelbarer
zngangliche Grosse, als der (osmotische) Druck.
Als Einheit der Konzentration dient gemass der Definition
c= — = — ^ ein Mol im Kubikcentimeter. In der obenstehenden
T Rl
Formel ist die Einheit ohne Belang, da dine von ibr unabhangig ist.
Die experimentelle Priifung des Dampfdruckgesetzes hat zu wieder-
holten MaJen, insbesondere an den bestbekannten Grossen des Wasser-
dampfes stattgefunden. Da an spaterer Stelle iiber die Priifung der-
352 II- ChemiBche Dynamlk.
selben Gleichung bei chemischen Vorgangen (dem Dampfdruck kr78tall-
waeserhaltiger Salze) zu berichten ist, darf auf die eingebeade MitteiluDg
der auf die gewohnlicben Dampfe bezuglicben ArbeiteD verzichtet werden.
35. Eine Verallgemeinerang. Das gleiche einfache Gesetz der
Dampfdruckkurye besteht, ob die Fliissigkeit, die 8ich in Dampf ver-
wandelt, einheitlich oder ein Gemisch aus mehreren hylotropen Formen
eines Stoffes ist. Auch ist es obne Belang, ob der Dampf einheitlich
oder ein Gemisch ist. Solche Falle sind an der Essigsaure and am
Stickstofifhyperoxyd mit besonderer Riicksichtnahme auf diese Frage
von Ramsay^) gepriift worden, indem er die Bezichung zwischen Dampf-
druck und Temperatur sowohl auf statischem, wie auf dynamischem
Wege (I, 307) an ihnen bestimmte; die Ergebnisse beider Methoden,
die sich durcb einen sehr grossen Unterschied in der Zeit» die fur die
Einstellung des Gleichgewichts geboten wird, unterscheiden, waren gleicb.
Dies beweist zunachst, dass der einheitliche Zustand der beiden Phasen
keine Bedingung fiir die Geltung des Dampfdruckgesetzes ist'); es be-
weist ferner, dass die Geschwindigkeit der Reaktion, die zum Gleidi-
gewicht in den beiden Phasen fiihrt, in diesen Fallen sehr gross ist
Wir haben es in einem solchen einfachsten Falle mit vier ver-
schiedenen Gleichgewichten zu thun, von denen aber nur drei unab-
hangig voneinander sind. Seien A und B die beiden Formen in der
Fliissigkeit, a and b dieselben im Dampf, so miissen Gleichgewichte
bestehen zwischen A und B in der Fliissigkeit, a und b im Dampf,
zwischen A und a in beiden Phasen und ebenso zwischen B und b.
Nun denke man sich, das Gleichgewicht zwischen A und B in der
Fliissigkeit habe sich hergestellt; dann sendet die Fliissigkeit a and b
als Dampf aus, und zwar in Mengen, die von dem Verhaltnis A : B ab-
hangen. Das Verhaltnis a:b ist dadurch fest bestimmt. Andererseits
muss zwischen a und b Gleichgewicht unabhangig von der Anweseuheit
der Fliissigkeit bestehen, und man kann leicbt einschen, dass dies
Gleichgewicht nicht verschieden sein kann von dem, das durch das
») Phil. Trans. 1, 109. 1886; Zeitschr. f. phys. Chemie 1, 243. 1887.
*) Der Begriff der nicht einheitlichen FlOssigkeit muss hier in genau dem
Sione genommen werden, in velchem er gebraucht wird. Bei den hier betrach-
teten Gleichgewichten hat jede Phase, sie sei chemisch einheitlich oder nicht,
immer dleselbe elementaranalytische Zusammensetzung, und wir werden sp&ter
sehen, dass eine solche Gleichheit der Zusammensetzung der beiden Phasen auch
far Gleichgewichte hdherer Ordnung die Bedingung far die Geltung des Dampf-
druckgesetzes ist. Eine nicht einheitliche FlUssigkeit im Sinnc dieses Kapitels
ist also eine solche, die aus einem Gemisch von Isomoren besteht, die sich inein-
ander verwandeln kOnnen.
Das chemiBche Gleichgewlcht. 353
Verbaltnis der beiden Dampfdrucke gegeben ist. Denn ware es ver*
schieden, so konnte man durch abwechselnde Verbindang der Dampf*
phase mit der fliissigen and Trennung Ton ihr endliche Drackande-
mngen im Dampfe bei konstanter Temperatur erzeugen und diese zu
einem Automobile zweitet Art verwerten. Folglicb sind Verschiedeu-
heiten der beiden Gleichgewichte nicht moglich.
Unterscbeiden wir die Gleicbgewichtskoef&zienten durch die ent*
sprechenden Stoffbezeichnungen als Indices, so haben wir, wenn wir
die obige tlberlegung in Formeln^) ausdriicken:
Ca t Ca , cb , Ca ,
— - — KaB» "— *kAa> -~~" — **Bbj """" *abf
Cb Ca Cb Cb
uad hieraus ergiebt sich alsbald
kAa kAB
kBb kab
Diese Formel zeigt, dass von den yier Koeffizienten nur drei unab-
bangig sind.
Ganz ahnliche Cberlegungen gelten fUr den Fall, dass mehr als
zwei Terschiedene Formen Torliegen« Hier ist die Zahl der Koeffizienten
n', Yon ihnen sind aber wieder nur 2n — 1 unabhangig, und die iibrigen
lassen sich als Funktionen von ihnen darstellen.
36. Zweiphasiges Gleiehgewieht. Zwelter Fall: Fester Kdrper und
Bampf. Was ia den yorigen Paragraphen fiber die Gesetze des Gleich-
gewichte zwischen einer fliissigen und einer Dampfphase gesagt worden
ist, lasst sich fast ohne Anderung fiir den Fall des festen Korpers
wiederholen. Auch hier besteht ein nur Ton der Temperatur abhangiges
Gleiehgewieht zwischen beiden Phasen, mit anderen Worten eine Dampf-
druckkurye, und zwar unabhangig dayon, ob es sich um eine Ver-
dampfung ohne (nachweisbare) chemische Anderung handelt, oder um
einen mit chemischer Umwandlung yerbundenen Vorgsmg.
Die Feststellung des Dampfdruckgesetzes bei festen Eorpern ist
erst etwas spater erfolgt, als bei Fliissigkeiten; die ersten genaueren
MesBungen riihreu hier wohl yon Regnault her.
Dass auch bei chemischen Umwandlungen unter ahnlichen Um-
standen ein Gesetz bestimmten Druckes gilt, ist nicht an dem einfachen
^) Um die Zeichen nicht zu sehr za belasten, let die Andeutung der mOg-
licben Exponenten unterlassen worden. Ferner ist zu betonen, dass die GrOssen
K.^ and C3 wirksame Mengen und nicht rohe Eonzentrationen (S. 332) bedeuten
soUen.
Oitvald, Chemie. n,2. 2.Aiiflr 23
354 n. Chemische Dynamik.
Falle des Gleichgewichts erstcr Ordnung zuerst nachgewiesen worden,
Bondern an dem etwas verwickelteren zweiter Ordnung, und zwar zu-
erst durch Wiedemann und Debray an krystallwasserhaltigen Salzen
and am Calciumcarbonat Da die Grundlinien der Geschichte dieses
Gegenstandes bereits (S. 82) mitgeteilt worden sind, so kann die ein-
gehendere Schilderung des Streites um die Frage, ob es einen kon-
Stan ten Dissociationsdruck giebt oder nicht, auf das entsprecbende
Kapitel verschoben werden. An dieser Stelle soil nur iiber die herge-
horigen Versuche bericbtet werden, die zu einer Zeit angestellt worden
sind, wo das Gesetz des bestimmten Dissociationsdruckes bereits eine
ziemlich allgemeine Anerkennung gefunden batte.
Gegeniiber den Gleicbgewichten Fliissigkeit — Dampf b'egen bier die
Verbaltnisse in der Richtung einfacher, dass ein fester Eorper immer
einheitlich sein muss, was bei Fliissigkeiten nicht der Fall war.
37. Cyan und Paraoyan. Der erste klare Fall eines Gleicbgewicbts
erster Ordnung zwiscben einem festen Eorper und seinem dampf(or-
migen Umwandlungsprodukte ergab sicb bei der Untersuchung der
Umwandlung des Paracyans in Cyan. Beim Erhitzen des Quecksilber-
cyanids bleibt, wie bekannt, ein scbwarzbraunes Pulyer im Gefass*
welcbes die Zusammensetzung des Cyans bat, sicb bei starkem Erhitzen
allmablicb in dieses verwandelt und als ein polymeres Cyan (CN)^ auf-
gefasst werden muss. Erbitzt man dasselbe in einem leeren, mit einem
Manometer verbundenen Raume langere Zeit auf konstante Temperatur,
so entwickelt sicb, wie Troost und Hautefeuille ^) gefunden haben, so
lange Cyangas, bis der leere Raum bis zu einem bestimmten Dmcke
gefiillt ist. Dieser Druck ycrbalt sicb ganz wie der Dampfdruck iiber
einem festen oder fliissigen Stoffe; er ist von der Menge des Paracyans
unabbangig und wachst schnell mit steigender Temperatur. £s wurden
folgende Zablen gemessen:
Temperatur
Druck
502 «
54 cm
506
56
559
12.8*
575
129*
587
157
599
275*
601
81-8
629
86.8*
640
1810
") C. r. 66, 795. 1868.
Das chemische Gleichgewicht. 355-
Fiir die mit einem * bezeichneten Messungen war das Paracjan
aus Cyansilber, fur die anderen ans Cyanquecksilber hergestellt worden.
Die Messungen werden durch den Umstand gestort, dass von 550^
ab ein Teil des Cyans in Stickstoff und Eohle, oder eine kohlereiche
Stickstoff-Eohlenstoffferbindung zerfallt. Der scheinbare Druck wird
alsdann yiel grosser durch den freigewordenen Stickstoff; der Teildruck
des Cyans dagegen folgt nach wie vor dem Gesetze des bestimmten
Zenetzungsdruckes. Um diesen Teildruck zu bestimmen, muss man das
Gas (durch Behandehi mit Kali) analysieren.
Ebenso, wie Paracyan in Cyan Ubergeht, verwandelt sich auch das
letztere iu Paracyan, wie Troost und Hautefeuille durch unmittelbare
Versuche gezeigt haben. Die Umwandlung findet schon bei 350® statt,
ist aber ausserordentlich langsam; bei 440® verlauft sie etwas schneller,
die zweckmassigste Temperatur liegt bei etwa 500®, dort, wo das Para-
cjan eben einen merklichen Zersetzungsdruck zu zeigen beginnt.
38. Cyanfi&iire. Die vorstehenden Betrachtungen sind zur Deutung
der Erscheinungen wesentlich, welche Troost und Hautefeuille ^) an der
CyaDsaure beobachtet haben. Wie schon Wohler gefunden hat, verwandeln
sich die Cyanursaure und das Cyamelid bei hoherer Temperatur in Cyan-
^redampf, welchen man beim schnellen Abkiihlen auf 0® als fliissige
Cyansaure kondensieren kann, die sich ihrerseits wieder bei etwas
hoherer Temperatur alsbald in Cyamelid umsetzt Troost und Haute-
feuille fanden, dass aus Cyansauredampfen oberhalb 150® sich nur
Cjanursaure in krystallinischer Form absetzt, wahrend unter 150® sich
der Cyansauredampf zu Cyamelid verdichtet.
Der Druck des Cyansauredampfes ist derselbe, ob er aus Cyanur-
saure oder Cyamelid entwickelt wird. Diese Thatsache sieht auf den
ersten Blick unwahrscheinlich aus, da ja yorausgesetzt werden muss,
dass beide Stoffe ganz verschiedene Umwandlungsdrucke besitzen; sie
erklart sich indessen aus der oben erwahnten Thatsache, dass sich
oberhalb 150®, wo die Messungen ausgefiihrt wurden, aus den Dampfen
Cyanursaure abscheidet. £s bildet sich also ausschliesslich Cyanursaure,
und nur deren Umwandlungsdruck, nicht der des Cyamelids, ist ge-
messen worden.
Oberhalb 350® zerfallt der Cyansauredampf allmahlich unter dem
Einfluss der Hitze, so dass die Messungen nicht dariiber hinaus gefuhrt
werden konnten. Die beobachteten Zahlen sind:
») C. r. 67, 1345. 1868.
23*
356 II* Ghemische Dynamik.
Temperatur
Druck
160 •
5.6 cm
170
6-8
180
9.4
195
125
215
15-7
227
19-0
256
28-5
330
74.0
350
1200
Die beiden letzten Messungen sind ausgefuhrt worden, indem man
Ton gasformiger Cyansaure ausging, die sich bei 330® und 350® sehr
schnell in Gyanursaure verwandelt, bis sich der konstante Dmck her-
gestellt hat. So kaun man in einen auf 350® erhitzten Ballon beliebige
Mengen Cyansauredampf hineinpumpen, ohne dass der Druck von 120 cm
iiberschritten wird, indem jeder Uberschuss sich alsbald als Cyannrsanre
absetzt. Hier tritt die Analogic der polymeren Umwandlung mit der
Dampfbildung, resp. -verdichtung besonders deutlich hervor.
39. Phosphor. Noch deutlicher treten die Einflusse des Zustandes
der festen, bez. fliissigen Phase auf den Dampfdruck beim Phosphor zu
Tage. Schrotter, der Entdecker des roten Phosphors, hatte bereits er-
mittelt, dass der rote Phosphor, welchen er durch langeres Erhitzen
von gelbem auf 260® darstellte, bei hoherer Temperatur wieder in
gelben iibergehen kann. Die Verhaltnisse dieses Uberganges wurden
dann genauer yon W. Hittorff ^) untersiicht. Dieser stellte zunachst fest^
dass der rote Phosphor wie jeder fliichtige Stoff sich bei bestimmten
Temperaturen in Dampf verwandelt^ bis dieser eine gewisse Dichte an-
genommen hat; der Dampf verdichtet sich bei schneller Abkiihlung als
gelber Phosphor. Beim Siedepunkt des Quecksilberchlorids, 307®, liess
sich die Umwandlung eben nur beobachten, dariiber hinaus wurde sie
deutlich. Die Bildung des Dampfes erfolgt sehr langsam.
Der rote Phosphor bildet sich aus dem gelben nicht nur, wie
Schrotter angab, bei 260®, sondern viel schneller bei hoheren Tempe-
raturen. Bei 300® ist die Umwandlung so schnell, dass die Temperatur
durch die dabei frei werdende Warme, 273 K nach Favre und Silber-
mann, bis iiber 400® steigen kann. Da der gelbe Phosphor bei 260*
siedet, muss dieser Versuch unter Druck ausgefuhrt werden.
Da der gelbe Phosphor schon bei 260® sich in Dampf verwandelt,
roter Phosphor aber bei 358® nur einen Dampfdruck von 3-1 cm nach
») Pogg. 126, 193. 1865,
Das chemische Gleichgewicht. 357
Hittorfifis Messungen zeigt, so erwartete dieser, dass in einer Rohre,
welcbe an einem Ende gelben Phosphor bei 255^ enthielt, an dem
anderen Ende, welches auf 358® erhalten wurde, roter Phosphor sich
absetzen miisse. Es ware das eine Destination von einer kalteren zu
einer warmeren Stelle. Der Versuch gelang nicht. Er ist indessen
spater in etwas anderer Form von Troost und Hautefeuille^) angestellt
vorden; bei einem Drucke, unter welchem sich bei 324® gelber Phos-
phor in Tropfchen absetzte, bekleidete sich das auf 350® gehaltene
Ende derselben Rohre mit rotem Phosphor.
Bei der Umwandlung des gelben Phosphors in roten hat Hittorff
viel grossere Dampfdrucke bei denselben Temperaturen erlangt, als der
rote Phosphor erkennen liess. 6. Lemoine zeigte spater, dass dies nur
daran liegt, dass Hittorff die Erhitzung nicht lange genug fortgesetzt
hatte. In einer sehr ausgedehnten Arbeit') stellte Lemoine die Einzel-
20 30
Fig. 17.
beiten der Umwandlung genauer fest. Er zeigte, dass, wenn man bei
440®, der Temperatur des siedenden Schwefels, in einen gegebenen
Raum yerschiedene Mengen roten Phosphors bringt, dieser sich langsam
in Dampf verwandelt, dessen Dichte mit der Menge des Phosphors
zanimmt, bis sie einen konstanten, bei etwa 4*59 g im Liter liegenden
Wert erreicht, welcher bei weiterer Vermehnmg des Phosphors nicht
zunimmt. Wird das Erhitzen langere Zeit fortgesetzt, so nimmt dieser
Grenzwert alhnahlich etwas ab, um bei 3*7 bis 4*0 g im Liter wieder
koDStant za werden.
Erhitzt man gelben Phosphor, so ist zunachst der Dampfdruck viel
grosser; er nimmt aber, wahrend der gelbe Phosphor sich schnell in
n)ten Terwandelt, bestandig ab, und schliesst mit einem konstanten
Endwert, welcher von dem des roten Phosphors nicht verschieden ist.
Die beistehende Fig. 17 zeigt den Verlauf beider Erscheinungen in der
*; A. ch. ph. (5) 2, 153. 1874.
«) A. ch. ph. (4) 24, 129. 1871.
358 ^^- Chemische Dynamik.
Zeit; die Eurve G gehort dem gelben, R dem roten Phosphor zu.
Zuerst ist G weit iiber R^ dann kreuzen sich beide, um schliesslich
zusammenzufallen.
Die Versuche von G. Lemoine wurden von Troost und Hautefeuille^)
in Bezug auf den Einfluss der Temperatur erweitert. Sie bestimmten
den Dampfdruck des gelben wie des roten Phosphors wie folgt:
Temperatur
Gelber Phosphor
Roter Phosphor
360 •
3-2 Atm.
012 Atm.
440
75
175
487
—
6-8
494
18-0
—
503
21-9
—
510
108
511
262
—
531
—
160
550
—
31-0
570
~
560
Der gelbe Phosphor konnte nicht iiber 51 P hinaus untersucht
werden, weil er sich zu schnell in roten verwandelte.
Troost und Hautefeuille vergleichen die Erscheinungen am Phos-
phor mit denen an der Cyansaure. Diese hat, wie der gelbe Phosphor,
schon bei niederen Temperaturen einen betrachtlichen Dampfdruck,
verwandelt sich aber sehr leicht in Cyamelid, wobei der Dampfdruck
stark abnimmt, wie der gelbe Phosphor in roten iibergeht. Bei hoheren
Temperaturen erhalt man daher schliesslich den „Umwandlung8druck^
(tension de transformation) der schwerfliichtigen Form.
Der ganze Eomplex der vorbeschriebenen Erscheinungen lasst sich
leicht iibersehen, wenn man daran festhalt, dass das Gleichgewicht
zwischen Dampf und rotem, resp. gelbem Phosphor von seiner Natur,
die seine wirksame Masse bestimmt, abhangig ist. Namentlich erklart sich
dadurch die allmahliche Abnahme des Grenzwertes von 4-5 auf 3*7 g im
Liter, welche Lemoine beobachtet hatte. Troost und Hautefeuille haben
(a. a. 0.) nachgewiesen, dass der rote Phosphor, der bei yerschiedenen
Temperaturen entstanden ist, auch verschiedene Eigenschaften, z.B. ver^
schiedenes spezifisches Gewicht und yerschiedene Oxydationswarme be-
sitzt. Der von Lemoine benutzte Phosphor war der kaufliche, bei 250^
bis 270^ dargestellte; seinem Dampfdruck entspricht die Zahl 4*5 g im
Liter. AUmahlich verwandelt er sich bei 440® in die bei dieser Tem-
peratur entstehende Modiiikation mit anderer wirksamen Menge, und
») A. ch. ph. (5) 2, 145. 1874.
Das chemische Gleichgewicht. S59
demgemass nimmt der Dampfdruck ab. Geht man dagegen von gelbem
Phosphor auSy so entsteht von yornherein die letzte Modiiikation, und
der (Jberdrock dauert nur so lange, bis der uberschiissige Dampf sicb
in roten Phosphor umgewandelt hat Daher riihrt die eigentiimliche
Krenzu'ng der Kurven der Fig. 17.
Die ganze Erscheinung ist also nicht ein Gleichgewicht zwischen
gelbem und rotem Phosphor, sondern eines zwischen rotem, resp. gelbem
Phosphor und Phosphordampf. Die Beziehungen, welche zwischen der
festen nnd der fliissigen Form bestehen, werden alsbald fur sich er-
ortert werden. Die zuweilen aufgeworfene Frage, ob der Dampf roter
Oder gelber Phosphor in Dampfform sei, ist miissig; sie hat nicht mehr
Sinn als die Frage, ob Wasserdampf unter Null Grad Wasserdampf
oder Eisdampf sei. Er ist keines von beiden.
40. Anwendung der Damp4>ha8e zur Ermittelung der wlrksamen
Menge. Wendet man den allgemeinen Satz, dass wenn A mit B im
Gleichgewicht ist, und B mit C, auch zwischen A und C Gleichgewicht
besteht, auf die bisher besprochenen Falle an, so gelangt man zu einem
wichtigen, bisher kaum angewendeten Verfahren, urn die wirksame Menge
solcher Formen zu ermittein, bei welchen es nicht mehr gestattet ist,
sie der Konzentration proportional zu setzen. Der oben erwahnte Satz
besagt namlich, dass von zwei Phasen, die miteinander im Gleichgewicht
sind, jede die andere in beliebigen Gleichgewichten vertreten kann, ohne
den Zustand zu andem, also die gleiche wirksame Menge hat.
So ist beispielsweise die Konzentration des gesattigten Wasser-
dampfes innerhalb der Temperaturen, bei denen fiir dieseii die Gas-
gesetze noch anwendbar sind, ein unmittelbares Mass f&r die wirksame
Menge des Wassers bei gleicher Temperatur. Dient als Einheit der
Konzentration ein Mol im Kubikcentimeter, so ergiebt sich aus dem
Dampfdruck die Konzentration des Dampfes und damit die wirksame
Menge des Wassers bei verschiedenen Temperaturen zu
0 = 1- P
V RT
In dieser Gleichung ist, wenn der Druck in g auf 1 cm* ausgedriickt
ist, R^= 84688 zu setzen (1, 165). Misst man p in cm Quecksilber, so
ist die Zahl mit der Dichte des Quecksilbers, 13-596, zu dividieren,
and wir haben ^
I J cm
c=—
6229 T
Hieniadli ist beispielsweise die wirksame Menge des Wassers bei Tem-
peratai«n zwischeo Qo and 45« gleich 273o bis 318*> abs. (vgL 1,310).
360 ^^* Chemische Djmamik.
Temperatar
Drack
0*
0-460
5
0651
10
0-914
15
1-267
20
1-786
25
2-352
30
3*151
35
4-178
40
5487
45
7136
Wirksamc
i Menge
2-70 X
10-'
376
518
7-06
950
1267
16-70
2178
28-80
3603
Sie nimtnt also in diesem Gebiet im Verhaltnis 1 : 13 za.
Bemerkenswert ist an diesen Zahlen die grosse Veranderlichkeit
mit der Temperatur. Wenn trotzdem, wie wir spater sehen werden,
haufig der Einfluss der Temperatur auf Gleichgewichte zwischen fliissigen
Stoffen (z. B. bei der Esterbiidung) nur gering ist, so liegt das daran,
dass dieser Einfluss bei den verschiedenen fliichtigen Stoffen ziemlich
gleich ist. Dies driickt sich in der Thatsache aus, dass die Dampf-
drucke verschiedener Stoffe bei wechselnden Temperaturen einander an-
genahert proportional bleiben. Fiir Stoffe mit gleicfaen kritischen Tem-
peraturen wiirden sogar, falls die van der Waalssche Beziehung der
korrespondierenden Zustande (I, 303) zutrifft, die Dampfdrucke bei alien
Temperaturen in demselben Verhaltnis stehen, und bei ihnen ¥nirden
demnach auch die wirksamen Mengen unabhangig yon der Temperatur
dasselbe Verhaltnis behalten.
Hierdurch gewinnen die aUgemeinen und besonderen Eigentiimlich-
keiten der Dampfdrucke ein neues Interesse fiir die Lehre Tom che-
mischen Gleichgewicht. Doch sei wiederholt erinnert, dass aus den
Dampfdrucken die wirksamen Mengen nur innerhalb der Gebiete be-
rechenbar sind, wo die Anwendung der Gasgesetze noch zulassig ist.
Eine weitere wichtige Anwendung dieser Betrachtungen ist die,
dass sie uns die wirksame Menge eines in Dampf- oder Gasform iiber-
gehenden Stoffes auch in solchen Fallen kennen lehrt, wo er sich in
Verbindungen, Losungen oder Gemischen befindet.
In solchen Fallen pflegt der Dampfdruck (bez. der Dissociations-
druck) Yon dem des reinen Stoffes verschieden und zwar meist kleiner
zu sein. Da aber fiir den Gaszustand die Proportionalitat zwischen Kon*
zentration und wirksamer Menge gilt, so ergiebt sich das Verhaltnis der
wirksamen Mengen gleich dem der Dampf konzentrationen, und die Messung
des Einflusses, den irgend eine Zustandsanderung auf den Dampf- oder
Dissociationsdruck eines Stoffes hat^ ist dadurch eine Messung des £in-
Das chemische Gleichgewicht. 361
•■
flosses dicser Anderung auf seine wirksame Menge, mit der er sich in
beliebigen Gleichgewichten bethatigt
So werden wir beispielsweise schliessen konnen, dass durch Auf-
losen indifferenter Stoffe die wirksame Menge einer Flussigkeit vermin-
dert wird, da sich der Dampfdruck dabei vermindert. Und weiter ist
zn folgem, dass aquimolekulare Mengen fremder Stoffe die wirksame
Ueoge des Losungsmittels urn gleich yiel vermindern, unabhangig von
ihrer Natur, und dass die yerhaltnismassige Verminderung durch die
Formel ^ gegeben ist, wo n die Zahl der Mole des gelosten Stoffes
und N die des Losungsmittels ist. Denn alle diese Gesetze gelten fur
den Dampfdruck.
In dem vorliegenden Eapitel ist nur Gelegenheit, yon dem ersten
Teil dieser Betrachtungen, der sich auf die notwendige Gleichheit des
Dampfdruckes iu koexistenten fliissigen oder festen Phasen bezieht, Ge-
brauch zn machen. Der weitere Satz, der sich auf yerschiedene Eon-
zentrationen der Dampfphase bezieht, kommt erst im folgenden Eapitel
zur Geltung; doch war schon an dieser Stelle auf die Bedeutung dieser
Betrachtungen hinzuweisen. Ebenso kann erst an spaterer Stelle dar-
gelegt werden, wie in Fallen, wo ein messbarer Dampfdruck nicht yor-
handen ist, die Bestimmuug der Loslichkeit an seine Stelle treten kann.
41. Halbdnrohlassige Scheidewande. Geben wir die bisher stets
festgehaltene Voraussetzung auf, dass in alien Phasen der Druck den
gleichen Wert hat, so gelangen wir zu Betrachtungen, die fiir eine
Anzahl yon Erscheinungen so aufklarend sind, dass ibre Verfolgung
wohl gerechtfertigt erscheint.
Die Moglichkeit, den Druck in zwei angrenzenden Phasen yer-
schieden zu erhalten, beruht auf der Anwendung halbdurchlassiger
Scheidewande (I, 655) im weitesten Sinne, und wir wollen eine halb-
durchlassige Scheidewand allgemein als eine Vorrichtung definieren, durch
weldie wir Drnckunterschiede zwischen zwei Phasen herstellen konnen,
ofane den Stoffyerkehr zu hindem. In spateren Erorterungen werden
wir den Fall betrachten, wo auch Hinderung des Stoffyerkehrs fiir
einige der yorhandenen Stoffe yorhanden ist; gegenwartig haben wir
es nnr mit oinem einzigen Stoffe in yerschiedenen Formen zu thun
ond miissen fiir diesen Durchlassigkeit fordern.
Die wesentlichste Anderung, welche durch die Einfiihrung halb-
durchlassiger Wande in die bisherigen Betrachtungen kommt, beruht
auf dem Umstande, dass solcbo Gebilde einen Freiheitsgrad mehr be-
sitsen, als ihnen nach der Phasenregel zukommen wiirden. Denn die
362 n. Ghemi8ch6 Dynamik.
Phasenregel ist unter der Voraussetzung abgeleitet worden, dass keine
Druckyerschiedenheit zwischen den Phasen moglich ist; durch die nn-
abhangige Existenz zweier verschiedener Drucke im Gebilde ist eine
Yeranderliche mehr zugelassen.
In dem zweiphasigen Gebilde FliissigkeitcDampf sind beim Vor-
handensein einer halbdurchlassigen Wand demnach noch zwei Freiheits-
grade vorhanden, und wir werden bei einer gegebenen Temperatur
nocb eine einfache Unendlichkeit von Zustanden je nach dem Werte
des Dmckes an der Scheidewand erwarten konnen.
Eine Vorstellung von der Herstellbarkeit einer Scheidewand, welche
Dampf durchlasst, Flussigkeit aber nicht, erhalten wir, weun wir Queck-
silber durch ein feinmaschiges Gewebe abschliessen. Auf eine derartige
Wand konnen wir beliebige Drucke bis zu einem Hochstbetrage, der
der Weite der Maschen umgekehrt und der Oberflachenspannung direkt
proportional ist, ausiiben, ohne dass Quecksilber durchtritt, wahrend
der Dampf frei austreten kann. AUgemein wird eine feinporige Wand
aus einem Stoff, der von der Fliissigkeit nicht benetzt wird, als halb-
durchlassige Wand in unserem Sinne wirken konnen. Ebenso kann eine
feinporige Wand aus einem von der Fliissigkeit benetzten Stoffe dienen,
um negative Drucke bis zu einem bestimmten Hochstbetrage, der der
Porenweite umgekehrt und der Oberflachenspannung direkt proportional
ist, in der Fliissigkeit zu erzeugen, ohne dass notwendig Dampf bildung
im Innem der Fliissigkeit auftritt, wahrend doch die Dampf bildung
nach aussen nicht verhindert ist.
In beiden Fallen kommt die Wirkung solcher Scheidewande dnich
die Oberflachenspannung zu stande, und der Ej*folg ist ofb in solchem
Sinne ausgesprochen worden, dass der Dampfdruck von konvexen Ober-
flachen grosser, von konkaven kleiner ist, als von ebenen. Indessen
hat die Form der Oberflache unmittelbar nichts mit dem Dampfdruck
zu thun, sondern nur etwas mit dem hydrostatischen Druckunterschied
durch kapillare Erhebung, bez. Niederdriickung, und dieser Druck-
unterschied ist die Ursache der Verschiedenheit des Dampfdruckes in
dem gedriickten und dem nicht gedriickten Teil.
Eine Vorstellung von dem Sinne, in welchem sich das Gleichge*
wicht Fliissigkeit : Dampf durch Pressung^) der Fliissigkeit andert, et-
^) Mit PresBung werde ich hier und sp&ter den mittels halbdorchl&saiger
Scheidew&nde ausgeQbten besonderen Druck bezeichnen, um ihn vom allgemeineii
Druck zu unterscheiden. Das Wort soil an die Wirkung der gewdhnlichen Obst-
oder Weinpresse erinnern, bei der der feste Teil des Pressgates einen Drack
erf&hrt, wahrend die FiUssigkeit frei austreten kann.
Das chemische Gleichgewicht. 363
halten wir, wenn wir uns liberlegcuy dass durch die Pressung die
wirksame Menge der Fliissigkeit vermehrt wird. Die Folge muss sein,
dass auch die wirksame Menge des Dampfes zunimmt, bis wieder
Gleichgewicht vorhanden ist. Durch Pressung der Fliissigkeit muss
also ihr Dampfdruck zunehmen.
Ebenso muss durch negative Pressung das Volum der Fliissigkeit
Termehrt, ihre wirksame Menge und somit auch der Dampfdruck ver-
mindert werden.
Zur quantitativen Berechnung bedienen wir uns einer im wesent-
lichen von Poynting^) angegebenen Methode.
Wir denken uns die Fliissigkeit in einer senkrechten Rohre ent-
halten, die unten mit einer halbdurchlassigen Platte abgeschlossen ist
In einem leeren Raume wird sich dies Gebilde so ins Gleichgewicht
setzen, dass oben und unten der Dampfdruck um ebensoYiel verschieden
ist, als der hydrostatische Druck der Dampfsaule ausmacht, deren Hohe
gleich der der Flussigkeitssaule ist (ygl. I, 728). Die Fliissigkeit ist
oben und unten nur dadurch verschieden, dass sie unten durch den
hydrostatischen Druck der Fliissigkeitssaule zusammengepresst ist, und
wir Bchliessen daraus, dass der Dampfdruck einer Fliissigkeit, etwa
Wasser, mit dem ausseren Druck wachst, unter dem sie steht. Der
Betrag ergiebt sich folgendermassen.
Sei h die Hohe der Saule, y das spezifische Volum der Fliissigkeit,
V das des Dampfes, x der Dampfdruck der gepressten, p der der un-
gepressten Fliissigkeit, so ist der Dampfdruckunterschied zunachst
h
jr— p = ^.
Ferner ist die hydrostatische Pressung P der Fliissigkeit, durch
weldie die Dampfdruckzunahme bewirkt worden ist,
V
Eliminiert man hiermit h aus der vorigen Gleichung, so folgt
jr-p = P^.
Die Dampfdruckvermehrung ist gleich der Pressung multipliziert
mit dem Verhaltnis der spezifischen Volume von Fliissigkeit und Dampf.
Die relative Dampfdruckvermehrung durch die Pressung P er-
halten wir, wenn wir beiderseits mit dem Dampfdruck p dividieren, zu
>) PhlL Mag. (5) 12, 32. 1881. — Der EiDfluss der Pressung auf den Dampf-
druck findet sich schon bei W. Gibbs (Therm. Stud. 191) erw&hnt; vgl. S. 132.
M I
364 n. Chemische Dynamik.
jt — p Pv
~T'~W
Bequemer wird die Formel, wenn man sie auf molekulare Mengen
bezieht. Wir multiplizieren oben und unten mit dem Molekulargewicht
}l und setzen das Molekularvolum Mv = g:). Unten kommt pVM, wo
VM das Volum einer Molekel Dampf beim Druck p ist. Dafur konnen
wir setzen pVM = RT, wo R die molekalare Gasgleichungskonstante
(I, 165) wird, deren Wert in Gravitationsmass 84690 betragt. Die
Gleichung wird alsdann
jt — p P9)
In dieser Gleichung ist nur noch das Molekularvolum g) von der
Natur der Fliissigkeit abhangig, und die relative Dampfdruckverminde-
rung durch Pressung ist somit bei gleicher Temperatur einfach dem
Molekularvolum proportional.
Der Satz lasst sich aucb in der Form aussprechen, dass die ver-
haltnismassige Anderung der wirksamen Menge einer gepressten Fliis-
sigkeit bei gegebener Temperatur ihrem Molekularvolum proportional
und im iibrigen von ihrer Natur unabhangig ist.
Wenden wir, um eine Vorstellung von der Grossenordnung dieser
Anderungen zu haben, die Gleichung auf Ather bei 0® an, so ist
^ = 100-6, R = 84690 in Gravitationsmass, T = 273; setzen wir, um
die Wirkung der Pressung durch eine Atmosphare zu haben, P= 1033,
^^-5 = 0.0044.
P
Es gehoren also 2-25 Atmospharen Pressung bei 0^ dazu, um den
Dampfdruck des Athers um ein Prozent zu erhohen.
Genaue Messungen iiber die hier vorhandenen Einfliisse liegen
nicht vor, doch sind wenigstens qualitativ solche Erscheinungen nach-
gewiesen. Am leicbtesten, wenn auch nicht in reiner Gestalt, lassen sie
sich beobachten, wenn man auf eine fliichtige Fliissigkeit einen Drack
mittels eines Gases ausiibt. Hierdurch wird eine „ Pressung*' in dem
eben definierten Sinne bewirkt, denn nach dem Daltonschen Gesetz der
gegenseitigen Einfiusslosigkeit der Gase kann die Verdampfung im Gas-
raume ebenso, oder fast ebenso stattfinden, wie im leeren Raome.
AUerdings erfolgt dabei noch eine Nebenwirkung, da durch die Auf-
losung des Gases in der Fliissigkeit deren Dampfdruck herabgesetzt
wird. Welcher von den beiden Einfliissen iiberwiegt, hangt von der
Loslichkeit des Gases ab, wie in dem Eapitel iiber die Gleichgewichte
Das chemische Gleichgewicht. 365
zweiter Ordnnng gezeigt werden wird. Hier geniige die Bemerkung,
dass bei den weniger absorbierbaren Gasen der Einfluss der Pressung
bedeutend iiberwiegt.
Eine Reihe derartiger Erscheinungen ist von P. Villiurd ^) beschrieben
worden, wenn ihm auch ihre theoretische Begiiindung nicht gelaufig
gewesen zu sein scheint. Bringt man in eine Rohre einen Tropfen
Brom. and fiigt gepressten Sauerstoff hinzu, so verdampft in diesem
eine grossere Menge Brom, als bei gleicher Temperatur in demselben
Raume als gesattigter Dampf vorhanden ware, wie sich leicht an der
Farbe erkennen lasst. Die Erscheinung lasst sich schon von 5 Atmo-
8pharen ab bemerken und wird bei einigen hundert Atmospharen sehr
stark; bei 300 Atmospharen ist die Farbung die einer mindestens
sechsmal dickeren Schicht gesattigten Dampfes. Beim Vermindem des
Drackes schlagt sich Brom in Tropfchen nieder. Luft wirkt etwas
schwacher, Wasserstoff sehr schwach. Diese Einflusse der Natur des
Gases zeigen allerdings gleichzeitig, dass es sich nicht um die Wirkung
der Pressung allein handelt. Das gleiche ergiebt sich aus den weiteren
Beobachtungen yon Yillard, die deshalb erst im folgenden Eapitel er-
ortert werden soUen.
Ahnliche Betrachtungen und Beobachtungen liegen von N. Schiller*)
▼or, welcher Ather und Chloroform unter verdichteter Luft untersuchte,
nod fiir 115 bis 120 Atmospharen eine yermehrte Verdampfung im
Verhaltnis yon 1 : 2*9, bez. 1 : 24 beobachtete. Eine angenaherte Rech-
nuDg ergab, dass diese Betrage grosser sind, als sie sich aus der ein-
fachen Theorie erwarten liessen. Die Einstellung des Gleichgewichtes
erfolgte sehr langsam und nahm zwei bis drei Wochen in Anspruch.
42. Zweiphasiges Gleichgewloht. Dritter Fall: Fest-fluBsig. Auch
iur das Gleichgewicht zwischen festen und fliissigen Stoffen sind die
allgemeinsten Gesetze bereits an friiherer Stelle (I, 992) entwickelt
worden. So wird* es geniigen, daran zu erinnern, dass wieder das
Gleichgewicht yon den Mengenyerhaltnissen beider Phasen ganz unab-
hangig ist, und dass die Temperatur des Gleichgewichts oder der
Schmelzpunkt sowohl yon der Beschaffenheit des festen Korpers wio
der Fliissigkeit abhangig ist, also weder eine spezifische Eigenschaft
der einen, noch der andem Form darstellt. Es ist dies zu betonen,
da man zuweilen in der Stochiometrie der Fliissigkeiten den Schmelz-
*) Joiim. d& Phys. (3) 5, 453. 1896.
<) Wied. Ann. 53, 396. 1894 und 60, 755. 1897. An ersterer Stella finden
sich aach weitere Litteratarangaben zu der Frage.
366 n. Ghemische Dynamik.
punkt als eine „yergleichbare'' Temperatur zu benutzen ?ersucht bat
Vergleichbar sind die Schmelzpnnkte erst, wenn ebenso wie die fliis-
sigen aucb die festen Formen vergleicbbar sind, also die letzteren
isomorph sind, oder wenigstens einer morpbotropen Reihe angeboren.
43. Einfluss des Dniokes anf den Schmelzpmikt. Das Oleicb-
gewicht fest-fliissig besitzt nocb einen Freibeitsgrad, die entsprecbende
Temperatur muss sicb also durcb den Druck verscbieben lassen. Els
bat lange gedauert, bis die Tbatsacbe dieser Verscbiebbarkeit entdeckt
worden ist, und es ist bemerkenswert, dass die experimentelle Auffin-
dung durcb Bunsen^) und die tbeoretiscbe Ableitung durcb J. Tbom-
son*) fast zu gleicber Zeit stattgefunden baben (I, 1013).
Die Formel, welcbe die Beziebung zwiscfaen Temperatur- und
Druckanderung darstellt, ist voUkommen iibereinstimmend mit der fur
die Verdampfung entwickelten. Dies riibrt daber, dass es sicb wieder
um ein Gleicbgewicbt mit einer einzigen Freibeit handelt, in welcbem
die Anderungen des Volums und der Entropie einander proportional
sind. Nur muss die allgemeine Form
dp/dT = Q/VT
benutzt werden, da bier kein Recbt bestebt, die Gasgleicbung ein-
zufiibren.
Gegeniiber der Dampfdruckformel bestebt in diesem Falle insofern
eine grossere Mannigfaltigkeit, als die Volumauderung Y beim Scbmebsen
ebensowobl positiv wie negativ sein kann. Die Scbmelzwarme Q ist
dagegen immer positiv, d. b. es wird beim Scbmelzen Warme aufge-
nommen. Daraus folgt, dass der Druck-Temperaturkoeffizient sein Zeichen
mit dem von V wecbselt Schreibt man die Gleicbung in der Gestalt
dT/dp=VT/Q, so bat der DiflFerentialquotient die anscbaulichere Be-
deutung der Anderung des Scbmelzpunktes mit dem Druck. Er ist fur
negative Werte von Y negativ, d. b. der Scbmelzpunkt sinkt bei zu-
nebmendem Druck: ein Fall, der nur beim Eis nacbgewiesen ist Die
anderen festen Eorper vergrossem ibr Yolum beim Scbmelzen, bei ibnen
steigt der Scbmelzpunkt mit zunebmendem Drucke.
Bei der zablenmassigen Anwendung der Formel bat man darauf
zu acbten, dass man iibereinstimmende Einbeiten anwendet Misst man
den Druck in Gewicbtsmass, Gramm auf das Quadratcentimeter» so
muss die in Grammkalorien ausgedriickte Scbmelzwarme mit deren in
Gewicbtsmass ausgedriicktem mecbaniscben Warmeaquivalent 42380 mul«
») Pogg. Ann. 81, 562. 1850.
») Phil. Mag. 87, 123. 1850.
Das chemische Gleichgewicht. 367
tipliziert werden. Misst man den Druck in Atmospfaarcn, gleicli 1033 g
auf das Quadratoentimeter, bo wird aucb das Warmeaqaivalent mit 1 033
zu dividieren sein.
Ferner ist zu bemerken, dass der Ausdmck als Differentialformel
nor fiir beschrankte Bereiche gUt, wo freilich wegen der geringcn
6ro866 Yon V kleine Temperaturandemngen mit nach Atmospharen zu
zablenden Druckanderungen zusammengeordnet sind. Geht man aber
anf weitere Gebiete iiber, benutzt also Druckanderungen von einigen
hundert Atmospharen, so macht sich wieder die Veranderlichkeit der
Schmelzwarme Q mit der Temperatur geltend, und man kann die Formel
weder in ihrer oben gegebenen Gestalt anwenden, noch hat man im
allgemeinen die erforderlichen Daten, um sie zu integrieren.
44. Bestatigung der Bruok-TemperaturformeL Uber die alteren
Arbeiten in diesem Gebiete ist friiher (I, 1014) berichtet worden; bei
ihnen hat es sich mehr um den allgemeinen Nachweis der Richtigkeit,
als um sehr exakte Ermittelungen der Zahlen gehandelt. Auch lagen
den Rechnungen meist Werte von anderen Beobachtern an nicht immer
Tergleichbarem Material zu Grunde.
Ferche^) bestimmte am Benzol die in Betracht kommenden Grossen
alle selbst unmittelbar; er fand die Dichte beim Schmelzpunkt 5*5^ gleich
0-88752 mit dem mittleren Ausdehnungskoeffizienten zwischen 5^ und
W 0^1168. Das feste Benzol hatte die Dichte 1-004875 bei b-b^
Had zwischen 0^ und 4^ den mittleren Ausdehnungskoeffizienten 0*000871.
Die Schmelzwarme wurde zu 30-182 cal fiir das Gramm bestimmt,
and daraus folgt dT/dp = 0-02960. Die zwischen 3 und 5 Atmo-
spharen durchgefuhrten Versuche ergaben dT/dp = 002896, 0-03193,
0-02853, 0-02907, Mittel 0-02965, in guter Cbereinstimmung mit der
Berechnung.
Ein sehr eingeheildes Studium hat dann L. £. 0. de Visser*) der
Frage gewidmet; seine Abhandlung enthalt gleichzeitig eine geschicht-
Uche Obersicht von deren Entwicklung. Er arbeitete mit Essigsaure
und- yerbesserte das Verfahren wesentlich dadurch, dass er die in Be-
tracht kommenden Quotienten dT/dp und V/Q unmittelbar mass.
Ersteres geschah im „Manokr7ometer'^ dessen Einrichtung die
folgende ist Die mit aller Sorgfalt gereinigte Essigsaure befindet sich
in dem Teil R, Fig. 18, und ist durch Quecksilber abgeschlossen, das
inch b erfiillt. Die Erweiterung a und die daran befiudliche Eapillare
ist mit Quecksilber ausgewogen und mit Luft gefullt, die als Mano-
>) WIed. Ann. 44, 265. 1891. *) Rec. Pays-Bas 12, 101. 1893.
368
II. Chemische Dynamik.
meter dient. Die Fiillung ist so eingerichtet, class cin Drnck von etwa
12 Atmosphai'en im Apparat herrscht, wenn das Qaecksilber von seiner
ersten Einstellung unterhalb b bis iiber a in die Eapillare gelangt ist
Da die Beziehung zwischen Druck und Temperatur eindentig ist,
so ist es gleicbgiiltig, ob man, wie die meisten friiheren Forscher, zn
einem bestimmten Drucke die Temperatur des Gleichgewichts sncfat,
oder umgekehrt. De Visser ging den nmgekehrten Weg; er brachte
das Manokryometer in einen grossen Thermostaten, dessen Temperatur
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Fig. 18.
er wahrend einer halbenStunde auf 0-OOP halten konnte und bestimmte
den Druck, der sich im Apparate einstellte. Dieser ontsteht dadurcb,
dass in dem Bade ein Teil der Essigsaure schmilzt, weil die Tempe-
ratur iiber dem gewohnlichen Schmelzpunkte liegt. Dadurch entsteht
eine Volumyergrosseruiig des Inhaltes, die das Quecksilber nach a treibt;
der Druck steigt und der Schmelzpunkt erhoht sich, und wenn der der
Temperatur des Tbermostaten entsprechende Schmelzpunkt erreicht ist,
bleibt der Druck konstant und kann an einer Teiiung abgelesen warden.
UNIVERSI
Das chemische Gl^H^^^H^^^ 339
Die Temperatur wurde so gewablt^ dass die erste Ablesang am Anfange
der Kapillare gemacht werden konnte.
Dann wurde eine hohere Temperatur hergestellt, die einem etwa
doppelt so grossen Drucke entsprach, und wieder eine Ablesung ge-
macht. Schliesslich wurde der Apparat am Ende der Kapillare geoffnet
and der Schmelzpunkt bei dem Druck der Atmosphare (plus dem der
Quecksiibersaule bis unterhalb b) gemessen.
Auf diese Weise ergab sich zwischen 1 und 12 Atmospharen
dT/dp = 0-02425 und zwischen 12 und 26 Atmospharen dT/dp =
CM)24016 im Mittel von fiinf gut ubereinstimmenden Versuchen. Bildet
man mit diesen Werten eine Interpolationsformel nach Damien (S. 370),
80 folgt dT/dp = 002435 fur unendiich kleine Druckanderungen.
Auch das Verhaltnis zwischen der Schmelzwarme und der Volum-
anderung wurde unmittelbar gemessen. Man erhalt den Wert in einem
Apparate wie das Bunsensche Eiskalorimeter unmittelbar, wenn man
eine gemessene Warmemenge, z. B. in Gestalt erhitzten Wassers von
bekanuter Temperatur und bekanntem Gewicht, einfuhrt, und das in-
folge der Schmelzung austretende Quecksilber wagt. Da in die Gleichung
nar dies Verhaltnis eingeht, so ist die Kenntnis der bei einem solchen
Versuch geschmolzenen Menge unwesentlich.
Der Apparat, das „Essigkalorimcter*S wurde ganz in der Gestalt
eines Bunsenschen Eiskalorimeters von geringer Grosse ausgefrihrt. Um
seine Temperatur streng konstant zu halten, wurde es in ein zweites
Easigkalorimeter von passend grosseren Abmessuugen eingesetzt; Fig. 18
zeigt die Anordnung. Das Ergebnis war, dass fiir jede hineingebrachte
Kalorie rund 0-046 g Quecksilber austraten, oder dass, auf Volum be-
redmet,V/Q = 0-0034425 cal/ com betrug. Die einzelnen Werte zeigten
Abweichungen von einigen Tausendstein vom Mittel. Nimmt man das
mechaniscbe Warmeaquivalent gleich 42550 und die Schmelztemperatur
zu 16-60«, also 1;= 289-64, so folgt flir den Druck von einer Atmo-
sphare 1033-3 g/cm« dT/dp = 002421, wahrend unmittelbar 002435
gefunden war. Die t)bereinstimmung lasst nichts zu wiinschen iibrig.
Ausserdem wurden noch Schmelzwarme und Schmelzvolumanderung
unmittelbar gemessen. Die erste ergab sich zu 46-416 cal, die zweite
2U 0-15955 com/ g, weit^abweichend von dem Werte, den Petterson
(I, 1003) gefunden hatte. Das Verhaltnis 00034374 triflft mit dem un-
mittelbar beobachteten 0-0034425 geniigend nahe zusammen.
45. AtiBdehiiimg auf weitere Druokgebiete. Nach den einzelnen
Versuchen Amagats (I, 1003) sind eingehendere Versuche mit grosseren
Ostwald, Chemie. II. 2. S.Aufl. 24
370 II- Chemische DyDamik.
Drucken zuerst von B. G. Damien^) angestellt wordeD. Er experimen-
tierte mit Walrat, Paraffin, Wachs, Naphtalin, Nitronaphtalin, p-Toloidin,
Diphenylamin und Naphtylamin und fand, dass sich die Beziehung
zwischen Druck und Schmelzpunkt durch Formeln von dcr Gestalt
t = t0 + a(P~l) — b(p— 1)* darstellen liessen. Die Koeffizienten sindfiir
a
b
Walrat
0022034
0-0000166
Paraffin
0029776
0-0000523
WachB
0020523
0-0000130
Naphtalin
0*035840
00000155
Nitronaphtalin
0-021056
0-0000610
p-Toluidin
0014215
0-0000430
Diphenylamin
0024156
0-0000850
Naphtylamin
0-017012
0-0001030
und eine Vergleichstabelle fiir den ersten Stoff zeigt eine recht genii-
gende Ubereinstimmung zwischen Versuch und Rechnnng.
Aus der Formel ergiebt sich, wenn man sie nach p differenziert,
dass dX/dp bei einem bestimmten Druck gleich Null werden moss und
dariiber hinaus das Zeichen wechselt. Damach miisste bei steigendem
Druck die Andemng des Schmelzpunktes sich umkehren, und war dieser
bis dahin mit dem Druck gewachsen, so muss er nun abnehmen. Dieser
Umkehrdruck pc ergiebt sich aus der Formel pc — l=a/2b. Bei der
Rechnung ergab er sich fur die moisten Stoffe als zu hoch, urn experi-
mentell erreicht zu werden. Fiir Naphtylamin berechnet er sich aber
auf nur 83-5 Atmospharen; ausserdem findet sich, dass bei 166 Atmo-
spharen der gewohnliche Schmelzpunkt wieder erreicht werden soUte.
Damieu giebt eine Tabelle, welche dicse Folgerung aus der Formel be-
statigt, wenn auch nur ziemlich roh.
Ahnliche Yersuche, aber mit wesentlich anderen Ergebnissen hat
dann R. Demerliac^) ausgefiihrt. Fiir Benzol bewahrte sich die Formel
von Thomson bis zu 10 Atmospharen, aber nicht weiter; die berechnete
Verschiebung des Schmelzpunktes fiir eine Atmosphare betrug 0-02936,
die beobachtete 0-0294. Ebenso wurde fiir p-Toluidin 00188 berechnet^
0-0187 beobachtet, fiir a-Naphtylamin 0-0170 berechnet und 0-0170
beobachtet, gleichfalls bis 10 Atmospharen.
Wird der Druck gesteigert, so stellt die Kurve Druck -Temperatur
nicht mehr eine Gerade dar, sondern hat die Gestalt einer Hyperbel,
») Compt. rend. 112, 785. 1891.
«) Compt. rend. 122, 1117. 1896 und 124, 75. 1897.
Das chemische Gleichgewicht.
371
die nach der Dmckachse konkav ist. Oberhalb 330 Atmoepharen wird beim
Benzol die Karve der Druckachse parallel, d.h. dT/dp wird gleich Null.
Das gleiche gilt fur die beiden anderen Sioffe. Fiir p-Toluidin
Bind die Zahlen mitgeteilt:
Dmck ErhOhaog des Schmelzpunktes
lOAtm. 0-187 •
iO 0*663
80 1114
120 1333
160 1428
180 1-430
Zwischen 160 und 180 Atmospharen ist die Anderung schon sehr
gering geworden; iiber 180 Atmoepharen wird sie Null.
Fiir a-Naphtylamin tritt dies bei 150 Atmoepharen ein.
Die Versuche wurden mittels eines Kompressionsapparates angestellt,
der eioe sehr langsame Drucksteigerung gestattete; das Manometer war
mit einem freien Quecksilbermanometer verglichen worden. Die Tempe-
raturmessung geschah durch die Bestimmung des Widerstandes eines
sehr feinen Eisendrahtes, der in die Rohre mit dem Stoff eingeschlossen
war; die Rohren waren von Glas, und iiber 150 Atmospharen von Stahl.
In Riicksicht auf die auffallende Angabe von Damien, dass sich
der Schmelzpunkt bei gesteigertem Drucke wieder erniedrige, wurde
dieser Fall besonders sorgfaltig untersucht, ohne dass jedoch eine £r-
niedrigung hatto beobachtet werden konnen.
Aqs theoretischen Griinden, die alsbald auseinandergesetzt werden
soUen, lasst sich schliessen, dass die Angabe von Demerliac eine weit
grossere Wahrscheinlichkeit fur sich hat, als die von Damien.
46. Graphisohe DarsteUung. Man
kann, ganz wie beim €bergange zwischen
Fliissigkeit und Dampf, auch die Um-
wandlung des festen Korpers in Fliissig-
keit anschaolich durch Kurven zwischen
je zwei Veranderlichen, bez. durch ein
riumliches Modell darstellen. Was zu-
nachst die Isothermen anlangt, so haben
sie die Form Fig. 19 a und b, und zwar
bexieht sich a auf die gewohnlichen Stoffe,
dieihr Volum beim Schmelzen vergrossern,
b auf Stoffe von der Art des Wassers, die beim Schmelzen sich zu-
sammenziehen. Da das Volum der Stoffe sich durch den Druck nur
24*
fest
ftasgig
flusfig
fest\
Fig. 19^
372 !!• Chemische Dynamik.
wenig andert, so setzen sich die Isothermen aus zwei fast seukrechten,
nur wenig nach links iibergeneigten, annabernd geraden Linien zasammen,
die durch ein horizontales Stiicky die Kurve der heterogenen Zustande,
verbunden sind. Nur ist zu beachten, dass es wegen der geringen
Verschiebbarkeit des Schmelzpunktes durch den Druck nur innerhalb
eines sehr engen Temperaturgebietes iiberhaupt experimentell zugang-
liche Isothermen fest-fliissig giebt. Die Kurve bringt zum Ausdruck,
dass ein fester Korper der ersten Art bei geringem Druck fliissig sein
kann und dann bei Steigerung des Druckes in die feste Gestalt iiber-
geht. Wahrend dieses t)berganges vermindert sich das Volum, wahrend
der Druck konstant bleibt, und erst nachdem die ganze Menge fest
geworden ist, kann der Druck durch weitere Volumverminderung wieder
gesteigert werden.
Ein Korper der zweiten Art ist dagegen bei niederen Drucken fest
und wird durch Druckzuuahme bei einem bestimmten Werte des Druckes
fliissig, wobei wieder wahrend der ganzen Dauer des heterogenen Zu-
standes der Druck nicht vermehrt werden kann.
Viel gelaufiger sind uns die Isobaren, die das Verhalten der
Stoffe bei konstantem Druck, z. B. dem
der Atmosphare, darstellen. Sie beginnen
flUstigl I hei niedrigen Temperaturen mit einem
kleineren Volum, das durch Erwarmung
flussig langsam wachst, bis der Schmelzpunkt
bei dem herrschenden Drucke erreicht
ist. Jetzt bleibt die Temperatur konstaat,
bis alles geschmolzen ist. Je nachdem
fest dies unter Zu- oder Abnahme des Yolums
erfolgt, haben wir die Euryen a und b,
"v Fig. 20; ist alles fliissig geworden, so
boginnt eine neue Periode geringer Vo-
lumzunahme infolge dor Warmeausdehnung der Fliissigkeit.
Die Form der (experimentell so gut wie unbekannteu) Isochoren
wird durch eiiie der Druckachse fast parallele, zweimal geknickte Linie
dargestellt, deren beide ausseren Teile starkere Neigung haben als det
mittlere, der den heterogenen Zustanden angehort.
Deutlicher werden die Verhaltnisse am raumlichen Modell. Be-
trachten wir zunachst die gewohnlichen Stoffe, die sich beim Sohmelzen
ausdehneu, so besteht das Modell aus drei zueinander nahe senkrecht
stehenden, der Druckachse fast parallelen und fast ebenen Flachen.
Fig. 21 stellt schematisch diesen Zusammenhang dar.
1
rest
Das chemische Gleichgewicht.
373
Da bei den gewShnlichen Stofifeii sowohl die Warmeausdehnung,
wie die Zusammendriickbarkeit im fliissigen Zastande grosser ist als
im festen, so nahem sich diese beiden Flachen bei steigendem Druck
nnd entsprechend steigender Temperatur, and es wird wahrscheinlich,
class sie sich bei irgend einem bohen Drucke vereinigen werden, so
dass dort ein kritischer Punkt fest-fliissig zu erwarten ist, wie
das auch in der Zeichnung sich angedeutet findet^). In diesem Punkte
wiirde kein Unterschied zwischen beiden Zustanden mehr bestehen, und
die allgemeine Definition eines kritischen Punktes, dass an ihm die
spezifische Entropie und das spezifische Volum beider Formen gleich
werden, findet ihre Anwendung. Auf einige weitere Schlusse aus der An*
uahme eines solchen kritischen Punktes wird alsbald eingegangen werden.
Fig. 21.
Fig. 22.
An dem raumlichen ModeU ist die Grundflache eine v-T-Ebene,
nnd die untere Begrenzung der Zustandsflache lasst eine Isobare er-
keunen. Eine Isotherme ist als punktierte Linie eingezeichnet, ebenso
eine Isochoro.
In dem Modell fiir Eis, Fig. 22, ist durch die vorstehende Eisflache
die Flache der heterogenen Zustande, wie ein Toil der Wasserflache ver-
deckt^ wenn wir die Koordinaten in gewohnlicher Lage zeichnen. Doch
machen die punktierten Linien die Lage der Flache der heterogenen
ZostAnde hinreichend deutlich.
47. Eine halbdurohlassige Soheidewand. Ganz ahnliche Betrach-
tnngen, wie wir sie fur Fliissigkeit und Dampf angestellt haben, lassen
sich beziiglich der Wirkung halbdurchlassiger Scheidewande auf den
Dampfdruck der festen Korper durchfUhren. Das Ergebnis ist das
>) Poynting, Phil. Mag. (5) 12, 32. 1881. — Planck, Wied. Ann. 15, 446. 1882.
374 n. Chemische Dynamik.
gleiche, und die S. 363 gegebene Formel gilt ohne Anderung aach fiir
feste Eorper. Ein Unterschied liegt nur insofern vor, als sich hier
halbdurchlassige Scheidewande viel leichter herstellen lassen, als im
Falle der Fliissigkeiten, da, wenn der feste Eorper nicht zu plastisch
ist, jede nicht zu grob durchlocherte Platte den Zweck erfullt Es
scheint demnach nicht schwer zu sein, die Theorie gerade im Falle cines
festen Korpers zu priifen, doch ist mir nicht bekannt, dass in dieser
Richtung ein Versuch angestellt worden ware.
48. Die halbdurohlfissige Soheidewaud im Falle fest-flflBslg. Die
S. 366 gegebenen Entwickelungen beziiglich der Verschiebung des Schmelz-
punktes durch Druck gelten, wie vorausgesetzt wurde, fiir den Fall, dass
sowohl der feste Eorper, wie die Flussigkeit einen gleichen Druck er-
fahren. Anders werden die Ergebnisse, wenn wir eine halbdurchlassige
Scheidewand anwenden und den festen Eorper inmitten der Flussigkeit
pressen. Dann ist die Emiedrigung, bez. die Erhohung des Schmelz-
punktes viel grosser, und zwar verhalt sie sich zu der friiheren wie
das spezifiscbe Volum des festen Eorpers zu der Volumanderung beim
Schmelzen. Dieser Satz ist zuerst von Poynting^) aufgestellt worden.
Um ihn zu beweisen, konnen wir folgende einfache Betrachtung anstellen.
Man nehme eine gewisse Menge Eis in eine Presse mit porosem
Boden, durch den das Wasser ablaufen kann, und unterwerfe es einem
Drucke P'. Dann sinkt die Temperatur auf — t*^, und bei dieser Tem-
peratur und dem konstanten Drucke P' fuhre man die Schmelzwanne
zu, bis alles Eis geschmolzen ist. Die dazu erforderliche Volumenergie
ist PV, wo v' das Volum des Eises ist.
Alsdann nehme man dieselbe Menge Eis und drucke sie in einer
geschlossenen Presse, bis die Temperatur auf den gleichen Wert — t
gesunken ist Dazu ist ein anderer Druck P erforderlich, und unter
seiner Wirkung wird die Schmelzung bei der Temperatur — t ausgefuhrt
Die hierbei stattfindende Volumanderung ist gleich dem Unterschied
der Volume von Eis und Wasser, v'— v, und die Volumenergieanderung
daher P(v' — v).
Nun sind die beiden Vorgange bis auf Grossen zweiter Ordnung
gleichwertig, da in beiden Fallen Eis in Wasser von derselben Tempe^
ratur — t verwandelt worden ist'). Folglich sind die beiden Arbeiten
einander gleich und wir haben v'P'=(v' — v)P oder
*) PhU. Mag. (5) 12, 32. 1881. Vgl. auch Le Chatelier, Zeitschr. f. phys,
Chemie 9, 335. 1892.
■) Im ersten Falle ist das Eis auf den Druck P" gebracht wordeD, w&hrend
das Wasser zum Schloss ohne Druck erhalten worden ist; im iweiten hmt das
Das cbemische Gleichgewicht 375
/ _P
Das gleiche £rgebni8 lasst 8ich auch durch Betrachtungen go-
winnen, die sich denen von S. 363 anschliessen. Sind Po and j^q die
Dampfdrucke des ungepressten und gepressten Wassers, p^' und jt^
die eatsprechenden Dampfdrucke des Eises, beide beim Schmelz-
ponkt, y, y' und V die spezifischen Volume yon Wasser, Eis und
Dampf, 80 gelten die Gleichungen
^0 — Po = Py "°^ V— Po^^'y-
Fiir gleiche Drucke P = P' folgt beim Schmelzpunkte, wo die
Dampfdrucke yon Wasser und Eis gleich sind, also po = po' ist,
y — y
Jr,
. — :;r A = P
V
Daraus folgt, dass unter dem Drucke P kein Gleichgewicht zwi-
8chen Wasser und Eis mehr bestehen kann, da die Dampfdrucke yon
beiden yerschieden geworden sind. Da y' — y und jr^' — jr^ gleiches
Zeichen baben miissen, so folgt, dass der Dampfdruck des Eises schneller
zonimmt als der des Wassers, weil sein Volum grosser ist als das des
Wassers.
Um nun yom Schmelzpunkte auf eine andere Temperatur — t (yom
Schmelzpunkte gezahlt) iiberzugehen, benutzen wir die Dampfdruck-
gleichung dp _ Q
dT~TV"'
wo Q die Verdampfungswarme ist. Setzen wir fur dp den Unterschied
Pi — Po der Dampfdrucke, der dem Temperaturunterschiede — t ent-
8pricht, so haben wir ^
Pt — Po _ Q
— t ""TV'
Fiir das Eis gilt eine ahnliche Gleichung, in welcher Q' die Ver-
dampfungswarme des Eises ist,
£is den grOsseren Druck P erfahren, dafdr ist das Wasser beim gleichen Druck
P erhalten worden. Die zugehOrigen Arbeiten sind Terschieden, sie sind aber bet
n&Bsigem Dmck beide sebr klein im Yerbftltnis zu denen beim Scbmelzen, da beim
Schmelzen die Yolumtoderung 0-1 des Volums des Eises betrftgt, wi&hrend die
Volaminderong dnrch Druck fOr jede Atmospbftre nur etwa 0-00005 aasmacbt;
sodem findet, da nor ibre Differenz auftritt, zum grOssten Teil eine Eompensation
dieser Nebenir:^kangen statt. Will man die Recbnong streng durcbfQhren, so ist
neben diesen GrOssen anch die Verftnderlicbkeit der Scbmelzwftrme mlt dem Druck
ta berftckaichtigen.
376 II* Chemische Dynamik.
Pt — Po _ Q
_t "TV
und da Po=Po' ^s^> ^^ ^^^^
Pt'— Pt _ Q'— Q _ L
— t ~ TV ~TV'
Hierin ist L als Unterschied der Verdampfungswarmeiar von Eis und
Wasser gleich der Schmelzwarme des Eises.
Andererseits gilt fur die Schmelzwarme
dp _ L
dT ~ T(y-y') •
wo dp die Druckandcrung ist, welcbe die Schmelztemperatur urn dT
andert. Setzen wir dp = P, gleich dem Dnick, der die Schmelztempe-
ratur auf — t emiedrigt, so haben wir
P ^ L
— t ~ T(v— v') '
Durch Division in die vorletzte Gleichung kommt
p/— Pt _ ▼— ^'
P ~ V '
Der Untei*8chied der Dampfdruckvermehrungen.von Eis und Wasser
durch gleiche Pressung verhalt sich zu dieser, wie der Unterschied der
spezifischen Volume von Wasser und Eis zu dem des Dampfes.
Wird nun das Eis allein gepresst, so gilt gemass der anfanglichen
Gleichung '
^t Pt = * -TT"
Der Druck P' werde so gewahlt, dass dieselbe Schmelzpunktser-
niedrigung — t eintritt. Unter diesen Umstanden ist das gepresste Eis
mit ungepresstem Wasser im Gleichgewicht; folglich miissen auch ihre
Dampfdrucke gleich sein, oder es ist jrt'=pt. Wird dies in die Glei-
chung gesetzt, so folgt unter Benutzung der vorletzten Gleichung
P' ~ v'- V '
was zu beweisen war.
Am einfachsten endlich erhalten wir das Ergebnis auf graphischem
Wege.
Seien (Fig. 23) w^ und Oq die Dampfdruckkurven von Wasser und
EiSy wenn beide nur ihrem eigenen Dampfdruck unterworfen sind, und W|
und e^ die Dampfdruckkurven, wenn jedes einer bestimmten Pressung P
ausgesetzt ist, so muss nach den eben gegebenen Formeln die Zunahme
Das chemische Gleichgewicht.
377
der beiden Drucke sich Terhalten wie die spezifischen Volume. £s ist
demnach fd:fc = v:v'. Der Schmelzpunkt unter normalem Druck ist
darch den Fasspunkt o der Ordinate gegeben, welche dorch den
Dnrchschnittspunkt f yon Oq und w^ geht. Der Gefrierpunkt t bei dem
gemeinsamen Dmcke P ist der Fusspunkt h der Ordinate des Durch-
schnitispunktes b von w^ und e^. Der Gefrierpunkt te des Eises, wenn
dieses allein die Pressung P erfahrt, ergiebt sich aus dem Durch-
schnitte von e^ mit w^; er liegt in a und die zugehorige Temperatur
in i Soli endlich die Pressung P' ermittelt werden, die auf das Eis
allein ausgeubt werden muss, damit es denselben Schmelzpunkt h hat,
wie das Gemisch von Eis und Wasser durch den Druck P, so zieht
Fig. 23.
man durch den Dnrchschnittspunkt g von bh mit Wq eine Parallele zu
e, und hat, da die Dampfdruckvermehrung des Eises durch Pressung
proportional dem Druck ist, fe:fc = P':P.
Aus der Figur folgt, da die Dreiecke deb und fca ahnlich sind,
abo ihre Seiten sich wie ihre Hohen verhalten,
fc:dc = oi:oh, oder fc:(fc — fd) = oi:oh,
v' te
v' — V t
Oder
Die Gleichung besagt, dass die Gefrierpunktsemiedrigung des Eises,
wenn es allein gepresst wird, sich zu der bei gemeinsamem Driicken
yon Eis mit Wasser verhalt, wie das Volum des Eises zum Unterschiede
der Volume von Eis und Wasser.
Nun haben wir ferner wegen der Gleichheit der Dreiecke deb
und feg auch dc = fe. Folglich ist fc:dc = fc:fe, und da fc:fe =
P:P', 80 kommt ^' p
V V P
Die Drucke, welche erforderlich sind, um gleiche Schmelzpunkts-
emiedrigungen zu erzeugen, wenn einerseits Eis mit Wasser, anderer-
378
11. Chemische Dynamik.
Fig. 24.
seits Eis alloin gepresst wird, verhalten sich wie das Volum des Eises
zum Unterschiede der Volume von Eis uiid Wasser.
Ausser dem Durchschnittsponkte a von w^ mit e^ giebt es noch
den Durchschuittspunkt k von % mit w^, d. b. einen Punkt, wo ge-
presstes Wasser mit ungepresstem, iiberhitztem Eis im Gleichgevicht
ware. Da der letztere Zustand noch ganz unbekannt ist, so kann auf
die Erorterung dieses Falles verzichtet werden.
Handelt es sicb um einen Stoff, der beim Schmelzen sein Volam
vergrossert, so lehrt eine
Betrachtung der Dampf-
''^' druckkurven Fig. 24 fol-
gendes. Bei gemeinsamem
Druck P steigt der
Schmelzpunkt, denn da
nun beim Schmelzpunkt
die Kurve der gepressten
Form unter der der
fliissigen liegt, so kommt
sie mit ibr recbts von der Scbmelzpunktsordinate in a zum Scbnitt
Ferner kommt die Kurve der ungepressten festen Form mit der der
gepressten fliissigen recbts oben zum Scbnitt; boi der entsprecbenden
Temperatur waren beide im Gleicbgewicbt, das allerdings pbysikaliscb
nicht herstellbar erscbeint.
Drittens aber bestebt nocb ein Scbnittpunkt c zwischen unge-
presster Fliissigkeit und gepresstem festen Eorper, wo der letztere so-
mit mit (iiberkalteter) Fliissigkeit im Gleichgewicbt ist. Daber miissen
auch feste Korper, die unter Yolumvermebrung scbmelzen, und daber
in Beriibrung mit Fliissigkeit ibren Schmelzpunkt durch Druck erbobeu,
bei der Pressung ihn vermindern. AUe festen Korper erhalten
durch Pressung einen niedrigeren Schmelzpunkt. Fur diese
Erniedrigung gilt eine ahnliche Beziebung, wie die oben gegebene: Der
Druck P, welcher bei gemeinsamer Wirkung auf ein Gemenge der festen
und der fliissigen Form eine gegebene Erbohuug des Scbmelzpunktes
bewirkt, verbalt sicb zur Pressung P', die eine gleiche Schmelzpunkts-
erniedrigung des gepressten festen Korpers hervorruft, wie das spezi*
fische Volum der festen Form zur Volumanderung beim Schmelzen*
Unter Beriicksichtigung der Vorzeicben ist dieser Satz in der Formel
v P
'— V ""F
gleichfalls enthalten.
Das chemische Gieichgewicht. 379
Wenn durcb PressuDg der Schmelzpunkt erniedrigt worden ist, so
ist die aus der Prease austretende Flussigkeit iiberkaltet. Sie wird also
bei Anwesenheit von Eeimen, die gerade in diesem Falle kaum auszu-
schliessen sind, erstarren, nnd das Resultat wird sein, dass scbeinbar
der feste Eorper durcb die Scbeidewand gepresst wird. Derartige Er-
scheinongen sind boini Eise vielfacb beobacbtet worden, and die Be-
wegUDgen der Gletscber, sowie die Bildung des Gletscbereises aus
Schnee werden darcb sie bewirkt Aucb das Zasammenbacken stark
gepresster Pulver gehort bierber.
49. 'frberkaltnng and 'Oberhitsong. Ebensowenig, wie im Falle
Fliiflsigkeit- Dampf ist im vorliegenden Falle fest-fliissig das Auftreten
der nenen Pbase am Gleicbgewicbtspunkt eine Notwendigkeit. Vielmebr
kann dieser iiberschritten werden, wenn nur die grundlegende Bedingung
eingehalten wird, dass yon der zweiten Pbase keine Spur zugegen ist.
Wir baben bier zwei Arten von Uberscbreitnngen des Gleicbge-
wichtspunktes zu erwarten: Uberkaltungen der Fliissigkeit und €ber-
hitzungen des festen Korpers. Die ersten sind seit dem Beginn des
Torigen Jabrbnnderts bekannt, wo Fabrenbeit sie am Eise entdeckte;
die Entdecknng der anderen ist nocb zu macben. Zwar sind einige
Erscheinungeu bekannt, welcbe der t)berbitzung eincs festen Korpers
uber seinen Scbmelzpunkt, obne dass er fliissig wird, entsprecben (I,
994); dqcb sind sie bisber nur bei krystallwasserbaltigen Salzen beob-
acbtet worden» bei denen die Scbmolzung nicbt zu einem Gleicbgewicbt
erster, sondem zu einem zweiter Ordnung fubrt. Da aber kein wesent-
licher Unterscbied zwiscben jenen Fallen und denen der einfacben
Schmelzung beziiglicb dessen, worauf es ankommt, abzusehen ist, so
Itet sich mit Bestimmtbeit erwarten, dass der Nachweis tiberbitzter
Korper, die einer gewobnlicben Scbmelzung unterliegen konnen, liber
korz Oder lang wird gelingen miissen.
50. Q^sohichtliohes fiber 'OberkaltimgserBoheinnngen. Die Kennt-
nis der Cberkaltungserscbeinungen riibrt, wie erwabnt, aus dem ersten
Viertel des vorigen Jabrbunderts ber, und wir verdanken sie Daniel
Gabriel Fabrenbeit^), demselben, der das erste braucbbare Quecksilber-
tbermometer bergestellt batte, und dessen Skala in England nocb immer
benutzt wird.
Fahrenbeit batte sicb die Frage gestellt, wie sicb das Gefrieren
des Wassers in einem luftleeren Raume gestalten wiirde, und zu diesem
>) Pliil. Trans. 39, 78. 1724. — Klassiker 57, 6. Leipzig 1894, herausgegeben
Ton A. voD Oettingen.
380 n. GbemiBche Dynamik.
Zwocke einige Glaskugein durch AuskocheD mit Wasser luftfrei gemacht
und zugeschmolzen. Er setzte sie einer Kalte von — 94® aus, faod
aber nach einer Stunde das Wasser iioch flussig. ^Jch glaubte, dfts
Wasser sei noch nicht gehorig yon der Kalte durchdrungen; nm aber
alle Zweifel zu heben, liess ich das Kligelchen die ganze Nacht hindurch
im Freien. Am folgenden Tage friih morgens um 5 Uhr fand icb das
Wasser noch immer fliissig, das Tbermometer zeigte aber dieselbe Tein-
peratur und ich schrieb diese unvorhergesebene Erscheinung der Ab-
wesenheit der Luft zu. Um die Richtigkeit dieser Erklarung zu er-
harten, brach ich die Spitze ab, um die Luft wieder hinein zu lassen;
nachdem dies geschehen war, durchzog sich die Wassermasse ausserst
schnell mit feiuen Eisblattchen. Ich wolite nun vor Wiederholung dieses
Experimentes feststellen, ob diese Eisblattchen auf Wasser schwimmen
wiirden; ich zerbrach deshalb das Kiigelchen, schuttete etwas von dem
Eise in einen mit Wasser geflillten Glasbecher, und sah es schwimmen.
„Wahrend ich nun meine Augen auf kurze Zeit anderswohin ge-
lenkt hatte, und sogleich wieder auf den Glasbecher blickte, sah ich
das Wasser durch und durch von Eisnadeln durchzogcn, wahrend die
Zwischenraume zwischen diesen grosstcnteils fliissig blieben. Das Thermo-
meter stellte ich in diese Fliissigkeit und fand 0®. ^) Begierig, die Er-
scheinung genauer und aufmerksamer zu beobachten, entschloss ich micb,
den Yersuch mit zwei Kiigelchen zu wiederholen; nachdem sie wie
friiher bereitet worden waren , setzte ich sie eine Stunde lang der
ausseren Luft aus; das Thermometer wios auf — 6*7®. Nach Verlauf
einer Stunde fand ich das Wasser in beiden Kiigelchen fliissig, und
nachdem der leere Raum wie friiher wieder mit Luft gefiillt war, traten
schnellstens wieder Eisblattchen wie beim ersten Versuche im Wasser
auf, und ihr Entstehen war ein so schnelles, dass man es kaum mit
den Augen verfolgen konntc. Und da die Eisbildung im Becher meinen
Augen entgangcn war, war ich besonders begierig, diese Erscheinung
zu sehen und die Entstehung der Nadeln aufmerksamer zu betrachten.
Ehe ich aber das zweite Kiigelchen zerbrach, befreite ich das Becher-
glas von den Eisblattchen; daun erst zerbrach ich das Kiigelchen und
schiittete das Eis in den Becher. Das Eis schwamm wiederum, aber
die Blattchenbildung erwartete ich vergeblich. . . . Um 11 Uhr abends
setzte ich wiederum drei Kiigelchen der Kalte aus. Zwei waren bis
zur Halfte gefiillt, die andere Halfte blieb leer; im dritten blieb jedoch
') Die im Original in Fahrenheitschen Graden gemachten Temperatarangaben
sind hier der leichteren Obersicht wegen auf Celsiusgrade amgerechnet.
Das chemische Gleichgewlcht 381
nur ein Viertel der Eugel leer. Die Temperatur der Luft war — 3*3^
Am aDderii Morgen um 4 Uhr faud ich noch dieselbe Temperatar und
das Wasser in den beiden zur Halfte gefiillteD Kugeln war fliissig ge-
blieben; in der dritten war das Wasser gefroren und die Kugel war
zerbrochen. . • . Ich schrieb diesen entgegengesetzten Erfolg einem unsicht-
baren Riss im Glase zu, und meinto, die aussere Luft sei eingedrungen.
imd babe das Erstarren verursacht.
„Wie ich nun so sehr begierig war, das Entstehen der Eisblattchen
im Glasbecber aufmerksam zu betrachten, und da ich den letztercn aus
dem Wohnzimmer in den Raum gebracht hatte, wo die Versuche an-
gestellt wurden, so woUte ich die wenigen Stufen emporsteigen; dabei
verfehlte ich eine Stufe, so dass der Becher stark erschiittert wurde,
und in demselben Augonbiicke erschien die ganze Wassermenge von
Eisblattchen durchsetzt. Aus diesem zufalligen Ereignis entnahm ich,
dass Eis in genugend kaltem Wasser durch Erschutterung hervorge-
bracfat werden kann; ich ward sehr begierig, am andem Tage durch
den Versuch festzustellen, ob das Gefrieren auch im ieeren Raume durch
Erschutterung zu stande kame. Nachdem das Kiigelchen einigermasseu
geschiittelt worden war, sah ich zu meinem grossten Vergniigen das
Schauspiel, und erkannte sofort meinen Fehlschluss, indem ich den
flussigen Zustand der Abwesenheit der Luft zugeschrieben hatte.
,Jch erkannte am Thermometer, dass die Ealte abnahm, dieses
war auf — 2*2^ gestiegen; rasch trennte ich das Eis mit der Hand ab
and setzte wicder ein Kiigelchen der Luft aus (das andere war leider
zerbrochen).
„Nach einer halben Stunde merkte ich, dass der Frost noch weiter
nachliess, das Thermometer hatte 0® erreicht. Und da ich einsah, dass
bei geschwundenem Frostwetter die Wiederholung der Versuche ein
eitles Beginneu war, wenn die Kiigelchen der Luft noch langer ausge-
setzt blieben, versuchte ich .eben noch' einmal durch Schiittein die Er-
starniiig hervorzurufen; aber so stark ich sie auch bewegte, so er-
schienen doch nicht die geringsten Zeichen von Erstarrung. Da nun
aof diese Weise alle Hoffnung auf ein weiteres Erstarren gescheitert
war, woUte ich noch versuchen, ob nicht durch Zutritt der Luft Er-
starrung eintreten wiirde. Ich zerbrach die Spitze und sah sehr feiiie
Eisoadeln durch die ganze Wassermasse hindurch entstehen, welche beim
Umschwenken des Wassers nach oben strebten, und durch Spiegelung des
Lichtes von ihrer glatten Oberflache einen wundorbaren Anblick gewahrten.**
In diesen anschaulichen Mitteilungen sind einige wesentliche Ziige
der Dberkaltungserscheinungen treffend geschildert So die Thatsache,
382 n. Ghemische DyDamik.
dass stark iiberkaltetes Wasser darch heftige Bewegnug zum Erstarrcn
gebracbt werden kann, gering iiberkaltetes aber nicht, and dass femer
der Zusatz yon £is zu dem uberkalteten Wasser des Becbers alsbald
eine reichliche Krystallisation hervorrief. Auf eine Kennzeichnung des
Wesentlichen und des Zufalligen verzichtet indessen Fahrenheit beziiglich
seiner Beobachtangen ausdriicklich, da er wegen eingetretener warmer
Witterung die Versuche nicht fortsetzen konnte. An die ihm sonst ge-
lautige Benutzung von Ealtemiscbungen bat er ofifenbar fur diesen
Zweck nicht gedacht
Die Beobachtung Fabrenbeits wurde bald bestatigt, obne dass in-
dessen weiteres von Belang binzugefugt worden ware; M. Triewald,
Musscbenbroek, Brugmanns und Mairan^) machten Mitteilungen iiber
ahnlicbe Beobachtungen. Ebenso findet sich a. a. 0. die Bemerkung,
dass am gescbmolzenen Fette ahnlicbe Erscbeinungen auftreten. Aach
die Uberkaltungsvorgange am Quecksilber, welche wegen ibrcs Auf-
tretens bei der Messung tiefer Temperaturen Interesse erregten, wurden
vielfacb untersucht.
Einen wesentlichen Fortscbritt findet man erst bei J. T. Lowitz,
der bei Gelegenbeit seiner spater mitzuteilenden Entdeckung der t)ber-
sattigungserscbeinungen das entsprechende Verbaltcn iiberkalteter Fliissig-
keiten, insbesondere an dem von ihm zuerst in krystallisierbarer Form
rein dargestellten Eisessig scbildert').
Er hatte bei den Salzlosungen ermittelt, dass die Erystallisation
iibersattigter Losungen sicber durch einen Krystall des vorbandenen
Salzes eingeleitet wird, und dabei beobachtet, dass auch iiberkalteter
Eisessig die gleicbe Eigentiimlicbkeit zeigt. „Am auffaliendsten lassen
sich diese schonen Phanomene beim Eisessig zeigen, der einen sehr
bohen Grad von Uberkaltung annimmt Man mag dem iiber aeinett
Krystallisationspunkt erkalteten Eisessig ein Salz zusetzen, welches man
will, ja selbst Krystallen der Weinstein- oder Zuckersaure, so wird
dennoch keine Erystallisation erfolgen; in dem Augenblicke aber, da
man ihn mit einem kleinen Teilcben festen Eisessig in Beriihrang
bringt, erstarrt er selbst des Sommers bei kiihler Witterung durchaus
zu einem festen krystallinischen Eorper."
Uber den von Lowitz erreichten Standpunkt ist die Wissenschaft
lange Zeit nicht hinausgelangt.
') Gehlers phys. WOrterb. 1, 678. 1787.
*) Cr«lls chemische AnnaleD 1, 3. 1785.
Das chemische Gleichgewicht. 383
51. Weltere Untersaohmigen der 'OberkaltiingBersohelnungen.
Wahrend die den CberkaltungserscheiDangen ahnlichen Verhaltnisse der
Cbenattigung ^) eine sehr vielfaltige Bearbeitung erfahren haben, lassen
die eparlicben Mitteilungen iiber jane einfacheren Vorgange keinen
wesentlichen Fortschritt erkennen; vielmehr setzte sich mehr und mehr
die Anschauung feat, dass sie iiberhaupt des gesetzmassigen Verhaltens
oitbehren. Erst aus jiingster Zeit riihrt eine Arbeit von W. Ostwald')
her, welche sich insbesondere anf die Frage bezieht, welcfae Menge
fester Snbstanz zur Aufhebung der Oberkaltnng erforderlich ist.
Die Versuche wurden Torwiegend mit Salol (Salicylsaure-Phenyl-
ester) aosgefiihrt, welches sebr bequem tJberkaltungserscheinungen be-
obachten lasst Der Stoff schmilzt bei 39*5 ^ und eine geschmolzene
Probe bleibt unbegrenzt lange fliissig, wenn sie gegen den Zutritt von
Staubcben des festen Stoffes geschUtzt ist, was gar keine Schwierigkeit
macht Andere Sto£fe konnen beliebig mit dem iiberkalteten Salol in
Beriibrang gebracht werden, ohne dass Erstarrung eintritt; ebensowenig
wirkt heftige Bewegang oder das Reiben mit scharfkantigen Gegen-
standen, das man so oft als Mittel gegen Uberkaltung angegeben findet.
Dass anch nacb langerer Zeit die fliissigen Tropfen nicht durch irgend-
welche Veranderungen zu erstarren unfahig geworden waren, konnte
leicht durch Einsaen eines festen Erystalles erwiesen werden.
Die Mengen festen Salols, welche das iiberkaltete zum Erstarren
bringen, sind sebr gering. Ein Menschenhaar ist ohne Einwirkung auf
uberkaltetes Salol. Streicht man mit dem Haar iiber ein en festen
Krystall des Stoffes und bringt es dann in das fliissige Salol, so ruft
88 sofort Erstarrung hervor. Man braucht zu diesem Zwecke nicht
etwa einen besonderen Druck anzuwenden; ein leises t)berstreichen,
wobei das Haar nur wenig gekriimmt wird, geniigt in den moisten
Fallen. Ist man sehr vorsichtig, so gelingt es auch zuweilen, das Haar
keimfrei abzuheben, so dass es nicht auf die Fliissigkeit wirkt; doch
trifft dies vielleicht nur einmal unter zehnen zil
Da ein Haar eine unebene Oberflacbe hat, die wie eine Feile auf
den weichen Salolkrystall wirken mag, so wurde es durch ein moglichst
fein gezogenes Glashaar ersetzt. Auch hier trat die Wirkung mit grosser
Regelmassigkeit ein. Wurde das Haar nach der Beriihrung mit dem
Erystall zwischen den Fingem abgestrichen, so verier es auch nach
zwanzigmaligem Dnrchziehen seine Wirkung nicht. Zwischen zwei Blattem
') Die CrberB&tUguDgserscheinangen treten bei GleichgewichteD zweiter und
k6herer Ordnang auf nod werden dort eingehend behandelt werden.
*) Zeitschr. f. ph. Chemie 22, 289. 1897.
I
384 II* Chemische Dynamik.
yon weichem Kautschuk konute indessen das Salol ziemlich leicht ab-
gewischt werden. Hat man ein abgebrochenes Haar genommen, so
bleibt leicht an der Basis etwas haften, was Krystallisation heryorruft;
man kann dies vermeiden, wenn man ein ausgezogenes Haar nimmt.
Ein Glasbaar wurde durch Beriihrung wirksam gemacht und daon
in feinom Quarzpulver abgespiilt. £s blieb wirksam, und auch das
Quarzpulver hatte einen Teil der Wirksamkeit angenommen, indem
einige Proben, aber nicht alle, Erstarrung hervorriefen.
Ein Glasstreifen von 3 mm Breite wurde durch Ausbreiten Ton
geschmolzenem Salol und Erstarrenlassen desselben mit einer festhaf-
tenden Schicht iiberzogen, deren Oberflache durch kraftiges Abreiben
von alien losen Teilen befreit wurde. Wurde yon diesem Glasstreifen
etwas yon einom zarten Pulyer (Quarzmehl) aufgenommen und dieses
Pulyer ohne weitero Roibung in den iiberkaJteten Tropfen geschiittet,
so begann alsbald die Krystallisation.
In keinem Falle wurde yersaumt, durch einen blinden Parallel-
yersuch die Unwirksamkeit der benutzten Materialien und Gegenstande
zu prtifen.
Die aktiy gemachteu Stofife behalten ihre Wirksamkeit nicht dauemd.
Ein Glashaar, das mehrfach iiber festes Salol gefiihrt wordeu war und
deshalb in seiner ganzen Lange iiberall Wirksamkeit zeigte, yerlor sie
an yielen Stellen bereits nach fiinf Minuten langem Verweilen an der
Luft. Eine Anzahl solcher praparierter Haare wurde in einen leeren
Exsikkator (um den Zutritt yon Staub zu vermeiden) gebracht; nach
drei Stunden kounten sie ihrer ganzen Liinge nach durch Tropfen von
fliissigem Salol gezogen werden, ohne irgendwelche Wirkungen auf dieses
zu aussern. Zehn oder fiinfzehn Minuten nach dem Bestreichen findet
man beim Durcbziehen durch den fliissigen Tropfen nur einzelne Stellen
wirksam. Bei einiger Geschicklichkeit gelingt es, die Krystallisation
des ganzen Tropfens zu yermeiden, wenn auch sich Knoten yon er-
starrtem Salol am Glashaar bilden; man muss zu diesem Zwecke nur
verhindern, dass die Krystalle am Glasfaden mit der Glasplatte, auf
weichem der Tropfen liegt, in unmittelbare Beriihrung kommen. Dana
kann man an den knopfartigen Verdickungen, die sich auf dem Faden
ausbilden, die Zahl der Stellen zahlen, an welchen noch Wirksamkeit
im Augenblicke des Versuches yorhanden war.
Angesichts der aus diesen leicht zu wiederholenden Versuchen her-
yorgehenden enormen Empfindlichkeit der Reaktiou schien es fast aus-
sichtslos, die Erscheinungen messeud yerfolgen zu woUen. Indessen
war es doch der Miihe wert, einige Vcrsuche in dieser Richtung zu
Das cbemiscbe Gleichgewicht. 385
machen. Der Plan war, d«n wirksamen Stofif nach Art der Homoopathen
mit einem indifferenten Material zu verreiben, und durch stufonweise
Verdnnnang des AusgangBmaterials seine Konzentration in messbarer
Weise anf sehr geringe Betrage zu bringen. Bekanntlicb erfolgt die
Bereitung der homoopathischen Heilmittel derart, dass man durch Ver-
donnung des Ausgangsstofifes mit seinem neunfachen Gewicht eines
indifferenten Stoffes (es wird bei festen Stoffen ausschliesslich Milch-
ZQcker dazu verwendet) seine Konzentration auf ein Zehntel bringt; ein
Teil dieser Verreibung giebt mit weiteren neun Teilen Milchzucker die
iweite Potenz und so fort. Die n-te Verreibung enthalt dann, gleich-
massige Verteilung vorausgesetzt, 10~~'^ g des wirksamen Stoffies im Gramm,
und man gelangt so sehr bald auf sehr kleine Mengen.
Einige Vorversuche ergaben bald, dass auf diesem Wege eine
Grenze thatsachlich erreichbar ist; wahrend die ersten Verreibungen
Ton festem Salol noch wirksam wareu, gelangte- ich bald zu Verdiin-
mmgen, in denen das Gemisch voUkommen die Wirkung versagte. Es
ergab sich auch auf diesem Wege der schon von friiheren Beobachtem
gezogene Schluss, dass es sich bei diesen Auslosungen des iiberkalteten
Znstandes um materielle, an das wirkliche Vorhandensein des
festen Eorpers gebundene Wirkungen handelt, und nicht etwa,
wie die vorbeschriebenen Versuche fast vermuten liessen, um eine Eigen-
schaft, welche die Obertrager der Wirkung durch blosse Beriihrung
mit der festen Substanz, ohne Transport materieller Teilchen, annehmen.
Die ersten Yerreibungsversuche, die mit Salol, so wie mit Thymol
Angestellt wurden, ergaben ein ziemlich unerwartetes B.esultat. Be-
zeichnen wir nach Art der Homoopathen die aufeinanderfolgenden, nach
Zehnerpotenzen fortschreitenden Verdunnungen mit D 1, D 2, D 3 u. s. w.,
90 stellte sich heraus, dass Salol in der Verreibung D 3 noch wirksam
war, in der folgenden D4 dagegen nicht. Das Ergebnis war ziemlich
dasselbe, ob zum Verreiben Milchzucker oder Quarzpulver benutzt wurde.
Oberlegt man, dass zu einem Versuche etwa 0-1 mg des Pulvers
genommen wurde, so folgt, dass eine Probe D4 10"^® g Salol enthielt,
eine Probe D3 dagegen 10 '"^g. Da der Stoff annahernd das spezifische
Gewicht des'Wassers hat, so folgt daraus, dass die in der unwirksamen
Probe enthaltene Stoffmenge einen Wiirfel von 0-022 mm darstellen
wSrde, also eine miki*oskopisch leicht sichtbare Grosse. Der wirksame
Wfirfel hatte die Grosse 0-045 mm.
Dies Ergebnis steht in auffallendem Widerspruch mit den friiher
mitgeteilten Versuchen, welche die ausserordentliche Empfindlichkeit der
Beaktion mit kleinsten Stoffmengen zur Anschauung gebracht haben.
Oitvald, Chemle. 11.3. 2.Attfl. 25
[
386 n. Ghemische Dynamik.
»
Die Aufklarung ergiebt sich indessen aus den.Versucfaen iibcr die Ver-
ganglichkeit der Infektionswirkung (S. 384). Denn die Deutung jener
Versuche ist offenbar die, dass die sehr geringen Salolmengen in der
angegebenen Zeit verdampfen und den infizierten Glasfaden rein und
wirkungslos hinterlasscn.
Nim kann man sich allerdings leicht dagegen schiitzen, dass das
Salol aus dem Gemisch verdampft, indem man dieses in yerschlossenen
Gefassen herstellt und aufbewahrt. Das £rgebnis ist indessen das
gleiche: die Terdiinnteren Gemische zeigen sich unwirksam, auch wenn
man die ganze Herstellung in yerschlossenen Gefassen vorgenommen bat
Die Gemische zeigten alle folgendes eigentiimliche Verhalten. Gloich
nach der Herstellung waren grossere Verdiinnungen wirksam; die frischen
Verreibungen D4 und D5 brachten den iiberkalteten Tropfen sicber,
D 6 brachte ihn oft zum Erstarren. Diese Eigenschaft verier sich aber
mit der Zeit, und nach einem bis zwei Tagen stellte sich dauemd der
friiher geschilderte Zustand ein, dass die Wirkung bereits bei D4 yer-
schwunden war.
Auch dieser Vorgang war davon unabhangig, ob das Gemisch o&en
odor verschlossen aufbewahrt wurde; ein Wegdampfen des Salols konote
also nicht die Ursache sein. Ebensowenig war es ein voUstandiges Ver-
schwinden des Salols aus dem Gemisch. Dagegen spricht zunachst, dass
es sowohl beim Milchzucker, wio beim Quarz stattgefunden hatte; bei
dem letzteren ist eine chemische Einwirkung ausgeschlossen. Femer
wurde das Vorhandensein des Salols in dem Gemisch D4 nachgewiesen.
Es wurdo dazu eine Menge von etwa 200 g des Gemisches in einem
grosscn Scheidetrichter mit Petroleumather extrahiert; beim Verdunsten
blicb ein fliissiger Riickstand. Dieser konnte dadurch leicht als un-
verandertes Salol erkannt werden, dass er bei der Beriihrung mit
einem liber festes Salol gezogenen Platindraht sofort erstarrte. Damit
ist bewiesen, dass die Unwirksamkeit der Verreibung D4 nicht von
einer Zerstorung des vorhandenen Salols herriihrt, sondern nur davon,
dass es die Eigenschaft des festen Salols nicht mehr besitzt
War sonach das Salol zwar vorhanden, doch ohnc die Fahigkeit,
den iiberkalteten Tropfen zum Erstarren zu bringen, so blieb nur der
Schluss iibrig, dass cs nicht mehr im festen Zustande vorhanden war,
und dieser schcint nach allem am wahrscheinlichsten. Wir wissen, dass
an der Grenzflache zwischen festen Stoffen und Dampfen immer eine
Wechsclwirkung derart stattfindet, dass die letzteren sich dort verdichten,
und aus den Versuchen Bunsons^) ist uns bekannt, mit welcher Zabig*
») Wied. Anu. 24, ^"21. 18b5.
Das cbemische Gleicbgewicht. 387
keit die letzten Anteile Wasser an Glasflachen haften, mit welcher Kraft
also die ersten gebunden werden. Auch die Oberilache des Verdiinnungs-
mittels Quarz oder Milchzucker muss den Saloldampfen gegeniiber eine
solche Verdicbtungswirkung ausiiben und dahin streben, sicb mit diesen
zn sattigen. Da der Dampfdruck des Salols bei gewohnlicher Tempe-
Tatar sehr klein ist, so erfordert der Vorgang auch bei sehr geringen
StoSmengen eine verhaltnismassig lange Zeit.
Dass die Annahme eines solchen Zustandes des Salols nichts den
bekanutea Tbatsachen Widersprechendcs hat, ergiebt eine kleine Uber-
schlagsrecbnung. Nehmen wir die Feinheit des Quarzpulvers derart an,
dass es aus Wiirfelcheu von 0*001 mm Seite besteht, was uach mikro-
skopischen Messungen des Materials annahernd zutri£Pb, so ist die Menge
von 0-0001 g Salol, die in 1 g des Gemisches D 4 Torhanden ist, auf
die Oberflache von 04x10^* Wiirfelchen verteilt, deren jedes die
Oberflacbe von 6 X 10"^ qcm hat. Dies giebt eine Gesamtoberflache
Ton 24 X 10* cm* und damit eine Schicht von 4x 10~^g auf ein qcm.
Dies ist weniger, als Magnus (1, 1089) fur die Adsorption dor schwefligen
Saore an Glasoberflachen gefunden hatte, denn diese betrug 0-0008 ccm
oi&r 2-5xl0~^g auf ein cm*, war also etwa 600mal betrachtlicher.
Wenn auch die Grundlagen dieser Rechnung auf Genauigkeit keinen
Anspruch machen konnen, so ergiebt sich doch wenigstens sicher die
Moglichkeit der vorgeschlagenen Erklarung.
Sehr bemerkenswert ist die Thatsache, dass, in welchem Zustande
das Salol auch vorhanden ist, es jedeufalls nicht mehr die Eigenschaft
ebes festeu Korpers hat. An spater mitzuteilenden Versuchen mit
Salzen, die nicht fliichtig sind, wird sich zeigen, dass solche Stoffe in
nel weitgehenderem Masse geteilt werden konnen, ohne ihre Eigen-
Bchaften als feste Korper zu verlieren, wahrend andererseits dem Salol
ilinliche Stoffe, wie Thymol, die bei gewohnlicher Temperatur einen wenn
auch geringen Dampfdruck haben, sich diesem ganz ahnlich verbal ten
und schon bei geringer Verdiinnung als feste Korper verschwindeu.
Erwarmt man eine Probe Salolgemisch D3 auf steigende Tempe-
ratnren, so bleibt sie bis zum Schmelzpunkt dieses Stoffes, 39-5^, wirk-
aajD, dariiber hinaus verschwindet die Wirkung plotzlich. Ich babe nicht
genauer gepriift, ob beide Punkte vollkommen zusammenfallen, doch ist,
&lls eiu Unterschiod vorhanden, dieser nur gering.
Die erhitzt gewesene Probe bleibt nach dem Erkalten unwirksam
iu)d verandert diesen Zustand auch bei langem Aufbewahren nicht
Auch Schutteln und Reiben andert nichts. Filgt man aber die kleinste
Spur von nicht sterilisiertem Salolgemisch D 3 hinzu und verreibt sie
20*
388 I^- Chemische Dynamik.
mit dem sterilisierten, so wird in ganz kurzer Zeit wieder die ganze
Menge wirksam. Dies zeigt, dass die Oberflache des Gemisches nicht
im staude ist, die Menge von 0*001 g auf 1 g Verdiinnungsmittel derart
aufzanehmen, dass das Salol dauernd die Eigenschaften des festen
Stoffes verliert. Yielmehr bleibt in der erhitzt gewesenen Probe das
Salol allerdings so lango im iiberkalteten Zustande, als keine Beriilirung
mit einem Krystall des festen Stoffes eintritt; wird aber eine solche
Beriihrung bewerkstelligt, so krystallisiert sofort ein Teil des Salols
wieder in fester Form aus.
Es bedarf wobl kaum eines Hinweises, dass freiwillig unwirksam
gewordenes Gemiseb D4 durch Verreiben mit einer Spur von wirk-
samem D3 nicht oder nur voriibergeliend wirksam wird.
Es bleibt noch die Frage zu beantworten, ob das unwirksam ge-
wordene Salol in D4 sich im flussigen oder im gasformigen Zustande
an der Oberflache des Pulvers adsorbiert findet Die Antwort scheint
mir dahin gehen zu miissen, dass es gasformig vorhanden ist, soweit
bei Schichten von dieser geringen Dicke noch von einer Verschieden-
heit dieser beiden Aggregatzustande die Rede sein kann. Denn aus
spater mitzuteilenden Versuchen geht hervor, dass Salze mit den Eigen-
schaften des festen Zustandes in Pulvern bestehen konnen, die an
Luftfeuchtigkeit viele tausend- und millionenmal mehr Wasser enthalten,
als zur Auflosung der vorhandenen Mengen erforderlich ware. Dieses
Wasser hat also hier sicher nicht die Eigenschaften des gewohnlichen
fllissigen Wassers, Salze zu losen, und man wird den richtigen Ausdrack
der Thatsachen weniger leicht verfehlen, wenn man unter solchen Urn-
standen den adsorbierten fliichtigen Stoff als gasformig und nicht als
fllissig ansieht. Doch verliert, wie wiederholt gesagt werden mag, bei
Schichten von einer Dicke, die mit dem Wirkungsbereich der Ober-
flachenenergie (den sogenannten molekularen Dimensionen) von gleicber
Ordnung ist, der Begriff der Aggregatzustande seinen bestimmten Sinn.
Schliesslich ist noch zu erwahnen, dass die Erjstallisation iiber-
kalteter Schmelzen nicht nur durch „Keime" des fraglichen Stoffes in
fester Gestalt ausgelost wird, sondern auch durch isomorphe Keime.
Bei libersattigten Losungen ist dies langst bekannt; dass es auch bei
Schmelzen eintritt, wurde mittels m-Chlornitrobenzol bewiesen. Dieses
lasst sich leicht iiberkalten und erstarrt nicht, wenn es mit einem
frischen Glasfaden in Beriihrung kommt. Hat man diesen aber noch so
leise an einem Krystall von m-Bromnitrobenzol gerieben, so bewirkt er voU-
kommen sicher die Erstarrung. Das isomere p-Ghlornitrobenzol ist auch
in grosseren Stlicken ohne jede Wirkung, und ebenso p-BromnitrobenzoL
Das chemische Gleichgewicht.
389
52. Der stetige tJbergang fest-fltLssig. Das Vorhandensein von
tlberkaltungserscheinuDgen, die ganz denselben Gbarakter haben, wie
die beim Ubergange Dampf-Flussigkeit beobacbteteo, zwischen dem
Siissigen und dem festen Zustande, lasst den Schluss zu, dass eine Be-
trachtnng, me die von J. Thomson im ersteren Falle angewendete, aach
hier zweckmassig sein kann. Man wird mit anderen Worten annehmen,
dass aach zwischen dem fliissigen und dem festen Znstande stetige Uber-
(^ge vorhanden sind, die im allgemeinen wegen des Auftretens un-
moglicher Zwischenznstande sich physisch nicht durchfuhren lassen, die
aber in einen kritischen Pnnkt auslaufen, von dem ab Fliissigkeit nnd
fester Korper stetig in einander iibergehen.
Fig. 25.
Fig. 26.
So nahe der Gedanke liegt, so ist er doch nur wenig erortert
worden, und Versuche zu seiner Priifung scheinen nicht angestellt zu
seiiL Der erste, der sich damit beschaftigt hat, scheint Poynting ^) ge-
wesen zu sein; kurze Zeit spater und von ganz anderen Betrachtungen
aosgehendy ist M. Planck') zu gleichen Anschauungen gekommen.
Um ohne viel Worte die Anderungen der Auffassung 'und Dar-
stellong ztt bringen, welche durch die Annahme des stetigen Uberganges
bewirkt wird> siud entsprechend den Modellen Fig. 21 und 22 die Mo-
delle Fig. 25 und 26 gezeichuet, welche diesen Ubergang zur Darstellung
bringen. Die Isothermen und Isobaren Fig. 19 und 20, S. 371 und 372
werden gleichfalls durch geschwungene Linien stetig verbunden, welche
die horizontale Gerade der heterogeneu Zustande ersetzen.
') Phil. Mag. (5) 12, 32. 1881.
») Wied. Ann. 15, 446. 1882.
390 H- Chemische Dynamik.
Was die Schliisse anlangt, die man aus der Ausdehnung der er-
wahnten Betrachtungen auf den Obergang flussig-fest Ziehen kann, so
war beim Verdampfen der kritische Zustand durch das Gleichwerden
der beiden spezifischen Kapazitatsgrossen, des spezifischen Volums nnd
der spezifischen Entropie gekennzeichnet, indem der Ubergang zwischen
beiden Zustanden weder eine Anderjing des Volums, noch eine Warme-
tonung mehr bedingt. Das gleiche werden wir auch vom kritischen Za-
stande fest-fliissig verlangen. Stcigert man den Druck, unter dem ein im
Gleichgewicht befindliches fest-fliissiges System steht, so andert sich der
Schmelzpunkt, und gleichzeitig dsts spezifische Volum beider Bestand-
teile. Wir werden nun erwarten miissen, dass eine Druckvermehrung
schliesslich immer in solchem Sinno wirken wird, dass sich beide spezi-
fischen Volume einander nahern, d. h. dass der Compressionskoeffizient ^)
der Form mit dem grosseren Volum grosser sein muss, als der der
Form mit kleinerem Volum. Gleichzeitig muss mit steigcndem Drack
auch die Schmelzwarme abnehmen, und muss in dem Augenblicke Noll
werden, in welchem beide spezifischen Volume bei der Schmelztempera-
tur gleich werden. Dann wird zwischen der festen und der fliissigen
Form kein Unterschied mehr bestehen, und dor kritische Zustand ist
erreicht Auch dieser wird durch bestimmte kritische Werte von Druck,
Temperatur und Volum (wozu noch die gewohnlich vemachlassigte kri-
tische Entropie gehort) gekennzeichnet sein, welche fur jeden Stoff be-
sondere, charakteristische Werte haben,
Sind diese Uberlegungen richtig^ so wird man drei von einander
unabhangige Kriterien der Annaherung oder Entfernung vom kritischen
Zustande haben. Es muss gleichzeitig die Volumanderuug beim Schmelzen,
die latente Schmelzwarme und die Breite des metastabilcn Gebietes
grosser, kleiner und schliesslich gemeinsam gleich Null werden. Unter
vergleichbaren Umstanden, z. B. bei chemisch ahnlichen und isomorphen
Stoflfen, wird man aus der Grosse oder Kleinheit des einen Wertes auf
entsprcchende Betrage der anderen Werte schliessen konnen.
Uutersuchungen unter diesem Gesichtspunkte sind noch nicht vor-
genommeu worden.
In seiner oben (S. 374) erwahnten Arbeit hat Poynting annahe-
rungsweise die kritische Temperatur des Eises aus der Verschiedenbeit
der Warmcausdehnung und aus der Verandcrlichkeit der Schmelzwarme
mit der Temperatur auf — 120® und den kritischen Druck auf mehr
als 16000 Atm. geschatzt. Auch hat er wegen der Naherung, die die
') Es handelt sich hier nicht urn den isothermeo Kompressionsko^ffizienten.
sondern um den l&ngs der Schmelzpunktskurve.
Das chemische Gleichgewicht. 391
(Jbergangspunkte bei sehr grossen negativen Dinickcn erfahren wiirden,
Termntet, dass ein zwoiter kritischcr Puiikt bei + 14® und einem Druck
von etwa — 2000 Atm. liegen konute. Auf Grund allgemeiner Be-
trachtnngen bin ich gleichfalls zu der Forderung eines zweiten kriti-
Bchen Punktes fur alio schmelzbaron fcsten Korper gelangt; die ent-
sprechendcn Darlegungen folgen welter unten.
53. Der kritisohe Pankt and die KrystaUeigensohaften. Die
FordeniDg, dass oberhalb dcs kritischen Punktes ein stetiger Obergang
zwischen den Eigenschaften der festen und der flussigen Form yorhan-
den ist, fiihrt zu merkwiirdigen Schliisscn, wenn man auf die der Kry-
stallform zukommenden besonderen Eigenschaften achtet. Da wirklicfae
Fliissigkeiten immer isotrop sind, so hat man zu erwarten, dass durch
die Annahcrung an den kritischen Zustand, der bei Stofifen von gewohu-
licher Beschaffenheit bei hohen Druckeu und oberhalb des Schmclz-
punktes liegendcn Temperaturen zu suchen ist, die der krystalliniscben
Beschaffenheit zukommenden Richtungsverschiedenheiten aufhoren wer-
den. Fiir die Krystallform besagt dies, dass mono- und trikline Ery-
stalle bei zunehmendem Druck ihre Axen mehr und mehr senkrecht
ZQ einander richten werden, dass ferner sie und die rhombischen wie
quadratischen Krystallo die Vcrschiedenheiten der Axenlangen verlieren
werden, knrz dass alle Erystallformen durch Kompression sich dem
regalaren System nahern miisson. Damit ist beziiglich der optischen
Eigenschaften auch das Isotropwerden verbunden: die Kompression muss
die Doppelbrechung vermindern. Schliesslich giebt es noch gewisse
Grossen, wie namentlich die Elastizitatseigenschaften, die auch bei
regalaren Krystallen mit der Richtung verschieden sind. Bei solchcn
kann man (I, 934) diese Eigenschaftswerte als Funktionen der Richtung
durch eine geschlossene krumme Flache mit den Symmetrieeigenschaften
des Krystallsystems, dem der Korper angehort, darstellen. Fiir diese
Fliche muss man verlangen, dass sie sich mit der Annaherung an den
kritischen Zustand der Kugelform nahert
So hypotbetisch diese Betrachtungen erscheinen, so liegen doch
bereits einige Thatsachen vor, die sich ihnen gut anschliessen. Auf die
naheli^ende Frage, wie wir uns physikalisch den Obergang fest-fliissig
bei nnd fiber dem kritischen Punkte zu denken haben, ist zu antworten,
dass bei hohen Drucken fast alle Korper sich als plastische verhalten.
Solcfae Eracheinungen sind beim Bearbeiten der Metalle vielfach be-
kannty and Tresca^), der sich mit den Formanderungeu der Metalle
>) €. reod. 59, 754. 1864 u. ff.
392 n. Chemische Dynamik.
vielfach beschaftigt hat, kennzeichnet die Erscheinung ausdriicklich als
ein Fliessen.
Nicht weniger haufig beobachtet man plastische UmformoBgen an
krystallinischeD Gesteinen durcfa die sebr langsam aber intensiv wir-
kenden Druckkrafte bei geologischen Vorgangen. Endlich giebt es
manche Krystalle, wie Gips und Salmiak, wolche bedeutende Verbie-
guDgen und einseitige Verdriickungen schon durch geringe Dnicke ge-
statten, ofane ihren Zusammenbang zu verlieren.
Das Zusammenfliessen krystallisierter Stoffe durch starken Drock
ist experimentell namentlich von Spring^) nacbgewiesen und stadiert
worden. So hat er z. B. aus Pulver von Kalium- oder Natrium-
nitrat durch Druck porzellanartig durchscheinende Massen erhalten,
die barter waren, als das geschmolzene Salz. Unter solchen Umstanden
zeigen also die festen Eorper die Eigenschaft, ebenso wie die Fliissig-
keiten den ihnen gebotenen Raum voUig auszufuUen, und keine eigene
Gestalt zu haben.
Femer sei auf die oben (S. 370) erwahnten Versuche von Demer-
liac hingewiesen, aus denen hervorgeht, dass bei einigen Korpern die
Veranderlichkeit des Schmelzpunkts mit dem Druck sich einem Grenz-
wert nahert. Da die Erscheinungen nicht naher beschrieben sind, so
lasst sich nicht mit Sicherheit behaupten, dass bier wirklich der kri-
tische Punkt erreicht war» doch diirfte die Vermutung nicht abzuweisen
sein, dass es sich bier um eine Annaherung an den kritischen Punkt
handelt.
Den allmahlichen tibergang aus dem fliissigen Zustande in den
amorphen festen als Beleg fur die Moglichkeit des kritischen Uberganges
anzusehen, wiirde zu Irrtiimern fuhren. Amorphe feste Korper sind in
dem bier in Betracht kommenden Sinne nur FlUssigkeiten mit sehr
grosser innerer Reibung.
54. Fldssige Exystalle. Endlich scheinen diese Betraehtungen auch
fur die merkwurdige Erscheinung der fliessenden Krystalle den
Schliissel zu enthalten. Mit diesem Namen hat Lehmann ') gevrisse
Stoffe bezeichnct, deren erster von Reinitzer^) entdeckt worden ist,
welche die mechanischen Eigenschaften des fliissigen Aggregatzustandes
verbunden mit der den Krystallen zukommenden Eigenschaft der optischen
Anisotropie zeigen. Die Stoffe sind Cholesterylbenzoat, Hydrocerotin-
1) Bull. Ac. Belg. (2) 65, 746. 1878 und viele sp&tere Abhandlangen.
>) Zeitschr. f. phys. Chemie 4, 462. 1889. -~ Wied. Ann. 40, 401 and 41,
525. 1890.
») Sitzungsber. Wien. Ak. 94, II, 719 und 97, I, 161. 1889.
Das chemische Gleichgewicht. 393
benzoat nod -acetat. Bald darauf fand Gattermann am Azoxyphenetol
nnd Azozyanisol die gleiche Eigenschaft. Am zuganglicfasten sind die
Krystalle des olsauren Kaliums^).
Die Eigenachaften dieser Stoffe lassen sich dahin kennzeichnen,
dass sie doppeltbrechende Fliissigkeiten sind. Bei niederer Temperatur
sind die Stoffe gewobnliche feste Krystalle, die bei einer bestimmten
hoberen Temperatur eine Scbmelzung erleiden. Die Schmelze ist aber
anch bei voUiger Reinheit des Stoffes nicht klar, sondern milchig triibe
und zeigt die Eigenscbaft der Doppelbrechung. Erhoht man die Tem-
peratur weiter, so tritt etwas wie ein zweiter Schmelzpunkt bei einer
gaoz bestimmten Temperatar ein, indem die Triibung plotzlich ver-
schwindet; die Substanz ist dann optisch isotrop und verbalt sicb wie
eine gewobnliche Fliissigkeit.
Dass man es bier mit einem ganz bestimmten, dem Schmelzen
dorchaus vergleicbbaren t)bergange zu thun bat, geht ausserdem noch
am den Versuchen von R Schenk ') hervor, welcber durch Zusatze von
fremden Stoffen den tlbergangspunkt berabdriicken konnte wie einen
gewohnlichen Schmelzpunkt. Dabei ergab sich, dass die Konstante un-
geheuer gross war, entsprechend einem sehr geringen Werte der Um-
wandlungswarme. Ebenso ist die Volumanderung bei der Umwandlung
sehr geringy im Falle des Gholesterylbenzoats sogar nicht mehr nach-
weisbar.
Mir scheint die angcmessenste Auffassung dieser merkwurdigen
Verhaltnisse die zu sein, dass wir es mit Stoffen zu thun haben, welche
schon bei gewohnlichem Drucke ihrem kritischen Punkte sehr nahe
sind. Desbalb ist der grosste Teil der Unterschiede zwiscben fest und
flossig bereits geschwunden und der geringe Betrag der Volum- und
Warmeanderung beim Schmelzen lasst erwarten, dass man durch ver-
haltnismassig geringe Drucksteigerungen in das stetige Gebiet wird
gelangen konnen. Als Kennzeichen dafur miisste die Doppelbrechung
durch Druck stetig kleiuer werden und beim Uberschreiten des kriti-
schen Druckes verschwiuden.
55. Zweipliasige Gebilde. Vierter Fall: Fest-fest. Das Gleich-
gewicht zweier hylotropcr Formen von festem Aggregatzustande hat in
wettgehendem Masse Abnlichkeit mit dem eben betracfateten, so dass
inan die dort gewonnenen Einsichten bier iiberall verwerten kann.
^) Lebmanc, Zeitschr. f. ph. Chemie IS, 91. 1896.
*) UntersQchangen fiber die krystallinischen Flassigkeiten. Habilitations-
•cbrift, Marburg 1897.
394 ^^' Chemische Dynamik.
Nur nach zwei Richtungen siud chaxakteristische Unterschiede Tor-
handen. Einmal bilden fcsto Korper moist keine Gemische, stellen also
fast immer Phasen konstantcr Konzentration dar, wodurch sich der
Fall ill bestimmter Hinsicht sehr vereinfacht. Andererseits werdon die
Verzogerungs- und Uberschreitungserscbeinungen, die im vorigen Falle
einigormassen selten warcn, bier zur Kegel, uiid es sind umgekebrt die
schnell und scbarf erfolgenden Umwandlungsvorgango Seltenbeiten.
Aus dicsem Grunde ist man auch von jcber geneigt gewesen, die
bier vorhandenen Unterschiede als cberoiscbe im Gegensatz zu den
^pbysikaliscben" Unterschieden dcr Aggregatzustande aufzufassen. Da
andererseits wirklicbe chemische Unterschiede, insbesondere Verschieden-
heiten der aus den abweichenden Formen zu erhaltenden Umwandlungs-
produkte nicht nachgewiesen werden konnten, entstand der einiger-
massen widersprechendo Begriff der physikaliscben Isomeric ^), der we-
Tiigstens als Name noch jetzt nicht ganz verscbwunden ist. Doch scheint
er gegenwartig durch die altere und sacbgemassere Bezeichnung der
Polymorphie verdrangt zu sein. Hylotrope Stoflfe von festem Aggregat-
zustande uennt man demgemass polymorph. Die Erscbeinung dcr Poly-
morphie ist fast ebenso yerbrcitet und allgemein, wie die Anderung
der Aggregatzustande.
Die Verschiedenbeit polymorpher Formen ist an den festen Aggro-
gatzustand gebunden und verschwindet mit dem Cbergang in den flus-
sigen, gelosten oder gasformigen.
56. Gtesohiohtliohes. Die Entdeckuug der Thatsache, dass Yer-
6chiedenheit der Krystallgestalt obne jede Verschiedenbeit der che-
mischen Zusammensetzung und unter gegenseitiger Umwandelbarkeit
moglicb ist, gehort E. Mitscberlicb zu, der sie bereits zu Beginn seiner
Arbeiten iiber die Isomorphic beobachtete, indem er Natriuraphosphat
in zwei verschiedenen Formen auffand. Etwas spater*) hat er ein sehr
unzweideutiges Beispiel am Schwefel untersucben konnen, und Ton
dieser Arbeit an ist der wissenscbaftliche Nachweis der Tbatsache zu
rechnen. „Ich babe seit dpr Bekanntmachung meiner zweiten Arbeit
diesen Gegenstand weiter verfolgt, und ich darf es jetzt als eine aus-
gemachte Tbatsache ansehen, dass ein und derselbe Korper, es
ist gleichgultig, ob er zusammengesctzt ist oder einfach,
zwei verscbiedene krystalliniscbe Formen annehmen kann.**
Um dies nachzuweisen, bescbreibt Mitscberlicb eiugehend die Krystall-
') LehmanD, Zeitschr. f. Kryst. 1, 97. 1877.
«) Abh. Berl. Ak. 43, 1822—23. — Berz. J. B. 71, 1825.
Das chemische Oleichgewicht. 395
form des naturlicben Schwcfels und zeigt, dass auch der aus Losungs-
mitteln (bei niedriger Tcmperatur) krystallisiertc Schwefcl die gleichen
rhombischen Gestalten besitzt. Der aus dem Schmelzfluss krystallisierte
Schwefel ist dagcgen monoklin. Schmilzt man den naturlicben rhom-
bischen Schwefel, so krystallisicrt er aus der Schmeize monoklin; lost
maa die monoklinen Krystalle in einem Losungsmittel, z. B. Schwefel-
Icohlenstoff, auf, so scbiesst er rhorabisch an.
In einer unverofifentlicht gebliebenen Arbeit vom Jabre 1832^),
die sich wesentlich auf die Formen der Sulfate beziebt, ist die weitere
Angabe zugefiigt: ,Jn einer friiheren Abhandlung babe ich es schon
angefiihrty aber kein besonderes Gewicbt darauf gelegt, dass in den
Erystallen, die durch Scbmelzen erbalten werden, bei einer niedrigen
Temperatur die einzelnen Teile der Materie ihre Lage gegeneinander
Teiindcrn, indem der durcfasichtige Erystall nach einigen Tagen un-
dnrchsichtig wird und dann aus einer Menge von Krystallen von der
Form besteht, in der der Scbwefel bei der niedrigen Temperatur krys-
tallisiert; umgekehrt ist es beim natiirlicben Schwefel, der bei einer
Temperatur von etwas iibcr 100^ wodurcb er noch nicht schmilzt,
gleicbfalls seine Durchsicbtigkeit verlicrt."
Auch bei einigen Salzen kommen solche Erscheinungen vor; in
derselben Abhandlung erwabnt Mitscberlicb, dass die Sulfate und Sc-
lenate der Metalle der Magnesiumgruppe mit 7 Atomen Wasser in drei
versdiiedenen Krystallformen auftreten konnen, die unter Umstanden
ineinander ubcrgeben. „Wenn man die Krystalle des selensauren Zink-
ozydSy die ich friiher anfuhrte, nur auf ein von der Sonne erwarmtes
Papier legt, so werden sie augenblicklich verandert und bestcben nun
aus einer grossen Anzahl kleincr Krystalle von dieser zweiten Form."
Auch den Einfluss der Temperatur hat Mitscherlich hier bereits wesent-
lich richtig erkannt. „Wenn also eine Substanz nach Verschiedenheit
der Temperatur verscbiedene Formen annehmcn kann und bei einer
gewissen Temperatur die Form, in der sie bei dieser Temperatur krys-
taUisiert, angenommen hat und dann eine Temperatur orhalt, bei der
sie in dor zweiten Form krystallisieren wiirde, so verandern die einzelnen
Teile, obwohl die Masse fest bleibt, ihre Lago so, dass neue Krystalle
Ton der zweiten Form in oinem Krystall der ersten Form sich bilden."
Tiefere Einsicht in den entscheidenden Einfluss der Temperatur
findet sich dann in Mitscherlichs Beobachtungen am Quecksilberjodid *)
») Ges. Schriften von E. Mitscherlich, Berlin 1896. S. 311.
*) Pogg. Ann. 28^ 116. 1833.
396 II- GhemUche Dynamik.
vom folgenden Jahre. Er unterscheidet die plotzliche Farbenanderung
dieses Stofifes sehr sachgemass von der allmahlichen, wie sie z. B. beim
Quecksilberoxyd stattfindet, als eine Erscheinung ganz anderer Art
^Wenn die Temperatur der gelben Masse bis zu einem bestimmteB
Punkte sinkt, so andert sich die gelbe Farbe plotzlich iu eine intensiv
rote um. . . . Die VeranderuDg geht plotzlich und ruckweise vor sich;
manchmal kann man einzelne Krystalle unverandert bis zur gewohn-
lichen Temperatur erkalten lassen, ohne dass sie sich verandern; stosst
man aber an das Papier, worauf sie liegen, oder beriihrt man sie, so
findet die Yeranderung plotzlich statt . . . Man kann diese roten Krys-
talle durch Erwarmen wieder gelb machen, ohne sie schmelzen oder
sublimieren zu brauchen, wenn man nur etwas vorsichtig ver^hrt, and
dabei gleichfalls den plotzlichen t)bergang der roten Farbe in die gelbe
beobachten."
57. Untersuohuiigen von Frankenheim. Etwas spater als Mitscher-
lich beschaftigte sich Frankenheim mit den Erscheinungen der wechsel-
seitigen Umwandlung. Seine Arbeiten ^) vermehren unsere Kenntnis zwar
durch den Nachweis zahlreicher weiterer Falle; in der Erfassung des
Gesetzmassigcu der Erscheinung stehen sie aber merklich den altereo
Mitscherlichs gegeniiber zurtick. So hat er beobachtet, dass aus Sal-
peterlosungen unter dem Mikroskop zuerst rhomboedrische Krystalle
anschiessen, die spater durch das Fortwachsen inzwischen entstandener
rhombischer aufgezehrt werden. Femer fand er, dass ausser durch
Schmelzen der Schwefel in monoklinen Formen auch dadurch erhalten
werden kann, dass man ihn bei hoherer Temperatur aus Losungs-
mitteln krystallisieren lasst. Weiter yerdankt man ihm die Einfuhrung
eines Verfahrens zum Nachweis von Umwandluugen, das auf der Be-
obachtung der Abkiihlungs- oder Erwarmungsgeschwindigkeit beruht
Jede derartige Umwandlung erfolgt unter Warmeentwickelung bei der
Abkiihlung, unter Warmeverbrauch bei der Erwarmung; beobachtet man
also unter gleichformigcn Verhaltnissen den zoitlichen Verlauf dieser
Erscheinungen, so treten bei Temperaturen , bei denen Umwandlungen
stattfinden, Verzogerungen im Gange des Thermometei*s ein» durch welcbe
solche Yorgango verraten werden, wenn man sie auf andere Weise nicht
gewahr wird. Die ersto Anwendung des Yerfahrens findet sich iu einer
Untersuchung, durch welche der tJbergang des leichtfliissigen geschmol-
zenen Schwefels beim Erhitzen in die schwerfliissige dunkelbraun ge>
farbte Form und umgekehrt als eine allotropo Umwandlung unter Auf-
nahme boz. Freiwerden von Warme gekennzeichnet wird.
') Pogg. Ann. 37, 637; 39, 376. 1836; 40, 447. 1837. — J. f. pr. Ch. 1«, 1. 1839.
Das chemische Gleichgewicht. 397
Wahrend aber Mitscherltch gaoz richtig das Aufboren der Ver-
schiedenheit beim Verlassen des festen Zustandes erkannt hatte, be-
hauptet Frankenheim auf Grand der folgenden (irrtiimlichen) Beobach-
tnng die Ezistenz der verschiedenen Modifikationen sogar in Dampfgestalt.
nWenn man eine mit roten nnd gelben Krystallen von Quccksilberjodid
bedeckte Glasplatte so scbwach crwarmt, dass die Erystalle zwar subli-
miert werdcn, ihre Farbe aber nicht andern, so sieht man auch auf der
oberen Platte gelbe und rote Erystalle durcfaeinander. Da aber die
Temperatur selbst auf der unteren Platte nicht gross genug war, um
die roten Erystalle gelb zu machen, so mnsste sie auf der oberen Platte
noch niedriger bleiben. Wenn sich daher hier gelbe Erystalle finden,
80 konnen sie nur aus den gelben Erystallen der unteren Platte ent-
standen sein, deren Dampfe von der unteren Platte aufgestiegen sind
ond sicb auf der oberen niedergeschlagen haben. Aus dieser Beob-
achtong geht also hervor, dass die der hoheren Temperatur angefaorige
Art des Quecksilberjodids sicb nicht nur bei niedrigen Temperaturen
erhalten kann, wenn sie in einer hoheren gebildet ist, sondern dass
sie sich auch in niederen Temperaturen bildet, und dass der Dampf
des gelben Jodids von dem des roten verschieden ist/*
Ferner vermischt Frankenheim die Erscheinung der Polymorphie
mit der der chemischen Isomerie, und dies scheint ihn besonders
veranlasst zu haben, das Fortbostehen der Verschiedenheit auch in
Dampfgestalt fur wahrscheinlich zu halten. Er fasst seine Ansichten
in folgende Satzen zusammen^):
„1. Die isomeren Eorper haben verschiedene Schmelz- und Siede-
ponkte; ihre Dampfe haben in der Kegel verschiedene spezifische
Gewichte.
2. Sobald die Erwarmung eines der isomeren Eorper (A) eine
gewisse Grenze (m®) iiberschreitet, wird er zerstort und geht in einen
anderen Zustand (B) iiber.
3. A kann nie in einer hoheren Temperatur sein, B aber wohl in
einer niederen nicht nur existieren, sondern auch -entstehen.
4. Wenn B in einer niederen Temperatur als m^ von A beriihrt
wird, so Terwandelt es sich vom Beriihrungspunkt aus in A; aber die
Dauer der Umwandlung ist sehr verschieden, bald augenblicklich iiber
grossere Raume, bald braucht sie ganze Stunden, um Vioo Linie zurlick-
zulegen.
>) Joom. f. pr. Ch. 16, 1. 1839.
398 n. Cbemische Dynamik.
5. Aucb durch Beriihruug mit fremden Korperii, insbesondere durch
stai'ke Erschiitterung, durch Ritzen, wird B, wenn seine Temperatur
unter m^ ist» in A verwandelt, jedoch nicht immer.
6. Die Verwandlung von A in B ist von Warmeentwickelung begleitet."
„Der tibergang Ton A und B ist also in yielen Beziehungen dem
zwischen dem festen und dem fliissigen Zustande ahnlich. In beiden
Fallen ist latente Warme. Niemals kann ein Korper oberhalb seines
Schmelzpunkts fest sein, aber unterhalb seines Schmelzpunkts kann er
nicht nur im fliissigen Zustande verharren, sondern auch, wie ich langst
gezeigt habe, entstehen. Aber sowie der fliissige Korper von dem festen
berUhrt wird, und auch durch andere Ursachen, erstarrt er augenblick-
lich. Indessen darf man sich nicht dadurch verleiten lassen, den Unter-
schied der isomeren Koi-per in eine Reihe zu stellen mit dem der Aggregat-
zustande . . . Diese Ansicht ware unrichtig, denn es ist beim Schwefel
und bei den KohlenwasserstofFen ausgemacht, dass auch Fliissigkeiten
einander isomer sein konnen, und bei dem Quecksilberjodid und vielen
aus C, H und 0 bestehenden Stoffen, dass auch Case und Dampfe es
sein konnen . . . Isomere Korper sind yielmehr als ganzlich verschiedene
Korper anzusehen, die nur in einer Eigenschaft iibereinstimmen, und
physikalisch betrachtet, weniger Ahnlichkeit miteinander haben, als meh-
rere isomorphe Korper. Eine starkere Analogic als mit den Aggregat-
zustanden haben sie sogar mit den verschiedenen Hydraten eincs Salzes,
die in ihrer Entstehung und Erhaltung in mehreren Umstanden von
ahnlichen Ursachen abhangen, als die isomeren Korper/^
Es hat ein grosses Interesse, das Gemisch von richtigen und falschen
Vorstellungen in den vorliegenden Satzen aufzulosen. Die wesentlichste
Quelle des Irrtums bildet die schon botonte Verwechselung der che-
mischen Isomeric mit der Polymorphic. Hierzu ist zu beach ten, dass
wenige Jahre vorher, 1833, Berzelius erst den Begriff der Isomeric in
die Wissenschaft eingefiihrt hatte, und dass die sich eben entwickelnde
organische Chemie fast taglich neue Falle derselben zu Tage forderte-
Es wird zu alien Zeiten, wo ein neuer Begriflf sich als besonders weit-
greifend und niitzlich erweist, die Neigung bestehen, ihn iiberall, auch
iiber seincn berechtigten Kreis (der ja eben erst zu ermitteln ist) an-
zuwenden, und Fehler solcher Art, wie wir sie hier gemacht sehen, ge-
horen zu den haufigsten in der Geschichte der Wissenschaft.
Frankenheim hat selbst in einer viel spater geschriebenen Abhand*
lung^) sich der richtigen Auffassung wieder mehr genahert, und durch
») Pogg. Ann. 92, 354. 1854.
Das chemische Gleichgewicht. 399
ebe eingehendere Untersuchung am Salpeter das VerhaltDis zwiscben
der stabilen und der nichtstabilen Form klar aufgefasst. Wie schon
bemerkty krjstallisiert der Salpeter zuweilen in Rhomboedern, die aber
neben den rhombischen Krystallen nicht bestehen konnen, sondern sich
in diese yerwandeln. Bei einer hoheren Temperatur, die nahe unter
dem Scbmelzpunkt des Salpeters liegt, kehrt sich aber das Verhaltnis
am; der rhombische Salpeter verwandelt sich in rhomboedrischen, und
dieser stellt die bestandige Form dar.
„Die Salpeter-Gattnng, wenn man mir diesen Ausdruck eriauben
will» hat also zwei Arten, eine prismatische, welche ich mit a be-
zeichnen will, und eine rhomboedrische /9. Beido entstehen und erhalten
sich in Temperaturen von — 10^ der niodrigsten, bei der ich beob-
achtet habe, bis wahrscheinlich gegen 300^. Aber nur a ist wahrend
dieses TemperaturinterTalls normal. ^ geht durch verschiedene Ur-
sachen, namentlich wenn es mit einem Krystall der Art a beriihrt wird,
in diese Art iiber; j3 ist also anormal.
nOberhalb einer Ubergangstemperatur, die ^ sein mag, ist
jedoch ^ normal, und zwar so sehr, dass a, sobald es bis zur Tempe-
ratur %^ erwarmt wird, plotzlich in ^ iibergeht.
»In der Nahe des Schmelzpunktes des Salpeters giebt es also, . . bloss
^, und kiihlt sich der geschmolzene Salpeter ab, so kann er entweder
seinen Zustaud bis in die gewohnliche Temperatur bin bewahren, oder
er iangt bei einer %• nicht iiberschreitenden Temperatur mit seiner Um-
wandlung an, und setzt diese wahrend seiner Abkiihlung fort, bis er in
einer mehr oder weniger niedrigon Temperatur ganz zu a geworden ist.^
Gregen diese Darstellung der Thatsachen ist nichts einzuwenden.
58. Schmelspniiktsuntersohiede polymorpher Formen. An dem
gleichen Stoffe, der zum Nachweis der Thatsache der Polymorpbie ge-
dient hatte, dem Schwefel, gelang auch der Nachweis, dass die beiden
Formen thatsachlich verschiedene Schmelzpunkte haben. Die Beobach-
tung ist von Brodie^) gemacht worden; er fand, dass, wenn man durch
schnellcs £rwarmen und die Anwendung grosserer Krystalle die Urn-
wandlung vermeidet, dem rhombischen Schwefel ein fester Schmelz-
ponkt von 114-5^ zukommt, wahrend der monoklino bei 120® schmilzt.
Tcilweise umgewandelte Proben schmelzen nach Brodie zwischen diesen
Temperaturen, doch handelt es sich bier um eine verwickeltere Erschei-
nnog, denn ausser der Polymorpbie giebt es noch einen anderen Um-
stand, von dem der Schmelzpuukt abhangt. Ist der Schwefel einiger-
») Proc. Roy. Soc. 7, 24. — Phil. Mag. (4) 7, 439. 1854.
400 II* ChemUche Dyn&mik.
massen iiber seinen Schmelzpunkt erhitzt gewesen, 80 schmilzt er her-
nach bei etwas niedrigerer Temperatur, die bis 112^ hinuntergehen
kann. Brodie schreibt dies ganz richtig der Bilduug von zahem Schwefel
in der Schmeize zu und bat sich aucb iiberzeugt, dass solche niedrig
scbmelzende Proben einen Anteil Scbwefel entbalten, der in Schwefel-
kohlenstoff unloslich ist Die Thatsacbe ist bemerkenswert als ein Fall,
wo eine allotrope Form auf die andere als ein fremder Stoff wirkt,
der nach dem allgemeiuen Gesetze (I, 741) die Schmelztemperatur
erniedrigt.
Man konnte fragen, warum der monokline Schwefel dies dem
rhombischen gegeniiber nicht tbut, und urogekehrt. Dass es nicht ge-
schieht, ist ein weiterer Beweis dafur, dass diese beideh verscbiedenen
Formen nur im festen Zustande existieren; es giebt also keine Losung
von monoklinem Schwefel in geschmolzenem rhombischen, sondem nur
Gleichgewichte zwischen diesem und flussigem, oder dem anderen and
fliissigem Schwefel. Im Falle des zahen Schwefels liegt dagegen eine
solche Moglichkeit vor, denn der zahe Schwefel ist amorph, somit ab
ein fliissiger Stoff aufzufassen; die Verschiedenheit seiner Eigenschaften
von dem leichtfliissigen Schwefel bei gleicher Temperatur ist also eine
wirkliche Isomeric (wahrscheinlich Polymeric), die voriibergehend auch
im fliissigen Zustande bestehen bleibt. Darum driickt auch eine Losong
von zahem Schwefel in leichtflussigem dessen Erstarrungspunkt herab,
wie dies jeder fremde Stoff thut.
Dieser Gesichtspunkt wird durch die weiter von Brodie berichteten
Thatsachon bestatigt und erweitert. Der Schmelzpunkt des die zahe
Form enthaltenden Schwefels lasst sich nicht unter 112^ bringen;
solcher niedrigst schmelzender Schwefel kann indessen verschiedene
Mengen von zahem Schwefel enthalten, wie durch Ausziehen mit Schwefel**
kohlenstoff uachgewiesen wurde. Hier wird man annehmen miissen, dass
die Loslichkeit 'des zahen Schwefels in leichtfliissigem begrenzt ist, nod
dass die weiteren Mengen, die sich bilden, der Losung nur mechaniach
beigemengt sind. Die eigentiimliche physikalische Beschaffenheit des
stark erhitzten Schwefels spricht glcichfalls fur eioe solche Auffassung.
59. Polymorphie bei KohlenstofiVerbindoxigen. Wahrend bei Ele-
menten und anorganischen Stoffen die Thatsacbe der AUotropie wohl*
bekannt war und auch als theoretisch bedeutsam angesehen wurde*),
*} Berzelius hat (Pogg. 61, 1. 1844) eine aasfQhrliche Abhandlung fiber die
Hypothese geschriebeD, dass die Elemente ihre allotrope Form aach in ibren Vei^
bindungen beibehalten werden kOnnten and dass dies die Ursacbe der laomerie
bei den letzteren sein kOnnte.
Das chemische Gleichgewicht. 401
dauerte es ziemlich lange, bis in der organischen Ghemie ahnlicbe Falle
entdeckt wurden und zur Beobachtung gelangten; ihre voUstandige
Deutung hat nocb viel langer auf sich warten lassen.
Die erste Beobachtuug dieser Art, welche ich in der Litteratur
angetroffen babe, ist 'Von Jungfleisoh^) an dem durch Nitrieren von
Monochlorbenzol erhaltenen Ghlordinitrobenzol 1:2:4 gemacht worden.
£r batte dabei durch kleine Verschiedenheiten des Yerfahrens, liber
die er sich nicht geniigende Rechenschaft verschaffen konnte, ausser
der gewohnlich entstehenden, bei 50^ schmelzenden Substanz eine andere
▼on anderem Habitus und deni Schmelzpunkte 43^ erhalten. Diese
Erystalle erhielten sich in geschlossenem Gefasse unverandert „Bringt
man aber einen Erjstall der anderen Verbindung in die Flasche, so
verlieren jene alsbald ihre Durchsichtigkeit, sie werden undurchsichtig
und milchig wie Wachs, wobei sie aber ihre Form behalten; sie er-
&hren, mit einem Worte, bei der Beriihrung mit dem isomeren Eorper
eine Verandemng, die» wenigstens dem Anscheine nach, der Umwand-
long des prismatischen Schwefels in oktaedrischen voliig ahnlich isf
Dabei haben die Krystalle den Schmelzpunkt 50^ angenommen;
aos Schwefelkohlenstoff krystallisieren sie gleichfalls in der entsprechen-
den Form der stabilen Krystalle; solche vom Schmelzpunkt 43^ konnten
nicht beobachtet werden, obwohl die Losung bis zum letzten Tropfen
krystaOisiert wurde.
Jungfleisch ging nun an Versuche, die erste Form in die zweite
m Yerwandeln. „Ich muss gestehen, dass das Studium dieser Frage
mir sehr grosse Schwierigkeiten gebracht hat, so dass ich es mehrere
Male verlassen babe; erst nach unzahligen Versuchen bin ich zum ge-
suchten Ergebnis gelangt^
„Nimmt man die aus Ather wohlkrystallisierte Substanz der ersten
Form, schmilzt sie und lasst erkalten, so zeigt der Stoff fast immer
die Erscheinung der Uberkaltung; plotzlich erstarrt er dann unter Bildung
sehr dchoner, mit den urspriinglichen identischer Krystalle. Unter
diesen Umstanden erleidet der fragliche Stoff keinerlei Veranderung.
^Wenn man aber, statt den Stoff langsam erkalten zu lassen, die
Abknhlang beschleunJgt und ihn „abschreckt'S indem man z. B. den
Baden des Gefasses in eine Kaltemischung taucht, so sieht man den
Stoff langsam erstarren, indem er ein Aussehen annimmt, das von dem
fraheren sehr verschieden ist Er bildet kleine Krystalle, die sich zu
einer dnrchscheinenden Masse zusammenhaufen. Hat die Krystallisation
1) Ann. cMm. phys. (4) 15, 289. 1868.
Ostwald, Chemie. 11. 3. 2.AQfl. 26
402 ^^' Chemische Dynamik.
SO begonnen, und lasst man die Erkaltung langsamer fortschreiten, so
bilden sich grossere Erjstalle, die sich verzweigen und verfilzen, und
deren Form nicht bestimmbar ist. Wird die Abkiihlung weiter langsam
fortgesetzt, so sieht man bald Erystalle von ganzlich anderer Form
anfbreten, die mit denon des ersten Versucbes, d. h. mit den Krystallen
der ersten Art» identisch sind. Von diesem Aagenblicke ab entwickela
sich beide Arten yon Krystallen gleichzeitig; sie sind sich so wenig
ahnlich, dass es unmoglich ist, sie zu verwechseln. Es kommt ein
Augenblick, wo die Masse erstarrt ist, und ein Erystall der einen Form
mit einem der anderen in Beriibrung kommt: dann beobachtet man die
folgende Erscheinung. Der durch die plotzliche Abkiihlung entstandene
farnkrautabnliche Erystall wird alsbald milchig und undurchsichtig an
der Stelle, wo er vom anderen beriihrt worden ist; dann vergrossert
sich der undurcbsichtige Punkt und bildet einen Fleck, der schnell
weiter wachst und sich mit anderen, ahnlich entstandenen vereinigt, so
dass nach Ablauf weniger Minuten die ganze Masse umgewandelt ist
. . . In anderen Fallen, wo der Stofif eine yollstandigere Abschreckung
in alien seinen Teilen erfahren hat, sei es, dass die Operation besser
gelungen ist, sei es durch haufigere Wiederholung, bleibt die Masse
vollig durchscheinend und lasst keine Spur der stabilen Erystalle
beobachten. Auch bleibt sie eine unbestimmte Zeit lang so durchschei-
nend. . . . Beriihrt man sie aber mit einem Erystall der ersten Form»
so wird der beriihrte Puukt der Mittelpunkt einer Riickverwandlung,
die mit der identisch ist, die sich bei gleichzeitiger Erystallisation der
beiden Formen yollzieht. . . . Die Geschwindigkeit der Riickyerwand-
lung ist immer gross, aber nicht konstant; sie scheint sich etwas mit
der Temperatur zu andern, bei der man arbeitet"
Jungfleisch erortert nun die Frage, ob der instabile Stoff mit dem
unmittelbar erhaltenen, bei 43^ schmelzenden identisch ist oder nicht:
er entscheidet sich, wenn auch nicht ganz sicher, im Sinne der Identitat,
weil auch die abgeschreckte Masse den Schmelzpunkt 43^ hat. Bringt
man in einer solchen Masse durch Beriibrung mit einem stabilen Krf-
stall einen umgewandelten Fleck heryor und taucht dann das Go&ss in
Wasser yon 45^ bis 48®, so schmilzt die durchscheinende Masse schneU,
wahrend der Fleck fest bleibt, und sich durch Weiterwachsea in der
Fliissigkeit yergrossert.
Jungfleisch setzt nun mit grosser Elarheit den wesentiichen Untar*
schied auseinander, den die gewohnliche chemische Isomerie mit dem
hier beobachteten Falle zeigt. So entstehen beim Nitrieren yon Chlor*
benzol zwei wohlunterschiedene Mononitrokorper (spater Ortho- and Para-
Das chemische Gleichgewicht. 403
chlornitrobenzol genannt), die sich auf keine Weise ineinander verwan-
deln lassen, und die verschiedene Abkommlinge, z. B. verschiedene Chlor-
aniline> geben. Hier handelt es sich um chemische Isomerie, d. h.
Verschiedenheiten, die bei den Abkommlingen bestehen bleiben. Die
beiden Dinitrochlorbenzole lassen sich dagegen leicht ineinander ver-
wandehi nnd Terhalten sich ahnlich, wie oktaedrischer und prismatischer
Schwefel; hier liegt also physikalische Isomeric oder Dimorphic Yor.
Es ist dies wohl das erste Mai, wo der Ausdruck physikalische Isomeric
gebrancht wird.
AUerdings ist die Sache in diesem Falle nicht ganz so einfach^
denn Jmigfleisch hatte aus den beiden verschiedenen Formen auch zwei
verschieden krystallisierende und schmelzende Chlomitroaniline erhalten,
was auf eine wirkliche chemische Isomeric hindeutet. Indessen finden
sich keine Angaben dariiber^ ob die beiden letzteren Verbindungen nicht
auch auf ahnliche Weise ineinander verwandelbar siud, wodurch die
Anomalie verschwinden wiirdo^). Auch scheint Jungfleisch seine Ab-
sicht, iiber die isomeren Nitrochloraniline Eingehenderes zu berichten,
nicht zur Ausfuhrung gebracht zu haben.
60. Benzophenon. Unzweideutiger, als in diesem ersten Falle, wurde
eine Polymorphie im organischen Gebiete bald darauf von Zincke ^) be-
obachtet. Dieser hatte bei der Oxydation von Diphenylmethan ein Pro-
dukt erhalteu, das nach der Entstehung, dem Siedepunkte und der
Analyse Benzophenon sein musste, sich von diesem aber durch eine
andere Krystallform und einen viel niedrigeren Schmelzpunkt, 26^ statt
48^ unterschied. Die gleichen Eigenschaften zeigte ein bei der Dar-
stellong von Acetophenon erhaJtenes Nebenprodukt, das auch Benzo-
phenon sein sollte. Aus benzoesaurem Kalk dargestelltes Benzophenon
£eigte dagegen die bekannten Eigenschaften, „so dass faktisch die Exi-
stem zweier Benzophenone erwiesen schien. Inzwischen war jedoch mit
dem Oxydationsprodukte des Diphenylmethans eine Umwandlung vor
sich gegangen; die meisten Krystalle waren milchig und triibe geworden
und zeigten jetzt das Verhalten des gewohnlichen Benzophenons. . . Das
Destillat aus Methylphenylkcton war dagegen noch unyerandert, es liess
ach bei 26® schmelzen und gab nach dem Hineinwerfen eines Krystalls
die schon erwahnten Erscheinungen. Als aber, wahrend die Bildung
^ Im Handbache von Beilstein sind die beiden Dinitrochlorbenzole als che-
nisch isomer, allerdings unter ZofQgung eines Fragezeichens, angeffihrt, vermut-
fich aaf Grund des letzterw&hnten Umstandes. Eine eingehendere Untersucbung
der Frmge wftre Ton einigem Interesse.
«) Ber, 4, 576. 1871.
26*
404 n. Ghemische Dynamik.
jener kalkspatartigen (niedrig schmelzenden) Krystalle in der Fliissig-
keit Yor sich ging, etwas Benzophenon hinzugefugt wurde, erstarrte das
Ganzo unter Erhitzung za diesem Korper. In nmgekehrter Weise liess
sich der Versuch nicht ausfiihren; geschmolzenes Benzophenon wurde
nicht durch einen Krystall der leicht schmelzbaren Modifikation in diese
iibergefUhrt, es erstarrte unverandert, und der Krystall wirkte nur als
fester Korper**.
Zur ErklaruDg der Erscheinung werden molekulare Hypothesen an-
gedeutet, die indessen nicht mehr, als eine Ubersetzung der Thatsachen
in die hypothetische Sprache sind. Wichtiger ist die Bemerkung, dass
ahnliche physikaJische Isomerien haafiger za existieren scheinen, wofiir
alsbald einige Beispiele angefuhrt werden.
61. Untersuohmigen von O. Lehmann. In der That mehrten sich
sehr bald die Falle der Polymorphic organischer Yerbindungen: Zincke
selbst'), V. y. Richter *), Laubenheimer^) und andere wiesen auf einzehe
Falle hin. Eine Zusammenfassung des Beobachteten und die Feststellung
der Yorhandenen Gesetzmassigkeiten verdanken wir 0. Lehmann^), dessen
Arbeit liber physikalische Isomeric nach ihrer dauerhaften systematischen,
wie ihrer verganglichen molekularhypothctischen Seite hin einen grossen
Einfluss auf die Ansichten der Ghemiker bcziiglich des Gegenstandes
ausgeiibt hat.
Lehmann betont zuuachst die vollige t)bcreinstimmung der Yor-
gange bei Anderungen des Aggregatzustandes mit denen bei den tTber-
gaugen physikalisch isomerer Stoffe; insbesondere wird das Yorhanden-
sein einer bestimmteu Ubergangstemperatur deutlichcr als bisher her-
vorgehoben und durch Yersuche erlautert. Diese wurden mittelst des
Krystallisationsmikroskopes ausgefuhrt, welches die Erwarmung des Ob-
jektes und die Regelung seiner Temperatur mit Hiilfe eines kleinen
Brenners und eines abkiihlenden Luftstromes gestattet Auf diese Weise
kann gezeigt werden, dass derartige Obergange durch geringe Ande-
rungen der Temperatur beliebig vor- und riickwarts verlaufend gemacht
werden konnen. Auch der Einfluss, den der Druck auf diese Tempe-
ratur haben muss, wird in Analogic der Yersuche von Bonsen and
W. Thomson (I, 1013) richtig theoretisch ausgesprochen, wenu auch
nicht durch Yersuche gepriift.
Als wesentlich neu tritt die Unterscheidung zweier Arten um-
wandlungsfahiger Stoffe auf. Die eine verhalt sich wie Schwefel,
') Bar. 1874, 7714. «) Ber. 1875, 1427.
») Ber. 1876, 760. *) Ztechr. f. Kryst. 1, 97. 1877.
Das chemische Oleichgewicht. 405
d. h. es besteht eine bestimmte Umwandlungstemperatur, oberhalb deren
die eine, unterhalb deren die andere Form bestandig ist und auf Eostea
der anderen wachst Ausserdem besteht aber noch eine andere Klasse von
Stoffen, wie die von Zincke beobachteten Formen des Benzophenons, von
denen iiberhaupt nur die eine bestandig ist und wo eine Umwandlungs-
temperatur fehlt Im Zusammenhange mit seinen molekularhypothetischen
Speknlationen, die in dieser Erstlingsarbeit die unmittelbare Darstellung
des Thatsachlichen vielfach iiberwucbem, nimmt Lehmann im ersten
Falle das Vorbandensein von molekularer Polymerie, im zweiten von
Metamerie an, ohne jedoch eine Moglichkeit zu haben, einen experi-
mentellen Beweis dafiir zu erbringen. Die Ausdriicke sind viel ge-
braucht worden, wenn aucb Lehmann selbst in Anerkennung ihres ganz
hypothetiscben Charakters sie spater ^) aufgegeben und durch die besseren
Enantiotropie und Monotropie ersetzt hat, von denen der erste die
Gegenseitigkeit, der zweite die Einseitigkeit der Umwandlung zum Aus-
druck bringt. Der Unterschied im Verlialten beider Gruppen ist, wie
bereits in der ersten Auflage dieses Buches bemerkt wurde (I, 695),
darin begriindet, dass bei den enantiotropen Stoffen der Umwandlungs-
punkt unterhalb der Schmelztemperatur der niedriger schmelzenden
Form liegt, wahrend bei den monotropcn Schmelzung eintritt, bevor
die Umwandlungstemperatur erreicht wird.
Wesentlich ist ferner, dass Lehmann die Moglichkeit der Uber-
schreitang der Obergangstemperatur in beiderlei Sinn als eine sehr
haufige, fast allgemeine Erscheinung kennen lehrt, im Gegensatz^zu
Frankenheim, der (S. 397) die Oberschreitung nach oben fiir unmoglich
angesehen hatte. Endlich ist noch der als Summe der gemachten Be-
obachtungen gegebene Satz hervorzuheben, dass bei monotropen Stoffen
die metastabile Form immer den niedrigeren Schmelzpunkt bat Wir
werden spater sehen, dass diese Beziehung keine zufallige, sondern eine
nothwendige ist.
Cber die Geschwindigkeit, mit der sich die Umwandlung voUzieht,
wenn der Stoff aus dem metastabilen in den stabilen Zustand iibergeht,
macfat Lehmann die allgemeingiiltige Bemerkung, dass sie in nachster
Nahe des Umwandlungspunktes am geringsten ist, und mit der Entfer-
ouBg von diesem zunimmt. Bei abnehmender Temperatur erreicht sie
indessen meist einen grossten Wert, auf den wieder eine Verlangsamung
folgt, die mit einem voUstandigen Stillstande der Umwandlung enden
kann. Li molekularhypothetischem Sinne wurde dies mit einer Abnahme
1) Molekolarphysik 1, 119. Leipzig 1888.
406 I^- Chemische Dynamik.
der „Beweglichkeit" der Molekeln bei niedrigerer Temperatur gedeutet;
wir werden darin einen besonderen Fall der allgemeinen Thatsache er-
kennen, dass die Geschwindigkeit jeder Reaktion mit abnehmender
Temperatur schnell geringer wird.
Die eben ausgesprochenen Gesetzmassigkeiten werden nun in Leh-
manns Abbandlung durch ein sehr ausgedehntes experimentelles Mate-
rial erlautert, welches zeigt, dass die bis dahin als relativ selten ange-
sehenen Erscheinungen der Polymorphie gerade unter den organischen
Stoffen ungemein hauiig sind, ja fast zur Kegel gehoren. Da es sicb
meist nur um den qualitativen Nachweis der Polymorphie und die Zu-
ordnung zu einer der beiden Klassen handelt, so kann von der Mittei-
lung der Einzelfalle hier abgesehen werden, von denen sich eine grosse
Zahl in dem erwahnten Werke (Molekularphysik 1, 119 — 219) zusam-
mengestellt findet.
62. Untersuchungen von Ii. Th. Belcher. Angeregt durch yan't Hoff,
der bei seinen Studien iiber das chemische Gleichgewicht (S. 155) zu
dem allgemeinen Begriff der „t)bergangstemperatur** gekommen war,
hat L. Th. Reicher^) den klassischen Fall des Schwefels einer nahcren
Untersucbung unterzogen. Um zunachst die Umwandlungstemperatur
selbst moglichst genau zu bestimmen, yersuchte er die von Lehmann
fiir diesen Zweck unter dem Mikroskop angewandte Methode der Grenz-
verschiebung anzuwenden. Zu diesem Zwecke wurde eine diinne Schicht
Schwefel zwischen Glasern erstarren gelassen, die Umwaudlung ?on einer
Seite eingeleitet und dann in der Nahe des Umwandlungspunktes, der
zwischen 90® und 100® zu erwarten war, die Verschiebung der Grenz-
linie beobachtet. Es ergab sich indessen, dass fur genaue Bestimmungen
das Verfahren nicht brauchbar ist, da in der Nahe der Umwandlangs-
temperatur die Verschiebung so langsam wird, dass eine merkliche Be-
wegung erst einerseits bei 90®, andererseits bei 100® eintrat. Ein
geniigendes Verfahren liess sich dagegen auf der Beobachtung der
Volumanderung bei der Umwandlung begriinden, da die spezifischen
Volume beider Schwefelarten um 7 Prozent verschieden sind*). Die
Mcssung geschah in einem Dilatometer nach dem Verfahren yon Kopp
») Ztschr. f. Kryst. 8, 593. 1884.
*) Da im allgemeinen s&mtliche Eigenschaften des fasten KOrpers bei poH-
morphen Formen verschieden slnd, so kann zur Erkennung und Messung der Um-
wandlung jede Eigenschaft dienen, die selbst gute und bequeme Messung g«st&tt%t.
Wie sich aus den sp&teren Darlegungen ergeben wird, ist in der That eine ziem-
lich grosse Mannigfaltigkeit von Eigenschaften diesem Zwecke dienstbar gemacht
word en.
Das chemische Gleichgewicht. 407
(I, 998); als Fliissigkeit worde nach mancherlei Vorversuchen ein 6e-
misch von Terpen tinol mit 10 Prozent Schwefelkohlenstoff angewandt.
WeseDtlich fiir die Schnelligkeit der Reaktion erwies sich) dass vorher
etwa die Halite des Schwefels in die andere Form nmgewandelt worden
war, tun eine *moglich8t innige Beriihrung beider Formen zu sichern.
Fiir das Verhalten eines so vorgerichteten Apparates ist nun zu
erwarten, dass die Fliissigkeit bei konstanter Temperatur ein langsames
Sinken zeigen wird, wenn die Temperatur unter dem Umwandlungs*
pimkt liegt, oberhalb des Umwandlungspunktes ein langsames Steigen,
und keine Bewegung bei dies'em selbst. Genau so verhielt sich das
Dilatometer, und die Umwandlungstemperatur ergab sich zu 95-6 ^ Die
gleiche Temperatur wurde erhalten, indem bestimmt wurde, bei welchen
Temperaturen eine gleich schnelle Umwandlung in einem und im anderen
Sione stattfand: die Umwandlungstemperatur muss dann nahezu in der
Mitte zwischen beiden liegen. Auf diese Weise wurde die gleiche Zahl
gefunden, die fiir den im Dilatometer herrschenden Druck Yon 4 Atm. gilt.
Auch Gemez ^) hat, ohne seine Vorganger zu erwahnen, festgestellt,
dass die gegenseitige Umwandlung von rhombischem und monoklinem
Schwefel wesentlich von der Temperatur abhangt; er bestimmt die
Grenze zwischen 97-6® und 984^ Ferner hebt er aber hervor, dass die
Umwandlung sicher nur bei Gegenwart der anderen Form erfolgt; ist
sie nicht zugegen, so kann eine langwahrende Uberschreitung des Be-
standigkeitsgebietes bestehen bleiben. Er nennt die Erscheinung „kry-
stallinische Uberhitzung*' (surchauffe cristalline); doch ist der Name
irrefiihrend, da es auch eine entsprechende Oberkaltung giebt.
Gber die Prioritat dieser Beobachtangen hat sich zwischen Reicher
nnd Rays') und Gemez') ein Streit entsponnen> auf den nicht naher
eingegangen zu werden braucht, da die Verschiedenheit der beiden
Arbeiten aus der vorangegangenen Darstellung deutlich genug ersicht-
lich ist
63. Weitere Untersuohungen* Eine grosse Anzahl genauer Mes*
sungen iiber die Vorgange bei der Umwandlung polymorpher Stoffe
Terdanken wir den Arbeiten von M. Bellati und seiner Arbeitsgenossen.
Seine erste derartige Untersuchung, die mit R. Romanese^) zusammen
ausgefiihrt worden war, bezog sich auf das Silber- und das Cuprosalz
der QaecksilberjodwasserstoflEsaure Ag*HgJ* und Cu^HgJ*, von denen
») C. r. 98, 810. 1884. «) C. r. 100, 1593. 1885.
») C. r. 101, 313. 1885.
«) Atti del Istituto Yenete (5) 6, 1051. 1880. — Nuovo Cimento (3) 8, 215. 1880.
408
II. Ghemische Dynamik.
MeuseP) nachgewiesen hatte, dass sie bei ziemlich niedriger Tempe-
ratur einen schnelleu Farbenwechsel aus gelb in rot bez. rot in braan
erfahren. Die Verbinduugen wurden hergestellt, indein abgewogene
Mengen von Quecksilberjodid und einem der beiden Jodiire mit etwas
Alkohol zusammengerieben wurden; daroh die Loslichkeit des Qaeck-
silbeijodids in Alkohol wird bewirkt^ dass unter diesen Umstanden eine
schnelle Vorbindung der Stoffe eintritt (iiber deren Vollstandigkeit man
auf diese Weise allerdings nicht sichor ist), die sich durch eine ent-
sprechende Farbenanderung bald erkennen lasst. Da die Yerfasser fiber
die Eonstitution der wirksameu Verbindung nicht sicher waren, haben
sie auch noch in einigen anderen Molekularyerhaltnissen, als den durch
die obige Formel ausgedriickten, das Gemisch hergestellt; indessen er-
o so 100 iso ioo 2S0 »e .iso
Fig. 27.
Fig. 28.
gab sich aus den Versuchen, dass die ausgepragtesten und starksteu
Erscheinungen an den Stoffen auftraten, die nach der obigen Fennel
2usammengesetzt waren.
Die Uutersuchuugen bestanden zuerst in Beobachtungen des £r-
kaltungs- und des ErwUnnungsvorganges in der Zeit. Statt aller Zahlen
seien die entsprechenden Eurven wiedergegeben; Fig. 27 bezieht sich
auf die Silber-, Fig. 28 auf die Eupferverbindung. Die Eurven zeigai
deutlich, dass eine Unregelmassigkeit in der Erkaltung eintritt, die auf
stattfindende Umwandlungen hinweist; und zwar liegt diese Stelle bd
der Eupfenrerbindung hoher als bei der Silberyerbindung. Far die
genaue Bestimmung einer etwaigen Umwandlungstemperatur sind in-
dessen die Messungen nicht geeignet.
») Ber. 3, 123. 1870.
Das chemische Gleichgewicht. 409
Die BeobachtuDgen der Farbenanderungen liessen eine Erscheinung
za Tage treten, welche auf ein vom normalen einigennaasen abweichen-
desVerbalten hinweist: das Fehlen eines plotzlicben Uberganges und
men sebr grossen Betrag thermischer Nacbwirkung. Es warden zwei
Glaser mit dem Silbersalze beobachtet, indem das eine langsam erwarmt,
das andere langsam abgekuhlt wurde, und dabei wurden die Tempera-
tnren beetiinint, bei denen beide gleiche Farbe hatten« Diese Tempe-
ratoren fielen immer yerschieden aus, wie die nachstehende Tabelle lehrt
Erkftltung
Erw&rmaDg
42-6»
48.1«
40-2
479
37-0
47-4
36-5
461
360
444
351
42*6
345
40-6
84-0
379
Leider wurde nicbt festgestellt, in welcher Weise diese Unterschiede
von der Zeit abhangig waren, und ob nach geniigend langem Verweilen
bei derselben Temperatur docb schliesslich beide Proben die gleiche
Farbe annahmen.
Gleiches Yerhalten zeigte das Cuprosalz, die Temperaturen gleicher
farbung waren:
Erkaltung Erwftrmung
61.5'* 70.6»
572 69-6
56.2 651
58-2 61-6
Wahrend diese Erscheinungen von den gewohnlicben abweichen,
^tsprechen die Anderungen des Volums und die Warmetonungen beim
Darcbgang durch die Temperatur der Farbenanderung ganz denen der
wobnlichen enantiomorphen Umwandlung. Beide wurden mit grosser
Sorgfalt TOO Bellati und Romanese untersucht^ erstere auf dilatometri-
tcbem Wege, die anderen im Mischungskalorimeter.
Fiir die Untersuchuug der Volumanderung wurde die Substanz mit
Wasser ia ein Dilatometer mit abnehmbarer eingeschliffener Rohre ge-
bracht und die Ausdehnung des Gemenges bestimmt Da sowohl die
KoDstanten des Dilatometers, wie aucb die Mengen. Salz und Wasser
geoau bestimmt waren, so konnte aus den beobacbteten Standen des
Flussigkeitsfadens itn Robre das Volum des Salzes bei der vorbandenen
410
II. Chemische Dynamik.
Temperatar berechnet werden. Auch diese Ergebnisse sind in Eorren
wiedergegeben, Fig. 29. Die ausgezogene Kurve stellt die Erocheinungen
bei der Erwarmung, die punktierte die bei der Erkaltung dar; wie man
sieht, ahnelt das Bild den ^^Hysteresisschleifen" bei der Magnetisiening
des Eisens und zeigt die Verzogerung der Umwandlungserscheinung anf
das deutlichste. Auch bier sind leider keiue Versache dariiber ange-
stellt worden, ob der Verlauf der beiden Eurven von der Zeit abhangig
ist Oder nicht« Sehr charakteristisch ist die langsame Eriimmang am
unteren, und die sehr plotzliche am oberen Ende des Gebietes der un-
regelmassigen Ausdehnung.
Fig. 29.
Was schliesslich die thermischen Messungen aniangt, so wurden
diese ausgefiihrt, indem die Substanz, in dunne Glasrohren von bekannter
Warmekapazitat eingeschlossen, langere Zeit auf der gewtinschten Tem-
peratur erhalten und dann in einem kleineu Wasserkalorimeter abge-
kiihlt wurde. Dabei ergab sich, dass zwischen den Temperaturen der
Farbenwandlung wirklich sehr viel mehr Warme abgegeben wurde, als
dariiber oder darunter; auch war die spezifische Warme in beiden Ge-
bieten verschieden.
Die abgegebene Warme zwischen T und t betrng fiir das Silber-
salz unterhalb der Umwandlungstemperatur
Das chemische Gleichgewicht.
411
q=i0.035648(T— t) + 0.00056835(T«— 1»)— 0.0000052621(T3— t^)
imd oberhalb q = 1-58600 + 006130351,
wobei als untere Temperatur Null genommen ist. Daraus berechnet
sicli die Umwandlungswarme bei 50® zu 2«087, bei 41® zu 2-0283.
Fiir das Cuprosalz sind die beiden Formeln
q==0.0532068(T— t) + 0.000041131(T«-t«)
md q = 1-90297 + 00626421 T;
die Umwandlungswarme folgt zu 0-3619 bei 70® und 2-3210 bei 60®.
inch diese Ergebnisse sind in Kurven, Fig. 30 dargestellt.
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Fig. 30.
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Versuche, eine etwaige Anderung der Krystallform wahrend der
Farbenaaderung zu erkennen, fiihrten zu keinem Ergebnisse, da keiue
beobachtbaren Krystalle, auch keine mikroskopischen, erhalten wurden.
inch gelangen Versuche, eine gegenseitige scbnelle Umwandlung der
dwch Abkiihlen bez, Erwarmen erhaltenen, bei gleicher Temperatur ver-
8ehieden gefarbten Formen durch innige Beriihrung zu bewerkstelligen,
nicht, obwohl die Verfasser auf den Versuch, als eine Bestatigung der
Ton ihnen hervorgehobenen Analogie mit anderen tJberkaltungserschei-
noDgen, Gewicht legten.
412 n. Chemische Dynamik.
So weit die Untersuchungen von Bellati und Romanese. Durch
eigene Versuche babe icb micb liberzeugt, dass die Farbenwandlung bei
diesen Stoffeii wesentlicb anders aussiebt, als die abnlicbe z. B. beim
Quecksilberjodid. Wahrend dort die cbarakteristiscbe Plotzlicbkeit und
die lokalisierte Bcscbaffenbeit der Umwandlung keinen Zweifel dariiber
lasst, dass es sicb um zwei verscbiedene Stoffe bandelt, babe icb bei
den Doppelsalzen den Ubergang immer stetig gefunden, nnd nament-
licb niemals beobacbten konnen» dass die Verfarbung von bestimmten
Stellen ausgegaugen ware. Die Farben gingen regelmassig durcb un-
merklicbe Abstufungen ineiimnder iiber, und niemals konnten yerschie-
denfarbige, durch eine scharfe Grenzlinie voneinander gescbiedene Flecken
beobacbtet werden.
Von A. E. Baur^) sind diese Erscbeinungen dahin aufgefasst wor-
den, dass bei 50^ das Doppelsalz nicbt in eine andere Modifikation
ubergebt, sondern iu Jodsilber und rotes Quecksilberjodid zerfallt; aach
giebt er an, dass der Vorgang nur dann scbarf eintritt, wenn der
Alkobol Yorher mit Quecksilberjodid gesattigt war.
Hiergegen lasst sicb einweuden, dass das ganz analoge Cuprosalx
bei niedriger Temperatur rot ist und bei 70^ sicb unter ganz abnlichea
Erscbeinung^n wie das Silbersalz scbwarzbraun ^rbt. Hier ist eine
derartige Annabme mit den beobacbteten Farbenanderungen im Wider-
sprucb, da Kupferjodiir fast weiss ist.
AUe diese Umstande macben eine erneute Untersuchung des Mate-
rials wiinscbenswert und zeigen, dass nebeu den oben geschilderten
typiscben Erscbeinungen andere vorbanden sind, die nocb der voUstan-
digen Aufklarung barren.
64. Eortsetznng. Auf abnlichem Boden bewegt sicb eine mit
grosser Sorgfalt ausgefiibrte Arbeit von G. F. RodwelP) iiber die Aus-
debnungserscbeiuungen der Halogenverbindungen von Silber, Queck-
silber, Blei und Kupfer, sowie einiger Legierungen von diesen. Die
Versucbsanordnung bestand in der unmittelbaren Messung der Langen-
ausdebnung gegossener Stabe von 15 cm Lange; sie befanden sicb
zwischen zwei beweglicben Stiicken, von denen das eine durch eine
Mikrometerscbraube von 0-24 mm Gangbobe, die auf Vsoo ftbgelesen
werden konnte, bewegt werden konnte, das andere mit einem doppelteo
Fiiblhebel in Verbindung stand, der die Bewegung 5382 mal vergrosserta
Um das Versucbsstiick ToUstandig in einem Olbade unterbringen za
^) Zeitschr. f. phys. Chemie 18, 181. 1896.
«) Phil. Trans. 173, (3) 1125. 1882.
Das chemiBche Gleichgewicht. 413
konnen und dabei die Warmeleitung nach dem Messapparat moglichst
za yermeiden, waren die zwischen diesem und dem Stabe eingeschal-
teten Stucke von nmgekehrter Y-Fonn; am oberen Ende drehbar ge-
lagert» teilten 8ie aich in der Mitte, indem einer der beiden Anne in
das Olbad reichte und sich gegen den Stab lehnte, wahrend der andere
aosserhalb des Olbades die Spitze der Scbraube, bez. des Fiihlhebels
berahrte. Der mit dem Fiihlbebel verbundene Zeiger drehte sich um
180^ wenn die Scbraube um 3-5 Windungen gedreht wurde.
Zuerst wurde Silberjodid untersucht Dieser Stoff wandelt sich,
wie schon Wernicke^) bemerkt hatte, bei etwa 150^ um, indem er aus
dem krystallinischen Zustande in einen anscheinend amorphen iibergeht
Gleichzeitig andert sich das Zeichen der Ausdehnung. Wie schon
Fizeau^) beobachtet hatte, besitzt Silberjodid bei niedrigen Tempera-
tuen einen sehr kleinen negativen Ausdehnungskoeffizienten, es ver-
kleinert sein Volum langsam bei steigender Temperatur. Dies Verhalten
erstreckt sich nach den Beobachtungen von Rodwell bis 142^; dann
wird die Zusammenziehung schnell grosser, ist zwischen 148^ und 151«3^
sehr stark, hort aber bei 156*5<^ vollig auf. Das Volum bleibt bis 163<>
nnyerandert, und dann tritt eine Ausdehnung ein, die bis zum Schmelz-
ponkte andauert.
Die nachstehende Tabelle giebt die Volume des Silberjodids bei
wachsenden Temperaturen, das bei 0^ als Einheit genommen.
0°
1000000
124
0998765
133
0998608
142
0-998450
148
0-997469
1513
0-983609
153
0-981560
1565
0.980510*
163
0-980510*
200
0-982377
300
0-989298
400
0-996219
500
1-003140
527
1-005008
527 flOBsig
1-040908
Die Stelle unveranderlicheu Volums ist durch Sternchen gekenn-
zdchnet; von den beiden bei 527^ angegebenen Volumen bezieht sich
das eine auf den festen, das andere auf den fliissigen Zustand.
>) Pogg. Ann. 143, 560. ') Gompt. rend. 64, 314. 1867.
414 n. Chemische Dynamik.
Leider ist keine Beobachtungsreihe bei fallenden Temperaturen
gemacht worden, so dass es nicht bekannt ist, wieviel von dieser Zu-
standsreihe wirklichen GleichgewichtszustaDdea entspricbt und wie gross
der Rest von langsam in der Zeit verlaufenden Erscheinungen ist, der
in diesen Zahlen zur Geltang kommt.
Bromsilber und Chlorsilber zeigen von ahnlicben Umwandlungea
nichts; bei ihnen yerlauft die Ausdehnung in gewohnlicher Weise lang-
sam mit der Temperatur zunehmend.
Die drei Halogensilberverbindungen wurden in Gemischen unter-
sucht, die nach molekularen Verhaltnissen zusammengesetzt waren.
Bezieben wir die Eoeffizienten der Reihe nach auf das Jodid, das
Bromid und das Ghlorid, so war deren Zusammensetzung 1:2:2,
1:1:1, 2:1:1, 3:1:1, 4:1:1. AUe diese Gemische zeigten die Eon-
traktionserscheinung, die dem Jodsilber zukommt, jedocb mit dem
Unterscbiede, dass die Zustandsanderung um etwa 18 Grade tiefer ein-
trat, namlicb bei 124^ begann und bei 133^ aufhorte. Gleicbzeitig ist
das Temperaturintervall mebr zusammengedrangt tlber diese Temp^
ratur binaus macbt sich eine starke Ausdebnung geltend, die grosser
ist, als die irgend eines der Bestandteile.
Quecksilberjodid zeigte bezuglich seiner Ausdehnung weit einfacbere
Verhaltnisse. Bis 126^ erfolgt eine nabezu geradlinige Ausdebnung von
massigem Betrage, dariiber eine plotzliche Volumzunabme im Zusammen-
bang mit der Anderung in die gelbe Form, worauf wieder bis zum
Scbmelzpunkte bei 200® eine geradlinige Ausdebnung mit grosaerem
Koeffizienten erfolgt.
Bleijodid zeigt abnlich dem Silberjodid eine Zustandsanderung
durcb seine Ausdebnung an, die zwiscben 250® und 270® verlauft; sie
kennzeicbnet sicb aber nicht durcb eine plotzliche Zusammenziehung,
sondern eine starke Ausdehnung. In. Fig. 31 stellen die Kurven fur
Silber- und Bleijodid die Verhaltnisse zwiscben Temperatur und Volum
dar. Die dazwischen gezeichnete Kurve beziebt sicb auf ein Gcmisch
beider Jodide nach der Formel PbJ*+AgJ; sie zeigt dieselben Ver-
haltnisse, welche oben fiir die Gemische von Jodsilber mit Brom- und
Chlorsilber geschildert worden waren. Von den Eigentiimlicbkeiten des
Jodbleis lasst sich dagegen nichts erkennen. Andere Gemische der
beiden Bestandteile konnten nicht untersucht werden, da sie beim Er-
kalten in Stiicke zerfielen. Auch die obengenannte Legierung gab beim
Erkalten Laute von sich, und beim Anfassen liessen sicb Erschiitte-
rungen fuhlen, die auf dem Ubergange des amorpben Jodsilbers in
krystallinisches berubten.
Das chemiscbe Gleichgewiclit.
415
Kupferjodiir zeigte im reinen Zustande gleichfalls nur oin ganz
einfaches Verhalten, indem es einen kleinen, nahezu konstanten Aus-
dehnungskoeffizienten besitzt. Es wurde mit Jodsilber im Verhaltnis
Yon 2:1, 2:2, 2:3, 2:4, 2:12 zusammengeschmolzen; die Legiemngen
zeigten wieder ziemlich verwickelte Yerhaltnisse. Die erste dehnte sich
langsam bis 223^ aus, worauf der Koeffizient schnell kleiner wird und
zwischen 256° und 284° Null wird, d. h. die Substanz erleidet inner-
balb dieses Gebietes gar keine Volumanderung. Dann tritt bis 309°
eine Znsammenziehung ein, zwischen 309° und 319° ist wieder ein
Yolnmstillstand, und von da ab erfolgt eine starke geradlinige Aus-
dehnung bis zum Schmelzpunkt.
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Fig. 31.
Die anderen Gemische verhielten sich im wesentlicheu ahnlich,
nor dass die Temperatureu der Umwandlungen sich nach unten yer-
schoben zeigten, und zwar die ersten viel mehr als die letzten. Die
Gesamtheit dieser Yorgange ist in der Fig. 32 (S. 416) dargestellt, die
oach den Zahlenangaben der Abhandlung entworfen worden ist.
Im Anschluss an diese Messungen fuhrten Bella ti und Romanese^)
Bestimmungen der spezifischon und Umwandlungswarme der meisten
untersQchten Gemische aus. Die Ergebnisse sind in der nachstehenden
Tabelle zusammengestellt, in der zuerst die speziflsche Warme unterhalb
der Umwandlungswarme c^, sodann die Umwandlung X bei der ange-
gebenen Temperatur in kleinen Kalorien fiir ein Gramm, und schliess-
lich die spezifische Warme c, oberhalb der Umwandlung angegeben ist
») PhiL Trans. 178, 1169. 1882.
11. Ghemlaclie Djnuunlk.
AgJ
Cu J + 6AgJ
CQj + 2AgJ
2CiiJ + 3AgJ
CaJ + AgJ
2CnJ + AgJ
CuJ
PbJ* + AgJ
0O544 + 0-0000372 (T + t)
005882
0-O5e63 + 0«)00410 (T + 1)
0-M96 + 0-0000280 (T + 1)
0-06104 + 0-0000296 (T + t)
o-oeaio + 0-0000260 (T + 1)
0-0684
0-04746 + 0-0000084 (T + 1)
6-36 bd 150* 00577
831 „ 160* (KI680
7-96 „ 230* 0-0702
940" 04726
7-74
6-67
Das chemische Gleichgewiciit 417
Die Buchstaben T und t in den Formeln fiir die spezifische Warme
geben die Temperaturen an, zwischen denen der Wert zu berechnen ist.
Wie man aus den Zahlen sieht, ist die Umwandlungswarme nahezu
die gleiche bei den verschiedencn Misebungen, obwohl die prozentischen
Anteile an Jodsilber, das die Umwandlang erleidet, ziemlich yerschieden
sind. Nur das Gemisch mit Jodblei zeigt einen wesentlich kleineren Wert.
65. Folymorphe Kitrate. Reinere und gleichzeitig mannigfaltigere
Verhaltnisse fanden sich beim Kaliumnitrat, dessen Dimorphie schon
FraDkenheim (S. 399) beobachtet hatte. Bellati und Romanese ^) iiber-
zeugten sich zunachst durch Erkaltungs- und Erwarmuugsversuche, dass
in der That zwischen 122® und 129® eine betrachtliche Warmeerschei-
nung eintritt. Um die Umwandlungswarme zu messen, bestimmten sie
die spezifische Warme des Salpeters nach der Mischmethode fiir Tempe-
rataren, die unter, wie liber der Umwandlungsteroperatur lagen. Aus
diesen Messungen ergaben sich die nachstehenden Formeln fiir die spe-
zifische Warme c unter, und c' iiber dem Umwandlungspunkt, wobei T
die obere, t die untere Temperatur der Messung ist:
c = 0-2030 + 0.000271 (T + 1)
c' = 0-285
2=11-89.
Die Umwandlungswarme X ist unter der Voraussetzung berechnet,
dass die Umwandlungstemperatur bei 122® liegt.
Eine Bestatigung dieser Zahl wurde durch zwei Messungen erlangt,
bei denen erstens der Salpeter auf 126-3® erhitzt wurde, ohne dass er
diese Temperatur iiberschritt, wahrend zweitens eine andere Probe erst
anf 170® erwarmt und dann lange bei 126-7® gehalten wurde. Die von
beiden Proben abgegebenen W^armemengen betrugen 27-84 und 38-74 cal.
auf ein Gramm. Der Unterschied von 10-90 cal. ist etwas kleiner als
der Yorige, yielleicht wegen eines Anfanges der Umwandlung im ersten
FaUe.
Durch Beobachtungen mittelst eines Polarisationsapparates iiber-
zeogten sich die Verfasser vom Eintreten der Umwandlung in der Nahe
▼on 130^; auch beobachteten sie die bekannten Verzogerungserschei-
DQDgen in der Umwandlung, wenn die Temperaturanderung ohne die
Gegenwart der andern Phase stattfand.
Ein Doch weit geeigneteres Material fur derartige Forschungen hot
sich im Ammoniumnitrat dar, an dem Lehmann ausser den schon von
Frankenheim beobachteten zwei Formen, die denen des Salpeters ent-
^) Atti Ist. Yeneto (6) 3, 653. 1885.
Oitvald, Cbemie. 11,3. 2.Aafl. 27
I
418
•n. Ghemische Dynamik.
sprechen, noch zwei andere beobachtet hatte, so class dieses Salz nicht
weniger als vier, in dem engen Temperatarraume zwischen 30^ und 125*
belegene Formen aufweist. Bellati und Romanese ^) fiihrtcn das genauere
Studium dieses Stoffes mit den folgenden Ergebnissen darch.
Abkiihlungs- und Erwarmungsversuche ergaben alsbald das Vor-
handenseiti von drei Umwandlungspunkten in der Nahe von 33^ 84^ und
125^ Infolge des ziemlich grossen Betrages der Umwandlungswarmen
und der starken tlberschreitungen bei niedrigerer Temperatur zeigten
die Kuryen nicht nur eine Verzogerung der Abkiiblung bez. Erwarmung
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Fig. 33.
Fig. 34.
Fig. 35.
an diesen Stellen, sondern der Gang des Thermometers kehrte sich auf
einige Zeit um, indem z. B. beim Abkiihleu die Temperatur auf 30-1^
sank, sich auf 31-P erhob und dann von neuem sank; ebenso stieg
beim Erwarmen die Temperatur auf 35*7 ^ worauf die Umwandlung
eintrat, deren Warmeverbrauch das Thermometer bis 35*0^ sinken liess,
wonach erneutes Steigen begann. Die Kurven Fig. 33 stellen diese Ver-
haltnisse dar, und zwar bezieht sich je eine der beiden Kurven jeder
Figur auf den Abkiihlungs-, die andere auf den Erwarmungsvorgang.
Zum Studium der Volumanderungen diente ein Dilatometer mit ein-
geschliffener geteilter Rohre, dessen Gefass mit sorgfaltig getrocknetem
») Atti l8t. Veneto (G) 4, 1395. 1886.
Das chemische Gleichgewlcht.
419
Nitrat gefiillt warde; dariiber kam zur Abhaltung kleiner Teilcfaen von
der Kapillare etwas feine Leinwand, und dann wurde das Ganze mit
Terpentinol unter sorgfaltigem Auspumpeu der Luftblasen gefiillt Aus
Torgangigen Bestimmungen der Ausdehnung des Glases und des Ter-
pentinols^ sowie der Kenntnis der benutztcn Mengen Salz und Ol Hess
sich die wahre Volumanderung des ersteren berechnen.
Die Ergebnisse sind in der Fig. 36 dargestellt; es zeigt sich, dass
die Umwandlung bei 35^ unter sehr starker Volumzunahme erfolgt, wafa-
rend die bei 8P von einer Verminderung des Volums begleitet ist
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Fig. 36.
Dies ist bemerkenswert, da man geneigt sein konnte, zu glauben, dass
die bei hoherer Temperatur bestandige Form stets unter Volumzunahme
aos der Torangehenden entsteht. Uber die Volumanderung am dritten
Obergangspunkt wurden keine genaueren Messungen angestellt; sie geben
DU- an, dass sie gleichfalls von starker Volumzunahme begleitet ist
Endlicb wurden ahnlich wie beim Salpeter die Umwandlungswar-
men aus Messungen der vom erhitzten Salze an das Kalorimeter abge-
gebenen Warmemengen bestimmt Als kalorimetrische Fliissigkeit diente
Terpentinol, so dass im Interesse der Genauigkeit das erbitzte Salz mit
der Fliissigkeit in unmittelbare Beriihrung gebracht werden konnte. Die
Ergebnisse sind:
27*
420 n. Chemische Dynamik.
Mittlere spezifische W&rme zwischen 0^ und 31® =» 0-407
„ 31* „ 8250 = 0.355
„ 82.5® „ 124« = 0426
Umwandluogswftrme bei 31® =» 5-02
„ „ 82.5«= 5.33
„ 124'> =-1186
Die Zahlen sind kleiue Kalorien und beziehen sich auf 1 g Substanz.
In der Fig. 36 (S. 419) sind die aufgenommenen Warmemengen
als Funktion der Temperatur gleichfalls dargestellt
66. Die Sohwefel- und Selenverbindangen des Kupfera und Silbers.
Von Faraday war die merkwiirdige Thatsache beobachtet worden ^), dass
Schwefelsilber seine Leitfahigkeit durch geringe Anderungen der Tem-
peratur urn das Vielfache vermehrt; gleichzeitig wurde nachgewiesen,
dass die Leitung eine elektrolytische ist. Hittorf*), der diese Verhalt-
nisse messend untersuchte, fand ausserdem im Eupfersulfur eiu zweites
Schwefelmetall von gleichen Eigenschaften. Bei diesem zeigte sich ins-
besondere in der Nahe von 105® eine fast plotzliche Abnahme des
Widerstandes, und Hittorf schloss daher auf eine bei dieser Temperatur
eintretende Anderung des Stoffes, die er allerdings als eine yjErwcichung*'
auffasste, indem er annafam, dass iiberhaupt der grosse Temperaturein-
fluss in diesem Falle von der Befdrderung der elektrolytischen Leitung
durch eine Zunahme der Beweglichkeit der kleinsten Teilchen bewirkt
werde. Um sich von dem Eintreten einer schnellen Zustandsanderuug
bei der fraglichen Temperatur zu iiberzeugen, stellte er einen Abkiih-
lungsversuch an, der in der That eine auffallende Verzogerung im Gauge
des Thermometers bei einer etwas niedrigeren Temperatur, 99®, zeigte.
In Fig. 37 ist die nach Hittorfs Zahlen gezeichnete Kurve wiedergegeben.
d^
Die zweite, mit -^- bezeichnete Kurve stellt die Differentialquotienten
der Zeit nach der Temperatur, d. h. die fur die Erkaltung um je einen
Grad erforderlichen Zeiten dar, die aus Hittorfs Tabelle durch Division
der beobachteten Temperaturintervalle durch die entsprechenden Zeiten
erhalten und als Function der Temperatur aufgetragcn sind^). Wie man
sieht, nehmen sie erst regelmassig zu, um beim Umwandlungspunkte
plotzlich enorm zu wachsen. Nachdem die Umv/andlung abgelaufen ist^
tritt virieder das regelmassige Abkiihlungsgesetz ein, und die punktierte
*) Pogg. Ann. 31, 241. 1834.
«) Pogg. Ann. 84, 1. 1851.
') In der Kurve siud einige Unregelm&ssigkeiten der Beobachtung ausgegUclien.
Das chemische Gleichgewicht.
421
Verbindungskurvc zwischen beiden Stiicken zeigt, dass sich der untere
Teil als eine Fortsetzung des oberen auffassen lasst.
Man hatte statt des Quotienten -=— den umgekehrten Wert 3-^, die
dt d^
Abkiihlungsgeschwindigkeit, berechnen konnen, und hatte statt des Maxi-
malwertes der Kurve bei 99^ eineu Minimalwert erhalten. Indessen
iiberzeugt man sich leicht, dass eine solche Darstellung weniger an-
schaulich ausfallt, als die oben gewahlte.
Sehr bemerkenswert ist, dass ein kleiner Gehalt von Kupfersulfid,
CnS, welches mit dem Sulfiir in alien Verhaltnissen zusammenschmilzt
und yermoge seiner metallischen Leitung dessen Leitfahigkeit ungemein
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Fig. 37.
vergrossert, auch die thermischen Erscheinungen wesentlich abandert.
Die Temperatar der verzogerten Erkaltung ging bis auf 79® herunter,
und bei noch etwas mehr Gehalt an Sulfid trat sie iiberhaupt nicht
mehr ein.
Es handelt sich hier wahrscheinlich um eine polymorphe Anderung
des Snlfiirs; die Thatsacbe, dass diese bei einem verhaltnismassig ge-
ringen Gehalt an einem anderen Bestandteile ganz ansbleibt, hat ein
besonderes Interesse.
Ganz ahnlich yerhalt sich das Schwefelsilber; bei etwa 175® ver-
niehrt es plotzlich seine Leitfahigkeit, und die Abkiihlungsgeschwindig-
keit erleidet zwischen 160® und 170® eine betrachtliche Verminderung.
422
11. Ghemische Dynamik.
Die entsprechendeo Selenverbindungen beider Metalle verhalten sich
als metallische Leiter; doch besitzen sie gleichfalls die Eigentiimlicb-
keit plotzlicher Zustandsanderungen bei bestimmten Temperaturen.
Die gleichen Erecheinungen sind weiter yod Bellati und Lussana^)
untersucht worden. Das Material wurde durch Zusammenschmelzen der
Metalle mit Selen in abgewogenen Mengen erhalten. Yon den beideii
zeigte namentlich das Eupferselenur ein auffallendes Verhalten des Wider-
standes, indem dieser zuerst zu-, dann betrachtlicb ab- und dann wieder
zunabm. Die Temperaturen der beiden Anderungen liegen etwa bei
100^ und 130® und die Kurve Fig. 38 lasst den sehr grossen Betrag
der Anderung erkennen. Indessen verhalt sich der einmal erhitzt ge-
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Fig. 38.
wesene Stab yon Eupferseleniir beim zweiten Erhitzen etwas anders
bezUglich der Zahlenwerte, und ebenso werden beim Abkiihlen nicht
dieselben Widerstandsgrossen bei gleicher Temperatur erhalten, wie beim
Erwarmen. Eine genauere Untersuchung dieser Verhaltnisse ist leider
nicht Yorgenommen worden.
Silberseleniir Yerhalt sich anders; zwar erfahrt es auch (bei 130*
bis 135®) eine schnelle Anderung des Widerstandes; diese besteht aber
in einer schnellen Zunahme, auf welche wieder eine langsame Zu-
nahme folgt
») Atti Iflt. Veneto (6), 6, 189. 1887.
Das chemische Gleichgewicht. 423
Parallel mit dom Einflusse der Temperatur auf den Widerstand
wurden die thermoelektrischea Kraftc gegen Blei in ihrer Abhangigkeit
Yon der Temperatur untersucht. Merkwiirdigerweise verlief diese Grosse
beim Kupferseloniir ganz stetig, und auch an den Stellen der grossen
Widerstandsanderung liessen sich nur ganz geriuge Unregelmassigkeiten
bemerken. Das Silberseloniir zeigte dagegen au der Stelle der Wider-
standBzimahme eine Unstetigkeit, indem die elektromotorische Kraft
zwischen 130<^ und 140<> fast ToUig konstant blieb. Die Fig. 38 lasst
alle diese Verhaltnisse ubersehen.
In einer etwas spateren Arbeit^) erganzten Bellati und Lussana ibre
Messungen durch die Bestimmung der spezifischen und der Umwandlungs^
warmen derselben Stoffe. Von den Ergebnissen seien die folgenden Zahlen
angefuhrt, wo c^ und c, die wahren (nicbt mittleren) spezifischen Warmen
der beiden Formen und X die Umwandlungswarme bedoutet.
KupferselenOr : c, « 00910 + 000041 It— 000000230 1*
c, = 0-0608 -f OWOllOt
X ^ 5405 cal bei llO^"
SilberselenQr: c,» 0*0684, c,» 00984, A » 5-641 bei 133<»
Kupfersulfttr : q « 01094 + 00001 23 1 ; c, « 0- 1 627 — 0-0000456 1
X -» 5-630 bei ISO^
Silbersulfar: c, — 00718 + 00000839t; c, « 0-08914
A ^3-843 bei 175^
Die Warmemengen Jl, die auf Ig Substanz bezogen sind, zeigen
keine stochiometrischen Beziehungen; auch nicbt, wenn aus ibnen die
moleknlaren Umwandlungswarmen berechnet werden.
Letztere sind:
Cu>Se 11-13 K
Ag«Se 16-64 „
Cu«S 8-95 „
Ag«S 9-53 „
67. Nenere Arbeiten. Ausser den genannten Forschern haben
sich nur wenige mit den Umwandlungserscheinungen eingehender be-
scfaaftigt, wenn auch gelegentliche Einzelbeobachtungen in ziemlich
grosser Zahl angestellt und mitgeteilt worden sind. Eine Zusammen-
stellung entsprechender Beobachtungen findet sich bei Lehmann*) und
in einer Abhandlung yon W. Schwarz'), welche ausserdem genauere
*) Atti let. Veneto (6) 7, 1051—1059. 1889.
*) Molekularphysik 1, 119 u.ff.
') Beitrftge zur EenntniB der umkebrbaren Umwandlungen polymorpher KOrper.
Preitichrift, Gdttingen 1892.
424 n* Chemische Dynamik.
•
TemperaturbestimmuDgen fiir eine grossere Anzahl von UmwaDcllungs-
punkten liefert.
Von den benutzten Methoden ergab die optische bei weitem die
scharfeten Resultato. Da mit violen derartigen Umwandlungen bedeu-
tende Anderungen in den Yerhaltnissen der Doppelbrechung verbunden
sind, gewahrt die Beobachtung von diinnen Plattchen der fraglichen
Stoffe zwischen gekreuzten Nikols ein einfaches und sicheres Mittel,
eintretende Umwandlungen festzustellen. Wahrend Lehmann (a. a. 0.)
sich des Verfahrens unter dem Mikroskop bediente, wobei eine genaue
Messung ausgeschlossen war, benutzte Schwarz ein von Fuess konstru-
iertes doppelwandiges Luftbad aus Messing, in dessen Innerem das
Praparat neben einem Thermometer (oder zweien) angebracht wurde.
Zwei faorizontale Seitenrohren vermittelten die Heizung; die Temperatur
konnte bis 300^ erhoht und durch Regelung der Flammen nach Stel-
lung und Grosse konstant erhalten werden. Zwei Fenster gestatteten
den Lichtdurcbgang; vor dem einen befand sich ein grosses Nikol
zwischen Sammellinsen, vor dem anderen ein Mikroskop mit Analysator.
Folgende Umwandlungstemperaturen wurden auf diese Weise ge-
messen:
K
ta
Qaecksilberjodid
1293 «
1263 <»
Silberjodid
1469
145-4
EaliumDitrat
1295
129-5
Ammoniumnitrat a)
324
324
b)
82-8
82.7
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1256
1256
Silbernitrat
1597
159-2
Rabidiumnitrat a)
1614
1614
bj
219-3
218-9
Boracit
265-2
2652
Perchlor&than a]
46-6-451°
43*1
b)
71.1
71-1
Tetrabrommethan
46-1
46-1
Kupferuranylacetat
93-8
938
Nickeluranylacetat
888
88-8
Kobaltaranylacetat
731
73-0
Zmkuranylacetat
95
95
Die beiden Reihen unter te und ta bezieben sich auf das Eintreten
der Umwandlung beim Erhitzen und beim Abkiihlen; die teilweise Tor-
handenen Unterschiede lassen also die Verzogerungserscheinungen cr-
kennen. Die mehreren Zahlen unter a), b), c) bezieben sich auf die bei
den betreffenden Stoffeu vorhandenen mehrfachen Umwandlungspunkte.
Das chemische Gleichgewicht. 425
Ausser dieser Mothodo benutzte Schwarz noch das Verfahren der
Abkiihlungs- und Erwarmungsgeschwindigkeiten. Ferner stellie er mit
Ammoniumiiitrat Yersucfae an, aus dem Gange der Loslicbkeitskurve,
die an den Umwandlungspunkteu ebenso einen Enick zeigen muss wie
beim Schmelzpunkt (I, 1064), diesen zu ermitteln. Wegen der grossen
Loslichkeit des zn den Versuchen benutzten Salzes war es scbwierig,
geniigende Resultate zu erhalten, und die aus den Zahlen sich erge-
bende auffallende Erscheinung, dass bei 36^ eine kleinere Loslichkeit
gefanden wurde als bei 35^, wabrend sonst die Loslichkeit immor mit
steigender Temperatur zunimmt, widerspricht so sehr dem in dieser
Beziehung Bekannten, dass sie ohne Bestatigung nicbt als richtig ange-
sehen werden kann.
68. Die allgemeinen QeBetze fOr die Umwandlung polymorpher
Stoflb. Aus den oben geschilderten Verbaltnissen ergiebt sich, dass in
der That die Ahnlichkeit zwischen dem t)bergang fest-fliissig und dem
fest-fest ausserordentlich gross ist. Nur das Auftreten weitgehender
Dberschreitungserscheinungen nach beiden Seiten des t)bergangspunktes
bietet einen Unterschied, doch mag immerhin herYorgehoben werden,
dass auch hier die€berschreitungen nach hoheren Temperaturen schwie-
riger auszufiihren und in engere Grenzen eingeschlossen sind, als nach
niederen Temperaturen.
Im Ubrigen handelt es sich fiir die vorhandenen Gleichgewichts-
zostande, da sie zwei Phasen enthalten, urn Gebilde mit einem Frei-
heitsgrade, in denen eine Temperatur -Druck-Kurye p=rf(t) besteht.
Die S. 424 und friiher angegebeuenUmwandlungstemperaturen gelten nur
for einen bestimmten Druck, meist den einer Atmosphare, und miissen sich
fiir eine Veranderung des Druckes nach genau demselben Gesetze yer-
schieben, wie der Erstarrungspunkt der Fliissigkeiten. Dieser schon yon
Lehmann ausgesprochene Schluss wurde durch F. Reicher ^) am Schwefel
experimentell gepriift und bestatigt, indem er die Grossen der Gleichung
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wo V die Volumanderung, L die Umwandlungswarme ist, aus den yor-
handenen Angaben entnahm, und den Druckeinfluss auf die Umwand-
lung in seinem Dilatometer (S. 406) bestimmte.
Da bei der Umwandlung durch erhohte Temperatur das Volum
zonimmt, so muss der Umwandlungspunkt mit dem Druck steigen. In
der That wurde fur yier Atmospharen 95«6®, fiir 15-8 Atmospharen
^) Zeitschr. f. Eryst. 8, 593. 1884. Dissert. Amsterdam 1883.
426 n. ChemiBcbe Dynamik.
96*2® gefunden, woraus srch fur eine Atmospbarc eine Zunahme toq
0*05^ berechnet. Da dio (wenig genau bekannte) Umwandlungswarme
gleicb 2*52 cal und die Volumzunahme bei 96^ 0*0126 ccm fur 1 g
Schwefel ist, so ergiebt sich theoretisch (vgl. die entsprechendo Rech-
Dung fiir Wasser, I, 1013) der Druckeinfluss zu 0*045^ fiir eine Atmo-
sphare, was mit der oben angegebenen annahernden Messung geniigend
iibereinstimmt.
69. Eritisoher Ftmkt bei polymorphen Formen. Verfolgt man
die Temperatur-Druck-Kurve fiir die Umwandlung zweier fester Formen
iu immer hohere Drucke und Temperaturen hinauf^), so lasst sich
ebenso wio im Falle fest-fliissig das eudliche Auftreten eines kritischen
Punktes erwarten, in welcbem die beiden Stoffe identisch werden.
Dieser kritische Punkt braucht nicht mit dem kritiscben Schmelzpunkt
zusammenzufallen, vielmehr kann er iiber oder unter diesem liegen; im
letzten Falle allein wird er bestandig und experimentell zuganglicb sein.
Da die Eigenschaften zweier Pbasen, die einen gemeinsamen kri-
tischen Punkt besitzen, sich mit der Annaherung an diesen einander
mehr und mehr nahern, so wird man im vorliegenden Falle folgendes
zu erwarten haben. Zunachst werden die spezifiscben Volume beider
Formen einander naher kommen, d. b. die Kompressibilitat der Form
mit dem grosseren Volum muss die grossere sein. Dann muss die
Umwandlungswarme sicb der Null nahem. Endlicb muss die Krystall-
form, oder genauer gesagt, miissen die Syrametrie verbal tnisse aller
Eigenschaften iibereinstimmend werden. Dies kann nur in dem Sinne
gescbehen, dass die grossere Mannigfaltigkeit in die kleinere tibergeht,
dass also symmetrischere Formen aus weniger symmetrischeo entsteheo.
Nehmen wir den Schwefel als Beispiel, so haben wir zu erwarten, dass
mit der Annaherung an den kritischen Punkt sich die monokline Sym-
metric der einen Schwefelart in solchem Sinne verandem wird, dass
der scbiefe Achsenwinkel sich einem Rechten nabert, wahrend gleich-
zeitig die beiderseitigen Achsenverhaltnisse gleicb zu werden beginnen.
Diese Tendenz stimmt mit der S. 391 fiir den kritischen Punkt fest-
fliissig entwickelton iiberein, nach welcher alle Krystalle mit der An-
naherung an diesen Punkt isotrop zu werden beginnen.
Diese Betrachtung zeigt gleichzeitig einen (freilich recht schwie-
rigen) Weg, um die stets vermutete Beziehung der verschiedenen
^) Ein Fall, wo die bei hOherer Temperatur best&ndige Form ein kleinerw
Volum hat, ist gleicbfalls mdglicb, und bei einem derartigen Stoffe warde die
Umwandlungstemperatur mit dem Dracke natQrlicb nicht steigen, sondem sinkea.
Die obenstehende Darlegung wQrde in diesem Falle fdr uegatiTe Dnicke geltoi.
Das chemische Gleichgewicht. 427
KryBtallformen eines' polymorphen Korpers experimentell aufzusuchen.
Diese Beziehung liegt in der ^kritischen Grenzform", welcher beide
Formen bei Anderungen langs der Koexistenzkurve gleicbzeitig zu-
sireben, und welche mindestens Yon der gleicben Symmetrie ist, wie die
symmetrischere tod beiden.
Haben wir einen polymorphen Korper mit drei oder mehr Formen,
80 haben wir eine entsprechend grossere Anzahl von Koexistenzkurven,
fOQ denen theoretisch jede in einen kritischen Punkt auslauft. Die
letzteren brauchen nicbt zusammenzafallen, soweit sie unterhalb des
kritischen Punktes fest-flussig liegen. Die zugeborigen kritischen Grenz-
formen werden aber um so symmetrischer sein, je naher sie dem letzt-
geoannten kritischen Punkte liegen.
70. Der Fall flilssig-fltisBig. Von den moglichen Znsammenstellungen
mit einem Freiheitsgrade ist uur noch eine iibrig geblieben: der Fall,
dass zwei hylotrope fliissige Formen nebeneinander bestehen, ohne sich
zn mischen, oder wenigstens ohne sich vollstandig zu mischen. Bisher
ist ein solcher Fall noch nicbt beobachtet worden, und wenn auch keine
allgemeinen Griinde bekannt sind, die gegen seine Moglichkeit sprechen,
80 macht doch die bekannte Thatsache, dass ahnlich zusammengesetzte
Flossigkeiten sich meist gegenseitig auflosen^es wenig wahrscheinlich, dass
man yiele hylotrope Fliissigkeiten Yon gleicher Zusammensetzung finden
wird, welche diese Eigenschaft nicbt haben. Am ehesten kann man
solche Erscheinnngen bei sehr niedrigen Temperaturen erwarten, wo die
gegenseitige Loslichkeit der Stoffe allgemein abzunehmen scheint.
Die Gesetze eines solchen Falles lassen sich im allgemeinen vor-
aossehen. Da ein solches Gebilde nur einen einzigen Freiheitsgrad hat,
80 wird, gerade wie beim Schmelzen oder der polymorphen Umwandlung,
eine Temperatnr-Druck-Eurye bestehen, welche die zusammengehorigen
Werte dieser beiden Veranderlichen angiebt, bei denen die Eoezistenz
der beiden Formen moglich ist; bei alien anderen Werten wird sich die
eine Form in die andere verwandeln.
Gemass der allgemeinen Regel werden beide Formen ineinandor
loslich sein, und diese gegenseitige Loslichkeit wird mit steigender
Temperatur schliesslich zunehmen. Demnach wird ein kritischer Punkt
antreten, an welchem die gegenseitige Loslichkeit unbegrenzt wird, und
die beiden Phasen in eine einzige zusammengehen. Ein solcher kritischer
Paokt wird im Falle fliissig-flUssig bei weit niedrigeren Drucken zu er*
warten sein, als im Falle fest-fest, namlich im allgemeinen unterhalb
des kritischen Druckes far den t)bergang fliissig-dampfformig; da fiir
den letsteren der kritische Druck nicbt viel iiber 100 Atmospharen
428 n. Ghemische Dynamik.
hinauszugehen pflegt, so ist der kritische Dnick fiir den Vbergang
flussig-fliissig innerhalb bequem messbarer Gebiete vorauszusetzen.
Dieser letzterwahnte Punkt einer mehr oder weniger betarachtlichen
gegenseitigen Loslichkeit der nebeneinander bestehenden Formen wird
den wesentlichsten Unterschied dieses Falles gegen den vorigen fest-
fest ausmachen.
71. Gleiohgewiohte dreier Fhasen. Sollen drei verschiedene hylo-
trope Formen desselben Stoffes in gesonderten Phasen nebeneinander
bestehen, so hat ein solches Gebilde keinen Freiheitsgrad mehr, d. h.
es giebt nur je einen bestimmten Worth von Druck und Temperatur,
bei welchen die gleichzeitige Existenz der drei Formen moglich ist.
Nach der auf S. 304 gegebenen Tabelle sind im ganzen sieben yer-
schiedene Zusammenstellnngen dreier Phasen moglich, die ein solches
Gieichgewicht darstellen. Von diesen enthalten drei eine Dampfphase,
wahrend die anderen vier keine solche enthalten. Theoretisch wie ez-
perimentell sind die erstgenannten drei Arten bei weitem die wichtigeren;
wahrend iiber sie bereits mannigfaltige Beobachtungen und Betrachtungen
Yorliegen, ist yon den yier Fallen ohne Dampfphase meines Wissens bis-
her noch kein einziger liberhaupt einmal experimentell realisiert worden,
obwohl sich absehen lasst, dass bei einigem Suchen geeignetes Material
dafur wohl sich wird auffinden lassen.
Die drei Falle mit Dampfphase sind folgende:
Fester Korper, Fliissigkeit, Dampf;
Fester Korper, fester Korper, Dampf;
Fliissigkeit, Fliissigkeit, Dampf.
Von diesen ist der erste Fall bei weitem der wichtigste und bestr
untersuchte. Der zweite hat theoretisch eine nicht geringe Bedeutung,
ist aber experimentell noch so gut wie gar nicht bearbeitet Fiir den
dritten ist bisher ebensowenig ein Beispiel bekannt, wie fiir das zwei-
phasige Gieichgewicht fliissig-fliissig.
72. Der drei&che Funkt. Die drei Gleichgewichte Dampf- Fliissig-
keit, Dampf- fester Korper und Fliissigkeit- fester Korper lassen sich in
der Druck-Temperaturebene durch je eine p-t-Kurve darstellen, welche
die homogenen Gebiete des Dampf es, der Fliissigkeit und des festen
Korpers yoneinander scheiden, und yon denen jede die zusammengeho-
rigen Werte yon Druck und Temperatur darstellt, bei welchen je zwei
Aggregatzustande nebeneinander im Gieichgewicht bestehen konnen.
Verfolgen wir zwei dieser Kuryen geniigend weit vor- oder riick*
warts, so werden sie sich schneiden, und wir erhalten einen Punkt, an
Das chemische Gleichgewicht. 429
dem alle drei Aggregatzustande nebeneinander bestehen konnen. Drei
Kunren geben paarweise insgesamt drei solche Schnittpunkte, doch lasst
sich leicht zeigen, dass im vorliegenden Falle alle drei in einen zusam*
meniiEdlen miissen, dass mit anderen Worten die dritte Kurve notwendig
dorch den Schnittpunkt der beidcn anderen geben muss. Denn betracbten
wir etwa die Kurven fester Eorper-Dampf uud Fliissigkeit-Danipf, so
wird deren Schnittpunkt, da er beiden Eurven angehort, den Druck und
die Temperatur kennzeichnen, bei denen der feste Korper und die Fliissig-
keit gleicbzeitig mit^dem Dampf im Gleichgewicht ist. Der zweite Durch-
schnitt, z. B. der Kurven fester Korper-Dampf und fester Korper-Fliissig-
keit, definiert das Gleichgewicht des Dampfes und der Fliissigkeit mit
dem festen Korper, z. B. denselben Zustand, wie jener erste Durchschnitt,
ond muss desbalb mit dem ersten zusammenfallen. Dasselbe gilt fiir
deo dritten Durchschnitt.
Man konnte noch einwenden, dass moglicherweise zwei von den
Karven teilweise zusammenfallen konnten, und so eine Unbestimmtheit
des Durchschnittspunktes moglich ware. Doch ist dies ausgeschlossen,
solange jeder der drei Zustande yon den anderen durch einen endlichen
Energieunterschied (eine ,,iatente Warme") verschieden ist. Denn aus
den Formeln fiir die p-t-Kurve (S. 350 und 366) ergiebt sich, dass deren
Neigang gegen die Achsen von der latenten Warme abhangig ist, und
dass also die drei Kurven fUr gleiche Werte von p oder t notwendig
rerschiedene Richtungen -=^ haben miissen; sie konnen also nicht zu-
dt
sammenfallen und miissen sich daher, wie angegeben, alle drei in einem
Punkte schneidcn. Man nennt einen solchen Punkt, in welchem die
Pliasen nebeneinander bestehen konnen, einen dreifachen Punkt.
In den nachstehenden Figuren sind die p-t-Eurven dargestellt. Je
nachdem beim Schmelzen das Volum zu- oder abnimmt, erhalt man zwei
etwas verschiedene Bilder, die in Fig. 39 und 40 (S. 430) gegeben sind.
Wir erkennen in beiden Figuren zunachst die Dampfdruckkurven
I and II der festen und fliissigen Form, die im Punkte 0 sich schnei-
den und dort die Eoexistenz der beiden letzteren Formen ermoglichen.
IKe Ordinaten dieser Kurven geben die hochsten Drucke an, bis zu
denen die Dampfphase bei den cntsprechenden Temperaturen bestandig
ist. Nimmt man den Druck geringer, so kann nur die Dampfphase
bestehen, und der feste oder fliissige Anteil muss verdampfen. Beim
Maximaldmck langs der Kurven I und II bestehen dagegen je zwei
Phasen nebeneinander, namlich fester Korper oder Fliissigkeit neben
Dampf. Wahrend also das Flachenstiick unterhaib I und II die Gesamt-
i
430
II. Ghemische Dynamik.
heit der moglichen Zustande einer einzigcn Phase, entsprechend deren
zwei Freiheitsgraden, darstellt, werden die Zustande von je zwei Phasen
dnrch die Linien I und II dargestellt, entsprechend dem einen vor-
handenen Freiheitsgrade und der einzige Zustand von drei Phasen ohne
Freiheit durch einen Punkt
Lassen wir durch Drucksteigerung die Dampfphase verschwinden,
so gelangen wir oberhalb I in das Gebiet der festen, oberhalb II in
das der fliissigen Zustande. In beiden Gcbietcn herrscht wieder zwei-
fache Freiheit. Sie sind voneinander durch eine Linie getrennt, welche
wieder die Koexistenz je zweier Phasen kennzeichnet, und welche ge-
mass der sehr geringen Veranderlichkeit der Schmelztemperatur mit
dem Druck fast senkrecht ansteigt. Bei Stoffen mit Volumabnahme
Feit
FlU^Hg
Fig. 39.
Fig. 40.
beim Schmelzen, wie Wasser, wo demgemass durch steigenden Druck
die Schmelztemperatur sinkt, ist diese Linie etwas nach links geneigt,
Fig. 40; bei den die iiberwiegende Mehrzahl bildenden Sto£Fen, welche
sich beim Schmelzen ausdehnen, liegt die Schmelzpunktskurve nach
rechts iiber, wie in Fig. 39.
Diese Verschiedenheit bedingt einen gewissen Gegensatz. Wie man
aus dem Anblick der Figuren unmittelbar ersieht, giebt 0 in Fig. 39
die tiefste Temperatur fiir die fliissige Phase an, denn bei Steigerung
des Druckes tritt das Gleichgewicht bei immer hoheren Temperaturen
ein. Umgekehrt ist 0 in Fig. 40 die hochste Temperatur fiir die feste
Phase, denn jeder hohere Druck ergiebt eine niedrigere Schmelztem-
peratur^). Hierbei ist indessen weder auf die Uberschreitungserschei-
nungen, noch auf die Moglichkeit negativer Drucke Riicksicht genommen.
Der Punkt 0 stellt die Koexistenz der drei Phasen dar, und ist
sachgemass vom Freiheitsgrade Null.
') Roozeboom, Zeitscbr. f. pbys. Cbemie 2, 474. 1888.
Das chemische Gleiehgewicht 431
73. th>er8ohreitiingen der Oebiete. Bei diesen Betrachtungen ist
indessen noch ein weiterer Pankt zu betonen, der gewofanlich nicht zu
seinem Recbte gelangt, wiewohl er sehr wesentlich ist. Die Figuren 39
and 40 sind namlich nicht voUstandig. Die mit Fast, Fliissig, Gas be-
zeichneten Gebiete begrenzen die Ezistenzmoglichkeit dieser Formen
nicht absolut, sondern es sind allerseits Uberscbreitungen moglicb,
wenn aucfa nur teilweise nachgewiesen. So kann man einen Dampf
uber den durch I oder II gegebenen Druck fainaus komprimieren oder
erkalten, ohno dass er notwendig die Gasform anfgiebt, nnd ebenso
kann man das flUssige Gebiet fiber II und III hinaus in das Nachbar-
gebiet treiben, wobei man iiberhitzte und iiberkaltete Fltissigkeiten
erhalt Fiir festo Korper sind derartige Cberschreitungen des Aggregate
znstandes zwar nicht nachgewiesen, wohl aber bei den ganz analog sich
Terhaltenden polymorphen Umwandlungen fest-fest (S. 393).
Solche Cberschreitungen sind auch moglich, wenn je zwei Phasen
anwesend sind. Am bekanntesten sind sie bei Oberkaltungen einer
flussigen Phase neben Dampf in das Gebiet des festen Korpers hinein.
In der Figur stellt sich der Vorgang als eine Verlangerung der Dampf-
dmcklinie II ruckwarts iiber 0 hinaus dar. Eine Verlangerung von I
uber 0 hinaus, entsprechend einer Erhitzung eines festen Korpers neben
Dampf uber seinen Schmelzpunkt, ist noch nicht beobachtet worden;
aneh fiber die Verlangerung von III, entsprechend einer Druckvermin-
demng des Systems fest-fliissig unter den gewohnlichen Dampfdruck,
liegen zwar noch keine ausdriicklichen Versuche vor, doch scheint es
keinem Zweifel unterworfen, dass sich der Fall ohne grosse Schwierig-
keit wird realisieren lassen.
Die wesentliche Bedingung fiir die Uberschreitung des Punktes 0
liegt in den Fig. 39 und 40 zu tage: da er die Koexistenz der drei Phasen
darstellt, so hat er keine Bedeutung mehr, wenn eine der drei Phasen
ansgeschlossen ist Ebenso wie man eine Fliissigkeit an jedem Punkte
der Linie III durch Oberkaltung in das Druck-Tcmperaturfeld eintreten
lassen kann, das sonst nur vom festen Korper eingenommen wird, wenn
man die Gegenwart der festen Phase ausschliesst, und ebenso wie man
onter Ausschluss des Dampfes mit der Fliissigkeit iibcr II in das Druck-
Tenaperatorgebiet des Dampfes gelangt, u. s. w., so kann man unter Aus-
schluss der dritten Phase die Koexistenzkurve der beiden anderen iiber
ihren Durchschnittspunkt hinaus verlangern.
Am leichtesten scheint nachst der wohlbekannten Verlangerung von
II die von III ausfiihrbar zu sein. Es ist wohlbekannt, dass man iiber
dem Quecksilber eines luftfreien Barometers Wasser unter einem Drucke
i
i
432 n. Chemische Dynamik.
fliissig erfaalten kann, welcher nicht nur weniger, als der Dampfdruck
bei der betreffeDden Temperatur betragt, sondern sogar kleiner als Nail
ist, d. h. nicht auf Verminderung, sondern auf Vermehrung des Volums
gerichtet ist Beim Quecksilber ist die Erscheinung den Barometer-
machern seit langer als einem Jahrhundert als das Hangenbleiben des
Quecksilbers bekannt; beim Wasser und anderen Fliissigkeiten ist sie
von Berthelot^) beschrieben worden. Man braucbte den Versuch nur
dahin zu erweitern, dass man ihn bei der Gefriertemperatar der be-
treffenden Fliissigkeit anstellte und hatte dadurch ein Mittel» beispiels-
weise Eis bei Temperaturen iiber Null nebon Wasser zu beobachten.
Die Verlangerung von I bietet die grossten Schwierigkeiten, doch
ist nach der Analogie der Versuch nicht aussichtslos. Die strong zu
erfullende Bedingung ist die, dass das Auftreten der flussigen Phase
vermieden wird. Bei dem bekannten Einfluss spurenhafter Verunreini-
gungen auf die Schmelztemperatur diirfte die veesentlichste Bedingung
eines gliicklichen Erfolges die Anwendung reinster Materialien sein, die
insbesondere die benutzten Gefasse nicht angreifen diirften.
Macht man von den oben (S. 347) dargelegten Begriffen des meta-
stabilen und labilen Gebietes Gebrauch, so vrird die Fig. 39, bez. 40
in solcher Weise zu erganzen sein, dass jede p-t-Kurve von zwei an-
nahernd parallelen^) Grenzkurven beiderseits begleitet ist, welche die
Breite des metastabilen Gebietes kennzeichnen. Diese Grenzkurven
schliessen einen um den dreifachen Punkt gelegenen sechseckigen Raum
ein, innerhalb dessen jeder der drei Aggregatzustande metastabil ezis-
tieren kann, d. h. sie bezeichnen einen gewissen Umfang von Drucken
und Temperaturen, bei welchen der Korper dauernd sowohl fast wie
fliissig Oder dampfformig bestehen kann, so lange man das Auftreten
einer der anderen Phasen ausschliesst. Die Fig. 41 giebt eine schema-
tische Darstellung dieser Verhaltnisse. Die stabilen Teile der drei
Kurven sind mit starken Linien gezeichnet, die metastabilen punktiert
Jede der drei Kurven ist von den beiden Grenzkurven des metastabilen
Gebietes begleitet, und um den dreifachen Punkt wird das sechseckige
dreifache Feld sichtbar, in welchem der Stoff in jedem Aggregatzustande
metastabil bestehen kann. Dieses Sechseck begrenzt zugleich die Strecken,
um welche die drei Gleichgewichtskurven der zweiphasigen Gleichge-
*) Add. chim. phys. (3) 80, 232. 1850.
') Thats&chlich verlaufen die Grenzkurven so, dass sie sich mit steigender
Temperatur und entsprechender Ann&herung an den kritischen Punkt der Gleich-
gewichtskurve n&hern ; doch wird ftir kleine Gebiete die Abweichung vom Paralle-
lismus nicht erheblich sein.
Das chemische Gleichgewicht
433
wichtskoryen der zweiphasigen Gleichgewicfate iiber den dreifachen
Pnokt hinaos verlangert werden konnen.
Fig. 41.
74. Baomliohe Daratellnng. Die Gesamtheit der drei Aggregat-
KQstande lasst sich durch Hinzunahme einer Volamkoordinate in ahn-
licher Weise darstellen, wie dies friiher fiir je zwei Aggregatzustande
gescbehen war. Es kommt nur auf die VereiDignng der beiden Fig. 11,
& 342 uDd 21 » bez. 22, S. 373 an. In der umstehenden Fig. 42 ist
^ee gescbehen nnd zwar fiir den normalen Fall, dass das Volum der
Fliissigkeit beim Schmelzpunkt grosser als das des festen Eorpers ist.
Man erkennt zunachst die Flachen der homogenen Zustande wieder,
die oberhalb der beiden kritischen Punkte k und k' zusammenhangen.
Ferner sind drei Flachen heterogener Zustande vorhanden, namlich
Flussigkeit und Dampf: kbc.
Fester Eorper und Dampf: dace.
Fester Korper und Flussigkeit: ak'b.
Da fiir alle drei heterogenen Zustande der Satz gilt, dass bei ge-
gebenen Werten von Druck und Temperatur das Volum zwischen zwei
Grenzwerten (denen der homogenen Zustande) beliebige Werte annehmen
laam, so bilden die Flachen der heterogenen Zustande Cylinder, deren
Eoeugende sich parallel der v-Achse bewegt. Die Projektionen dieser
Cylioderflachen auf die p-T-Ebene reduzieren sich demnach auf drei
l^en, die sich in einem Punkte, der Projektion der Eante a be,
xineiden. Die so entstehende Figur ist nichts als die Fig. 39, S. 430.
Die drei Heterogenitatsflachen schneiden sich in der Eante der
dreifachen Zostande a b c, in welcher alle drei Aggregatzustande neben-
Oitvald, Chemie. 11,3. 2.Anfi.
28
434
II. Ghemische Dynamik.
einauder bestehen koniien. Zwiscfaen den Teilen ab und be dieser
Eante besteht der Unterschied, dass in b c jedenfalls Dampf vorhanden
ist, wahrend die Anteile der festen und fliissigen Form bis znr Grenze
Null fur jede von diesen schwanken konnen. In ab dagegen ist jeden-
falls die feste Form vorhanden; abgesehen hiervon kann jede der
Formen zwischen Null und einem endlichen Maximalwert schwanken.
75. Die stetige Zostandsfl&ohe. Ebenso, wie man die Eurve oder
Flache, welche die Gerade, bez. Cylinderflache der heterogenen Zu-
stande fliissig-dampfformig enthalt, durch eine andere ersetzt denken
Fig. 42.
kann, in der diese heterogenen Zustande yermieden sind und in der
ein stetiger Zusammenhang aller Teile stattfindet, so kann man auch
die Gesamtheit der drei Aggregatzustande durch eine stetige Gesamt-
flache darstcllen. Diese entsteht aus der in Fig. 42 yeranschaulichten,
indem man die drei heterogenen Gebiete abk', bkc und dace dorch
Falten ersetzt. Man erhalt dadurch die in Fig. 43 gegebene raumliche
Darstellung, in welcher man links die Falte des stetigen Oberganges
fest-fliissig und in der Mitte die Falte des Oberganges fcst-dampfformigi
bez. fliissig-dampfformig erkennt. Um die Erscheinung der ersten Falte
anschaulicher zu macben, ist die Flache bei einem Drucke, der unter-
halb des kritischen Punktes fest-fliissig liegt, durch eine T-v-Ebene
durchschnitten gedacht, und man hat sich in Gedanken den linken Teil
Das chemische Gleichgewicht.
435
soweit Dach oben verlangert zu denken, bis die Falte sich zum kritischen
Punkt ausglattet
Wie man aus der Figur unmittelbar ersieht, muss fur den Ober-
gang fest-fliissig noch ein zweiter kritischer Punkt bestehen. Die eat-
Fig. 43.
sprechende Falte muss in ihrem unteren Teile irgendwo auslaufen, bevor
die Flache in das Dampfgebiet iibergegangen ist. Denn da bokanntlich
der Dampf eines festen Eorpers von dem seines Schmelzproduktes nicht
verscbieden ist, so kann der durch die Falte angezeigte Unterschied
zwischen fest und fliissig nicht aaf den rechten Teil der Gesamtflache
Fig. 44.
ibergehen, und deshalb muss notwendig noch ein kritischer Punkt vor-
handen sein. Wahrscheinlich liegt dieser auf dem „unmoglichen*^ Teil
der Flache, und man hat deshalb keine Aussicht, ihn kennen zu lemen,
ausser vielleicht als eine schnell voriibergehende Erscheinung.
Infolge dieser, wegen des geringen Kompressionskoeffizienten der
festen und fliissigon Stoffe fast senkrecht verlaufenden Falte fest-fliissig
erbalten die Isothermen der Stoffe in den Gebieten, in denen diese
beiden Aggregatzustande metastabil nebeneinander bestehen konnen,
eine merkwiirdige Form, die schematisch in den Figuren 44 dargestellt
28*
436
II. Chemische Dynamik.
ist, die man erhalt, wenn man die passend erganzte Fiacfae Fig. 43
parallel der Vorderebene durch verscfaiedene p-y-Ebenen schneidet
Wahrend man unterhalb der Temperaturgrenze der metastabilen fliissigen
Zustande, wo der Stoff also nur im festen Zustande bestehen kann,
Formen erhalt, die vollkommen denen fiir den Ubergang fliissig-dampf-
formig (Fig. 14, S. 345) ahnlich sind, so erscheint mit dem Eintreten
der Schnittebene in das Gebiet der Falte fest-fliissig eine neue Schleife
am unteren kritiscben Punkte, welche den stetigen Ubergang zwischen
diesen Zastanden in der Nahe des „unmoglichen'* Gebietes darsteUt,
und welcbe sich mit steigender Temperatur allmahlich in das Gebiet
der moglichen metastabilen Zustande hiniiberzieht, um schliesslich beim
oberen kritiscben Punkte zu verscbwinden ^). £s ist heryorzaheben, dass
die gegebene Darstellung nur schematisch ist und keinen weiteren
Zweck yerfolgt, als die Auffassung der etwas yerwickelten Flache za
erleichtem; fiber die that-
ii sachlichen Grossenyer-
baltnisse der Telle der
Figuren soil nichts ausge-
sagt werden.
Die Zeichnung gilt, wie
noch erwahnt werden
mag, fur den gewoho-
licben Fall, dass die
Scfamelzung unter Volum-
yergrosserung erfolgt Im
umgekehrten Falle, wie
beim Wasser^ hat die
Schleife fest-fliissig die
umgekebrte Lage, die man sich leicht in Analogie mit der durdige-
fuhrten Zeicbnung wird konstruieren konnen.
76. Die halbsteiige Zostandsfl&ohe. Ausser der empirischen» im-
stetigen Zustandsflacbe Fig. 42 und der hypothetischen, yollkommeiL
stetigen Fig. 43 giebt es noch eine weitere, welche der Bedingung enU
spricht, dass der Gbergang fest-fliissig stetig bleiben soil,
Dampf als heterogene Phase zugelassen wird. Es handelt sich mit
deren Worten um den stetigen Zusammenhang der beiden Flachen kbc
und adec in Fig. 42, S. 434. Man erhalt ihn, wenn man die Fliohe
Fig. 45.
^) Ich Yerdanke Herm Dr. Philips fdr die Auffassung dieser Yerbftltnisse
wesentliche Hllfe.
Das chemische Gleichgewicht. 437
kbc iiber be verlangert, wodurch sie iiber adec tritt, sie dann nach
oben und vorwarts zu einer flachen Rohre kriimmt und langs ao
wieder in der Richtung von adec heraustreten lasst. Fig. 45 sucht
Ton der Form dieser Flache eine Anschauung zu geben. Noch besser
ist es, wenn man sich ein Blatt Papier zungenformig ausschneidet, es
mit einem Einschnitt be versieht, die obere Zunge durch den Ein-
schnitt steckt und das Ganze entsprechend Fig. 45 biegt. Man erkennt
dann namentlich bei der Betrachtung von der oberen Seite den Ver^
laaf der Kante ba in Gestalt der Falte fest-fliissig. Die Breite der
flachen Rohre ist natiirlich gleich der Breite dieser Falte.
Ausser dieser halbstetigen Flache, welche dentJbergang Fliissigkeit:
Dampf darstellty giebt es noeh zwei andere, welche sich auf die Cher*
gaoge zwischen dem festen und dem fliissigen, bez. gasformigen Zu-
stande beziehen^).
77. Die Dampfdmokkiiryen beim dreifiskchen Pnnkte. Aus der
Definition des dreifachen Punktes (S. 428) folgt, dass bei ihm der
Dampfdruck der flussigen Phase dem der festen gleich sein muss, da
sonst beide nicht nebeneinander bestehen konnten. Weiter folgt aber
daraus, dass bei jeder hoheren Temperatur der Dampfdruck der festen
und bei jeder niedrigeren der der flussigen Form grosser sein muss,
als der der anderen. AUgemein muss dor Dampfdruck einer Form,
welche sich in eine andere hylotrope umwandeln kann, grosser sein,
als der des Umwandlungsproduktes. Denn man kann die Umwandlung
sich dadurch hervorgebracht denken, dass die eine Form verdampft und
der Dampf sich in der anderen verdichtet. Dies ist nur von der Form
hoheren Druckes zu der des niederen moglich, und nicht umgekehrt,
da sonst ein Automobile zweiter Art ausfiihrbar ware.
Das gloiche ergiebt sich aus der Betrachtung der beiden Dampf-
dmckkurven mit Hilfe der vielbenutzten Formei dp/dT = L/VT, wo
L die Verdampfungswarme ist. Diese Formei gilt in gleicher Weise fiir
die Yerdampfung der festen, wie fur die der flussigen Form, und beim
Schmelzpunkte ist der Druck p, das Volum des Dampfes V und die Tem-<
peratur T fur beide Formen gleich. Nur die Verdampfungswarme L ist
TerschiedeUy und zwar gemass dem ersten Hauptsatze um den Betrag
der Schmelzwarme, welche die feste Form beim Ubergange in die fliissige
aafnimmt. Bezeichnet man daher mit L' die Verdampfungswarme der
feeten und mit L" die der flussigen Form, so ist, wenn S die Schmelz-
warme bedeutet, S = L' — L". Fiir die beiden Formen gelten die Dampf-
'; Diese Bemerkung verdanke ich Herrn Dr. R. Luther.
438 n* Ghemische DyDamik.
druckformeln dp7dT = L'/VT und dp'7dT = L'7VT, und darch Sub-
traktion folgt dpVdT — dp'/dT = S/ VT.
Nun ist dp/dT die trigonometrische Tangente der Dampfdruck-
kurve; wir ersehen demnach aus der Formel, dass die beiden Dampf-
druckkurven sich beim Schmelzpunkte unter einem bestimmten Winkel
schneiden, dessen Betrag sich aus der Scbmelzwarme berechnen lasst
Diesen Scbluss hatte Kirchhoflf*) bereits 1858 gezogen, obwohl um jene
Zeit von der ersten Autoritat des Gebietes, Regnault, das Vorhanden-
sein von Unterschieden des Dampfdruckes zwischen fester und iiber-
kalteter Essigsaure bei gleicher Temperatur auf das bestimmteste in
Abrede gestellt worden war. Die spateren Untersuchungen von Ramsay
und Young*), Fischer*) und Ferche*) haben den von Kirchhoff gezo-
genen Scbluss vollkommen bestatigt.
Um die oben gegebene Formel fur die Rechnung bequem zugang-
lich zu macben, wend en wir sie auf ein Mol des betreffenden Korpers
an und setzen die Anwendbarkeit der Gasgesetze ftir den Dampf vor-
aus, was bei dem meist sehr kleinen Drucke desselben kein Bedenken
hat. Wird Vdurch RT/p ersetzt,' so folgt dpVdT— dp'/dT = Sp/RT*,
wo R den bekannten Wert 0«02K/T hat. Wendet man die Formel auf
Wasser an, so ist S==144K (II, 96), p = 4-596 mm (I, 310) und
T = 273. Dadurch wird die rechte Seite der Gleichung gleich 0-044L
Das heisst, flir dT==l, oder bei Uberkaltung um einen Grad belauft
sich der Dampfdruckunterschied zwischen Wasser und Eis auf 0*0441 mm
Quecksilber, ein Betrag, der allerdings der Beobachtung nur sehr
schwer zuganglich ist.
Um den gleichen Betrag wiirde der Dampfdruck des Eises bei
4-1® den des Wassers ubertreffen, wenn es gelange, es auf diese Tem-
peratur zu erwarmen, ohne dass es schmilzt.
Qualitativ kann man den grosseren Dampfdruck einer iiberkalteten
Flussigkeit gegenliber dem festen Korper bei gleicher Temperatur leicht
anschaulich machen, wenn man in ein etwas starkwandiges Probierrohr
etwas Schwefel bringt, das Rohr auszieht, luftleer pumpt und zuschmilzt
Erhitzt man dann den Schwefel ein wenig, so verdampft er schneli,
und der Dampf verdichtet sich an den kalteren Stellen in Gestalt
kleiner Tropfchen. Nach einiger Zeit pflegt das eino oder andere Tropf-
chen krystallinisch zu erstarren, und dann sieht man bald den Krystall
*) Pogg. Ann. 103, 206. 1858.
«) Phil. Trans. 175, 470. 1884.
«) Wied. Ann. 28, 400. 1886.
*) Wied. Ann. 44, 266. 1891.
Das chemisclie Gleichgewicht. 439
SLch mit einem Hof umgeben, indem die Tropfchen io seiner nachsten
Umgebang verschwinden. Dies beruht darauf, dass wegea des grosseren
Dampfdruckes die flussigen Tropfchen nach dem Krystall hiniiberdestil-
lieren, so dass dieser auf Kosten der Tropfchen wachst, ebenso wie er
wachsen wiirde, wenn er mit dem fliissigen Schwefel in unmittelbarer
Beriihrang ware^).
Einen anderen, leicht anzustellenden Versuch hat V. Goldschmidt')
beschrieben. Bringt man zwei Tropfen von geschmolzenem Furfurald-
ojdm Yom Schmelzpunkt 73^ nahe nebeneinander auf einen Objekt-
trager, lasst sie iiberkalten und bringt dann den einen durch die Be-
ruhrung mit einem Stiickchen der festen Form zum Erstarren, so sieht
man bald aus der festen Masse einen Krystall erst langsam, dann
schneller nach dem fliissigen Tropfen bin wachsen, bis dieser schliess-
lich Ton der Spitze der wachsenden Erystallnadel erreicht ist und
gleichfalls erstarrt Auch diese Erscheinung beruht auf dem grosseren
Dampfdrucke des flussigen Tropfens, demzufolge der Stoff nach dem
festen Krystall hiniiberdestilliert und sich dort an der nachstgelegenen
Benihrungsstelle verdichtet. Dies muss um so schneller stattfinden, je
korzer der Weg ist, den der Dampf zuriickzulegen hat. Durch den
Umstand, dass schon bei gewohnlicher Temperatur der Dampfdruck des
Stoffes ziemlich gross ist, wird der verhaltnismassig schnelle Ablauf
der Erscheinung bewirkt.
78. Der dreiflftohe Poxikt bei polymorphen Kdrpem. Ein zweiter
wichtiger Fall eines dreiphasigen Gleichgewichts tritt ein, wenn zwei
feste Phasen neben Dampf vorliegcn. Da gemass den Auseinander-
setznngen an friiherer Stelle (S. 425) auch fiir diesen Obergang eine
Dmck-Temperaturfunktion besteht, so wird im allgemeinen eine Tem-
peratur Yorhanden sein, bei welcher der zugehorige Druck mit dem
Dampfdruck der einen Form zusammentrifft; alsdann muss auch der
') Bei derselben YersuchsanordDung l&sst sich auch der grOssere Dampf-
dmck der kleinen Tropfen gegenQber grosseren beobachten, indem letztere auf
Kosten der ersteren wachsen und um sich einen Hof bilden. Die Erscheinung
beroht daranf, dass kleine Tropfen wegen ihrer relativ grdsseren Oberfl&che mehr
Eoeigie enthalten als grdssere, oder dass mit anderen Worten die Oberfl&che
jeder FlQssigkeit sich zn Yerkleinern strebt. Durch den Cbergang der kleineren
Tropfen in den grdsseren findet eine solche Yerkleinerung der Oberfl&che statt,
and dies ist daher ein znreichender Grund, dass, wenn auf irgend eine Weise
sin Stofflnbergang von den einen zu den anderen mdglich ist, die dabei mass-
gebenden Intensit&tsgrdssen der Energie solche Yerschiedenheiten annehmen, dass
der tlbergang wirklich stattfindet.
«) ZtBchr. f. Kryst 28, 169. 1897.
440 !'• Ghemische Dyoamik.
Dampfdruck der anderen Form den gleichen Wert habeo, da sonst die
Voraussetzung, beide Formen seien im Gleichgcwicht, nicht erfiillt ware.
Diese Darlegung gilt fiir die enantiotropen Stoffe (S. 405), welche
einen Gleichgewichtspunkt besitzen, in dessen Nahe sie sich freiwillig
in dem einen and in dem entgegengesetzten Sinne yerwandeln kooDen.
Man kann auf diesen Fall genau die gleichen Betrachtungen anwenden,
wie anf den Fall fest-fliissig, und insbesondere schliessen^ dass auf beiden
Seiten der Umwandlungstemperatur die Reihenfolge der Dampfdmcke
sich umkehrt, indem jedesmal die stabile Form der anderen gegentiber
den kleineren Dampfdruck haben muss. Beim Umwandlungspunkte
kreuzen sich also die beiden Dampfdruckkurven, und der Winkel, unter
dem sie sich schneiden, ist durch genau dieselbe Formel bestimmt,
welche fur die Dampfdruckkurven einer festen und einer fliissigen Fonn
gelten; an die Stelle der Schmelzwarme tritt nur die Umwandlungs-
warme. Wegen der dadurch gegebenen Beziehung muss auch notwendig
die Form, welche bei hoherer Temperatur die bestandigere ist, ans den
anderen unter Warmeaufnahme entstehen, wahrend umgekehrt bei Unter^
schreitung der Umwandlungstemperatur die Bildung derjenigen Form
eintritt, welche unter Warmeentwicklung aus der anderen entsteht. Wir
haben hier zwei entgegengesetzte Reaktionen, die unter entgegengesetztar
Warmetonung bei nahe aneinander liegenden Temperaturen stattfinden:
ein besonders deutlicher Widerspruch gegen den Satz, dass freiwillig
nur die mit Warmeentwicklung verbundenen Reaktionen eintreten, und
gleichzeitig ein neues Beispiel fiir den Satz, dass bei der Verschiebnog
eines Gleichgewichtszustandes die Reaktion eintritt, welche sich dem
ausgeiibten Zwange, hier der Temperaturanderung, widersetzt
Versuche, die Verschiedenheit der Dampfdmcke enantiotroper For-
men ausserhalb der Umwandlungstemperatur messend festzustellen, liegen
meines Wissens bisher nicht vor. Bei der Leichtigkeit, mit der yiele
polymorphe Stofife weite Uberschreitungen des Gleichgewichtspunktes
gestatten, erscheinen derartige Versuche nicht schwer ausfuhrbar.
Wenn auch solche Messungen mit grosser Wahrscheinlichkeit nor die
erwarteten Ergebnisse liefern werden, so ist doch der Systematik wegen
die Durcharbeitung einiger hergehoriger Beispiele zu wtinschen.
Die Betrachtung der Dampfdruckkurven giebt endlich noch eine
bequeme Erlauterung des Unterschiedes zwischen den enantiotropen
und den monotropen Formen polymorpher Stoffe. Es war schon (I» 948)
darauf hingedeutet worden, dass es sich um die gegenseitige Lage des
Umwandlungspunktes und der Schmelzpunkte handelt; durch die nach*
stehenden Erorterungen tritt dies deutlicher zu Tage.
Das chemische Gleichgewicht.
441
Gehen wir von der niedrigsten Temperatur aus, bei welcher die
Terschiedenen Formen eines Stoffes bestehen konnen, so werden die
Dampfdruckkurven entweder so liegen konnen, dass sie sich im be-
kannten Gebiete niemals schneiden (Fig. 46), oder es wird ein Ereuzen
Btattfinden, wie es in Fig. 47 angedeutet ist. Im ersten Falle giebt es
im ganzen Temperaturgebiete nur eine einzige Form, welche bestandig
ist, namlich die mit dem kleinsten Dampfdrucke; etwaige andere For-
men konnen zwar vorkommen, aber sie miissen sicb bei der Beriihrung
mit jener in sie verwandeln.
Diese bestandigstc Form kann sowohl fest, wie fliissig sein, und
wir haben Beispiele flir beides. So erstarrt Alkohol auch bei den niedrig-
sten Temperatnren nicht krystalliniscb; bei diesem Stoff hat also vermnt-
V
Fig. 46.
Fig. 47.
lich die fliissige Form einen kleineren Dampfdruck als jede mogliche feste,
nnd es ist daher auch keine solche bekannt^). Umgekehrt hat bis in die
Temperatnren des elektrischen Flammenbogens fester Kohlenstoff einen
kleineren Dampfdruck, als fliissiger, und zeigt sich deshalb als un-
schmelzbar. Wir konnen allgemein sagen, dass solche Stoffe keinen
Obergang in den anderen Aggregatzustand zeigen werden, bei denen
die Unterschiede der Dampfdrucke beider Formen zu grosse Werte be-
sitzen. Man darf nicht etwa annehmen, dass solche Stoffe eihe beson-
ders grosse Schmelzwarme zeigen wiirden; es ist im Gegenteil eine
kleiue Schmelzwarme, die einen nahen Parallelismus beider Dampfdruck-
^) Es ist denkbar, dass bei tiefen Temperaturen eine feste Form des Alko-
hols bestftodiger w&re, als die flttssige, dass aber die Grenze des metastabilen
Gebietes nicht erreicht wird, und daher die feste Form nicht freiwillig auftritt.
[
442 n. Chemische Dynamik.
kurven bewirkt, fur das Auftreten eines solchen Falles giinstig, wenn
auch Dicht notwendig.
£b ist indessen nicht zu vergessen, dass sich diese Erorterungen
nur auf den Schmelzpunkt unter dem zagehorigen Dampfdruck
beziehen. Durcb Anderung des Druckes verschieben sich im allgemeinen
die Gleichgewicbtstemperaturen, und es kann sich ganz wohl ereignen,
dass ein Stoff, der unter gewohnlichem Druck» oder dem Druck seines
eigenen Dampfes nicht schmelzen, bez. erstarren will, dies unter einem
auderen Drucke thut. Ein Beispiel dafur ist Jod, welches im leerea
Raume nicht zum Schmelzen zu bringen ist, wohl aber beim Erwarmen
unter Atmospharendruck.
Die hierhergehorigen theoretischen Oberlegungen lassen sich durch-
fiihren, wenn man von dem S. 362 erorterten BegriflF der Pressung,
d. h. des Druckes, der nicht alle vorhandenen Phasen trifft, Gebrauch
macht. Unterwirft man die beiden Aggregatformen desselben Stoffes
der gleichen Pressung, so andern sich ihre Dampf drucke gemass der
Formel auf S. 363 in verschiedenem Masse, und konnen ganz wohl bei
einer bestimmten Grosse der Pressung gleich werden, auch wenn sie
es vorher nicht waren. Alsdann haben wir die Moglichkeit des Gleich-
gewichtes beider Formen, d. h. einen wirklichen Schmelzpunkt.
Anders liegt der Fall, wenn sich die Dampfdruckkurven kreuzen.
Alle Durchschnittspunkte der Dampfdruckkurven einer fliissigen Form
mit denen fester Formen stellen Schmelzpunkte dieser Formen dar.
Da erfahrungsmassig alle Stofife, wenn sie schmelzen, dies unter Warme-
aufnahme thun, so muss notwendig die Dampfdruckkurve der fliissigen
Form am flachsten von alien verlaufen (S. 438), sie wird also die Lage
von I in Fig. 46 wie in Fig. 47 haben miissen. In Fig. 47 sind noch
zwei andere Kurven gezeichnet, die man sich der Anschaulichkeit w^en
als zu rhombischem und monoklinem Schwefel gehori^^ vorstellen mag;
dann muss dem ersteren die Kurve III, die bei niedrigen Temperaturen
am tiefsten liegt, entsprechen, wahrend dem monoklinen Schwefel die
mittlere Lage II zukame.
Aus der Figur ist alsbald ersichtlich, dass im allgemeinen die
Schmelzpunkte polymorpher Formen verschieden sind und dass der bei
niederer Temperatur bestandigen Form auch der niedrigere Schmelz-
punkt zukommen muss, wie dies auch im Falle des Schwefels Yon
Brodie (S. 399) gefunden war und von Lehmann allgemein ausgesprochen
worden ist.
Der Durchschnittspuukt der Kurven II und III stellt den Um*
wandlungspunkt der beiden festen Formen dar, und zwar den bei dem
Das chemische Gleichgewicht.
443
gemeinsamen Dampfdruck beider Formen. Es ist mit anderen Worten
der Pankt der Koexistenzkurve p = f(t) beider Formen, fur welche p
gleich dem Dampfdruck ist.
Beziiglich der Lage der beidcn Schmelzpunkte und des Umwand-
lungspunktes konnen nocfa zwei Moglichkeiten eintreten. Entweder
liegen beide Kurven wie in Fig. 48 oder wie in Fig. 49. Der Unter-
schied beider Lagen kommt in dem Verhaltnis der drei Durchschnitts-
punkte zur Geltung: entweder liegt der Umwandlungspunkt unterhalb
der beiden Schmelzpunkte, Fig. 48, oder oberhalb derselben, Fig. 49.
Dies bedeutet, dass im ersten Falle beide Formen unterhalb der
Schmelzpunkte je ein stabiles Gebiet haben, und zwar III von den
tiefen Temperaturen bis zum Umwandlungspunkte, und II von dort bis
zu seinem Schmelzpunkte. Gleichzeitig sieht man, dass der eine Schmelz-
p
Fig. 48.
Fig. 49.
punkt, und zwar der bei niedrigerer Temperatur bestandigen Form, im
metastabilen, bez. labilen Gebiete liegt, und daher nur unter besonderen
Vorsichtsmassregeln erreicht werden kann. Dies sind die Eigenschaften
der enantiotropen Formen (S. 405).
» Liegen dagegen die drei Kurven wie in Fig. 49, so giebt es ausser
der fliissigen nur eine stabile fes'te Form, und die andere liegt in der
ganzen Ausdehnung der Temperaturen im nichtstabilen Gebiete. Der
Umwandlungspunkt liegt oberhalb beider Schmelzpunkte, und da
letztere sich experimentell nur schwer oder gar nicht iiberschreiten
lassen, so ist der Umwandlungspunkt unzuganglich. Dies sind die cha-
rakteristischen Eigentumlichkeiten der monotropen Formen nach
der Bezeichnungsweise von Lehmann (S. 405). Aus der Betrachtung
der Figur geht gleichzeitig hervor, dass das von Lehmann erfahrungs-
massig gefundene Gesetz, nach welchem der Schmelzpunkt der unbe-
444 n. Chemische Dynamik.
standigen Form immer niedriger liegt, als dcr der bestandigeren, sich
notwendig aus der Beziehung der Dampfdruckkurven unter Voraussetzung
des Prinzips der Stetigkeit ergiebt^).
Schliesslich mag noch darauf hingewiesen werden, dass ein mehr-
faches Durchkreiizen der Dampfdruckkurven nicht unmoglich erscheint
Dann wiirdeu die BestandigkeitsyerhaltDisse der verschiedenen Formen
einen mehrfachen Wechsel erfahren, und es erscheint denkbar, dass
z. B. weit unterhalb des Schmelzpunktes wieder ein Temperaturgebiet
auftreten kann, in welchcm die fliissige Form wieder die bestandigste
ist. Diese wUrde dann allerdings vermutlich die Bescbaffenheit eines
sogenannten amorphen festen Korpers haben. Dass dieser Zustand
stetig mit dem gewohnlichen Fliissigkeitszustande zusammenhangt, ist
schon an friiherer Stelle dargethan worden.
Indessen ist bierbei zu beacbten, dass die Umwandlungsgeschwin-
digkeit polymorpher Formen mit sinkender Temperatur sehr schnell
abnimmt. Bei niedrig gelegenen Temperaturen wird es desbalb sehr
schwer halten, solche Umwandlungen iiberhaupt zu beobachten, und
wenn es, etwa durch eine besondere Breite des metastabilen Gebietes
gelingt, zwei derartige Formen weit unterhalb des Umwandlungspunktes
nebeneinander zu haben, so werden sie sich so yerhalten, als waren sie
Iiberhaupt nicht hylotrop. Ein Beispiel hierfiir scheint Kalkspat und
Aragonit zu bieten. Es handelt sich hier um zwei monotrope Formen^
von denen Aragonit die unbestandige ist. Denn bei etwa 300®, wo
die Umwandlungsgeschwindigkeit gross genug ist, verwandelt sich Ara-
gonit schnell unter Aufblaheu in ein krystallinisches Pulver von Kalk-
spat; bei gewohnlicher Temperatur jedoch konnen beide Formen unbe-
stimmt lange nebeneinander bestehen, ohne dass eine Umwandlung des
Aragonits erfolgt. Die Ursache hiervon ist wahrscheinlich die ausser-
ordentliche Langsamkeit der Reaktion. Ob diese eine blosse Folge der
niedrigen Temperatur ist, oder ob ein Umwandlungspunkt beider Formen
in der Nahe der Zimmertemperatur liegt und daher die Langsamkeit
der Umwandlung riihrt, ist allerdings noch unbekannt, und eine genauere
Untersuchung der Umwandlungsbedingungen ware von einigem Interesse.
79. Das GesetB der UmwandlmigsBtufen. Man kann sich die
Frage stellen, wio man iiberhaupt zu den unbestandigen Formen der
monotropen StoflFe gelangen kann, da doch bei alien Temperaturen und
unter sonst gleichen Bedingungen eine andere, bestindigere Form mog*
lich ist, und man voraussetzen mochte, dass unter gegebenen Umstauden
^) Vgl. auch Schaum, tJber die ArtCD der Isomeric. Marburg 1897.
Das chemische Gleickgewicht 445
immer die Entstehung derjenigen Form erwartet werden muss, welche
die bestandigste ist. Priift man unter diesem Gesichtspunkte die S. 401
und 403 mitgeteilten Beobachtungen, so ergiebt sich, dass gerade die
uobestandigen Formen der hylotropen Gruppen zuerst und freiwillig
au&utreten pflegen, und dass die bestandigen Formen erst spater er-
scheiDen und oft bei entsprechender Vorsicht ganz vermieden werden
konnen. In der That gabe es iiberhaupt keine Moglichkeit, die beiden
Formen monotroper Stoffe zu beobachten, wenn nicht eine Tendenz
Torhanden ware, nach welcher gerade die unbestandigeren Formen
leichter und friiher erscheinen, als die bestandigeren.
Beobachtungen und Betrachtungen in solchem Sinne lassen sich
ziemlich weit zuriick verfolgen; der erste, welcher die Aufmerksamkeit
in diese Richtung gelenkt bat, diirfte Frankenheim gewesen sein.
Bereits im Jahre 1836 hatte dieser Forscher^) eine Anzahl von Er-
scheinnngen beschrieben, die mit dem Satze im Widerspruche steben,
dass ein neugebildeter oder aus einer Losung sich abscheidender Korper
fest oder fliissig auftritt, je nachdem die Temperatur unterhalb oder
oberhalb des Schmelzpunktes liegt. „Wenn man eine Auflosung von
Phosphor in Ather auf einer Glasplatte oder auf einer Wasserschicht
bei gewohnlicher Temperatur abdampfen lasst, so bleibt der Phosphor
nngeachtet der grossen, durch die Verdampfung des Athers bewirkten
Abkiihlung in Tropfen fliissig zuriick. . . . Erystalle bilden sich nur
sehr selten. . . . Auch der Schwefel schlagt sich unter ahnlichen Ver-
haltnissen wie der Phosphor fliissig nieder, jedoch seltener, und man
flieht yiele Erystalle. Bei einer etwas hoheren Temperatur kann man
auch den Schwefel toils durch Abdampfung, toils durch Abkiihlung in
grossen Tropfen erlangen, obgleich er in keinem Momente des Prozesses
70^ bis 80^ C. iiberschritt. Diese Tropfen halten sich alsdann bei jeder
Temperatur, so lange sie nicht mit festem Schwefel oder anderen die
Krjstallisation bedingenden Eorpem in Beriihrung kommen. . . J*
nSchwerer als aus Auflosungen kann ein Korper aus dem Dampfe
flussig niedergeschlagen werden, wenn die Temperatur unter dem Schmelz-
punkte steht Jod, welches sehr leicht, auch bei gewohnlicher Tempe-
ratur sublimiert, habe ich nur in Krystallen erlangen konnen. . . . Bei
dem Phosphor war jedoch das Resultat entscheidend. Ich brachte ihn
auf ein etwas hohl geschliffenes Glas, legte eine diinne Glasplatte da-
rauf und hielt diese durch verdampfenden Ather auf einer niedrigen
Temperatur. Der Phosphordampf, mochte er sich schon in der Luft
>) Pogg. Ami. 89, 380. 1836.
446 II- Chemische Dynamik.
Oder erst auf dem Glase niederschlagen, hatte daher nirgends eine
hohere Tcmperatur als die des Zimmers, etwa 20-5^ erlangt, und dennoch
bildete er zwar kleine, aber deutliche Tropfen auf der Glasplatte."
„Der fliissige Aggregatzustand greift daher weit in den festen bin-
ein. Wahrend dieser die Temperatur des Schmelzpunktes nie iiber-
schreiten kann, bleibt der Korper nicbt nur in niedriger Temperattur
fliissig, sondern er wird es auch, wenn er durch Abkiiblung des
Dampfes, oder einer Auflosung, oder durch chemisch wirksame Mittel
ausgeschieden wird."
Ein Vierteljahrhundert spater^) nahm Frankenheim diese Beob-
achtungen wieder auf und erweiterte sie durch eine Anzahl ahnlicher
Falle. Nachdem er die beim Schwefel und Phosphor zu beobachtenden
Erscheinungen nochmals mit einigen Abanderungen der Versuche ge-
schildert hat^ bemerkt er, dass Saize haufig fliissig aus ihren Losungen
ausfallen, wenn sie durch Alkohol oder ahnliches gefallt werden. „Man
beobachtet dieses sehr deutlich an einem Tropfen gesattigter Losung
von schwefelsaurer Thonerde in Wasser, die durch Alkohol stark ge-
triibt wird. Diese Triibung riihrt von unzahligen Tropfchen her, die
nach einiger Zeit niederfallen und sich dort in regulare Oktaeder ver-
wandeln. Auf ahnliche Weise verhalten sich schwefelsaures Natron,
Manganoxydul, schwefelsaure und chromsaure Magnesia, Salmiak und
andere leichtlosliche Salze." '
„Bei schwerloslichen Salzen und solchen, deren Schmelzpunkt sehi
hoch liegt, ist diese Art der Uberschmelzung in der Kegel nicht leicht
zu beobachten. Indessen kann man sie bei starker Vergrosserung noch
bei dem kohlensauren Kalk wahrnehmen. Schon Ehrenberg hat vor
langer Zeit bei der Einwirkung von Kohlensaure auf Kalklosungen
Kiigelchen beobachtet, die er fur fest hielt.**
Ahnliche Beobachtungen wurden in der Folge mehrfach gemacht,
insbesondere bei Gelegenheit der Untersuchungen iibersattigter Losungen,
wobei es sich imraer wieder herausstellte, dass gerade die leichter 16s-
lichen Formen, in Bezug auf welche die Losungen dementsprechend
weniger iibersattigt waren, zuerst auftraten. Violette*) sah sich deshalb
zu dem Ausspruch veranlasst, dass in den zunachst entstehenden Formen
etwas von der labilen BeschajBfenheit der iibersattigten Losung nachzu-
bleiben scheine. Ahnlich aussert sich Cloez iiber das Auftreten anbe-
standiger Formen beim Schwefel (S. 462).
n Pogg. Ann. Ill, 1. 1860.
') Ich habe die Stelle, die ich seinerzeit notiert hatte, nicht wiedergefandea.
Das chemische Gleichgewicht. 447
In neuerer Zeit hat auch Bancroft^) auf ahnliche Verhaltnisse
hingewiesen unci mitgetoilt, dass eine Losung yon Quecksilberjodid in
Methylalkofaol auf Zusatz yon Wasser die gelbe Form fallen lasst, ob-
wohl sie unter den yorhandenen Umstanden unbestandig ist, selbst bei
Gegenwart roter Krystalle. „E8 scheint, als wenn man die Verallge-
meinerung machen konnte, dass bei plotzlicher Fallung die weniger
bestandige Form die zuerst erscheincnde ist/'
In allgemeiner Weise findet sich der Satz, dass beim Verlassen
eines unbestandigen Zustandes ein gegebenes cbemisches Gebilde nicht
den bestandigsten Zustand aufsucht, sondern den nachstliegenden, d. b.
den (yoriibergehend oder dauernd) bestandigen, welcher yon dem augen-
blicklichen aus mit dem geringsten Verlust yon freier Energie erreicht
warden kann, durch W. Ostwald*) bei Gelegenheit ahnlicher Beobach-
toDgen ausgesprochen. Von Frankenheims Beobachtungen iiber das
Auftreten fliissiger Formen bei Fallungen und Destillationen unterhalb
des Schmelzpunktes ausgehend, zeigte er, dass ahnlicbe Verbal tnisse
anch in den Fallen bestehen, wo mit der Anderung des Aggregatzu-
standes chemische Vorgange yerbunden sind. So geht Phosphordampf
nicht unmittelbar in den bestandigen roten Phosphor iiber, sondern erst
in fliissigen und dann in festen gelben; die Dampfe der Gyanursaure
geben beim Verdichten die unbestandige Cyansaure, die des Paracyans
das flassige Cyan statt der bei gleicher Temperatur bestandigeren
Formen Gyamelid und Paracyan.
Schliesslich ist ein solcher Satz auch fiir chemische Vorgange aller
Art, ob sie heterogen oder homogen seien, anwendbar. Man braucht
nur die bekanntesten chemischen Vorgange, bei denen die Moglichkeit
yerschiedener Reaktionen unter gleichen Umstanden yorliegt, unter
diesem Gesichtspunkte zu betrachten, um beliebig yiele Beispiele zu
finden.
Beim Einleiten yon Ghlor in Kalilauge entsteht zunachst die un-
bestandigste aller moglichen Verbindungen, Kaliumhypochlorit neben
Chlorkalium, und diese wandelt sich langsam in Kaliumchlorat neben
Chlorkalium um, wahrend die noch bestandigeren Kaliumperchlorat und
schliesslich Chlorkalium und freier Sauerstoff in Losung nicht ohne die
Mitwirkung eines Katalysators sich bilden. Ebenso geht Kaliumchlorat
beim Schmelzen nicht in das bestandigste Gebilde Kaliumchlorid plus
Sauerstoff iiber, sondern bildet zunachst Perchlorat.
*) Joum. Phys. Chem. 1, 142. 1896.
^ Zeitschr. f. phys. Ghemie 22, 306. 1897.
448 II* Chemische Dynamik.
Id der organischen Chemie sind solche Vorgange nicht minder all-
gemein. Bel der Oxydation der Alkohole bilden sich die unbestan-
digeren Aldehyde yiel leichter, als die bestandigeren Sauren; Schwefel-
saure giebt mit Naphtalin zuerst die unbestandigere a-Sulfosaure, die
sich erst bei weiterem Erhitzen in die bestandigere /3-Form umlagert.
Ebenso entsteht bei der Salicylsauredarstellung aus Phenolnatrium and
Kohlensaure zuerst das Salz des unbestandigen sauren Kohlensaure-
esters, welches weitere Umlagerung in die bestandigere Form erfahrt,
und so liessen sich hundert andere Beispiele anfiihren.
Endlich beruht die ganze Existenz der tierischen und pflanzlichen
Organismen auf diesem Gesetz. Alle die verwickelt zusammengesetzten
Verbindungen, an deren chemische Umsetzungen die Lebenstbatigkeit
gekniipft ist, sind solche weniger bestandige Zwischenstufen der chemi-
schen Wechselwirkung, die zuletzt auf die Bildung der bestandigsten
moglichen Stoffe: Kohlendioxyd und Wasser hinausgeht Besonders
deutlich zeigen sich die Verhaltnisse beim Stickstoff. Wiewohl dessea
bestandigste Form das freie Element ist, wird diese doch nur ausnahms-
weise gebildet, und je nach seiner Beschaffenheit scheidet der tierisdie
Organismus den Stickstofif in mehr oder weniger unbestandiger Form,
als Harusaure, Harnstoff u. dgl. aus. Ware das Gesetz der Umwand-
lungsstufen nicht giltig, so ware ein organ isches Leben in der uns be-
kannten Form iiberhaupt nicht moglich.
80. Baumliohe Darstelliuig der VerhSltnisse polymoipber Stoffa
Ganz dieselben Hilfsmittel der Darstellung, wie sie zur Veranschaa-
lichung der gegenseitigen Beziehungen zwischen festen, flUssigen und
gasformigen Stoffen gedient haben (S. 434), konnen fur den Fall der
polymorphen Formen benutzt werden. Wenn in Fig. 42 das mit Mflussig^
bezeichnete Gebiet als Darstellung der bei hoherer Temperatur bestan-
digeren Form aufgefasst wird, so lasst sich alles dort Gesagte auf d^i
neuen Fall iibertragen. SoUen die Verhaltnisse zwoier oder mehrerer
fester Formen neben der Schmelze zur Darstellung gebracht werden,
80 ist nichts notig, als eine entsprechende Anzahl ahnlicher schmalw
Flachen wie abk' anzubringen, von denon jede den Ubergang der einen
Form in die nachstliegende veranschaulicht; jede dieser sohmaien Flachen
entspricht einem Durchschnitt der Dampfdruckkurven, die ja die Pro-
jektion der Flachen kbc, acde und der sich an diese anschliessenden,
den anderen Formen angehorigen, analog belegenen Flachen sind.
Will man an Stelle dieser Flachen stabiler Zustande die steiige
Flache haben, welche nur die homogenen Zustande, ob stabile oder
nicht, darstellt, so hat man yon der Fig. 43 auszugehen, und eie nur
Das chemische Qleichgewicht. 449
dnrch eine entsprechende Anzalil weiterer Falten zu erganzen, die aa-
naherad parallel der Falte fest-fliissig liegen. Die Isothermen unter-
scheidea sich von den in Fig. 44 gezeichneten dadurch, dass sie mehr
ab zwei S-formige Kriimmungen enthalten, und zwar im Maximum so
fiele mehr, als neue Formen auftreten. Ob alle diese Kriimmungen je-
mais auf einer Isotherme vereinigt sein konnen oder miissen, lasst sich
nicht ron vornherein entscheiden.
81. Der Sohwefel. Als Beispiel fiir die Mannigfaltigkeit der Ver-
haltnisse, welche bei polymorphen Stoffen auch in dem Falle auftreten
koDnen, dass es sich um einen elementaren Eorper handelt, seien nach-
stehend die Verhaltnisse beim Schwefel geschildert. Die Zahl der
Arbeiten iiber diesen Gegenstand ist sehr gross; doch sind bis auf den
heutigen Tag noch eine Menge Unklarheiten und ungeloste Fragen
ubrig geblieben.
Von Mitscherlich war (S. 394) der Nachweis gefiihrt worden, dass
e8 zwei durch ihre Krystallgestalt verschiedene Arten des Schwefels giebt.
Eine wesentlicbe Erganzung zu Mitscherlichs Arbeiten iiber die
beiden Formen des Schwefels brachte eine Untersuchung von Marchand
und Scheerer^) „Ober einige Gegenstande aus dem Gebiete der Atom-
theorie". Hier wurde der Nachweis erbracht, dass die beiden Arten
des Schwefels nicht nur in der Form verschieden sind, sondern auch
bezuglich des Volums und des Warmeinhaltes. Das spezifische Gewicht
des rhombischen Schwefels fand sich zu 2*045 bis 2-066 (natiirlicher
Schwefel), wahrend der monokline 1-982 hat. Die Volumverminderung
betragt also 0-0135 und wurde durch unmittelbare Messung annahernd
ebenso gross gefunden, wie sie sich durch Rechnung aus den spezi-
£schen Gewichten ergeben hatte.
Dass ferner beim Obergange der monoklinen Form in die rhom-
bische eine bedeutende Warmemenge entwickelt wird, ergab sich daraus»
dass ein you Krystallen der ersteren Form umgebenes Thermometer
bis fiber 3® sich erwarmte, wenn man die Umwandlung einleitete. Eine
▼irkUche Messung wurde indessen nicht vorgenommen. Auch iiber die
q)ezifi8che Warme beider Formen wurden einige Versuche nach der
Erkaltungsmethode gemacht, aus denen ein etwas grosserer Wert fiir
den monoklinen Schwefel hervorzugehen schien; doch legen die Forscher
kein Gewicht auf ihr Ergebnis.
Erwabnung verdient ein Versuch (S. 146), bei welchem durch
langes Erwarmen von rhombischem Schwefel auf 110® die Umwandlung
') Joani. f. pr. Chemie 24, 129. 1841.
Ostwald, Chemie. 11,2. 2.Aafl. 29
450 n. Chemische Dynamik.
in monoklinen bewerkstelligt wurde, wie durch die AnderuDg der Dichte
bewiesen werden konnte.
82. Der amorphe Schwefel. Ausser der rhombischen und der
monoklinen Form des Schwefels ist seit langem die amorphe Form
bekannt, welche man erhalt, wenn man ihn erhitzt und schnell abktihlt
Dem Lebrbuche von Gren^) entnebme ich, dass man die zahe Be-
schaffenbeit des so erbaltenen Schwefels yermutungsweise auf die Anf-
nahme von etwas Wasser bei der Herstellung zuriickfiihrte. Ein ahn-
licher Irrtum findet sich in den alteren Werken von Tb. Thomson und
Fourcroy, welche zum Teil aucb eine beginnende Oxydation annabmen;
dieser wurde durch Irvine widerlegt, der die gleichen Erscheinungen
aucb bei Ausscbluss von Luftsauerstoff erhielt.
Dass der wichtigste Umstand zur Hervorrufung des weichen Zu-
standes eine geniigende Erhitzung und plotzlicbe Abkiihlung ist, bat
Dumas*) gezeigt, welcher gleichfalls genauer das um 220® bis 250* ein-
tretende Maximum der Zahigkeit bescbreibt und folgende Tabelle giebt
Eigenschaften
des abgeschreckten Schwefels
sehr brdchig, gew6hnliche Farbe
» »» »> »>
anfangs welch und durchsichtig, bald br&chig,
undurcbsicbtiguodvongewOhnlicher Farbe
weich und diirchscheinend, bemsteinfarben
sehr weich, durchscheinend, rOtlich
sehr weich, durchscbeiDend, rotbraan').
Aucb die Tbatsache, dass der abgescbreckte weicbe Schwefel uach
einiger Zeit wieder hart wird, ist lange bekannt; Dumas (a. a. O.) giebt
an, dass dies binnen 24 und 36 Stunden geschiebt. Regnault^) hat bei
Gelegenheit seiner Messungen spezifiscber Warmen beobacbtet, dass
diese Umwandlung gegen 100® so schnell wird, dass ein eingesenktes
Thermometer um 10® bis 12® steigt. Etwas genauer wurden die Ver-
haltnisse von Daguin^) untersucht, welcher fand, dass die Bildung de&
krystallinischen Schwefels in der Achse der abgeschreckten cylindriscben
Faden begann, d. h. an der Stelle, wo die Abkiihlung am langsamsten
Temperatur
JCjI
des heissen Schwefels
110 «
sehr flassig, gelb
140
flassig, dunkelgelb
170
dick, orangegelb
190
dicker, orange
220
z&h, rCtlich
230— 260 «
sehr z&h, rotbraan
Siedepankt
weniger zSh, rotbraun
') System. Handbach der gesamten Ghemie, 2. Aufl. I, 354. Halle 1794.
•) Add. chim. phys. (2) 36, 83. 1821.
') Eine fibnliche ausfQhrlichere Tabelle, die aber nichts wesentlich neuea
lehrt, hat Deville (A. ch. ph. 47, 95. 1856) mitgeteilt.
*) A. ch. phys. (3) 1, 205. 1841.
») C. r. 20, 1665. 1845.
Das chemische Gieichgewicht. 451
gewesen war. Die am scbnelUten abgekiihlte aussere Haut widersteht
der Umwandlung am langsten.
Das Sonneulicht beschleunigt die Bildung des kryBtallinischen
Schwefels sehr.
Beim Abschrecken in heissem Wasser entstebt eine ausserst briicbige
Masse. Der in kaltem Wasser abgescbreckte zabe Scbwefel wird in
heissem yiel fliissiger, beginnt aber bald zu krystallisieren.
Wird der zabe Scbwefel bei niedriger und konstanter Temperatur
anfbewabrt» so bleibt er yiel langer zab und durchscbeinend. Der Ver-
fasser legt besonderes Gewicht auf die Annabme, dass konstante Tem-
peratur die Dauerhaftigkeit des zaben Scbwefels erbobt. Aucb wandelt
sich der Scbwefel um so langsamer um, je hober die Temperatur seiner
Erbitzung war.
Brodie^) bat beobacbtet, dass, wenn man den gescbmolzenen
Scbwefel in einem Gemiscb you Atber und Koblensaure plotzlicb ab-
kiiblt, man eine barte, durcbsicbtige Masse erbalt, die beim Erwarmen
auf gewobnlicbe Temperatur die zabe Bescbaffenheit des gewobnlicben
Schwefels annimmt.
Dass die plotzlicb abgekiiblten Scbwefelproben ein Gemiscb sind,
welcb^ neben loslicbem Scbwefel einen in Scbwefelkoblenstoff un-
loslicben Scbwefel entbalt, ist zuerst von Deville*) beobacbtet worden,
der in Scbwefelblumen und in abgescbrecktem zabem Scbwefel bis zu
0-35 nnloslicben Scbwefel fand. Dieser ist*) bei gewohnlicber Tempe-
ratur anscheinend bestandig (er batte nacb vier Jabren noch keine Spuren
von Krjstallisation gezeigt), wandelt sicb aber bei 100® in krystalli-
niscben um. In Alkobol ist er loslicb; aus der siedenden Losung scbeiden
neb zuerst monokline Prismen ab, spater Oktaeder^).
Genauer wurde die Bildung des unloslicben Scbwefels beim Ab-
schrecken durcb Bertbelot^) untersucbt.
Es wurde krystailisierter Scbwefel benutzt, von dem je 2 g in
diinnwandigen Glascben eine balbe Stunde lang erbitzt und dann plotz-
licb abgekiiblt wurden. Es ergab sicb folgendes:
Bis 140® erbitzt erscbeint der Scbwefel nacb dem Abkiiblen fest,
gelb, voUkommen loslicb und krystallisierbar.
155®: Gelb, krystallisierbar, Spur unloslicben Scbwefels.
*) L. A. »2, 237. 1854.
«) C. r. 26, 119. 1848.
•) C. r. Si, 534. 1852.
«) Ebenao verhalten sich alle anderen Schwefelarten gegen Alkohol.
^ Ann. chim. phys. (3) 49, 476. 1857.
29*
452 n. Chemische Dynamik.
Bis 163®: Etwas unloslicher Schwefel.
170®: Einige Zeit weich bleibend; viel unloslichor Schwefel; aui
der SchwefelkohloDstofflosuDg scheidet sicb nebea Krystallen
etwas amorpber, unloslich werdender Scbwefel ab.
180®: Wird der Schwefel nach dem Erhitzen langsam aaf 160*
abgekahlt und dann abgeschreckt, so verhalt er sich ahn-
lich, wie der nur auf 160® erhitzt gewesene.
Bei hoherer Erhitzang ist der Gehalt an unloslichem Schwefel
der folgende:
Temperatur 170« 185<» 205« 230*
Unldslicher Schwefel 0-25 0-29 0-29 0-30
Wie man sieht, bleibt oberbalb 185® der Gehalt aa unloslicheni
Schwefel nahezu konstant
Indessen hangen die Zahlen sehr von der Geschwindigkeit der
Erkaltung ab. Vermehrt man diese, indom man den Schwefel in diinnea
Fad en erkaltet, so kann man bis 0*61 unloslich erhalten. Benutzt man
zum Abkiihlen Ather, durch dessen Verdampfung der fliissige Schwefel
zu einem Schaum zerteilt wird, so kann man bis 0*71 unloslichea
Schwefels erhalten und die Menge bis auf 0-85 steigem, wenn man das
Ausziehen mit Schwefelkohlenstoff baldmoglichst yornimmt Femer wird
angegeben, dass der schnell in Wasser abgescbreckte und dann unter
Salpetersaure oder schwefliger Saure aufbewahrte Schwefel mehr unloe-
lichen Schwefel enthalt, als ohne die letztere Behandlung; dies kann
indessen nur so gedeutet werden, dass die Umwandlungsgoschwindigkeit
des unloslichen Schwefels in loslichen unter diesen Umstanden geringer ist
83. Verschiedene Arten. des amorphen SohwefelB. Von Magnus')
sind dann zwei Arten des amorphen Schwefels unterschieden worden.
Neben dem gewohulichen, der z. B. beim Ausziehen von Schwefelblumeft
zuriickbleibt und in Schwefelkohlenstoff unloslich ist, und der aach im
abgeschreckten Schwefel yorhanden ist, giebt es in diesem noch eine
andere Schwefelart, die in Schwefelkohlenstoff loslich ist, aber nach
dem Abdampfen unloslich wird. Verdampft man den Auszug des ab*.
geschreckten Schwefels, so scheiden sich zuerst Kiystalle von gewohn-
lichem Schwefel ab. Eutfernt man diese, so bleibt schliesslich eine
zahe Masse, die nach dem Entweichen der letzten Anteile Schwefel*
kohlenstoff eine kriimliche Beschaffenheit annimmt und nun nicht mehr
sich in Schwefelkohlenstoff auflost, selbst nicht beim Sieden.
^) Pogg. Ann. 92, 308. 1854 und 99, 145. 1856.
Das chemische Gleichgewicht. 458
Magnus hebt besonders hervor, dass dieser amorpbe Schwefel zu-
ent loslicher ist als der krystallinische, da er sich nach diesem aus-
ficheidet; das Unloslichwerden nach dem Abdunsten vergleicht er mit
dem ahnlichen Vcrhalten wasseriger Losungen von Kieselsaure.
84. Amorpher Sohwefel anf nassem Wege. Ausser dem durcb
Abschrecken entstehenden unloslicheu amorphen Schwefel kann man
8olchen auch auf nassem Wege erhalten. Das Auftreten amorphen
Schwefels beiFallungen auf nassem Wege ist wohl zuerst von J. Fritzsche*)
beobachtet worden, welcher diese Eigenschaft bei dem durch Sauren
aus Thiosulfaten ausgeschiedenen Schwefel fand. Er bildet zunachst
flussige Kugelchen, die unter Wasser ihren Zustand langere Zeit be-
halten, an der Luft aber erharten. Selmi') hat dann 1843 bei der
Analyse von Kupferkiesen mit Konigswasser einen teigartigen Schwefel
erhalten, der wie der durch Abschrecken gewonnene nach einiger Zeit
fest wird. Ebenso fand Leconte*), dass der bei der Einwirkung von
Schwefelwasserstoflf auf Salpetersaure entstehende Schwefel die Eigen-
Bchaften des abgeschreckten hat. Fordos und Gelis*), die die Produkte
der Einwirkung des Ammoniaks und des Wassers auf Chlorschwefel
stndierten, fanden, dass hierbei Schwefel von ahnlichen Eigenschaften
abgeschieden wird, der in Schwefelkohlenstoff unloslich ist. Auch der
dnrch Sauren aus Thiosulfaten und durch Wechselwirkung von schwef-
liger Saure und Schwefelkohlenstoff abgeschiedene Schwefel enthalt
bedeutende Mengen von nicht in Schwefelkohlenstoff loslichem Schwefel,
wahrend der aus Polysulfiden abgeschiedene nur Spuren davon enthalt.
Der aus Trithionaten abgeschiedene Schwefel enthalt unloslichen.
Erhitzt man unloslichen Schwefel neben einer Probe von gewohn-
lichem in demselben Olbade auf 110^ so schmilzt der letztere, wahrend
der unlosliche fest bleibt Erhalt man die Temperatur zwischen 110®
und 120^ so sintert der unlosliche Schwefel allmahlich, schmilzt, und
erweist sich nach dem Erstarren als gewohnlicher Schwefel.
€ber den fliissigen Schwefel aus den Thiosulfaten hat spater
R Weber einige Beobachtungen ^) angestellt, welche die von Fordos
and Gelis erganzen. Man erhalt ihn am bosten mit Salzsaure aus
NatriumthioBuIfat in konzentrierter Losung bei 10® als eine fliissige
Masse von der Farbe und der FlUssigkeit des Eigelbes und einer spiegel-
') Pogg. Ann. 42, 453. 1837.
*) Jonrn. f. pr. Ghemie 57, 49. 1852.
») Ann. chim. phys. (3) 21, 180. 1847.
*) Add. chim. phys. (8) S2, 385. 1851.
») Pogg. Ann. 141, 432. 1870.
454 n* Chemhche Dynamik.
glanzenden Oberflache; nach einigen Stunden wird er fester und am
anderen Tage ist er meist eratarrt. Bei 100® erfolgt die Umwandlong
schnell und unter merklicher Warmeentwicklung. Er ist frisch in
Schwefelkohlenstoff ohne Riickstand loslich. Je nachdem man ihn ver-
schieden behandelt, ist er nacb dem Erstarren mebr oder weniger los-
lich; lasst man ihu ohne Bewegung, so bleibt er ganz loslich, reibt
man ihn andauernd in einer Reibschale, so lost er sich nur zum Teil
nnd hinterlasst eine zahfliissige, nicht mit Schwefelkohlenstoff mischbare
Masse, die nach kurzer Zeit unter Erwarmung hart wird und dann
wiedcr teilweise loslich erscheint Auch beim sehr langsamen Abscheiden
aus der Thiosulfatlosung wird teilweise unloslicher Schwefel erhalten.
Als primares Produkt scheint also der loslichc, fliissige Schwefel za
entstehen, der sich weiter je nach Umstanden in unloslichen und in
krystallinischen verwandelt.
Der fliissige Schwefel ist nicht ganz rein, sondern enthalt Spuren
von Wasserstoffpersulfid, die 0-16 bis 0'17 Prozent Schwefel wasserstoff
ergaben. Diese Beimischuug scheint ahnlich zu wirken, wie die Spuren
von Halogenverbindungen bei den Versuchen von Dietzenbacher (s. w. u.).
Wenn man eine Losung von Schwefel in Schwefelkohlenstoff dem
Sonnenlichte aussetzt, so entsteht, wie Lallemand ^) beobachtet hat, un-
loslicher Schwefel. Ebenso wirkt nach Berthelot*) elektrisches und
Magnesiumlicht. Aus festem oktaedrischem Schwefel kounte Berthelot
auf keine Weise durch Belichten unloslichen erhalten, dagegen giebt
geschmolzener (unter 130®) allerdings welchen. Sattigt man die Schwe-
felkohlenstofflosung mit Schwefelwasserstoff (welcher amorphen Schwefel
in loslichen verwandelt), so bringt das Licht keine Ausscheidung von
unloslichem Schwefel hervor.
85. Fremde Stoffe. Durch Spuren fremder Stoffe erhalt der Schwefel
in auffalligem Masse die Fahigkeit, den amorphen Zustand anzunehmen,
oder vielmehr den beim Erhitzen angenommenen beizubehalten. Wird
zu Schwefel bei 180® oder noch weniger ^/^oo Jo^ gesetzt, so erhalt
man beim Abkiihlen nach Dietzenbacher*) eineu Schwefel, der sehr
lange elastisch bleibt und in Schwefelkohlenstoff ganz unloslich ist
Brom wirkt ahnlich, doch muss man auf 200® erhitzen, und es ist
im abgekiihlten Produkt 0*20 bis 0*25 loslicher Schwefel enthalten;
noch schwacher wirkt Chlor.
^) Compt rend. 70, 182. 1870.
«) Ann. chim. phys. (4) 26, 462. 1872.
») Compt. rend. 56, 39. 1863.
Das chemiscke Gleichgewicht. 455
Wird solcher Schwefel geknetet, so erhartet er plotzlich und wird
in Schwefelkoblenstoff ganz unloslich.
In einer etwas spateren Mitteilung^) berichtet derselbe gemeinsam
mit Moutier, dass auch organische Stoffe, insbesondere Kampher, diese
Wirkung zeigen; nur brauchen die verschiedenen Stoffe eine yerschiedene
Temperatur daziL Kampber wirkt bei 230^ Naphtaliu, Paraffin, Ereosot,
Terpentinol brauchen hohere Temperaturen. Sogar Kohle aller Art, wie
Rubs, Holzkohlo und Zucker kohle zu 1/1000 verandorn den Schwefel
bei 270^ in gleicher Weise. Die heisse Masse ist viel weniger zah-
fliissig als reiner Schwefel. Diese Eigenschaften entwick^ln sich bei
wiederboltem Schmelzen und Erstarrenlassen starker.
86. Der UtEioularzttstand des Sohwefels. Der Yon Brame^) eingehend
beschriebene „Utricularzustand*' der aus dem Schwefeldampf verdichteten
Tropfcheu, die mit einer zahen Haut bekleidet erscheinen, darf als eine
Folge dessen aufgefasst werden, dass die ausserste' Schicht der Tropf-
chen wegen ihrer geschwindesten Abkiihlung aus amorphem Schwefel
besteht, welcher besonders lange der Umwandlung widersteht (vgL
Daguin, S. 450). Daneben mag immerhin die Thatsache eine RoUe
spielen, dass in der Oberflachenschicht eines Schwcfeltropfchens wegen
der dort sich bethatigenden Oberflachenenergie andere Gleicbgewichts-
bedmgungen herrschen, als in der homogenen Masse, so dass die Be-
standigkeitsgebiete der verschiedenen Formeu dadurch gegen einander
ganz wohl yerschoben werden konnen. Hierzu gehort auch die Beob-
achtung yon Deville^), dass beim Auflosen des monoklinen Schwefels
in Schwefelkoblenstoff ein geringer Riickstand (hochstens 0-05) von un-
lofiUchem Schwefel zu bleibeu pflegt, welcher die Gestalt einer Haut
besitzt, die die prismatischen Krystalle umgeben hatte.
Brame hebt als charakteristisch hervor, dass der Dampf des Jods
und Quecksilbers bei gewohnlicher Temperatur ohne Einfluss auf den
rhombischen Schwefel ist, wahrend der monokline sich unter diesen
UiBstanden farbt, und schreibt dies dem t)berzuge von Schwefel im
Ctricularzustand (amorphem Schwefel) zu, der sich auf jenen Erystallen
bdindet. Ebenso soil rhombischer Schwefel bei gewohnlicher Tempe-
ratur keine merkliche Dampfmenge aussenden, wahrend man von mono-
Uinem sowohl Beschlage auf Glas, wie Farbung von Silber und Queck-
silber erhalt
>) Compt rend. eO, 353. 1865.
«) C. r. 21, 951. 1846. — 38, 538 u. 579. 1851. — 87, 334. 1858. — L'ln-
itltQt 1851, 349 a. ff.
') Ann. chim. phys. (3) 47, 99. 1856.
456 ^^' Chemische Dynamik.
Alle diese Mitteilungen stimmen gut mit der Theorie iiberein,
welche fur die bei gewohnlicher Temperatur unbestandige Form hdheren
Dampfdruck und grossere Loslicbkeit, demgemass auch grossere che-
mische Reaktionefahigkeit erwarteu lasst. Bei der einseitigen BetonuDg
indessen, welche Brame der Wichtigkeit des „Utricularzustande8'' an-
gedeihen lasst, ware eine Wiederholung der Versuche yod Interesse.
iDsbesondere liesse sich durch die Untersuchung von Bruchflacben
monokliner Krystalle ermitteln, ob sie in ifarer Substanz oder in ihiem
Uberzuge die oben erwahnten Farbungen durch Jod- oder Quecksilber-
dampf erfahren.
87. Zusammenfassung. Man wird also insgesamt mehrere Arten
von amorphem Schwefel zu unterscheiden haben: vor allem den in
Schwefelkohleustoff loslichen, und den darin unloslichen. Der erste ist
noch weiter in solchen unterschieden worden, der beim Abdampfea
seiner Losung oktaedrischen Schwefel giebt, und solchen, welcher amor-
phen hinterlasst. Ob der Unterschied auf primaren Unterschieden des
amorphen Schwefels bcruht, oder erst im Verhalten der Losung zur
Geltung kommt, ist noch auszumachen. Einige Beobachtungen von
Berthelot^), nach welchen gewisse Losungen des amorphen Schwefels
schwach getrubt erscheinen und (falsche) Fluorescenz zeigen» sprechen
dafiir, dass der amorphe Schwefel sich in Schwefelkohleustoff wie ein
Colloidkorper, z. B. Kieselsaure, in Wasser zu einer Pseudolosung ver-
teilen kann. Auch die Thatsache, dass solcher Schwefel bei wieder-
holtem Aufnehmen in Schwefelkohleustoff und Abdampfen schliesshch
unloslich wird, spricht dafiir*).
Auch solche Colloidlosungen von Schwefel stellen gleich konzen-
trierten wirklichen Losungen gegeniiber einen weniger bestandigen Zu*
stand dar, da erstere einen grosseren Dampfdruck haben miissen, als
letztere, und diese wiirden sich daher mehr oder weniger schnell in
solche umwandeln. Ist die Umwandlung erfolgt, so scheidet sich beim
Einengen aus der Losung natiirlich oktaedrischer Schwefel aii& Die
Geschwindigkeit der Umwandlung der Losung wird moglicherweise durdi
Spuren fremder Stoffe katalytisch beeinflusst, und wenn solche im nr-
spriinglichen amorphen Schwefel vermoge der Darstellung in verschie-
dener Menge und Wirksamkeit vorhanden waren, so muss sich solcber
Schwefel entsprechend verschieden verhalten.
») Ann. chim. phys. (3) 47, 430. 1857.
') Das Unldslicbwerden nach wiederholtem Abdampfen hat vermuUicb nit
dieser Operation nichts zu tbun, sondern ist eine einfacbe Zeitwlrkong, vermOge
deren aller amorphe loslicbe Scbwefel langsam unlOBlicb wird.
Das cfaemische Gleicbgemcht. 457
Ist diese Auffassung richtig, so muss die Losung des Schwefels bei
gleichem Gehalt ?erschiedene Eigenscbaften zeigen, je nacbdem sie
GoUoiden oder gewohnlicben entbalt, und bei der allmablicben Um-
waDdluDg des orsten in den letzteren miissen sicb die Eigenscbaften
der Losung in der Zeit entsprecbend andern. Tbatsacben sind in dieser
RichtuDg wie es scheint nocb nicbt beobacbtet worden; eine Unter-
BQchnDg dabin wiirde lobnend sein.
Anch in Wasser emulsionieren sicb gewisse Arten von amorpbem
Schwefel sebr leicbt und zeigen dann alle cbarakteristiscben Eigen-
flchaften colloider Losungen; ausfubrlicbe Beobacbtungen dariiber liegen
TOn Selmi^) vor.
Bei den in Scbwefelkoblenstoff unloslicben Formen des amorpben
Scfavefels machen sicb gleicbfalls ziemlicb grosse Unterscbiede bezuglicb
ihier Bestandigkeit geltend. In den meisten Fallen diirften diese Unter-
scbiede auf geringe Beimischungen fremder Stoffe zuruckfubrbar sein,
darch welcbe die Umwandlungsgescbwindigkeit beeiuflusst wird. Der
VoTgang, um den es sicb bier bandelt, lasst sicb auf die S. 283 er-
orterte Gescbwindigkeit der Fortpflanzung einer Krystallisation zuriick-
fflbren, und dass diese durcb die Gegenwart fremder Stoffe verlangsamt
irird, ist bekannt, und kommt beim Scbwefel sogar dann scbon un--
gemein stark zur Erscbeinung, wenn dieser fremde Stoff nur amorpber
Schwefel ist (s. w. u.).
88. Die Bestandigkeitsgebiete der verschiedenen Formen des
Behw^els. Beziiglicb der Umwandlung ineinander, deren die verscbie-
denen Formen des Scbwefels fabig sind, kann man zwei Fragen auf-
werfen: die nacb den Temperaturgebieten der Bestandigkeit, und die
oach der Gescbwindigkeit der Umwandlung einer im unbestandigen Ge-
biete befindlicben Form. Beziiglicb der ersteii lasst sicb aus den oben
gemachten Mitteilungen folgendes entnebmen.
Der rbombiscbe Scbwefel ist bestandig bei Temperaturen unter-
halb 97®, der monokline dariiber bis zu seinem Scbmelzpunkte. Alle
amorpben Formen sind unterbalb des Scbmelzpunktes un-
bestandig, und wenn einige von ibnen sicb bei Zimmertemperatur
onbegrenzt lange zu balten scbeinen, so liegt dies nur an der grossen
Langsamkeit der Reaktion, bez. an mecbaniscben Hindernissen der yoU-
kommenen Beriibrung. Dass die amorpben Formen, aucb wenn sie bei
Zimmertemperatur scheinbar bestandig sind, in der Nabe Yon 100® sicb
neist aehr schnell in krystalliniscben Scbwefel umwaudein, erklart sicb
») Journ. f. pr. Ch. 57, 49. 1852.
I
458 I^- Chemische Dynamik«
aus der viel grosseren Reaktiousgescbwindigkeit in diesem Gebiete,
nicht etwa daran, dass sie bei Zimmortemperatur ihrem Gleicbgewicbts-
punkte mit der krystalliuischeu Form naher wareii.
Uuter diesem Gesicbtspunkte beziiglich der relatiyen Bestandigkeit
wird man die nacbstebendeu, schon 1837 mitgeteilten Beobacbtungen
von Fritzscbe^) leicbt deaten konneu.
Dessen Versuche gingen you der Beobacbtuug aus, dass Scbwefel-
blumen uicbt, wie angenommen war, aus krystalliniscben Teilcben be-
steben, sondern ein Haufwerk von Kiigelcben darstelien. Als er Schwefel-
dampfe auf Glasplatteii verdicbtete, iiberzeugte er sicb, dass sicb Kiigel-
cben von zahem Scbwefel bilden, die ibre 'Bescbaffenbeit in der Robe
und beim Ausscbluss des Licbtes beibebalten; beim Erscbiittern und
Belichten krystallisiereii sie langsam. Aus den eingebeud von Fritzscbe
gescbilderten Erscbeinungen gebt mit grosser Wahrscbeinlichkeit bervor,
dass sicb baufig zuerst die monokline Form („feine, prismatiscbe,
blattartige Krystalle .... deren Lange oft das Doppelte Yom Dorch-
messer des Scbwefelkornes betragt'^) bildct, die spater in die oktae*
driscbe iibergebt.
Benetzt man die mit den Scbwefelkiigelcben iiberzogenen Glas-
platten mit Ol, oder verdicbtet noch besser den Scbwefeldampf auf
geolten Glasplatton, so treten folgende Erscbeinungen auf. Die Kugelo
bleibeu durcbsichtig, verkleinern sicb aber durcb Auflosuug. Dafiir
bilden sicb an eiuzelnen Stellen grosse Oktaeder, daneben, wie es scheint,
aucb monokline Krystalle. ^Unstreitig spielt bei dieser merkwiirdigen
Umwandlung das Auflosungsvermogen des Scbwefels fur das Ol eioe
wicbtige Rolle; unbegrciflicb bleibt es aber, warum das Ol nur gleicb-
sam den Vermittler der Krystallbildung spielt und den eben aufgelosten
Scbwefel sogleicb wieder absetzt."
Die Antwort auf die bier von Fritzscbe voUkommen sachgemass
aufgeworfene Frage ergiebt sicb aus der Tbatsacbe, dass die weniger
bestandige fliissige Form, wie sie den grosseren Dampfdruck besitxt,
aucb die grossere Loslicbkeit in alien Losungsmitteln baben muss. Das
Ol, das in Bezug auf den fliissigen Scbwefel gesattigt ist» ist in Besag
auf den krystalliniscben ubersattigt.
Eine weitere Veranscbaulicbung dieser Verbaltnisse bieten folgende
Beobacbtungen von Fritzscbe. „Lasst man zaben Scbwefel als Faden
in Ol fallen, so bleibt dieses so lange obne Einwirkung, als jene ihren
zaben Zustand beibebalten; sobald sie aber anfangen undurchsichtig sa
») Pogg. Ann. 42, 453. 1837.
Das chemische Gleicbgewicht. 459
werden, 8o bedeckt sich ihre Oberflache gleichzeitig mit kleinen Krys-
tallen, welche bei geringer Beruhrung sich ablosen und als yoUkommen
ausgebildete Individuen sich darstellen. Giesst man auf geschmolzenen
Schwefel Ol und lasst ihn nun erkalten, so bilden sich in dem Ole
ziemlich grosse Krystalle, die man gut mit blossem Auge unterscheiden
kann; sie entstehen aber nicht linmittelbar nach dem Erkalten, sondern
erst nach einigen Stunden, und wahrscheinlich waren auch in diesem
Falle keineswegs alle Krystalle in dem Ole aufgelost gewesen, sondern
bildeten sich auf dieselbe Art, wie jene aus den Eugeln. Hatte das
Ol, welches man zu diesem Versuche anwendete, schon vorher mit
Schwefel in Beriihrung gestanden, so erfolgte die Bildung der Krystalle
sehr viel schneller; es bildete sich in diesem Falle zuerst eino Menge
langer, blattartiger Krystalle in dem Ole, welche jedoch nach einiger
Zeit sich in eine zusammenhangende Masse kleiner, rhombenoktaedrischer
Krystalle mit Beibehd.ltung ihrer Form umwandelten, oder auch ganz
Terschwanden, indem sich an anderen Stellen eine Menge kleiner Rhom-
benoktaeder bildeten. Es scheint daraus einerseits hervorzugehen, dass
die blattartigen Krystalle der zweiten, prismatischen Form des Schwefels
angehorten, und andererseits schcinen diese Versuche zu beweisen, dass
das Ol die oben beschriebenen Wirkungen auf den Schwefel nur aussert,
wenn der Schwefel krystallinische Struktur anzunehmen im Begriffe steht,
oder eben angenommen hat."
Auch diese Beobachtungen sind schone Beispiele fiir die grossere
Loslichkeit der unbestandigeren Formen, sowohl der amorphen wie der
prismatischen. Das sehr bemerkenswerte Auftreten der prismatischen
Form bei Zimmertemperatur, also weit unterhalb des Umwandlungs-
pnnktes, soil besonders hervorgehoben werden; es ist ein Beispiel fur
den sehr allgemeinen Satz, nach welchem unter gegebenen Umstanden
zunachst nicht die bestandigste Form entsteht, sondern umgekehrt ge-
rade die wenigst bestandige, mit der grossten freien Eiiergie bebaftete
(S. 444).
Ebenso ist ein Versuch von Deville^) zu deuten, der zwar nicht
bindend ist, aber doch einigermasscn die VerhaJtnisse erkennen lasst
Es wurde weicber, abgeschreckter Schwefel in einem Raume von wech-
selnder Temperatur mit ganz wenig Schwefelkohlenstoff bedeckt stehen
gelassen, and man beobachtete, dass sich in jeder Nacht bei der Ab-
kuhlung oktaedrische Krystalle abschieden, die am anderen Tage nicht
(oder Dur teilweise) in Losung gingen; vielmehr sattigte sich der
*} Ano. chim. phys. (3) 47, 102. 1856.
460 n. Chemische Dynamik.
Schwefelkohlenstoff bei der hoheren Temperatur auf Kosten des weichen
Schwefels, bis schliesslich der grossere Teil des weichen Schwefels krjs-
tallisiert war. Ein Teil blieb freilich a]s amorpber Schwefel zuriick and
widerstand der Umwandlung (oder vielmehr erlitt sie nur sehr langsam).
Der geringeren Bestandigkeit des amorphen Schwefels entspricht
auch die Thatsache, dass er sich Tiel leicbter durch Salpetersaure
oxydieren lasst als der krystallisierte. Um den Einfluss der Verteilung
und OberiSachengrosse auszuschalten, hat Pean de Si. Gilles^) von einer
Probe amorphen Schwefels die eine Halfte mit SchwefelwasserstofFwasser
behandelt, wodurch nach einer Beobachtung von Berthelot biimeA
24 Stunden eine Umwandlung in krystallinischen Schwefel bewirkt wird,
und dann beide Teile unter gleichen Umstanden mit Salpetersaure be-
handelt: wahrend vom amorphen Schwefel 0-991 in Losung gegangen
waren, batten sich vom krystallisierten nur 0*035 gelost.
Andererseits erbitzte Berthelot *) verscbiedene Arten amorphen
Schwefels auf 100*^ und bestimmte nach verschiedenen Zeiten den An-
teil des umgewandelten Schwefels durch Ausziehen mit Schwefelkohlen-
stoff. Er fand:
Unl()slicher ROckstand in Prozenten nach
Art des Schwefels 5 Min. 15' 30' 60' 120' 300'
Aus ThioBulfat 16
Aus abgeschrecktem Schwefel 71-5
Aus Schwefel blumen 88
Aus Schwefelblumen,
mit Alkohol behandelt 88-5
Aus Chlorschwefel 63
Aus Chlorschwefel, andre Probe 57 (erweicht.) 30
Nun stebt aber die Thatsache, dass einige Formen des amorpheo
Schwefels in Schwefelkohlenstoff unloslich sind, anscheinend in voU-
kommenem Widerspruch mit dem Satze, dass von den verschiedenen
Formen die bestandigste am schwersten loslich ist, und es ist zu fragen,
wie ein solcher Widerspruch gehoben werden kann.
Die Antwort ist dahin zu suchen, dass sich zwischen amorphem
Schwefel und Schwefelkohlenstoff ein Losungsgleichgewicht nur iiberaus
langsam herstellt, so dass ein solches thatsacblich wohl noch nie beobachtet
worden ist. Ware das Gemisch von Schwefelkohlenstoff und amorphem
Schwefel bald nach der Herstellung in der That iu Bezug auf diesen
gesattigt, so miisste, wenn die Schwefelmenge in der Losung vermehrt
0
0
0
0
0
54
20
0-3
0
0
60
51
23
11
7-5
745
31
25
14
36
29
15
13-5
11
30
27
15
13
11
^) Ann. chim. phys. (3) 64, 49. 1858.
*) Ann. chim. phys. (3) 65, 211. 1859.
Das chemische Gleichgewicht. 461
wird, eine Ausscheidung von Scbwefel in amorpher Form stattfinden,
indem nun die Losung in Bezug auf diesen iibersattigt ware. Dies tritt
aber, so weit die bisherigen Beobachtungen reichen, nicht ein, und es
lasst sich auf Grand der iiber die Umwandlung beider Formen be*
kannten Verhaltnisse umgekehrt voraussagen, dass die geloste Schwefel-
meage bei langer Dauer des Versucbes immer mebr zunehmen und
den Sattigungspunkt des rhombischcn Schwefels iiberschrei-
ten wird, wenn nicht inzwischen rhombischcr Scbwefel in fester Form
entstanden ist, der die Obersattigung verhindert.
Man kann die Verhaltnisse auf Grund der Thatsacbe, dass durch
die Gegeowart des amorphen Schwefels der Schmelzpunkt des krystalli-
sierteii herabgedriickt wird (S. 400), auch so auffassen, dass jener einen
fremden Stoff in Bezug auf diesen darstellt. Ob man sich dies durch
die Annahme, der amorphe Schwefel sei in Bezug auf den krystalli-
Bischen polymer, veranschaulicht, ist fur die Sache nicht wesentlich;
entscheidend ist, dass fur ctwas schnellere Reaktionen die Umwandlung
beider Formen ineinander so langsam erfolgt, dass sie fiir solche
Vorgauge nicht als hylotrop angesehen werden diirfen^). Fiir solche
schDelle Reaktionen brauchen die eutsprechenden Gesetze nidit. zu
gelten, und daher haben auch die Loslichkeiten beider Formen mitein-
ander gar nichts zu thun. Nimmt man dagegen Zeitraume in Betracht,
bionen denen die Umwandlungsfahigkeit beider Formen sich bethatigen
bum, so wird man auch die zu erwartenden LoslichkeitsTerhaltnisse
beobachten.
89. Eatalytisohe Umwandlungen. Auf Grund der mitgeteilten
Thatsachen und Betrachtungen werden die sehr mannigfaltigen Ver-
haltniase leichter verstandlich werden, welche Berthelot*) in einer
aosgedehnten Abhandlung geschildert hat. Leider hat er den Wert
seiner yielfach interessanten experimentellen Beobachtungen dadurch
sehr vermindert, dass er mit einer bestimmten hypothetischen Anschau*
uig an die Erscheinungen herangetreten ist und sich mehr mit der
Fiage beschaftigt hat, wie sich diese mit der Hypothese vereinigen
hssen, als sie unbefangen zu studieren. Diese Hypothese war, dass je
nach der RoUe, die der Schwefel in den chemischen Verbindungen ge-
q^ielt hat, aus welchen er abgeschieden wird, er auch verschiedene
') Die Oberlegung, dass je nach dem aDgewandten Zeitmass ein bestimmter
Vorgftng zn ganz verschiedenen Erscheinungsklassen gerechnet werden mass, ist
in allgemeiner Weise wohl zuerst von Luther (Ztschr. f. ph. Gh. 19, 570. 1896)
Uar aoBgesprochen worden.
') Ann. chim. phya. (3) 49, 430. 1857.
I
[
462 II- Ghemische Dynamik.
Eigenschaften besitzt. Der krystallinische Scfawefel und die Arten des
amorphen, die sich leicht in ihn verwandeln, sei der elektropositive,
wahrend der amorphe, bestandige and unlosliche Schwefel elektronega-
tiver sei.
£s entspanu sich iiber diese AnschauuDgsweise zwischen ihm und
Gloez eine ErorteruDg ^)9 in welcher sich ergab, dass eine Anzahl yon
Versuchen, die in jenem Sinne gedeutet waren, thatsachlich anders
yerlaufen. Cloez formulierte seinerseits viel sachgemasser die Gesamt-
heit der Thatsachen dahin, dass der unbestandige amorphe Schwefel
die Form ist, in welcher sich dieser Stoff immer zuerst abscheidet;
diese Form nnterliegt je nach Umstanden einer weiteren Umwandlung,
die bei der bestandigsten Form, dem krystallinischen Schwefel, ihr
Ende findet. „Es scheint mir rationeller, anzunehmen, dass der weiche,
unlosliche Zustand der Normalzustand des Schwefels in dem Augen-
blicke ist, in welchem er ans seiner Verbindung abgeschieden wird; er
stellt sozusagen den Entstehungszustand dar. Nur ist dieser Zustand
nicht andauernd; er wird durch viele physikalische und chemische Um-
stande abgeandert, namentlich wenn die Zersetzung langsam vor sich
geht, und wenn das abgeschiedene Produkt im Augenblicke seiner Bil-
dung mit Reagentien in Beriihrung ist^ weiche fahig sind» seinen Zor
stand zu andem/'
Solche f^atalytische** Wirkungen sind von Borthelot mehrfach b^
obachtet und studiert worden. Die moisten von ihnen lassen sich da-
hin zusammenfassen, dass Stoffe, weiche auf den Schwefel losend wirken
und ihn auch abscheiden konnen, wie namentlich Alkalipolysulfide und
alle Reagentien, in denen sich solche bilden konnen, die Entstehung
krystallinischen Schwefels befordern. Es handelt sich hierbei urn den
S. 458 angedeuteten Vorgang, dass der amorphe Schwefel in den Lo-
sungsmitteln loslicher ist, als der krystallinische, und dass demnach die
in Bezug auf jenen gesattigter Fliissigkeiten in Bezug auf diesen iiber-
sattigt sind.
Schwieriger zu verstehen ist die auffallend konservierende Wirkung,
weiche schweflige Saure und in minderem Grade Salpetersaure auf den
Schwefel ausUbt. Von dieser Wirkung riihrt es her, dass Schwefelblumen,
die sich in schwefliger Saure bilden, so lauge Zeit nach ihrer Ent-
stehung noch amorphen Schwefel enthalten. Nimmt man die Beobach-
tungen von Brame (S. 455) iiber den Utricularzustand des Schwefels
in solchen Produkten dazu, dann wird man zu der Vermutung gefuhrt»
») C. r. 46, 485. 1858. — C. r. 47, 819 und 910. 1858.
Das chemische Gleichgewicht.
463
das8 irgend eiu fester oder halbfester Stoff, dor nicht Schwefel ist, sich
an der Oberflache der amorpben Tropfchen bildet und den Inhalt gegen
ErjstallisatioD schiitzt, aucfa wenn krystallinischer Schwefel in (schein-
barer) Beriibrung mit den Tropfchen vorhanden ist.
HierzQ kommt schliesslich der S. 454 erwahnte Einfluss fremder
Beifflischnngen auf die Erystallisationsgeschwindigkeit. Halt man alle
djese Umstande zusammen, so wird man wohl imstande sein, die Mehr-
zahl der beobachteten Erscheinungen zu deaten und den Weg durcb
ihre Mannigfaltigkeit zu finden. Wie in zahlreichen anderen Fallen ist
ancb hier das Problem reif fiir die Bearbeitung von den inzwischen
gewonnenen allgemeinen Anschauungen aus und verspricht reiche Friichte.
200
150'
100
120'
150' 200"
Temperatur
Fig. 50.
250
90. Die physikalischen Erscheinungen bei den Umwandlungen
des SchwefelB. Marz^) stellte zuerst einige Versuche fiber die Er-
kaltungsgeschwindigkeit des geschmolzenen Schwefels an, die soviel
zeigten, dass auffallende thermische Vorgange mit den Zustandsander-
OBgen yerkniipft sind; zu bestimmten SchlUssen hat er sie nicht benutzt.
Ahnliche Versuche hat Frankenheim^) angestellt, welcher insbeson-
dere eine bei 260^* auftretende Warmeabsorption bei der Erwarmung
beobachtet hat, die er derBildung einer neuen Schwefelart, Sy, zuschrieb,
da sie mit der Aiiderung in der Zahigkeit sehr nahe zusammenfallt.
') Schweigg. 60, 1. 1830.
«) J. pr. Ch. 16, 7. 1839.
464
II. Chemiache Djn&mik.
Auch Yon Deyille^) sind Abkiiblungs* und Erwarmungsversuclie an-
gestellt worden, deren ErgebDisse einigermassen von den alteren ab-
weichen. Um ein Bild von den Erscheinungen zu geben, insbesondere
den Mangel von Symmetrie beim Auf- nnd Abateigen der Temperatar
zu veranscbaulichen, sind in Fig. 50 die Zeiten far die Anderung um
einen Grad gegen die Temperaturen ausgeaetzt
Despretz^) stellte fest, dasa der Ausdehnungakoeffizient des fliis-
aigen Schwefela sicb ungc\i^ohnlich verbalt, indein er mit ateigender
Temperatur beatandig kleiner wird, wie die nachatehenden Zahlen zeigen.
Aasdehnungskoeffizient zwischen IW und 130^ 0-000622
110^ „ 150 • 0000581
110» „ 200 *> 0000454
110° „ 250 « 0-000428
j»
ft
Genauerea ist in der kurzen Notiz nicht enthalten, insbesondere
keine Bemerkung dariiber, ob die beobachteten Ausdehuungen von der
Zeit und von den vorhergegaiigenen Temperaturen unabhangig sind oder
nicht. Denn es liegt nach der Gesamtheit dieser Erscheinungen aller
Grund zur Annahme vor, dasa hier thermiache Nachwirkungen in
ausgedehntem Masse vorhanden sind. Auf solche hat Frankenheim
(a. a. 0.) bereits hingedeutet.
In einer Arbeit von A. Moitesaier^) iiber die Ausdehnung dea
fliissigen Schwefels kommen derartige Nachwirkungen zur Geltung, wenn
anch dieser Forscher sich mehr bemiiht hat, aie zu vermeiden, ala sie
zu studieren. Er fand den Ausdehnungskoeffizienten wie folgt:
von 110« bis 120° gleich 0000551 von 225^ bis 250« gleich 0-000838
„ 120 «
140 «
0000490
„ 250« „
275 •
0000356
„ 140«
160 «
0-000380
„ 275« „
300°
0-000374
„ 160^
180 «
0-000210
„ 300« „
350°
0-000401
„ 180°
200«
0-000262
„ 350° „
400°
0-000437
„ 200 «
225 *>
0-000820
„ 4000 „
440°
0000469
und zwar unter der stets beobachteten Bedingung, dass vor jedem
Versuch der Schwefel langere Zeit auf 115^ gehalten wurde, um den
bei hoherer Temperatur entstandenen amorphen zum Verschwinden za
bringeu. Die Ausdehnung geht, wie ersichtlich, durch ein um 180*
gelegenes Minimum. Vergleicht man die Zahlen mit denen Yon Dea*
pretz, so findet man grosse Unterschiede, die wahrscheinlich in den er-
wahnten Nachwirkungen ihren Grund haben.
*) J. pr. Ch. 16, 7. 1839. *) Ann. chim. phys. (3) 47, 109. 1856.
•) M6m. Ac. Montpellier 6, 107. 1864, cit. nach J. B. 1866, 27.
Das chemische Gleichgewicht. 465
Solche YOQ der Zeit abhangige Erscheinungeu hat Moitessier auch
in einem Falle beobacbtet. Beim plotzlichen Erhitzen von Schwefel,
der vorher bei 140^ gehalten worden war, auf 171® war das Volum nach
1' 4' r 16'
47.5 49.0 47.8 47.8
Eg war also das Volum nach vier Minutea, wo der Schwefel die Tem-
peratar des Bades eben angenommen hatte, grosser, als nach sieben
Minoten, entsprechend einem in der Zeit verlaufenden, mit Volumver-
minderung behafteten Vorgange, als den wir die Bildung von unlos-
lichem Schwefel ansehen konnen.
t)ber die Warmetonungen bei der Umwandlung der verschiedenen
Schwefelarten ineinander sind fruher (II, 1, 119) die beobachteten
Zahleu mitgeteilt worden, aus denen sich, wie theoretisch zu fordern
war, ergiebt, dass die bei hoherer Temperatur bestandige Form aus der
mederen unter Warmeentwicklung entsteht und umgekehrt.
Fiir die bei der Umwandlung des amorphen Schwefels in oktae-
drischen erfolgende Warmetonung fand Berthelot^) das auffallende Re-
snliat, dass sie gleich Null ist. Und zwar setzt sio sich aus einer
Warmeentwicklung von 2-7 cal fUr das Gramm bei der Umwandlung
des amorphen Schwefels in Beriihrung mit Schwefelwasserstoff, und
einer Warmeabsorption von gleichem Betrage bei der Umwandlung des
hierbei erhaltenen Produktes in oktaedrischen Schwefel zusammen.
Von diesen Zahlen ist die erste unmittelbar bestimmt worden.
Um sich zu iiberzeugen, ob das Produkt der Einwirkung einer alkohol-
haltigen Schwefelwasserstofflosung auf den amorphen Schwefel in der
That oktaedrischer Schwefel ist, bestimmte Berthelot die Losungswarmen;
oktaedrischer Schwefel ergab 12-7 cal unter denselben Umstanden,* unter
denen der umgewandelte 154 cal gab; letzterer hat also eine um 2*7 cal
grossere Losungswarme, und konnte man den amorphen Schwefel un-
mittelbar in Schwefelkohlenstoff losen, so wiirde er gerade dieselbe
Losungswarme geben, wie der krystallisierte.
Die Ursache dieses Verhaltens liegt wahrscheinlich in der sehr
feinen Verteilung des amorphen Schwefels, durch welche eine bedeu-
tende Benetzungswarme entwickelt wird, die bei der Umwandlung be-
stehen bleibt, und die Losungswarme entsprechend vergrossert. Berthelot
batte angenommen, dass der umgewandelte Schwefel kein krystallinischer
sei, und hat ihn als amorphen loslichen Schwefel bezeichnet.
91. Die ErstarrongBgeBohwindigkeit des iiberkalteten Schwefels.
Wird eine Schmelze in einer Rohre iiberkaltet und dann an einem
') Ann. chim. phys. 462. 1872.
Ostwftld, Chemie. 11,2. 2.Aafl. 30
466 II* GhemiBche Dynamik.
Ende zur Erystallisation gebracht, so schreitet das Festwerden mit einer
konstanten Geschwindigkeit vor, welche von der Natur des Stoffes und
dem Betrage der Uberkaltung abbangt (S. 283). Fremde, aufgeloste
Stoffe haben im allgemeinen die Wirkung, dass sie die Erstamiiigs-
geschwindigkeit verkleinem (Moore, S. 284).
Wafarend Gemez, der erete Erforscher dieser Erscheinungen, beim
Phosphor auf die einfachen, bben geschilderten Verhaltnisse traf, er-
wiesen sich die Verhaltnisse beim Schwefel als viel verwickelter^). Hier
hangt die Geschwindigkeit nicht nur von der Cberkaltung ab, sonderu
auch von der Temperatur T, bei welcher der Schwefel geschmolzen
wurde, von der Dauor d- dieser Temperatur, von der Dauer ^' der
t)berkaltung und schliesslich noch von der Modifikation des festen
Schwefels, welche man (durch Beriihrung mit einem entsprechenden
Erystall) entstehen lasst. Gleichzeitig findet man, dass beim wieder-
holten Schmelzen einer gegebenen Schwefelprobe sich die Geschwindig-
keit unter sonst gleichen Yerhaltnissen andert; es ist dies ein Zeichen
daflir, dass die durch die genannten Umstande verursachten Andemngen
im Zustande des geschmolzenen Schwefels nicht beim Erkalten v^-
schwinden, sondem wahrend einer gewissen Zeit bestehen bleiben. Die
Nachwirkungserscheinungen, welche mit den anderen Beobach-
tungsmitteln nur gelegentlich und wenig deutlich in die Erscheinong
getreten waren, spielen hier eine wesentliche Rolle, und das Verfahren
der Erstarruiigsgeschwindigkeit bringt sie iiberall zu Tage.
So ergab sich fur die Erhitzungstemperatur T = 129*5^, die Er-
hitzuugsdauer ^ = b Minuten, die Abkiihlungsdauer ^'c= 15 Minoten
folgende Beziehung zwischen der Uberkaltung und der Geschwindigkeit
des Erstarrens zu monoklinem Schwefel:
Temperatur
Uberkaltang
far 10 mm
[}e8chwindigk
80-9 «
391°
0-20"
5-00 cm
83-2
36-8
023
4-35
93-4
266
0-29
3-45
95.7
24-3
036
2-78
99*8
202
0-47
213
100-4
19-6
0-50
•
2-00
1047
15-3
0-77
1-30
1054
14-6
1-04
0-962
1061
139
119
0-840
107-6
124
2-14
0-467
108-9
11-1
291
0-344
110-9
91
3-84
0-260
») C. r. 97, 1298. 1883.
Das chemische Oleichgewicht. 467
Der benutzte Schwefel war aus Schwefelkohlenstoff krystallisiert,
gepahert nnd bei 95^ getrocknet. Fiir den Scfamelzpunkt des Schwefels
(der sich nicht angegeben findet) ist 120^ genommen.
Wurde die Erhitzungsdaaer ^ geandert, so ergab sich:
T
129.50
5'
15
t
100.5*
ErstarraDgsdauer
fflr 1 cm
055
Geschwin
digkeit
1-82
>»
35
»»
1005
4-66
•
0215
>»
5
»
1003
050
2^
»
60
»
1008
5-79
0-173
Wenn also die Schmelzdauer des Schwefels vergrossert wird, nimmt
nnter sonst gleichen Verhaltnissen die Erstarrungsdauer bis liber das
Zehnfache zu, oder die Erstarrungsgeschwindigkeit in gleichem Ver-
haltnisse ab.
Umgekehrt nimmt die Erstarrungsdauer ab, wenn nach dem Er-
hitzen der Schwefel langere Zeit im iiberkalteten Zustande aufbewahrt
wird. Fiir geringe t}berbitzungen ist die Wirkung unbetracfatlich; war
aber die Temperatur fiber 170^ gesteigert worden, so ist sie betracht-
lich. So wurde fur T = 219«, ^ = 6', t=101^ nach 15 Minuten die
Erstarrungsdauer fur 1 cm gleich 23*04" gefunden, nach 195' zu 9-12",
nach 285' zu 7-70''; dariiber hinaus blieb sie annahernd konstant.
Was die Erklarung dieser Erscheinungen aniangt, so ist die oben
erwahnte Eigentiimlichkeit, dass fremde Stoffe die Erstarrungsdauer
▼ergrossem, heranzuziehen. Es wurde schon an yerschiedenen Stellen
hervorgehoben, dass der amorphe Schwefel dem krystallinischen gegen-
uber sich wie ein fremder Stoff verhalt. Die oben gegebene Tabelle
zeigt, dass mit der Dauer des Erhitzens sich die Menge dieses ver-
zogernden Stoffes vermehrt; hieraus ist zu schliessen, dass bei der Ver-
sachstemperatur 129*5^ die Bildung des amorphen Schwefels ein lang-
sam Terlaufender Vorgang ist, so dass um so mehr davon vorhanden
ist, je langer die Erhitzung gedauert hat.
Dmgekehrt erfolgt bei der niederen Temperatur von lOP eine
gleichfalls nur langsam verlaufende Riickbildung des amorphen Schwefels
in krystallinischen und eine entsprechende Zunahme der Erstarrungs-
geschwindigkeit, wie sie die letzte Versuchsreihe lehrt.
Wird die Erhitzungstemperatur T bei sonst gleichbleibenden Ver-
hSltnisaen gesteigert, so nimmt die Erstarrungsdauer erst langsam,
dann in der Nahe von 173^ schnell zu, geht durch ein Maximum und
wird dann wieder kleiner. Fiir ^ = 5', ^'=15', t= 100-3^. wurden
folgende Werte beobachtet:
30*
468 II* Chemische Dynamik.
T
Daaer
T
Daaer
1295°
0-50"
181.0«
21-65"
1390
0-59
189-0
2141
1425
0-70
2040
2166
154-5
1-93
2190
21-43
1605
5-70
243-0
1941
164-5
10-61
2740
18-07
1675
18-08
3500
17-00
1735
25-59
4400
16-06
1770
24-98
Da mit steigender Temperatur die Menge des amorphen Schwefels
zunimmt und zwischen 170^ and 180^ ihren Maximalwort erreicht
(S. 460), so ist der erete Teil dieser Beobachtungen leicht verstandlich.
Schwieriger zu deuten ist die Beobachtung, dass durch noch starkere
Erfaitzung die Erstarrungsdauer wieder abnimmt, um iiber ein weites
Gebiet, 240® bis 270^ nur ganz wenig kleiner zu werden. Man wiirde
eher erwartet haben, dass etwa von 180® ab das erreicbte Maximum
der Erstarrungsdauer, dem Maximum an unloslichem Schwefel ent-
sprechend, konstant bleiben wiirde.
Zur Erklarung der thatsachlichen Verhaltnisse bieten sicb mehrere
Vermutungen dar, zwischen deneii die vorliegenden Versuche noch
nicht entscheiden, die sich aber experimentell priifen lassen. £s kann
zunachst bei hoherer Temperatur ein anderer amorpher Schwefel ge-
bildet werden, dessen verzogernde Wirkung geringer ist, als die des bei
niederer Temperatur gebildeten. Oder der amorphe Schwefel ist nur in
begrenztem Masse im geschmolzenen loslich. Dann wird bei steigender
Temperatur eine immer grossere Menge von amorphem Schwefel ge-
bildet werden, welche schliesslich mehr betragt, als der Sattignng eni-
spricht. Dieser Uberschuss bleibt anfangs noch gelost, indem eine
Ubersattigung eintritt; wird diese aber grosser, so wird das metastabile
Gebiet uberschritten, und ein Teil des amorphen Schwefels scheidet
sich aus, bis der Sattigungszustand erreicht ist. Hierdurch ist der Ge»
halt kleiner geworden, als er friiher war, und demgemass nimmt auch
die Erstarrungsdauer wieder ab. t)ber diese Erscheinung lagert sich
noch der ausgleichende Einfluss aller Zwischentemperaturen bis zum
t)berkaltungspunkte. — Diese zweite Vermutung erscheint mir wahr-
scheinlicher, und gestattet jedenfalls nach verschiedenen Richtangen
eine Priifung durch den Versuch.
Die vorstehenden Versuche bezogen sich auf einmal geschmolseneo
Schwefel; wird der Versuch mit derselben Rohre wiederholt ^), so nimmt
*) C. r. »7, 1366. 1883.
Das chemische Gleichgewicht.
469
die ErstarruDgsdauer za und erreicbt nach funf bis acht Wiederholungen
einen weiterhin konstanten Endwert. Lasst man einige 2ieit verstreichen,
80 erlangt man wieder kiirzere Dauern, und nach drei Tagen Ruho er-
halt man einen weiterhin unveranderlichen Zustand von konstanter
Erstamingsdauer. So war fur T = 129.5», ^ = 5'. t= 100-3 «, ^'=15'
bei frischem Schwefel die Dauer gleich 046" anf 1 cm gefunden wor-
den. Die dritte and die folgenden Schmelzungen gaben 0*62, 1*52, 1*849
2-66, 4-43, 5-88''. Nach der achten Schmelzung wurde also eine fast
13mal grossere Dauer gefunden. Nach 24 Stunden gab eine Rohre, die
frisch 0-67" bis 7»66" in sieben Schmelzungen gegeben hatte, 4-23" bei
der ersten Schmelzung, und nach fiinf weiteren 7*24''. Nach langer
Rahe gab die erste Schmelzung 1*20", die vierte 5*58''; drei Tage
spater 1-22" und 5-58"; sechs Tage spater 1-20" und 4-83"; elf Tage
8pater 1-33" und 548". Der veranderte Schwefel geht in seinen An-
fangszustand zuriick; doch scheint er nach den Zahlen von Gemez nicht
mehr die Geschwindigkeit des frischen, erstmalig geschmolzenen Schwefels
zu erreichen.
Auch dies ist leicht yerstandlich. Bei 129*5^ ist die Bildung des
amorphen Schwefels eine sehr langsam verlaufende Reaktion, und das
Gleichgewicht, welches dem Maximum der Erstarrungszeit entspricht,
wird erst nach langerer Zeit, bez. wiederholtem Schmelzen erreicbt
Der t)berkaltungstemperatur von rund 100^ entspricht ein geringer
Gehalt an amorphem Schwefel » der sich auch nur iiberaus langsam
einstellt, aber doch grosser ist, als der des eben geschmolzenen frischen
Schwefels.
Ganz ahnliche Erscheinungen beobachtet man, wenn man den ge-
schmolzenen Schwefel nicht zu monoklinem, sondern zu rhombischem
erstarren lasst. Die Dauer ist dann viel grosser. Fiir T = 129-5®,
1^ = 5', ^'=15' und veranderliche Uberkaltung auf t® ergab sich:
t
Erstamingsdauer
t
ErstarruDgsdauer
80.9»
7-50"
106-4°
186"
90-5
13-20
1087
720
934
2100
109.1
1320
973
3875
110-2
5220
100-0
64
1119
13200
104-7
132
Die Eurve zeigt einen ahnlichen Verlauf, wie beim monoklinen
Schwefel, nur sind die Unterschiede viel grosser. Ebenso ist der Ein-
fluss einer Veranderung der Erhitzungstemperatur viel ausgepragter.
So ergab sich fur * = 5', t= 100-7 ^ ^'=15':
470
T
Dauer
T
Daaer
1296 *>
71"
173«
5495"
1390
150
188
16440
142-5
193
221
7080
1565
696
254
3000
1630
1427
350
1775
1690
4671
440
945
Auch hier ist ein Maximum der Dauer in der Nahe von 188^.
Lasst man^) den Schwefel wiederholt schmelzen und in oktae-
drischer Form erstarren, so erreicht ei* sebr bald einen unveranderlichen
Zustand, in welchem die Erstarrungsdauer etwa doppelt so gross ist,
als beim friscben. Lasst man inzwiscben einmal die monokline Form
entstehen, so wird die Dauer nacb der nachsten Scbmelzung sofort
etwa dreimal grosser, und es bedarf einiger Scbmelzungen und Erstar-
rungen in oktaedriscber Form, um die gewobnliche Geschwindigkeit za
erreicben. Hat der Schwefel diesen Zustand einmal erreicbt, so ksum
man ibn langere Zeit auf bewabren, obne dass er eine Anderung erleidet
Diese Erscbeinungen baben ibren Grund in dem Umstande, dass
der oktaedriscbe Scbwefel den amorpben in viel geringerer Menge neben
sicb duldet, bez. ibn scbneller umwandelt, als der monokline, der
regelmassig mit einer Scbicbt des amorpben iiberzogen zu sein scbeint
(S. 455).
Bei scbwacbem Reiben der Glaswande in einer Robre mil iiber*
kaltetem Scbwefel entstebt eine dritte Form') des Scbwefels, weldie
sicb in Gestalt langer,, perlmutterglanzender Krystalle darstellt. Die
Wachstumsgescbwindigkeit liegt in der Mitte zwiscben denen der be-
kannten Scbwefelarten und ist im iibrigen von ganz denselben Um-
standen abbangig, wie in den anderen Fallen. Am leicbtesten entsteben
diese Krystalle*) in Schwefel, der tiber 170*^ erbitzt war.
Lasst man solcbe Krystalle in einer Robre wacbsen, so fiillen sie
diese nicbt aus, sondern senden lange Auslaufer durcb eine zum grossten
Teil fliissig bleibende Mutterlauge. Wird nun in dieser teilweise er-
starrten Masse die Bildung von prismatiscbem Scbwefel bervorgerufen,
so gebt diese in dem Anteile, der den perlmutterartigen Scbwefel ent-
halt, sebr viel langsamer Tor sicb, als in der unveranderten Fliissigkeit.
Zur Erklarung nimmt Gernez an, dass der perlmutterartige Schwefel
die feste Form der Scbwefelmodibkation ist, die sicb in der Hitxe
') Gernez, C. r. 97, 1433. 1883.
«) Gernez, C. r. 98, 1477. 1883.
'') Gernez, C. r. 94, 144. 1884.
Das chemiBche Gleichgewicht. 471
bildet; krystallisiert diese aus, so muss sich der Rest wie nioht iiber-
bitzter Schwefel verhaJten und eine schnelle Krystallisation zeigen.
Mir scheint uiugekehrt der perlmutterartige Schwefel wie jede andere
krjstalliDische Form nur aus dem nicht umgewandelten Telle der Fliis*
sigkeit entstehen zu konnen. Dass die Erstarrung in ihm schneller fort-
schreitet, als in der Fliissigkeit, ist einer Erklarung so lange nicht be-
diirftig and auch nicht fahig, als man iiber die Abhangigkeit der Er-
starrungs- oder Umwandlungsgeschwindigkeit von der Natur des Stoffes
QJchts weiss.
Auch iiber die Geschwindigkeit, mit welcher sich der rhombische
Schwefel oberhalb der Umwandlungstemperatur in monoklinen yerwan-
ddt, hat Gemez*) Versuche angestellt, aus denen sich ahnliche Ver-
haltnisse ergeben, wie beim Erstarren. Insbesondere nimmt die Ge-
schwindigkeit mit der Entfemung von der Ubergangstemperatnr zu.
Obrigens fand sich die Ubergangstemperatur selbst von der Entstehungs-
geschichte des rhombischen Schwefels abhangig; sie lag um so nied-
riger, je niedriger die Temperatur des fliissigen Schwefels und die
fiiidangstemperatur der oktaedrischen Krystalle gewesen war. Der nied-
rigste beobachtete Wert war^ zwischen 97*2^ und 97*6^ der hochste
ivischen 97-8^ und 984^ und Gernez schatzt den Unterschied auf 0-8^
Fiir die Umwandlungszeit sind folgende Werte beobachtet worden:
Temp. Zeit far 1 cm Temp. Zeit for 1 cm
1009 • 640" 108-9 • 30"
106-6 106 1100 25
106-5 91 111-2 17-6
107-8 54-5
Ausserdom ist die Zeit von der Bildungstemperatur des rhom-
bischen Schwefels abhangig; sie ist um so kleiner, je niedriger diese
war. Ebenso hat die Temperatur, die der fliissige Schwefel gehabt hat,
^en Einfluss. Die einmalige Entstehung von monokUnem Schwefel aus
flussigem vermindert die Geschwindigkeit der nachsten Ausscheidung
rhombischen Schwefels; die so entstandene Masse wandelt sich auch
hmgsamer in monoklinen Schwefel um, und der Unterschied verschwindet
^rst, nachdem man einige Male nur rhombischen Schwefel hat entstehen
laasen.' Anch diese Erscheinungen lassen sich auf dorselben Grundlage
erklaren, wie die friiher mitgeteilten.
Die umgekehrte Erscheinung, die Umwandluug des monoklinen
Schwefels in rhombischen, findet, wie wohlbekannt, leicht statt. Die-
*) C. r. »8, 915. 1884.
472 U* Chemische Dynamik.
selben Eigentiimlichkeiten, wie bei den anderen Umwandlungeny lassen
sich auch bier beobacbten. Es entstehen aus iiberkaltetem fliissigem
Schwefel bei Temperaturen unter 97^ auch monokline Krystalle, wenn
man solche einsat (obwohl sie hier unbestandig sind), und diese van-
deln sich bei der Beriihrung mit einem oktaedrischen Krystall in
solche um.
Was die Geschwindigkeit in der Abhangigkeit von der Temperatur
anlangt^)^ so nimmt sie zunachst mit der Grosse der t)berkaltung zn,
geht aber dann zwischen 44^ und 55^ durch ein Maximum und nimmt
dann wieder ab, um bei — 23^ etwa 40mal kleiuer zu werden, wie
bei 550.
Femer hangt die Geschwindigkeit von der Temperatur ab, bei
welcber die monokline Form sich gebildet hat; die Umwandlung ver-
lauft um so geschwinder, je niedriger die Erstarrungstemperatur ge-
. wesen war. Femer wird die monokline Form beim Aufbewahren bei
konstanter Temperatur umwandelbarer, d. h. die Geschwindigkeit nimmt
mit der Zeit zu, wahrend welcher sie im metastabilen Zustande existiert
hatte. Die hochste Temperatur, welcher der flussige Schwefel ausgesetzt
war, hat gleichfalls einen grossen Einfluss; starker erhitzt gewesener
Schwefel wandelt sich langsamer um. In gleiohem Sinne wirkt eine
langere Dauer jener hochsten Temperatur. Endlich erfolgt auch unter
sonst gleichen Umstanden eine langsamere Umwandlung, wenn dieselbe
Schwefelprobe wiederholten Schmelzungen unterzogen wird. AUe dieee
Erscheinungen fiigen sich ohne Zwang der oben gegebenen Theorie.
In neuester Zeit ist von Duhem') eine Theorie dieser Erschei-
nungen entwickelt worden, in welcher von anderen Grundbegri£Pen
Gebraucb gemacht und insbesondere die Reaktionsgeschwindigkeit der
Bildung und Ruckbildung des amorphen Schwefels nicht wie hier als
Grundphanomen behandelt ist. Da diese Theorie nur im Zusammen-
hange mit den allgemeinen Anschauungen dieses Forschers verstajuden
werden kann, so muss ich mich hier damit begniigen, auf sie bin-
zuweisen ').
Auch die hier mitgeteilten Versuche fordern vielfaltig zur Erwei-
terung und Vertiefung auf.
92. Per Schwefel als Beiapiel fOr das Gtosets der Umwandlonss-
Btufen. In den yorangegangeneii Mitteilungen sind zahlreiche Beispiele
fiir das Gesetz (S. 444) vorhanden, uach welchem yon alien aii^lichen
^) Gernez, Compt. rend. 100, 1382. 1885.
•) Ztschr. f. ph. Ch. 23, 193. 1897.
•) Ztschr. f. ph. Ch. 22, 545 und 28, .497. 1897.
Das chemische Oleichgewicht. 473
Formen eines Gebildes die unbestandigsten onter den moglichen zu-
nachst anftreten; in der That Bind fliissige Tropfchen die Foim, welche
der Schwefel regelmassig bildet, wenn er aus der Dampfgestalt^ und
fast immer, wenn er aus einer Losung sich abscheidet, und ebenso ist
die bei gewohnlicher Temperatur unbestandige monokline Form die,
in weleher der Schwefel auftritt, wenn er freiwillig in die krystallinische
Form ubergeht
Ausser den bereits frtiher in anderem Zusammenhange mitgeteilten
Fallen sind noch mehrere andere beobachtet worden. So hat Pasteur^)
mitgeteilt, dass er beim Krystallisieren des Schwefels aus Schwefel-
lohlenstoff bei gewohnlicher Temperatur, wo meist nur die rhombische
Form erhalten wird, einmal monokline Krystalle beobachtet habe, die
durch Verdunstenlassen bei gewohnlicher Temperatur entstanden waren.
Die Krystalle waren anfangs durcbsichtig, sind aber bald undurchsichtig,
gelb und zerbrechlich geworden^ hatten also die gewohnliche Umwand-
Iimg erfahren. Die monoklinen Krystalle fanden sich an einer Druse,
die daneben die gewohnlichen rhombischen enthielt.
Um diese Erscheinung wieder hervorzubringen, von der Pasteur
bemerkt, dass er sie trotz wiederholter Versuche nur einmal beobachtet
lutbe, hat man folgendes zu beachten. Da der monokline Schwefel bei
niedriger Temperatur unbestandig ist, so muss er in Schwefelkohlen-
stoff, ?rie in alien anderen Losungsmitteln bei solchen Temperaturen
leichter loslich sein, wobei aber seine iibersattigte Losung eher in den
labilen Znstand gelangen wird, als die des rhombischen. Wenn man
Also unter Umstanden, die eine Infektion mit rhombischen Krystallen
ausschliesst, die Losungen gradweise iibersattigt, entweder durch Ab-
kuhlen, oder durch Verdampfen, so hat man die erforderlichen Be-
dingungen hergestellt und darf erwarten, dass zuerst monokline Krystalle
freiwillig auftreten. ' Nahezu sicher darf man auf sie rechnen, wenn
man frische monokline Krystalle in die iibersattigte Losuug eintragt.
Ferner giebt Deville*) an, dass der rote weiche Schwefel (wahr-
icbeinlich der durch plotzliches Abkiihlen stark erhitzten Schwefels
erhaltene) nach dem nochmaligen Schmelzen unter Beibehaltung seiner
roten Farbe unter alien Umstanden nur monokline Krystalle giebt, bei
velcher Temperatur man ihn auch krystallisieren lassen mag. Die
Krystalle erweisen sich unter dem Mikroskop als voUig durchsichtig,
▼erwandeln sich aber wie gewohnlich schnell in undurchsichtige zer-
brechliche Pseudomorphosen aus rhombischem Schwefel.
>) Compt. rend. 2^ 48. 1848. *) Compt. rend. 26, 117 1848.
474 n. Chemische Dynamik.
Lost man die Prismen in Schwefelkohlenstoff aaf» so giebt die
Losung beim freiwilligen Verdampfen rhombische und monokline Kry-
stalle nebeneinander; die letzteren werden schnoU unter Umwandlang
undurcbsichtig.
Deville hebt herror, dass er niemals monokline Krystalle aus L5-
sungen erhalten babe, die aus rhombiscben Krystallen bergestellt worden
waren und meint, dass der amorphe Schwefel, der sich beim Schmelzen
bildet, eine wesentlicbe Bedingung dafiir ist, dass bei Zimmertemperatur
die monoklinen Prismen entstehen konnen. Auch spricht er die t)ber-
zeugung aus, dass nicht, wie Pasteur gemeint babe, sich aus identischen
Losungen je nach Umstanden die eine oder die andere Form absetzen
konnte, sondern glaubt an eine bereits in der Losung yorbandene Ver-
scbiedeuheit. Eine solcbe Annabme ist wohl sicher irrig.
Spater giebt Deville^) an, dass aus gesattigten Losungen von
Schwefel in Benzol bis zu 22^ hinab sich viele Prismen ausscheideo,
die sich bald in Oktaeder yerwandeln. Unterhalb dieser Temperator
fande aber nur die Bildung yon Oktaedem statt.
Payen^) fand> dass fast alle Losnngsmittel (Theerkohlenwasser-
stoffe, Benzol, Terpentinol, Steinol, absoluter Alkohol), die Schwefel in
der Hitze reichlicher als in dor Ealte auflosen, ihn in Gestalt von
Prismen (also in der monoklinen Form) abscheiden. Oktaeder pflegeo
sich erst nach langerer Zeit einzustellen. Dagegen konnte Deyille')
aus Schwefelkohlenstoff nur Oktaeder erhalten; waren aber Verunrei-
nigungen zugegen, so entstanden in der zahen Mutterlauge auch Pris*
men, die sich spater in undurchsichtige Pseudomorphosen aus okU*
edrischem Schwefel yerwandelten. Doch waren diese Erscheinung^n nicht
regelmassig und von Umstanden abbaugig, die Deyille nicht zu er*
mitteln vermochte. Aus Benzol, Alkohol und anderen Losungsmitteln
konnten, namentlich wenn die Losungen yerdiinnt waren, auch bei nied-
rigeren Temperaturen Prismen beobachtet werden; unterhalb 22*
erschienen dagegen nur Oktaeder.
Endlich teilt Debray^) mit, dass man auch aus Schwefelkohlenstoff
mit Sicherheit monoklinen Schwefel bei niedriger Temperatur erhait,
wenn man Schwefel mit seinem halben Gewicht Schwefelkohlenstoff in
ein starkes Glasrohr bringt, dieses nach dem Austreiben der Loft zu*
schmilzt, auf 80^ erwarmt und dann unter einem Wasserstrahl abkuUt
Es erscheinen nach einiger Zeit, namentlich beim Umschutteln» pris-
') Gompt rend. 34, 661. 1852. *) Compt rend. 84, 506. 1853.
''] Ann. chim. phys. (8) 47, 101. 1856. «) Ck>mpt. rend, if, 576. 1858.
Daa chemiflche Gleichgewicht. 475
matische Krystalle, die sich langsam yermehren; spater treten unter
Erwarmung oktaedrische Krystalle in grosser Menge auf, wodurch auch
die prismatischen umgewandelt werden.
93. Die weiteren FUle dee invarlanten Qleiohgewlohts. Ausser
den beiden vorstehend behandelten Fallen, dass neben Dampf ein fester
and ein fliissiger, bez. zwei feste Eorper vorhanden sind, hat man wei*
tere bisber nicbt beobachtet. Da der Fall zweier nicht mischbarer
hylotroper Flussigkeiten nicht bekannt ist^), so kann natiirlich auch yon
dem Hinzutreten einer Dampfphase zn einem solchen Gleichgewicht
nicht die Rede sein. Das Verhalten eines solchen Gebildes, das doch
wohl liber knrz oder lang beobachtet werden wird, lasst sich leicht
yoraussehen: es wird dem der beiden eben beschriebenen Falle ganz
ahnlich sein. Das heisst, es wird eine einzige Temperatnr bestehen,
bei welcher beide fliissige Phasen gleichen Dampfdruck besitzen und
daher nebeneinander mit Dampf im Gleichgewicht sein konnen.
Auch die yier weiteren moglichen Falle des inyarianten Gleich-
gewichtSy bei denen eine Dampfphase nicht yorkommt, haben sich bis-
her der Beobachtung nicht dargeboten. Von ihnen konnen wir die
beiden mit je zwei fliissigen Phasen aus dem eben erwahnten Grande
alsbald ausschliessen; die beiden anderen, drei feste Phasen and zwei
feste mit einer fliissigen, dfirften dagegen mit einiger Miihe sich wohl
herstellen lassen.
Nehmen wir zunachst den Fall zweier fester Phasen e^ und e, mit
einer fliissigen w. Das Gleichgewicht e^w stellt einen Schmelzpankt
dar, ebenso das Gleichgewicht e^w, und beide finden bei yerschiedenen
Temperaturen statt (ygl. z. B. S. 399). Nun ist der Einfluss des Druckes
auf beide Schmelzpunkte im allgemeinen yerschieden, wie aus der Glei-
chung -J — = -^ — heryorgeht, und es giebt immer einen Sinn der
dp L
Drnckanderuug, durch welchen beide Schmelzpunkte einander genahert
werden
Bildet man namlich die Diffierenz /i = —r-^ —^=z~^-^ ^-^,
dp dp L^ L,
wo 1 and 2 die beiden festen Formen bezeichnen, and nennt s den
g
Unterschied der Schmelzpunkte bei Atmospharendruck, so giebt —r-
unter der (nur in grober Annaherung zulassigen) Annahme, dass die
Anderungen geradlinig erfolgen, die Anzahl Druckeinheiten, um welche
man den Druck andern muss, um beide Formen gleichzeitig mit der
^) Man kOnnte vielleicht den Fall des Schmelzpunkts flassiger Krystalle
(S. 892) hierher rechnen.
476 n. Ghemische Dynamik.
Scbmelze im Gleichgewicht za haben oder den dreifachen Punkt
dieses Gebildes za erreichen.
Fiir Scbwefel haben wir, auf ein Mol bezogen, \\ = 15-5, V, = 16-3
bei Zimmertemperatiir; wir nehmen an, dass sich die 2iabl nicht wesent-
lich mit der Temperatnr andert. Die Schmelzwarme des Schwefels ist
unbekannt, doch kann sie Tielleicht als von gleicber Grossenordnnng
mit der Umwandlungswanne des krystallinischen in amorpben Scbwefel
angeseben werden. Fiir rbombischen betragt dies 9-1 K nacb Petersen
(II, 1, 120), fiir monoklinen nacb dem yon Thomson bestimmten Energie-
nnterscbied 2-7 K; endlicb ist T^ = 387'b, Ts = 393. Setzt man dp =
lAtm. = 1033 gem ~~^ in Grayitationseinbeiten, so ist die in K ansge-
driickte Warmetonung mit 4270000 zn mnltiplizieren. Darans folgt
4- = 01595 und 4^ = 01815, 4 = — 00220, und da s = 5.5» ist,
dp dp
g
-y = — 250 Atm. Hiemacb warden bei einem negativen Drucke von
250 Atm. rbombiscber, monokliner and fliissiger Scbwefel im Gleich-
gewicbte sein.
Diese Rechnang ist nar ausgefiibrt worden, um den Gang einer
solcben zu zeigen, and ibre Ergebnisse konnen sich, wenn eine der
gemacbten Angaben (insbesondere die uber die Schmelzwarme, welcbe
am bedenklicbsten ist) sich als anzatreffend erweist, nicht nor der Grosse,
sondem moglicberweise auch dem Zeichen nacb anders aasfiaUen.
Der andere denkbare Fall mit drei festen Phasen konnte viel-
leicbt am Ammoniamnitrat yerwirklicbt werden. Fiir seine Moglichkeit
and die Richtang, nacb welcher sie za sucben ist, gelten ganz dieselben
Betrachtangen, wie fiir den vorigen Fall.
Stflfife
v^'^solcbe
Drittes Eapitel.
Chemische Oleichgewichte zweiter Ordnung.
1. Bestandteile. Als chemisches Gleichgewicht zweiter Orduong
war ein solehes definiert worden, bei dessen Zustandekommen zwei
St0B oder Bestandteile sich bethatigen. Wiewohl dem Chemiker eine
solche Definition verstandlich and voUstandig zu erscheinen pfiegt, ge-
rat man in einige Schwierigkeiten, wenn man diese Ausdrlicke in all-
gemeingiiltiger Weise erklaren soil. Denn unter dem Kapitel des
Gleichgewicbts erster Ordnung sind keineswegs nur elementare Stoffe
behandcit worden, sondern auch zusammengesetzte, wie Stickstoffhyper-
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 477
oxyd und Formylphonylessigester. Priifen wir genauBr, welcher Urn-
stand UD8 veranlasste, tod der ,,zu8ainmengesetzten'* Beachaffenheit
solcher Stoffe abzusehen und sie als einfacbe zu behandeln, so scheint
die Autwort am nachsten zu liegen, dass diese Stoffe bei den betrach-
teten Umwandlungen eben nicht in andere Bestandteile zerfielen. Ooch
worde eine solcbe Bestimmung nicht wolil auf den Fall des Stickstoff-
bjperozyds, oder iiberhaupt den Fall der Umkehr polymerer Umwand-
longen passen, wo docb gerade ein ,^erfall'' angenommen wird.
Bei eindringender Betrachtung bleibt schliesslich nur eine empi-
rische Bestimmung ubrig: ein Gleichgewicht erster Ordnung ist dadurch
gekenozeichnet, dass alle verschiedenen Phasen, die sich bilden und
miteinander im Gleichgewicht stehen konnen, die gleiche elementare
Znsammensetzung haben. Hierbei ist rein empirisch unter gleicher
elementarer Zusammensetzung nur die Thatsache zu verstehen, dass b^i
iigend welchen analogen chemischen Umwandlungen, bei welchen gleiche
Endprodukte entstehen (z. B. bei vollstandiger Verbrennung), diese
Endprodukte in gleicher Ait und gleichen Mengenverhaltuissen auftreten.
Und zwar geniigt es, wenn nur eine analoge chemische Umwand-
Inng solcher Art bekannt ist. So wiirde die Thatsache, dass 12 g
Diamant zu 44 g Kohlendioxyd verbrennen, ausreichend^ sein, um diesen
Stoff fur chemisch gleich zusammengesetzt mit Kohle zu erklaren, auch
wenn keine andere Umwandlung des Diamants bekannt ware.
Andererseits ergiebt sich auf gleichem Wege die Kennzeichnung
eines Stoffes als chemisches Element. Wir werden diesen Namen einem
aolchen Stoff geben, der ohne Zutreten anderer Stoffe niemals Phasen
v(Mi verschiedener Zusammensetzung bilden kann. Und die Bedingung,
dass kein anderer Stoff hinzutreten soil, werden wir als erfiillt erachten,
Venn bei den fraglichen Vorgangen die Masse und somit das Gewicht
dee Stoffes unverandert bleibt^).
2. Mehrere Bestandteile. Im Falle mehrerer Bestandteile ist diese
Gleichheit der chemischen Zusammensetzung der yerschiedenen Phasen
nicht Torhanden, und die Thatsache solcher Verschiedenheiten dient
inis dazQ, das Vorhandensein und die Auzahl verschiedener Bestand-
teile zu erkennen und zu definieren. Wenn wir bei der chemischen
Dmwandlung zweier im Gleichgewicht befindlicher Phasen aus beidea
TMchiedene Produkte erhalteu, so werden wir jedenfalls schliessen,
daes mehrere Bestandteile Torhanden sind. Die Anzahl der Bestandteile
») Vgl. F. Wald, Zeitachr. f. phys. Chem. 19, 607. 1896; 22, 253. 1897; 28,
78. 1897; 2&, 315 and 633. 1897.
V
478 II* Chemische Dynamik.
ergiebt sich aus folgender Regel: Man stelle eine Anzahl im Gleich-
gewicht befindlicher Pbasen ber: kann man dann eine von ihnen, der
Zusammensetznng nach, aus passend gewahlten Mengen zweier anderer
Phasen so berstellen, dass die Elementaranalyse des Pbasengemisches
dieeelbe Zusammensetzung ergiebt, wie die der anderen Pbase, so sind
zwei Bestandteile Torbanden. Geboren drei Pbasen dazu, mn die Zo-
sammensetzong einer vierten, koezistenten darzastellen, so liegen drei
Bestandteile vor, u. s. w.
Wenden wir diese Definition riickwarts auf den oben erorterten
Fall des einzigen Bestandteils an, so finden wir sie erfiiilt Wir mossen
yerlangen, dass eine Phase gentigt, um die Zusammensetzung jedei
koezistenten Pbase zu kennzeichnen, und dies ist in der That auf die
einzig mogliche Weise, durch die chemiscb gleicbe Zusammensetzung
aller Phasen^ gesicbert.
Durch diese Definition ersparen wir uns alle Unsicberbeit iiber die
Zahl der „B^tandteile^ eines Gebildes, und erkennen gleicbzeitig, dasB
es von der Bescbaffenbeit* der auftretenden Pbasen abbangt, wie?iel
Bestandteile wir annehmen miissen. Daraus ergiebt sich unter anderem,
dass, wenn beliebig zusammengesetzte Stoffe unter irgend welcben Um-
standen nur solche Phasen bilden, welche gleicbe Zusammensetzang
baben, sie durchaus den Oesetzen dss vorigen Kapitels fiir die Gleich-
gewichte erster Ordnung folgen miissen. Wir werden solchen Fallen
vielfacb begegnen.
Andererseits ergiebt sich aus der Moglichkeit, aus einem Stoff eine
koexistente Pbase anderer Zusammensetzung herzustellen, die ThatsadM
seiner zusammengesetzten Natur. Die „Zerlegung^ der natiirlicben nod
kiinstlichen Stoffe beruht auf der Auffindung solcber Phasen abweichenr
der Zusammensetzung, und in solcbem Sinne ist der Begriff eines che*
miscben Elements als eines Stoffcs gegeben, aus dem auf keine Weiat
koexistente Pbasen von verscbiedener Zusammensetzung erbalten werden
konnen.
Um demnach in einem gegebenen Falle die Bestandteile in einea
Gebilde anzugeben, bat man zu ermitteln, welche Pbasen es onter del
betrachteten Umstanden bilden kann, und damach die kleinstmoglicb
Zahl der Stoffe festzustellen, durch deren Addition sich alle Pbaaa
zusammensetzen lassen. Die Aufgabe ist in Bezug auf die Zahl aolchi
Bestandteile stets durch das oben gegebene Kriterium bestimmt, nid|
aber in Bezug auf deren Art So kann z. B., wenn es sich um dl
Gleichgewicbt Magnesiumsulfat-Wasser bandelt, als einer der Bestanj
teile MgSO^,. als der andere H'O gewahlt werden. Bleiben wir abl
J
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 479
innerhalb der Grenzen der Bestandigkeit des Monohydrats MgSO^H'O^
80 konnen wir auch dieses als Bestandteil neben Wasser wahlen, und
iDDerbalb der Grenzen des MgSO^-|- 7H'0 kann dieses dienen. Welche
Wahl man trifft, hangt davon ab, was man zmn Ansdruck bringen will.
Soil es sich ausdriicklich um Gleichgewichte handeln» bet denen als
fester Eorper nur JlgSO^-|- 7H^0 in Frage kommt, und kein anderes
Hjdrat, so wird man MgSO^ -J" 7H'0 and H'O als Bestandteile wahlen;
handelt es sich umgekchrt um Vorgauge, bei denen alle moglichen
Hydrate, bezw. auch das Anhydrid auftreten konnen, so wahlt man
MgSO* und H«0.
Man wird bei der Bestimmung der Bestandteile mit einem Worte
die Analyse so weit treiben, dass man jede Phase als Summe ^) der an-
genommeneu Bestandteile darstellen kann, aber nicht weiter. Halt
nan diese Regel fest, so ist im Falle eines Gebildes aus zwei Bestand-
teilen die Wahl eindeutig. Die Verhaltnisse dreier und mehrerer Be*
standteile werden spater erortert werden.
Es ist wesentUch, zu bemerken, dass bei den vorstehenden Er*
orterungen von atomistischen Vorstellungen gar kein Gebrauch gemacht
worden ist. In der That uberzeugt man sich bald, dass eine scharfe
Begriffisbestimmung auf diesem Boden nicht ausfuhrbar ware, und ein
grosser Teil der Schwierigkeiten, welche andere Autoren bei der Be-
handlnng dieser Fragen empfunden haben, riihrt nicht yon der Sache
her, sondem Ton der unnotigen Hereinziehung atomistischer Hypothesen.
3.' Binteilang. Eine Obersicht der yierundzwanzig moglichen Falle
des Gleichgewichts zweiter Ordnung ist schon S. 304 gegeben worden,
und soil der Bequemlichkeit wegen hier wiederholt werden. Wir haben:
Frelheitsgrad
Null eeee eeew eeww ewww wwww
eeed eewd ewwd wwwd
Eins eee eew eww www
eed ewd wwd
Zwei ee ew ww
ed wd
Drei ewd
Als unabhangig Veranderliche, iiber die entsprechend den Freiheits-
graden yerfiigt wurde, haben wir im Falle des Gleichgewichts erster
') In einzelnen F&llen erscheint es methodisch zweckm&ssig, hierbei auch
aegatiTB Mengen von Bestaodteilen einzufahren, was keine prinzipielle Ande-
fuig bedingt
i
480 n. Chemische Dynamik.
•
Ordnung Druck und Temperatur benutzt; dadurch war die Konzeiitration
des betrachteten Stoffes festgelegt Natiirlich hai^^e im Falle zweier
Freiheitsgrade (z. B. bei der Dissociation des Stickstoffhyperoxydes) auch
die Konzentration als unabhangige Veraaderliche neben Druck oder
Temperatur dienen konnen; dooh hatte eine solcbe Betrachtungsweise
nicht den experimentellen Verhaltnissen entsprochen, auf die wir an-
gewiesen sind.
Im Falle zweier Bestandteile, wo der Maximalwert der moglichen
Freiheitsgrade drei ist, bleibt neben Druck und Temperatur noch eine
Veranderliche als unabhangig zur Verfiigung; wir wahlen als solche
meist die Konzentration eines der Bestandteile, und haben als abhangig
Veranderliche die Konzentration des anderen Bestandteiles. Dies ist
keine notwendige Wahl; wir konnten ebensogut als unabhangig Ver-
anderliche das Verhaltnis beider Bestandteile^ und als abhangige die
Gesamtkonzentration wahlen. Doch wird jene erste Wahl immerhin die
anschaulichsten Resultate geben.
Dass die genannten Veranderlichen in beliebiger Wahl auch fur
die Falle mit weniger Freiheitsgraden dienen konnen, braucht kauui
erwahnt zu werden.
A. Gleichgewichte mit Gasen.
4. Zwei gasf5rmige Bestandteile^ die nioht ohemisoh auf einander
wirken. Als ein Grenzfall der moglichen chemischen Gleichgewichte
zweiter Ordnung in einem homogenen Gasgemisch ist der Fall aufzu-
fassen, dass zwischen den Stoffen iiberhaupt kein chemischer Vorgang
erfolgt. Alsdann tritt ein Gesetz ein, welches man das allgemeine
Daltonsche Gesetz nennen kann, nach welchem sich in einem Gas-
gemisch jedes Yorhandene Gas so verhalt, als ware es allein Torhanden.
Die besondere Anwendung auf den Fall der Absorption von Gasen in
Fliissigkeiten (I, 614) wird gewohnlich speziell das Daltonsche Gesetz
genannt; indessen hat es sich bei der Aufstellung dieses Gesetzes auch
schon fur Dalton nur urn einen besonderen Fall einer ganz allgemeinen
Beziehung gehandelt, welche die Unabhangigkeit des Druckes, den jedes
Gas in einem Gemische ausiibt, und jeder anderen, vom Drucke ab-
hangigen Grosse gegeniiber dem Vorhandensein und der Konzentration
etwa vorhandener Gase zum Inhalte hat, und sich in der Zuschreibung
eines Partial- oder Teildruckes fiir jeden Gemengbestandteil, pro-
portional seiner Konzentration, ausspricht.
Von diesem Gesetz wird bei der Lehre vom chemischen Gleich-
gewicht zwischen Gasen bestandig Gebrauch gemacht; auf ihm beruht
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 481
die Moglichkeit, beispielsweise aus der Dichte des teilweise dissociierten
Stickstoffhyperoxyds seine Zusammensetzung zu berechnen.
Einer Priifung ist dies Gesetz gelegentlich seiner Anwendnngen
Tielfach unterzogen worden. Seit Humboldt und Gay-Lussacs Analysen
der atmospharischen Luft hat man immer wieder die Gewichts- and
die Volumzusammensetzung derselben mit Hiilfe dor spezifischen Ge-
wicbte der Einzelgase aufeinander bezogen und aus der dabei erzielten
Obereinstimmung geht umgekehrt die Richtigkeit der Yoraussetzung
dieser Rechnungsweise, eben das Daltonscbe Gesetz der Teildrucke, her-
vor. Auf der t}berzeugung von der Richtigkeit dieser Yoraussetzung
benibte denn auch in unseren Tagen einigermassen die Entdeckung des
Argons durch Lord Rayleigh and Ramsay. Die genaueste Bestatigung des
Gesetzes liegt indessen wohl in den Wagungen des Enallgases durch
Morley*), aus denen das Yolumverhaltnis beider Gase zu 1:2-00269 folgt,
wabreoddie unmittelbaren Messungen von Scott 1:2*00245 ergeben batten.
Daraus folgt alsbald, welche Gesetze wir in dem Falle finden
warden, dass zwei gasformige Stoffe, die aufeinander nicht reagieren,
Termischt sind: jeder dieser Stoffe wird sich verhalten, als sei der
andere nicht yorhanden. Wenn also sich eines der Gase, oder beide,
im Dissociationszustande befinden, so wird dieser Zustand ausschliesslich
Ton der Temperatur und dem Teildruck des entsprechenden Gases ab-
bangen, und derselbe sein, als ware das andere Gas nicht anwesend.
Yersuche, welche diesen Satz bestatigen, liegen noch nicht vor.
Eg ware nicht schwer, ihn beispielsweise am Stickstoffhyperoxyd nach-
zuweisen, indem man etwa zwei gleicblange Rohren mit dem Gase unter
gleicben Umstanden fullt, gleiche Lichtmengen durchschickt und die
Farbung kalorimetrisch vergleicht. Ist Gleichheit vorhanden, so darf
sie nicht gestort werden, wenn man irgend ein fremdes Gas, etwa Stick-
stoff, in beliebigen Mengen in die eine Rohre pumpt').
Neben dem Massenwirkungsgesetz , nach welchem die wirksame
Menge eines Gases proportional der Konzentration ist, bildet das
1) Zeitschr. f. phys. Chem. 20, 434. 1896.
^ Man kdoDte dem Yersuch eine besonders interessante Form dadurch geben,
dass man die Rdhren aufrecht stellt, nnd durch Einpumpen das fremde Gas auf
das Stickstoffhyperoxyd unter mdglichster Yermeidung einer Mischung schichtet
Dann moss zuu&chst die Menge des schwach gef&rbten N*0^ auf Eosten des stark
ge&rbten NO* zunehmen, weii der Druck auf dem dissociierten Gemisch zuge-
Bommen hat, and diese Bdbre muss heller erscheinen, als die unyer&ndert ge-
bUebene. In dem Masse, als dann die Gase ineinander diffundieren, und der Teil-
druck des Stickstoffhyperoxyds sich dem frttheren Druck wert nfthert, muss dann
die Farbe beider ROhren sich wieder der Gleichheit n&hern.
Ostwald, Chemie. 11,2. 2.Aafl. 31
I
482
n. Chemische Dynamik.
Daltonscbe Gesetz iiber die Unabhangigkeit der EinzelzoBtande tod der
Anwesenbeit fremder Gase die Grundlagen der Lebre Tom cbemiscben
Gleicbgewicbt, ebenso wie die der Lebre von den Reaktionsgescbwindig-
keiten. AUgemein lasst sicb das Daltonscbe Gesetz aucb dabin au8-
sprecben, dass mit Hiilfe der Teildrucke sicb die Energie und Entropie
eines Gasgemiscbes als die Summe der Energien und Entropion der
Bestandteile ausdriicken lasst.
5. Arbeitsleistuxig bei der DifEtision zweier Gase. Eine Folge
des Daltonscben Gesetzes ist die Thatsacbe, dass sicb durcb die iso-
tberme Vermiscbung zweier Gase Arbeit gewinnen lasst. Der Vorgang,
auf den zuerst Lord Rayleigb bingewiesen bat^), siebt einigermassen
auffallig auSy da bierbei scbeinbar gar nicbts gescbiebt, indem wabrend
des ganzen Verlaufes weder der Druck nocb die Temperatur eine Ande-
rung erleidet. Dass aber der Znstand eines Gasgemenges yon dem der
getrennten Gase bei gleicbem Druck und Gesamtvolum yerscbieden ist,
gebt daraus bervor, dass zwar der erste Zustand freiwillig aus dem
zweiten bervorgebt, nie aber der zweite aus dem ersten.
Der Betrag der bier auftretenden Arbeit lasst sicb berecbnen, weim
man mit Hiilfe balbdurcblassiger Scbeidewande den VermiscbungsYorgang
umkebrbar gestaltet. In einem Cflinder
seien die beiden Gase getrennt unter dem
gleicben Druck p untorgebracbt Darin be-
wegen si&b die beiden Stempel a und b,
Ton denen a fur das Gas A und b fur B
durcblassig ist, wabrend jedesmal das andere
^^^- ^^' Gas zuriickgebalten wird. Lasst man nun
die Diffusion vor sicb geben, indem man die Stempel in jedem Augen-
blicke gerade den vom Gase ausgeubten Druck iiberwinden lasst, so er>
fabrt a nur den Druck des Gases B, und b nur den von A; beide
Stempel bewegen sicb in der durcb die Pfeile angedeuteten Richtung,
bis sie die Enden der Cylinder erreicbt baben.
Ist p der gemeinsame Anfangsdruck, pa und pb die Enddrucke,
y das gemeinsame Endvolum und Va, Vb die anfanglicben Volume der
beiden Gase A und B, so ist die von A bei der Diffusion geleistete
Arbeit gleicb pvaln — und die von B gleicb pvbln— » in Summe so-
Pa Pb
mit gleicb pfvaln— + Vbln — )• Im einfacbsten Falle, wenn wir die
\ Pa Pb/
-<m
ym-
») Phil. Mag. 49, 311. 1875.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 483
beideD Volume gleich nelnnen, ist p = 2pa = 2pb, und die Arbeit wird,
da Y» -j- Vb = V ist, gleich p v In 2.
£s ist zu beachteiiy dass dieser Betrag von der Natur der Gase
nnabhangig ist; er wird also auch bei Gasen toq derselben Dichte, wie
Stickstoff und Kohlenoxyd, denselben Wert baben. Sind aber beide
Gase chemisch gleich, so ist die Arbeit gleich Null. Dieser Gegensatz
liat gelegentlich Erorterungen hervorgerufen^); namentlich ist vom
Standpunkte der kinetischen Hypothese schwer zu begreifen, wie jene
beiden .Gase gleicher Dichte, deren Molekeln gleiche Masse und somit
gieiche Geschwindigkeit haben, bei diesem rein mechanischen Vorgange
sich verschieden verhalten solleu. Prlift man die obenstehende £nt-
wicklong, so klart sich die Frage dahin auf, dass die Arbeit in alien
F^en wird gewonnen werden konnen, wo chemische Verschieden-
heiten der Gase yorhanden sind. Denn man kann sich allgemein fur
jedes Gas eine halbdurchlassige Scheidewand aus einer sehr diinnen
Schicht eines Stoffes hergestellt denken, welcher das fragliche Gas ab-
sorbieren und auch abgeben kann. Die Bediugung, auf dem angegebenen
Wege Arbeit zu gewinnen, ist also die, dass die beiden Gase yer-
schiedene Eigenschaften haben. Liegen solche yor, so kann man damit
nmgekehrt aus einem Gemenge diese Bestandteile absondem, d. h. man
kann getrennte Anteile yon yerschiedener Zusammensetzung aus dem
Aniiangsstoffe gewinnen, und das ist (S. 478) die Definition fur das
Vorhandensein mehrerer Bestandteile.
6. Homogenes Qleiohgewioht bei Qasen. Das Vorhandensein
einer einzigen Phase bei zwei Bestandteilen bedingt drei Freiheitsgrade.
Man wird also die Temperatur, den Druck und die Konzentration eines
Bestandteils innerhalb gewisser Grenzen frei wahlen konnen, und da-
dnrch wird die Konzentration des anderen Bestandteils bestimmt sein.
Den wichtigsten Fall haben wir hier wie friiher bei den Gasen
Oder Dampfen; auch haben geschichtlich die hier auftretenden chemi-
schen Gleichgewichte zuerst die Forschung angeregt (S. 81), wenn auch
die Anfange gesetzmassiger Formulierung einfacheren Verhaltnissen yor-
behalten blieben.
Die allgemeine chemische Formel fur die moglichen Umwandlungen
bat hier die Gestalt
^i^^i "f" ffijAj "^ nB,
wo A^ und A} die beiden Bestandteile sind, und B das durch ihre
Wechselwirkung entstehende Produkt.
») Vergl. Wiedeburg, Wied. Ann. 53, 684. 1897.
31*
I
484 11. Chemische Dynamik.
Die Gesetzc, welchen ein solches Gleichgewicht unterliegt, ergeben
8ich Yollkommen entsprechend dem einfacheren des Gleichgewichts erster
Ordnung. Fragen wir zunachst nach dem isothermen Gleichgewicht, so
haben wir fiir eine virtuelle Zustandsandening, wenn wir mit p, und p,
die Drucke der Stoffe A^ und A, und mit q den des Stoffes B bezeichnen:
RT(mi din Pi +m2dln p^ — ndlnq) = 0
und daraus
^" =k'.
pj^^p^*
An diese Formel kniipfen sich dieselben Betrachtungen wie friiher.
Ist n = mi +m2, so findet keine Volumanderung bei der Reaktion statt,
und das Gleichgewicht andert sich nicht, wenn man das Yolum und
damit den Gesamtdruck andert. Denn es werde durch die Volum-
anderung der Druck auf das r-fache erhoht, so andern sich alle Teil-
drucke in demselben Verhaltnis; wir haben
r° 0° q°
±_ _ _ _ — — . _ * j.n — mi — nij
I-rajpnii rnigpmg p)"». p™^
und dieser Ausdruck geht fiir n = m^ + m^ in den friiheren iiber.
Ebenso ergiebt sich, dass, wenn die Gase unter Volumanderung
reagieren, bei Druckvermehrung die unter Volumverminderung statt-
findende Reaktion stattfindet und umgekehrt. Bei sehr kleinem und
sehr grossem Druck wird daher die Reaktion das Bestreben haben,
vollstandig zu werden und zwar cntstehen im ersten Falle die Stoffe,
fiir welche die Sumrae der Molekularkoeffizienten die grossere ist,
wahrend bei sehr grossem Druck die anderen begiinstigt werden. Da-
bei findet indessen der Unterschied statt, dass im ersten Falle der Vor-
gang durch die Formel bis zu sehr weiten Grenzen darstellbar bleibt,
wahrend im zweiten bald mit dem Aufhoren des Giiltigkeitsgebietes der
Gasgesetze auch die Formel versagt.
7. Die Eonzentrationen. Will man in der Formel die Eonzentra-
tionen a^ , a^ und b der Stoffe A, , A, und B an Stelle der Teil-
drucke pj, pj, und q haben, so bedient man sich wieder der Beziehung
c = — =pf ' ™^ ^^* ^'^"^ *^~"liT'' ^*~ RT' ^~RT ^°^ ^*"
^^^ —-^-- =(RT)'°i+'°a-n. const. = k.
a™i . a J^« ^ ^
Wie friiher hat die Formel des isothermen Gleichgewichts fiir die
Konzentrationen ganz dieselbe Gestalt, wie fUr die Drucke. Nur der
«■
Zahlenwert der Eonstanten andert sich, indem beim Ubergange auf die
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnang. 485
Eonzentrationen noch ein Faktor hiuzukommty welcher von der Tem-
peratar and der Gaskonstanton, d. li. der gewahlten Einheit der Kon-
zentration abhangt.
8. Dimension der Eonstanten. Zunachst ergiebt sich die Bedeu-
tUDg der KoDstanten k' aus der Gleichung des einfachen Falles n=l,
n'amlich -— -^ — = k', indem man p. = p« = 1 setzt: es wird dann
k' = q. Das heiest, die Konstante k' ist gleich dem Teildruck der Ver-
bindaDg, wenn die Teildrucke der Bestandteile beide gleich Eins ge-
macht worden sind. Doch gilt dies nur fiir den Fall n=:l; anderen-
n
falls haben wir yk' = q, und die eben gegebene Definition gilt fur die
n-te Wurzel aus der Konstante k'. Die Dimension von k' ist im Falle
i%4"™i — D^ = l die eines reziproken Druckes; im allgemeinen Falle
die einer (n — m^ — mj)-ten Potenz eines Druckes. Sie ist also im
allgemeinen von der Wahl der Druckeinheit abhangig; nur im Falle
mi4-ni2=n ist dies nicht der Fall; hier findet aber auch liberhaupt
keine Abhangigkeit des Druckes vom Gleichgewicht statt.
Die Konstante k aus der entsprechenden Gleichgewichtsgleichung
der Konzentrationen
a™i.a™a
hat, wie man sieht, eine ganz analoge Definition fiir n = l, wie fiir
den allgemeineren Fall. Ihre Dimension ist die der (n — m^ — mj)-ten
Potenz einer Eonzentration.
9. Vergleich mit dem einfacheren Falle. Gegen die Gesetzo des
hofflogenen Gleichgewichts erster Ordnung macht sich hier der Unter-
schied geltend, dass bei gegebener Temperatur und gegebenem Gesamt-
drack doch die Menge der einzclnen Stoflfe und ihrer Verbindungen
Terschieden sein kann, wahrend sie dort bestimmt war. Im einfachsteii
Falle, wo mi=m2=n=l ist, und wir demgemass haben
— - — = const = k',
P1P2
Oder q = Pi Pa t',
sieht man, dass es moglich ist, bei konstantem Gesamtdruck P fiir den
Teildruck q der Verbiudung jeden beliebigen Wert zwischen Null und
eioem Maximum zu erzielen, welches bei Pi = p, liegt. Denn wir
haben die Bedingung P = Pi + P8 + q, welche imVerein mit q = k'piP^
noch eine Freiheit lasst, vermoge deren einer der drei Drucko noch
innerhalb bestimmter Grenzen auf beliebige Werto gebracht werden kann.
486 II* Chemische Dynamik.
10. KLeine Mengen eines Bestandteils. Setzen wir demgemass za
dem eiuen Gase wachsende Mengen des anderen, so verbindet sich ein
Anteil hierron mit dem ersten, der zunachst proportional der znge-
setzten Menge ist. Die Verbindung ist keineswegs bei sehr kleinen
Mengen des Zusatzes vollstandig, wie gelegentlich angenommen worden
ist, sondern der Betrag hangt von der Gleichgewichtskonstante und dem
Druck des in grosser Menge auwesenden Gases ab.
Man sieht dies, wenn man die Gleichgewichtsgleichung differenziert.
Man erhalt
dq = k'(Pidp, + p,dpJ,
und wenn der Druck des im Oberschuss vorhandenen Gases konstant
gehalten wird (dpj=0),
dq w
dpi
Das Verhaltnis zwischen der Zunahme des Druckes der Verbindung
und des zugefugten Bestandteils ist also proportional sowohl der Gleich-
gewichtskonstante k\ wie dem konstanten Drucke des iiberschlissigeo
Gases, behalt daher immer einen endlichen Wert. Fur die vollstandige
Umwandlung miisste dp^ gegen dq verschwinden, also der Ausdrack
rechts unendlich gross werden, was nicht moglich ist Umgekehrt wird
dq gegen dp^ verschwinden, wenn p^ sich der Null nahert, d. h. bei
sehr kleinem Druck bildet das zugesetzte Gas nur verschwindend ge-
ringe Mengen der Verbindung.
Praktisch wird die eben ausgesprochene einfachste Bedingung, dass
der eine Gasdruck konstant bleibt, nicht immer leicht zu erfiillen sein^).
Hier lassen sich die Falle konstanten Gesamtdrucks und konstanten
Volums viel leichter herstellen. Fiir den ersten Fall haben wir, wenn
P der Gesamtdmck ist,
q + Pi + Pa=P.
und wenn p, hiermit aus der Gleichgewichtsgleichung eliminiert wird,
Pi(p-Pi)
q=
k- + Pi
Aus der Gleichung geht hervor, dass bei Vermehrung des Dmckes
des einen Bestandteils (der natUrlich P nicht iiborschreiten kann) der
Druck q der Verbindung erst zu- und dann abnimmt, um bei Px=P
wieder Null zu werden. Um den grossten Wert fiir q zu finden, hat
^) Am leichtesteo, wenn man eine feste Phase zugegen hat, welche mit dem
Oase im Gleichgewicht 8teht und dadurch den Druck konstant h<.
Chemische Gleicligewichte zweiter Ordnung.
man die letzte Gleichung nach p^ zu differenzieren and
setzen. Es ergiebt sich
dq _ P— q — 2pi _ p, — p,
dp,
487
dq A
dpi
Pl +
k'
Pl+
k'
alsofiir 4^ = 0
dpi
Pi = P«-
Die grdsste Menge des Produkts wird bei konstantem Gesamtdrack
gebildet, wenn die Teildracke beider Bestaadteile gleich sind.
Urn eine Anschauang za haben, setzen wir ia der Gleichung
-^Pi(P-Pi)
^ 1 ,
Y- + P1
k'=l nod P = l und berechnen q fiir wechselnde p^ als Bruchteile
von P. Wir erhalten folgende Tabelle:
Pi
q
Pa
01
0082
0-818
02
0133
0667
0-3
0162
0-538
04
0172
0-428
05
0167
0-333
0-6
0-150
0250
0.7
0124
0176
0-8
0-089
• 0111
0-9
0-047
0-053
Wegen k'=l bildet sich bei den ersten Zusatzen fast ebensoTiel
der Verbindnng (q = 0-082), als yon dem zugesetzten Gase iibrig bleibt
at
o./
A **
a¥^ ae
Fig. 52.
0.8
tjO
(P,=
O-l), wahrend im Maximum q nicht boher als 0-172 steigen kann.
Maximam tritt, wie aus der oben angegebenen Formel folgt, ein fur
p,=p, = [/-i^ + P_-^,
488 ^I* Chemische Dynamik.
also bei k'=l, P = l fiir
p, =p, =y2^— 1 = 0414
q = 1 — 2 X 0414 = 0.172.
In der Fig. 52 (S.487) sind diese Verhiiltnisse graphisch dargestellt
Lasst man die bisher festgehaltene Voraussetzung, dass 03,^10^=
n = l ist, fallen, so werden die Gleichungen etwas verwickelter. Sie
sollen bier nicht erortert werden, da sie nicbts wesentlicb Neues bieten,
nur mag noch aufmerksam gemacbt werden, dass fiir m, =ni2 = l>
oder allgemeiner fiir m| = mg die Formeln fiir die beiden Bestandteile
symmetrisch bleiben, so dass deren Teildrucke p^ und pj miteinander
vertauscbt werden konnen, obne das Resultat zu andern. Fiir m^i^m,
hort diese Symmetrie anf, und aus der Form der Gleichung lasst sicli
ersehen, dass dasjenige Gas, dessen Molekularkoeffizient der grossere
ist, aucb durcb seinen Teildruck den grosseren Einfluss auf die Menge des
Produkts ausUbt. Denn das Differential der Gleichgewicbtsgleicbung ist
11. Eonstantes Velum. Der Fall, dass das Gesamtvolum konstant
bleibt, wird am bequemsten in der Form der Gleichgewichtsgleicbang
behandelt, welche sicb auf die Konzentrationeu der beteiligten Stoffe
beziebt. Wir betracbten zunacbst wieder den einfacbstenFall mi = mj =
n = 1, und baben
c = k.ab,
sowie dc = k(adb + bda).
Nun muss, wenn wir zu dem im Gleicbgewicht befindUchen Ge-
menge etwas Tom Bestandteil a binzufiigen, die gebildete Menge der
Verbindung c gleicb der verschwundenen Menge von b sein, also bei
konstantem Volum aucb die Veranderung der beiden Konzentrationen
gleicb mit umgekehrten Zeicben:
dc= — db.
Damit folgt ^^ j^
"daT^T"'
-k+"
Die Konzentration der Verbindung nimmt also fiir gleicben Zosati
Yon a um so mebr zu, je grosser die Konzentration des auderen Be-
standteils b, und je kleiner die bereits Yorbandene Konzentration a des
zugefugteu Bestandteils ist £in Maximum ist nicbt Yorhanden, denn
da recbts lauter positiYe Werte steben, miissen c und a immer gleicb-
zeitig zu- und abnebmen.
Chemische Gleichgewichte zwelter Ordnung. 489
12. BeiBpiele. Falle homogenen Gleichgewichts zweiter Ordnung
sind friiher als Dissociationserscheinungen beobachtet und studiert
worden. Im ersten Bande dieses Werkes (S. 194 ff.) sind die Verhand-
luogen geschildert worden, welche wegen der ^abnormen Dampfdichten^*
in der Wissenschaft gefuhrt worden sind. Diese Falle, wie die Ammo-
niamverbindungen, Schwefelsaure, Phosphorpentachlorid, Ghloralbydrat
iL a. betrafen ausschliesslich Erscheinungen dieser Elasse; nur hat es
sich damals nicbt sowohl darum gebandelt, die quantitatiyen Gesetze
der bier auftretenden Gleichgewichte zu ermitteln, als vielmehr das
thatsacbliche Vorbandensein der angenommenen Zersetzangsprodukte im
gleicbfonnigen Gasgemisch nachzuweisen.
Bin gutes Beispiel fiir das homogene Gleichgewicht zweiter Ord-
nung in einem Gasgemisch babe ich in der Litteratur nicbt ausfindig
machen konnen.
AUerdings ist ein Beispiel fiir den Fall, dass zwei Gase sich zu
gleichen Volumen* unter Verminderung des Gesamtvolumens auf die
Halfte verbinden, bereits zu einer Zeit beobachtet worden, wo derartige
Vorgange kaum studiert, und die Gesetze des chemischen Gleichgewichts
fast unbekannt waren. Bei Gelegenheit von Untersuchungen iiber die
Einwirkung des Chlors auf Metbylather wurde Friedel auf die That-
sache aufmerksam, dass sich Metbylather und Chlorwasserstoff zu einer
^olekularen" Verbindung vereinigen, welche im Gaszustande zwar teil-
weise, aber keineswegs yoUstandig dissociiert ist. Wegen der damals
(1875) mit grosser Leibhaftigkeit gefuhrten Diskussion iiber konstante
Valenz und die angenommenen Unterschiede zwischen „atomistischen^'
nnd „molekularen" Verbindungen untersuchte Friedel ^) den Fall naher
und stellte dabei einige fiir die allgemeine Lehre vom chemischen
Gleichgewicht bedeutungsyoUe Thatsachen und Gesichtspunkte fest.
Die Verbindung liess sich durch Abkiihlen unter 0^ als eine rau-
chende Fliissigkeit erhalten, die aber keine bestimmte Zusammensetzung
zeigte, da sie im Stande ist, t)berscbiisse der beidcn Bestandteile auf-
zolosen. Dass die Zusammensetzung der Verbindung der Formel
(CH*)*0.HC1 entspricht, schloss indessen Friedel sehr bemerkenswerter
Weise aus dem Umstande, dass die Eurve, welche die Volumverminde-
mng beim Vermischen der beiden Gase darstellt, fiir das Verhaltnis
gleicher Volume ein Minimum zeigt, und sich symmetrisch zu beiden
Seiten fortsetzt, derart, dass gleiche Cberschiisse des einen oder anderen
Bestandteils gleichen Einfluss auf die Volumverminderung, und also auf
>) Ball. Soc. chim. 24, 160 u. 241. 1875.
490 II' Chemische Dynamik.
die Bildung der Verbindang haben. Eine derartige Scblussweise, so
einfach sie uns jetzt erscbeint, zeugt von einer fiir den damaligen Zn-
stand des Wissens sebr bemerkenswerten Elarheit der AnscbauuDgen.
In der Tbat ergiebt die Tbeorie fur diesen Fall die Gleichnng
Pi.p2/q = f(t),
vro p^ und p, sicb auf CblorwasserstofiF and Metbylatber, q auf deren
Verbindung bezieht, dass die Grosse q sjmmetriscb in Bezug auf p^
und p, ist.
Ebenso ergiebt sicb aus der Formel, dass die allgemeine Vermin-
derung des Druckes die Menge der Verbindung verringem muss, wie
ja scbon aus dem Umstande folgt, dass sie unter Volumverminderang,
bez. Druckvermindenuig entsteht. Aucb dies fand sicb durcb den Ver-
sucb bestatigt.
Auf diese qualitative Ubereinstimmung bescbrankt sicb indeesen
die Bestatigung der Tbeorie durcb die Versucbe Friedels. Scbon das
Ergebnis, dass bei annahemd konstantem Gesamtdruck sicb fiir gleiche
Volume der beiden Bestandteile ein relatives Minimum der Volnin-
verminderung ergiebt, ist im Widersprucbe mit der Tbeorie, welcbe
vielmebr an dieser Stelle ein Maximum verlangt. Setzt man namlich
den Gesamtdruck P == Pi + Pt + 9 konstant, so erbalt die Gleichgewichts-
gleicbung die Gestalt
___PlJP2____t'
P— — K ,
1— Pi — P»
P-P.
Oder p, = k' ^,^^ ,
wonach sicb fiir verscbiedene p^ die Werte von p^ und q = P — Pi — Pi
berechnen lassen. Setzen wir P=l (1 Atmospbare) und k'==4, was
ungefabr den Ergebnissen von Friedel fiir gleicbe Volume entspricht,
so erbalten wir folgende Tabelle:
Pi
P«
q
O-lOO
0-878
0022
0.200
0-762
0-038
0300
0651
0-049
0400
0-545
0056
0444
0-500
0*056
0500
0444
0*056
0-545
0400
0*055
0651
0.300
0-049
0-762
0-200
0-038
0-878
O-lOO
0-022
I
J
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordaung.
491
Der Vergleich mit Friedels Ergebnissen zeigt, dass bedeutende
Abweichungen stattfinden. Am besten iibersieht man diese, wenn man
neben der von ihm gegebenen Kurve, welche die Volumverminderung
als Funktion des Mengenyerhaltnisses darstellt, die theoretische Eurve
anfzeichnet, wie das in Fig. -53 geschehen ist.
Kunre
—
Theoretische
Karre
*tO
20
o
Fig. 53.
20
kO
Woher die Unterschiede riihren, lasst sich nur vermuten. Bei der
Berechnung der einzelnen Versuche Friedels ergiebt sich ein ziemlich
starkes und unregelmassiges Schwanken der „Kon8tanten*^ so dass es
dch jedenfalls am ziemlich bedeutende Versachsfehler handelt. Daher
wiirde die Wiederholang der Messungen, zumal bei niedrigeren Tem-
peraturen, wo die Bildung der Verbindung betrachtlicher ist, einiges
Interesse haben, insbesondere um zu entscheiden^ ob die aaffallende
Vermehrung der Verbindung bei kleinen Cberschiissen von Chlorwasser-
stoff oder Methylather in Wirklichkeit besteht. Dabei waren die Ver-
snche auchaof die entsprechendeBromwasserstoffverbindung auszudehnen.
Auch ein zweites, mehrfach studiertes Beispiel hat keine befrie-
digenden Ek'gebnisse geliefert. Es sind dies die Messungen mit Amylen-
hrombydridy dem klassischen Beispiel dieser Art Dissociation , welche
G.Lemoine^) bei 1, 0-33 und 0-20 Atmospharen angestellt hat Die Durch-
schnittswerte seiner Beobachtungen sind nachstehend zusammengestellt.
1 Atm.
0*33 Atm.
0-20 Atm.
Temp.
Dichte
Zersetzung
Dichte
Zersetzung
Dichte
Zersetzung
99*
—
4.75
. 0-18
4-98
010
125
54
0
—
—
—
—
154
54
0
—
—
4.7
0.21
160
5-3
0
—
—
—
—
173
5.1
005
—
—
41
0-43
184
427
037
34
070
31
0-82
200
367
060
—
31
0-82
227
307
083
28
0-93
—
—
») Compt rend. 112, 855. 1891.
I
1
492 II* Chemische Dynamik.
Versucht man diese Zahlen im Sinne des Gleichgewichtsgesetzes zq
berechnen, so ergiebt sich fur die Eonstante bei 180^
1 Atm. 0-33 Atm. 0-20 Atm.
77 2-3 21
«
Die Zahlen stimmen so scblecht, dass sie das erwartete Gesetz
eber widerlegen, als es bestatigen. Die Ursache liegt yermutlich in
der Ungenauigkeit der Beobachtungen, die auch bei dem Vergleicb der
Ergebnisse unter gleicheu Umstanden angestellter Versuche zu Tage
tritt. Es handelt sich hier teilweise urn Abweichungen der wirklicben
Dichte yon der theoretischen, die in der unyollstandigen Geltung der
Gasgesetze ihren Grund haben^ teilweise um langsame Andeningen, die
der Dampf bei der hoheren Temperatur erfahrt, und yon denen noch
nicht feststeht, ob es sich um eine langsame Einstellung des Gleich-
gewicbts, Oder um eine Nebenreaktion handelt^).
Aus diesen Versuchen geht somit nicht yiel mehr heryor, als dass
thatsachlich die Zersetzung mit abnehmendem Druck zunimmt Die ge-
nauere Priifung des obwaltenden Gesetzes ist eine Aufgabe, die noch
der Losung harrt.
13. Der TemperatareinfluBs. Bei entsprechender Erweiterung der
Betrachtungen yon S. 312 gewinnen wir aus -^- = -^ die Formel:
dT RT(ndlnq — midlnp^ — m^dlnp,)
dln-^"-
Oder ^^ — j^,^,,
wo Q wieder die bei dem Ubergange m^ A^ -j- m^A^ =nB aufgenommene
Warmemenge oder die Warmetonung fiir den Vorgang nB = miAi-{-
m^A^ bedeutet.
Auch hier konnen wir die Drucke durch die Eonzentrationen er-
setzen, indem wir haben
b° Q"
aj»i.a§^« Pi"*. Pa*
woraus durch Logarithmieren und Differenzieren folgt:
') Schon bei den ftlteren Versachen von Wurtz, Compt. rend. 60, 729. 1866,
finden sich Andeutiingen solcher zeitlicher Vorg&nge, und Lemoine teilt Versache
mit, die eine mit der Zeit abnehmende Dicbte ergaben, ohne indessen genaaer
aof die Analyse der Erscheinung einzugehen.
Chemische Gleichgewichto zweiter OrdnuDg. 493
din
^^'-^2' ^ Q-(d — m,-m,)RT
dT RT«
Wiederum hat (n — m^ — m2)RT die Bedeutung des Korrektions-
gliedes an der Warmetonung Q bei konstantem Druck, durch dessen
Abzog sich die Warmetonung bei konstantem Volum q ergiebt. Dem-
b^
gemass und wegen —^ — s" = J^ reduziert sich die Gleichung auf die
a^i.agS
friihere Form
dink q
~dT"~RT^'
nod man libersieht sehon jetzt, dass auch die verwickelteren Falle bei
entsprechender Definition der Gleichgewichtskonstante k unter dieselbe
Formel fallen. Diese ist, wie van't Hoflf auch betont hat, ganz allge-
mein, und in der vorliegenden Gestalt nur yon der Giiltigkeit der Gas-
gesetze abhangig. Somit gelten die S. 313 angestellten allgemeinen
Betrachtungen auch fiir diesen Fall.
14. Ezperimentelle Friifang. Auch hier gilt die Bemerkung, dass
eine Bewahrung der Formel am Versuch gerade im einfachsten Falle
noch nicht vorliegt. Ahnlich wie friiher Wurtz untersuchte G. Lemoine^)
auch den Einfluss der Temperatur auf die Dampfdichte des Amylen-
bromhydrids und fand folgende Zahlen, welche bereits ausgeglichene
Mittelwerte sind.
Temp.
bei 1 Atm
Dichte
bei 0-1 Atm.
Zersetzangsgrad
bei 1 Atm. bei 01 Atm.
100«
—
50
—
005
150
5-2
•
4.6
000
0-14
175
5-0
41
005
0-28
185
41
3.4
0-28
054
200
3.5
31
050
0-69
225
3.0
2-8?
0.75
0.87?
300
26
2-6
1.00
1.00
Der Zusammenhang der Dichte mit der Temperatur ist in Fig. 54
(8.494) nach einer Zeichnung des Autors wiedergegeben. Versucht man
die in den beiden letzten Reihen der Tabelle verzeichneten Zersetzungs-
grade durch eine gleichformige Eurve darzustellen, so erweist sich dies
als unansfuhrbar, zum Zeichen, dass die storenden Ursachen (S. 492) die
Genauigkeit der Werte in sehr erheblichem Masse beeintrachtigt haben.
*; Compt rend. 112, 855. 1891.
494
n. Ghemische Dynamik.
Versucht man die Bildungswarme des Amylenbromids aus den
Werten fiir den Zersetzungsgrad 7 zu borechnen, so hat man die Drucke
^2f
■too^
Ttm/itratur
fSO^
ijso ISS*
ZOO*
zsty
tM
Fig. 64.
q = (l — y)P und Pj=p, =yP zu setzen. Man erhalt dann ana
dlnkVdT = Q/RT' bei der Integration die (fur konstant angesehene)
Reaktionswarme Q entsprechend S. 315 nach der Formel
^ R (Ink/ — Ink,')
Q = i J
Die nachstehende Tabelle enthalt die Ergebnisse der Rechnung fur
die Drucke von 1 und 0*1 Atmospharen.
«
1
Temp.
160 «>
176
185
200
226
T
0002364
0-002232
0*002183
0-002114
0002008
kt
9-2
2-0
0.44
''O.l
440
92
157
6-5
172
In ki' In k^
222
069
0-82
0.1
6»09
4-52
273
1-87
0-54
Qi Q0.1
— — 236K
- -722,,
— 448K — 266„
— 286,, — 251„
Fiir die Zerlegung des Amylenbromhydrids in Amylen und Brom-
wasserstoff hat Berthelot (II, 1, 388) durch direkte thermochemiBche
Versuche — 132 K fur die gasformigen Bestandteile gefunden. Die b^
rechneten Zahlen sind zwei- bis funfmal grosser und schwanken auch
Yon Fall zu Fall in hohem Masse. Man sieht hieraus, dass diese
klassische Reaktion noch ein sehr eingehendes Studium yerlangt» beTor
sie als aufgeklart angesehen werden darf.
15. JodwasserstofT. Die Verbindung des Jods und Wasaerato£b
erfolgt gemass der Molekulargleichung J'-|-H' = 2HJ und ihr ent*
spricht daher die Gleichgewichtsgleichung
Pi -Pi
= k.
ChemiBche Gleichgewichte zweiter Ordnung. 495
Da iD^=m2=i und n = 2 ist, so ist mi-f~i^s = ^' ^- h. der
Vorgang erfolgt ohne VolomaQderung and das Gleicbgewicht muss da-
her nacfa dem vielfach ausgesprochenen Satze yom Druck unabhangig
sein. Da bei Temperaturen unterhalb der Rotglut sich messbare Gleich-
gewichtszustande einstellen, indem sowohl Jodwasserstoff in die beiden
Elemente teilweise zerfallt, wie auch diese sich zu Jodwasserstoff unter
gleichen Umstanden verbinden, so hat die Reaktion wiederholt die Auf-
merksamkeit erregt and ist sehr eingehend bearbeitet worden.
Die ersten Versuche liber den Gegenstand riihren von Haatefeuille^)
her; sie ergaben toils richtige, toils falsche Resultate. So glaubte or
eine Zunahme des Zersetzongsgrades mit dem Druck za finden: von
0-026 bei 76 cm bis 0*064 bei 195 cm bei der Temperatur des sied en-
den Schwefels. Hier handelt es sich um den Umstand, dass die Reak-
tion bei geringerem Drucke langsamer yor sich geht» und die Messungen
ansgefiihrt worden sind, beror das Gleicbgewicht erreicht war. Aus
deiDselben Grunde ist seine Angabe eines sehr grossen Temperaturein-
flosses: 0-026 bei 440<> bis 0-34 bei 700« irrtumlich.
Durch die Gegenwart yon Platinschwamm wird, wie schon Coren-
winder 1851 fand, die Reaktion sehr beschleunigt Die Annahme
Hantefeuilles, dass das Gleicbgewicht dadurch auch im Sinne einer
starkeren Zersetzung verschoben wird, ist auf die gleiche Verwechselung
zarackzufuhren, wie sich aus den Versuchen yon Lemoine (S. 497) er-
giebt. Doch machte Hautefeuille mit Hiilfe dieses Beschleunigers wahr-
scheinlich, dass der Vorgang zu einem wirklichen Gleicbgewicht fiihrt,
onter gleichen Umstanden, indem sowohl ein Gemisch von Joddampf
ploB Wasserstoff sich zum Teil yerband, wie auch Jodwasserstoffgas in
seine Bestandteile zerfiel. Das mit Hiilfe yon Platinschwamm beobachtete
Gleicbgewicht yerschob sich nur wenig mit- der Temperatur; der zer-
fietzte Anteil betrug:
Zersetzung des Jodwasserstoffs.
Temp. Zersetzung
700 « 0-222
440 0195
254 0187
195 0-175
175 0405
Unterhalb 175^ scheidet sich festes Jod ab; daher erscheint schon
die letzte Zahl zweifelhaft
') Compt. rend. 64, 608. 1867.
i
496 ^^' Chemische Dynamik.
Ferner stellte Hautefcuille fest, dass das Gleichgewicht von dem
Mengenverhaltnis zwischen Jod und Wasserstoflf abhangig ist. Es warden
verschiedene Jodraengen mit gleichen WasserstofiFmengen auf 440^ er-
hitzt, und beobachtet, dass um so mehr Wasserstoff mit dem Jod in
Verbindung trat, je grosser die Jodmenge war. Von einer Wiedergabe
der Tabelle kann abgesehen werden, da nicht festgestellt wurde, ob die
beobachteten Zustande wirkliche Gleichgewichte waren; zudem waren
Nebenreaktiouen mit der Glassubstanz eingetreten. Interessant ist, wie
sich Hautefeuille das Zustandekommen des Gleichgewichts denkt. „Dies
Gleicbgewicht, das sich nur langsam einstellt, fuhrt za der Annahme,
dass es das Ergebnis von aufeinanderfolgenden Verbinduugen und Zer-
legungen ist, welcbe durch Schwankungen der Temperatur verursacht
werden, welche, um sich in grosserer Anzahl zu wiederholen, eine er-
hebliche Zeit erfordern. Der (Jberzug von Jodnatrium in der Rohre,
sowie die Spuren von Wasserdampf und SchwefelwasserstoflF, die sich
dem Jod und dem Wasserstoff beimischen, tragen zu dem schliesslichen
Ergebnis, der Bildung des Jodwasserstoffs, gleichfalls bei."
Es scheint dieser Darlegung die Vorstellung zu Grunde zu liegen,
als konnte in einem ganz rein en Jod-Wasserstoffgemenge bei ganz kon-
stanter Temperatur eine Reaktion iiberhaupt nicht eintreten.
16. Versuohe von Lemoine. Zehn Jahre spater wurde dieselbe
Frage in viel eingehenderer Weise durch Lemoine^) behandelt, welcher
aus der Untersuchung dieses Falles als eines theoretisch besonders ein-
fachen weitgehende Aufschliisse iiber die Theorie der chemischen Ver-
wandtschaft erwartete. Diese Hoffnung wurde teilweise erfiillt
Zunachst stellte Lemoine fest, dass es sich hier in der That um
ein wirkliches chemisches Gleichgewicht handelt, indem or den Fort-
schritt der Reaktion von beiden Seiten bis zum Eintritt des Gleich-
gewichts verfolgte und nachwies, dass dies von der urspriinglichen An-
ordnung der Stoffe unabhangig ist. Bei dieser Gelegenheit machte sich
der ausserordentlich grosse Einfluss der Temperatur auf die Reaktions-
geschwindigkeit wieder geltend. „Bei 440® ist das Gleichgewicht nach
einer Stunde beinahe erreicht; bei 350® muss man mit Tagen rechnen,
um dazu zu gelangen und bei 260® mit Monaten/' Lemoine versaumt
indessen nicht, darauf hinzuweisen, dass diese Veranderlichkeit eine
ganz allgemeine Erscheinung ist, indem er die ganz entsprechendea
Verhaltnisse der Esterbildung (S. 77) zum Vergleich heranzieht
») Ann. chim. phys. (5) 12, 145. 1877.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 497
Neben der Temperatur erweist sich der Druck als von Einfluss
anf die ReaktioDsgeschwindigkeit; doch wurdeil aus den Beobachtungen
keine Gesetzmassigkeiten fiir diesen Einfluss abgeleitet.
Bezuglich des Einflusses, den der Druck auf das Gleicbgewicht
hat, kam Lemoine zu dem Scblusse, dass aucb mit Riicksicbt auf alle
moglicben Fehlerquellen ein solcber Einfluss vorhanden ist. Sein Be-
trag sei zwar nicht bedeutend, aber die beobachteten Unterschiede
seien reell. Die Veranderlicbkeit fand er in dem Sinne, dass mit
abnehmendem Druck die Zersetzung etwas zunimmt Seine Zahlen sind
fir 440«:
Druck Zersetzung
4-5 Atm. 0-24
23 0256, 022?
10 026
0-5 0-25?
02 029
Die mit einem ? bezeichneten Werte betrachtete Lemoine als zweifel-
haft Wie man sieht, macht die gegebene Reihe keineswegs den Ein-
druck, dass die Veranderlicbkeit der Grenze mit dem Drucke sicher
erwiesen ware, und man darf wohl annebmen, dass die damals allge-
mein verbreitete Annahme, dass bei sebr kleinen Drucken alle cbemischen
Verbindungen in ibre Bestandteile zerfallen miissten, welcbe Annabme
eine unzulassige Verallgemeinerung der Beobachtungen bei den Disso-
ciationserscheinungen war, die Deutung der Yersucbsergebnisse beein-
finsst hat.
Fiir den Einfluss der Temperatur auf das Gleicbgewicht wurde
beobachtet, dass der Anteil unverbundener Gase mit steigender Tem-
peratur zunimmt Er betragt bei 440® 0-25 bis 0-26, bei 350® dagegen
nnr 0.186.
Der Einfluss des Mengenyerhaltnisses beider Bestandteile macht
sich sehr viel deutlicher geltend, als der des Druckes, und Lemoine hat
allgemein nachgewiesen, dass die Vermehrung eines der Bestandteile in
dem gegebenen Raume immer die Folge hat, dass die Menge der Ver-
bindung zunimmt. Ein gesetzmassiger Ausdruck, welcher diese Mengen
miteinander in Beziehung setzt, wurde nicht aufgestellt, sondern Lemoine
begniigte sich, die Verhaltnisse durch eine Kurve darzustellen. Doch
betonte er als eine sehr merkwiirdige Folgerung aus dem Gang dieser
Kur?e, dass unter keinen Umstanden die Verbindung vollstandig ist, so
dass der eine Bestandteil verschwindet. Auch liegt keine Tendenz vor,
dass etwa sehr kleine Mengen Jod, die man zu einer gegebenen Menge
Ostvald, Chemie. II.S. 2.Aufl. 32
498 ^^' Chemische Dynamik.
Wasserstoff setzt, sich praktisch voUstandig mit dem Wasserstoff ver-
binden, ebensowenig, wie*dieKarve erwarten lasst, dass bei unbegreDzter
Vermehrung des Wasserstoffs in einem Jod wasserstoff enthaltendem
Gefasse dies letztere gegen Zersetzung geschiitzt ware; vielmehr wiirden
auch dann noch 10 bis 12 Prozcnt zerfallen. „Dieser Fortbestand der
Dissociation trotz der Massenwirkung bildet ein sehr merkwiirdiges
Kennzeichen dieser Erscheinung/'
Sehr wichtig sind endlich die Bemorkungen Lemoines iiber die
Einwirkung poroser Korper, wenn er auch in deren Deutung nicht ganz
das Richtige traf. Wahrend Hautefeuille noch angenommen hatte, dass
die Zersetzlichkeit des Jodwasserstoffs durch Platinschwamm sehr er-
hoht wiirde, stellte Lemoine fest, dass die von ihm ermittelten Grenzen
nahezu mit denen zusammenfielen, welche Hautefeuille unter der Ein-
wirkung des Platinschwammes beobachtet hatte. Er sprach daher aus,
dass der wesentlichste Unterschied, der durch die Gegenwart des Platin-
schwammes bewirkt wird, darin liegt, dass sich der Gleichgewichtszu-
stand sehr schnell herstellt, der ohne dessen Hilfe sich nur langsam
eingestellt hatte, wahrend die thatsachliche Grenze dieselbe ist. Indessen
glaubte er doch einen kleinen Unterschied in solchem Sinne annehmen
zu diirfen, dass die Grenze bei Anwesenheit von Platinschwanmi so ver-
schoben erscheint, als ware der Druck grosser, als er thatsachlich ist
Er nahm deshalb an, dass der Platinschwamm die Gase verdichtet, nnd
dass die grosse Reaktionsbeschleunigung auf die grossere Geschwindig-
keit in den verdichteten Gasen zuriickzufuhren sei; auch an der kleinen
Verschiebung des Gleichgewichts sei diese Druckwirkung erkennbar.
Wir werden diese Auffassung, insbesondere die letzte, nicht als
rich tig anerkennen konnen. Die Pramisse zugegeben, dass auf der
Oberflache des Platins ein grosserer Druck herrsche, wird man doch
nur fiir das dort befindliche Gas die entsprechende Gleichgewichtsver-
schiebung (wenn eine solche vorhanden ist) beanspruchen konnen; das
Gas im freien Raume kann aber keinen anderen Gleichgewichtsznstand
haben, als seinem reellen Drucke entspricht. Denn donkt man sich
dies Gas plotzlich durch einen Hahn vom Platinschwamm abgeachlossen,
so miisste es den Zustand aufsuchen, der ihm ohne Platinschwamm
zukommt, d. h. es miisste eine Reaktion eintreten, ohne dass ein ent-
sprechender Energieaufwand geleistet worden ware. Ein solcher Fall
liesse sich aber immer zu einem Automobile zweiter Art ausnutzeoy
womit seine Unmoglichkeit bewiesen wird.
Trotz der mannigfaltigen Forderung der Frage durch die eben
berichtete Arbeit waren die beriihrten Probleme noch keineswegs ge*
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 499
lost Bei der za jener Zeit beginnenden Entwickelung der Lehre vom
chemischea Gleichgewicht konnte der Widerspruch zwischen dem von
Lemoine behaapteten EIdIQuss des Druckes auf das Gleichgewicht und
der Yon der Theorie geforderten Einflusslosigkeit nicht lange YiBrborgen
bleiben; ebenso ergab die Theorie ganz bestimmte Formeln fiir die
MassenwirkuDg, die gleichfalls za priifen waren. Indessen dauerte es
doch lange genug, bis diese bestimmte Reaktion wieder der Gegenstand
einer experimentellen Untersuchung wurde, und auch dann hat es nicht
geringe Miihe gekostet, bis endlich einfache und klare Ergebnisse er-
halten wurden.
17. Versuche von Bodenstein. Im Jahre 1894 wurde der Gegen-
stand anf Veranlassung V. Meyers durch M. Bodenstein*) wieder be-
arbeitet Die Resultate dieser ersten Arbeit standen indessen mit den
Forderungen der Theorie beziiglich der Unabhangigkeit des Gleichge-
wichts vom Druck in so starkem Widerspruch, dass M. Bodenstein
spater') die Arbeit wiederholte. Er fand schliesslich in der schon von
Bautefeuille beobachteten Einwirkung des Jodwasserstoffs auf das Glas
der Gefasse, in denen die Erhitzung vorgenommen worden war, die
Ursache der Abweichungen, und eine mit Riicksicht auf diese Fehler-
qneile durchgefiihrte Versuchsreihe ergab Ubereinstimmung mit den
Forderungen der Theorie, sowohl was den Einfluss des Gesamtdruckes,
wie den der Mengenverhaltnisse anlangt. Als Beispiel sei die nach-
stehende Tabelle gegeben. Die Zahlen bedeuten ccm reduziertes Gas-
Tolum, die in den untersucbten Kugeln nach Beendigung des Yersuches
vorhanden waren. Die Drucke schwanken ungefahr zwischen 0*3 und
1 Atmosphare; sie sind in der Abhandlung nicht angegeben. Als Aus-
pogsmaterial diente reiner Jodwasserstoff, die Temperatur war die des
siedenden Quecksilbers.
Jod «= Wasserstoff Jodwasserstoff Zersetzung
093 786 01914
083 6-84 0-1953
1.03 8-38 04968
101 8-32 01956
0-62 524 0-1910
0-36 2-98 01940
frsiss Jod
Die „Zer8etzung" Btellt den Quotienten i^jodwasserstoff + freies Jod
d. L das Volumverhaltnis des zersetzten Jodwasserstoffs zur urspriingr
lichen Menge dar.
») Zeitschr. f. ph. Chem. 13, 56. 1894. ») Zeitschr. f. ph. Chem. 22, 1. 1897.
32*
1
500
II. Ghemigche Dynamik.
Was das Gesetz des isothermen Gleichgewichts anlangt, so sind
nachstehend die Eonstanten der Beziehung
^■3 ^
a.'
==C,
WO h, j und a die Eonzentrationen des WasserstofiEs, Jods uod Jod-
wasserstoffs bedeaten^), angegeben.
Im Schwefeldampf
h
•
J
a
C
15-46
Oil
1022
0-0158
774
159
2572
0-0186
317
806
34-72
0-0217
206
13-40
36-98
00200
1^7
33-46
38-68
0-0240
^^
0-42
1422
0-0181
5-35
155
2070
00193
173
943
28-04
0*0208 Mittel C
0-65
2511
27-64
0-0214
5-27
013
5-66
00214
3-18
0-54
9-52
00190
1-40
260
13-34
0-0204
072
703
14-82
0-0232
032
19-83
15-40
0-0264
0-33
2554
15-12
00373
Im
QueckBilberdampf
7-64
102
23-92
0-0136
4-29
3-24
28-96
00166
1-75
1059
3518
00155
0-91
2218
36-78
0-0155
1-90
473
24-12
0-0127
078
1504
27-56
00141
0-49
22-87
25-50
0-0150
045
27-00
25-08
0-0187 Mittel C
412
0-08
5-02
00188
1-42
091
9-60
00191
057
4-56
4-56
00188
022
2005
1234
0-0291
022
17-82
1198
0-0276
017
15-95
12-68
0-0166
0-0212
— 0-017S
^) Damit die analytisch gefundenen Gasmengen vergleichbare KonxentratioiMi
dantellen, massen sie auf eln bestimmtes gleiches Yolum bezogen sein. Die A»
gabe eines solchen habe ich in der Abhandlung nicht gefanden. FQr die Bereek*
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnang. 501
Die Einzelwerte der Eonstanten zeigen allerdiogs recht grosse
Schwaokungen; da sie aber gegen die analytischen Fehler sehr empfind-
lich sind, indem sie mindestens mit dem relativen Fehler der wenigst
genauen Bestimmung behaftet sind , so darf doch die Cbereinstimmung
alfl geniigend aDgesehen werden. Dies geht aus der yon Bodenstein
auflgefuhrten umgekehrten Berechnung hervor, bei welcher zunachst
dnrch 2^rsetzung8yer8uche an reinem Jodwasserstoff die beiden Werte
der Konstanten moglichst genau auf 0-01987 und 0*01494 ermittelt
warden. Aus diesen warden dann rlickwarts auf Grund der gemessenen,
bei. berechneten Mengen des GesamtwasserstofiEs die nach der Theorie
za erwartenden Mengen Jodwasserstoff berechnet und mit den beobach-
teten Werten verglichen. Die Unterschiede erreicben in einem Falle
0-5 ccm und betragen im Mittel 0*15 ccm, was in der That eine genii-
gende tJbereinstimmung ist.
Gleicbzeitig gewahren diese Ergebnisse wegen der viel grosseren
Verschiedenheiten der Drucke eine weitere umfassende Bestatigung der
Unabhangigkeit der Eonstante vom Drucke.
18. Bereohnung der Bildungsw&rme des JodwasBerstofEB. Die
Torstehend von Bodenstein gefundenen Gleichgewichtskonstanten des
Jodwasserstoffs
357 « 001494
440 001984,
▼elche zeigen, dass mit steigender Temperatur die Zersetzung in die
Elemente zunimmt, ergeben den Schluss^ dass eben diese Reaktion yon
Warmeverbrauch begleitet ist. Deren Betrag lasst sich nach der Formel
von van't Hoff (S. 315) ermitteln. Setzen wir in die Gleichung
R (In kj5 — In ki)
q=
1
Tx T,
die Zahlenwerte R = 0-02 k, In k^ — In k, = 0-2837, ~ - ^- :.^0.000528
Ij ij
ergeben q=10«7E, welche Grosse fiir etwa 400® giiltig ist.
Bei Zimmertemperatur war (II, 1, 114) — 122 K fiir die Reaktion
H*-|- J* = 2HJ gefunden worden, welche Zahl fiir festes Jod gilt. Fiir
den Sicdepunkt des Jods, 180^ geht der Wert auf — 8 E zuriick, und
hiemach ware, lineare Anderung mit der Temperatur vorausgesetzt, in
der Nahe von 280® die Bildungswarme q = 0 zu erwarten.
nnag der KonBtanten ist sie in diesem Falle thats&chlich entbehrlich, da die
Eonstante in Bezug auf die Konzentration die Dimension Null hat, also von der
gev&hlten Eioheit unabh&ngig ist.
502 II- Chemische Dynamik.
19. Die BildnngBwarme NnlL Diescr ausgezeichnete Wert der
Bildungswarme bedingt auch ein besonderes Verhalten der Gleichge-
wichtskonstante. Setzen wir in der allgemeinen Gleichuog
d In k q
dT ~ RT«"
q = 0, 80 wird, da RT* notwendig endlicb bleibt, auch dlnk = 0 und
somit dk==0. Das beisst, wenn die Bildungswarme Null wird,
so geht die Gleichgewiehtskonstante durch ein Maximum oder
Minimum.
Weleber von beiden Fallen eintritt, hangt von dem Sinne ab, in
welchem sich q mit der Temperatur andert. Ist q positiv bei niederen
Temperaturen und negativ bei hoheren, so ist auch anfangs po-
sitive d. h. die Eonstante wachst mit steigender Temperatur und erreicht
fur q = 0 ihren hochsten Wert. Ist umgekehrt bei niederen Tempera-
turen die Reaktionswarme negativ, und geht durch Null in positife
Werte, so handelt es sich um ein Minimum bei q==0^).
Aus den Zahlen von Hautefeuille (S. 495) lasst sich indessen ein
derartiger Gang der Konstante fur Jodwasserstoff nicht entnehmen.
Andererseits glaubt Bodenstein^) aus seinen Yersuchen schliessen zu
diirfen, dass bei 300^ thatsachlich ein Minimum besteht. Doch ist dies
Ergebuis sehr unsicher, da bei dieser Temperatur die Reaktion ohne
Beschleuniger ausserordentlich langsam erfolgt, und zudem die gemachten
Messungen, die ohnedies an der Grenze des Beobachtbaren lagen, durch
die damals noch nicht beriicksichtigte Fehlerquelle der Einwirkung des
Glases in unbekanntem Umfange beeintrachtigt sind. Eine Wieder-
holung der Versuche bei Gegenwart von Platinschwamm (vielleicht ge-
niigt ein diinner Platinbeschlag auf dem Glase) wiirde bald Aufklarong
schaffen.
Es ist hierbei nicht zu vergessen, dass die thermochemischen Grund-
lagen dieser Rechnung gleichfalls nicht unerhebliche Fehler enthalten
konnen, und ein thatsachlicher Widerspruch der Erfahrung gegen jenen
Schluss nur die Richtigkeit jener Zahl, nicht aber die der Theorie in
Frage stellen wiirde.
^) Es braucht kaum erw&hnt zu werden, dass man jede Reaktion, deren
W&rmetdnung durch Null geht, so formulieren kann, dass bei niederen Teoiperatnren
q ein bestimmtes Zeichen , z. B. das positive hat, denn sei etwa A + B «= C + q
die Gleichung der einen Reaktion, so ist Cs"A-{-B — q die der anderen. Bei
einer solchen Umkehrung verwandelt sich die Konstante k in ihren reziproken
Wert 1/k und Ink in — Ink.
«) Zeitschr. f. phys. Chem. 18, 124. 1884.
Chemiscfae Gleichgewichte zweiter OrdnuDg. 503
20. Ein fester Kdrper neben Gasen. Wenn in der Gleichgewichts-
gleicfaang zweiter Ordnung die Zahl der Freiheitsgrade beschrankt
werden 8oll» so muss dafiir gesorgt werden, dass eine der Eonzentra-
tionen Yon den beiden anderen uuabhangig wird, also bei konstanter
Temperatur einen konstanten Wert annimmt. Um dies za eiTeichen,
moss man cinen mit dem fraglichen Gasbestandteil hylotropen Korper
im festen Zustande hinzufiigen.
Es ist wesentlich, dass dieser binzugefugte Korper fest und nicht
fliissig ist. Denn ein fliissiger Korper wird in allgemeinen yon den
aoderen Gasen mebr oder weniger auflosen; dadurch aber wird das
Gleichgewicbt zwiscben ibm und seinem gasformigen Umwandlungs-
produkte geandert, und dementsprechend aucb dessen Konzentration:
diese wird sonacb von der Zusammonsetzung der iibrigen Gasbestand-
teile abbangig, was ja ausgescblossen sein sollte. Hat dagegen unserer
Definition eines festen Korpers gemass (S. 303) die Boscbaffenbeit etwaiger
anderer Pbasen, die zugegen sind, keinen Einfluss auf die Zusammen-
setzung des Korpers, so bleibt sein Dampfdruck ungeandert.
Wir baben es bier mit einem besonders einfacben Falle des Dal-
tonschen Gesetzes von der Unabbangigkeit der Eigenscbaften der Gase
in ihren Gemiscbeu zu tbun. An friiberer Stelle ist bereits auseinander-
gesetzt worden, dass der Dampfdruck eines fliicbtigen Korpers unab-
hangig davon ist, ob in dem Dampfraume andere Gase vorbanden sind
Oder nicht, wenn nur der fliicbtige Korper keine Anderung erleidet.
Diese Voraussetzung ist bei den wenig loslicben Gasen, wie es z. B. die
Bestandteile der atmospbarischen Luft sind, nahezu erfiillt, aucb wenn
es sich um Fliissigkeiton bandelt^), docb ist streng genommen immer
ein Einfluss vorbanden. Bei festen Korpern wird er schliesslicb aucb
Torhanden sein, docb ist sein Betrag so verscbwindend gering, dass er
obne jede Sorge ausser Betracht bleiben kaun.
Der Satz, dass der Dampfdruck eines festen Korpers unabbangig
ist von dem Vorbandensein beliebiger anderer Gase, ist die Grundlage
aller weitereu Schliisse in der Lehre vom Gleicbgewicbt fester Korper.
£r ist allgemoin angenommen, hat aber trotz seiner Wicbtigkeit nie
eine scharfe experimentelle Priifuug erfahren. AUerdings sind auch bei
den zablreicben Anwendungen, die er gefunden bat, keine Widerspriiche
') Um den Betrag dieses Einflusses zu Uberschauen, bedenken wir, dass unter
mittleren Verh<nissen ein Mol -» 18g Wasser 0*3 bis 0*4 ccm Luft, also hOchstens
mnd 0-00002 Mol aufnimmt. Dadurch erleidet das Wasser eine Dampfdruckver-
mindemng von 0-002 Prozent: ein Betrag, der schwerlich im Bereich der Mess-
barkeit liegen dOrfte.
504 II* Ghemische Dynamik.
gegen ihn zu Tage getreten; doch verlangt sicher das System der
WiBsenscbaft die Ausfubrung einer entsprechcndeQ Untersuchung mit
den feinsten Hilfsmitteln der Experimentierkunst, and man 8ollte sich
von der Ausfiihrung einer solchen Arbeit nicbt durch die Vermutung
zuriickscbrecken lassen, dass man nur eine Bestatigung der allgemeiD
angenommenen Ansicbt finden wird. Oft genug sind bei der Ausfiihrang
solcber „8elb8tyer8tandlicher^' Unter8ucbungen sebr unerwartete Dinge za
Tage getreten.
Auf einen Punkt mu8S indessen noch bingewiesen werden, wenn es
sich urn die Priifung des Daltonscben Gesetzes in diesem Falle handelt
Bei Beriihrung mit einem fremden Gase unterliegt der Korper einer
Pressung (S. 362) nnd muss dadurcb seinen Dampfdruck vermehren.
Dieser Einfluss darf bei einer strengen Priifung nicbt vernacblassigt
werden; fiir seine Beriicksicbtigung sind an der angefiibrten Stelle die
Grundlagen gegeben.
21. Zwei Falle. Das Gleicbgewicbt zweiter Ordnung mit einem
festen Eorper kann in zweierlei Gestalt auftreten, und folgt dann vei>
schiedenen Gesetzen. Bezeichnen wir wie fruber mit A und B Grase,
mit F den festen Eorper, so kann die Reaktionsgleicbung folgende Ge-
stalt baben:
miA + m2F = nB
und mjAj +m2A2 =nF,
d. h. es kann entweder ein Gas mit einem festen Korper unter Bildung
eines Gases reagieren, oder es bilden zwei Gase durcb Wecbselwirkung
einen festen Korper. Beide Falle lassen sich experimentell herstellen;
doch ist der zweite bei weitem der haufigere und er ist auch allein
bisber genauer untersucht worden.
Die isotberme Gleicbgewichtsgleichung ergiebt sich durch ganz
ahnliche Betracbtungen, wie in den friiheren einfachen Fallen. Wir
haben es prinzipiell gesprochen mit dem Falle zu thun, dass die gas-
formige Phase aus drei Bestandtcilen besteht, und dass dazu noch die
feste Phase kommt Fiir die virtuelle Energieanderung beim Gleicfa-
gewicht kommen indessen nur zwei von den gasformigen Phasen in Be-
tracht. Denn der Druck des Gases, welches mit der festen Phase hylo-
trop ist, ist nach der Voraussetzung konstant, seine virtuelle Anderung
daher gleich Null. Wir baben demgemass die beiden Falle:
n^dlnp + m2d(F) — ndlnq = 0
und m^dlup^ -f-m^dlnp, — nd(F) = 0.
In beiden Gleichungen sind die Drucke der Bestandteile mit p, der
Chemische Gleichgewicbte zweiter Ordnung. 505
der Verbindung mit q bezeichnet, wabrend d (F) die Yolumenergie ist^
welche der feste Korper bei der virtuellen Zustandsanderung liefert
Dieser Betrag ist unter gewobnlicben Yerbaltnissen so klein, dass wir
ilm den tod den Gasen herriihrenden Gliedem gegeniiber obne mesa-
baren Fehler vernacblassigen konnen. Denn wabrend das Molekular-
Tolmn der Gase nnter normalen Yerbaltnissen 22300 ccm betragt,
schwankt das der festen Korper zwiscben 10 und 100 ccm, erreicbt also
uoch nicht ein Prozent jenes Wertes. Wird bei grosserem Druck das
GasTolam kleiner, so beginnen aucb die Abweicbungen von den Gas-
gesetzen, so dass die Beriicksicbtigung der Yolumenergie der festen
Korper etwa gleicbzeitig mit der der Abweicbungen von den Gasge-
setzen einzutreten bat.
Demgemass ergiebt die Integration der Gleicbung die Beziebung
-^ = const, und p™i.p°'« = const.,
wo in der Konstanten ein von der Bescbaffenbeit des festen Eorpers
abhangiger Faktor enthalten ist. Durcb den gewobnten Cbergang auf
die Eonzentrationen erhalten wir
b°
— - = k und afi . a™« = k.
Man erhalt dieselbe Scblussgleichung mit Hilfe des von Guldberg
iind Waage ausgesprocbenen Satzes, dass die wirksame Menge eines
festen Korpers konstant ist. In der fiir Gase geltenden Gleicbgewicbts-
gleicbung
b'^
a™' . a°^»
= k
wird demgemass eine der Yeranderlicben konstant, und je nacbdem
dies eine der a-Grossen oder b ist, haben wir die beiden Falle
b"*
— — = k und a™».a"« = k.
j^m 1 ^2
b°
22. Der erste Fall. Die Gleicbung -^^ = k zeigt, dass beide
a
Case ibre Konzentration gleicbzeitig in demselben Sinne andern. Den-
ken wir nns, um ein anscbauliches Bild zu haben, unter A Chlor, unter
F ein Metall und unter B sein fliichtiges Chlorid, alles bei einer Tern-
peratur, bei welcher letztcres gasformig ist und sich im messbaren
DissociatioDSgebiet befindet, so wird folgendes eintreten. Das Metall
geht in das Cblorid iiber, welches sich verfliichtigt, bis dessen Teil-
dnick so gross, und der Teildruck des Chlors so klein geworden ist^
[
506 n. Ghemische Dynamik.
dass die Gleiohgewichtsbedingung erfuUt ist. Handolt es sich um eia
zweiwertiges Metall, dessen Ghlorid also dasselbe Volum hat, wie das
darin enthaltene Chlor, so wird m = n, es findet keine Volamaiiderung
bei der Reaktion statt, und der Druck hat keinen Einfluss auf das
Gleichgewicht. Dann ist bei jedem Druck das Verhaltnis zwischen freiem
Ghlor und Ghlorid dasselbe, und zwischen dem festen Metall und dem
uberstehenden Gasgemisch findet keine chemische Reaktion bei Druck-
anderungen statt; vielmehr verbalt sich das Gasgemisch beziiglich seiner
Druck -Volumfunktion wie ein einheitliches und indifferentes Gas.
Sind m und n verschieden, so treten die bekannten Betrachtungen
ein, dass bei zunehmendem Druck die mit Volumverminderung behaftete
Reaktion vorschreitet, und umgekehrt Haben wir es z. B. mit eiuem
einwertigen Metall zu thun, so dass die Gleichung gilt Gl^-{-2Me =
2MeGl> so ist m=l und n = 2; das Volum verdoppelt sich bei der
Reaktion, und so muss sich das Ghlorid bei zunehmendem Druck mehr
und mehr zersetzen, wahrend es umgekehrt bei abnehmendem Druck
bestandiger wird. Dies Ergebnis steht mit den liblichen unbestimmten
Vorstellungen in hinreichond auffallendem Widerspruch, um die Auf-
suchung und das eingehendere Studium eines entsprechendcn Falles
lohnend zu machen.
Ist umgekehrt m >> n, so findet bei abnehmendem Druck Zersetzung,
bei zunehmendem Bildung der Verbindung statt. In diesen beiden
Fallen yerhalt sich das mit dem festen Korper im Gleichgewicht
stehende Gasgemisch nicht dem Boyleschen Gesetz gemass, sondern es
vergrossert bei der Druckverminderung sein Volum mehr, und vermindert
es bei einer Druckvergrosserung weniger, als dem Gesetz entspricht.
Fiir den Gesamtdruck P = p-j-q erhalten wir durch Substitution aus
der Gleichung ^=k
P=:p(l + k" p"" ).
Die Formel zeigt, dass P und p einander nicht proportional, sondern
da k und p uotwendig positive Grossen sind, so ist der Faktor von p
immer grosser als Eins, und P muss schneller wachsen und abnehmen,
in — n
als p. Nur im Falle, dass m = n ist, wird p ° gleich Eins, und es
tritt die oben erwahnte Proportionalitat zwischen Gesamtdruck und
Teildruck ein.
An diesen Schliissen wird auch nichts geandert, wenn der (kon-
stante) Teildruck des andcren Bestandteils (z. B. des Metalls), welcber
der Einfachheit wegen vernachlassigt wurde, in Rechnung gczogen wird.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 507
Eine experimentelle Untersucbung dieses Falles liegt noch nicht
Yor. Ein geeignetes Beispiel ware vielleicbt die Umwandlung des
schwerfliichtigen Ferrocfalorids in das viel leichter fliichtige Ferrichlorid
nach dem Schema
2EeCP + Cl» = 2FeCl^
der Fall wiirde ausserdem das Interesse haben, da^ mit steigendem
Druck die Dissociation des Ferricblorids in Ferrocblorid und Cblor zu-
nebmen miisste.
23. Der zweite Fall. Der Fall, dass die Reaktionsgleicbung dem
Schema m^ Aj + m^ A^ = nF
eutspricbt, ergiebt auf Grund der gewobnten Betracbtungen die Formeln
und aj^».a™« = k,
deren Bucbstaben die iiblicbe Bedeutung haben.
Aus der Gleicbung gebt ein entgegengesetztes Verhalten dem
Yorigen Falle gegeniiber hervor. Die beiden Teildrucke oder Konzen-
trationen der 6ase andern sich im umgekebrten Sinne; nimmt der eine
Wert zu, so muss der andere abnehmcn. Man siebt dies noch unmittel-
barer aus der Differentialbeziebung m^dpi £= — mjdp,.
Je grosser man den Teildruck des einen Gases macht, um so kleiner
wird der des anderen, doch kann dieser nie gleich Null werden, wie
gross man jenen auch machen mag.
Laast man zunachst keines der Gase im Cberscbuss yorbanden sein,
so steben die reduzierten Volume beider Gase im Verhaltnis m^:m3,
und die Teildrucke im Gemisch daber im Verhaltnis — : — -^ d. b. es
n T) mj m2
ist — = — . Dies Verhaltnis bl^ibt ungeandert, wenn man einen
m^ m^'
weiteren Teil der festen Verbindung vergast, oder umgekebrt durch
Volumverminderung aus d6n Gasen entsteben lasst.
Auf Grand dieser Gleicbung und der alsdann fiir den Gesamtdruck
P giltigen*) P = m^p, + m,p,
kann man Px und p^ aus der Gleicbgewicbtsgleicbung eliminieren, man
erhalt
m, \"» / mo \"*« ^ , , ,
m2 -f- m^ / \ m\-\-m\
oder P = k".
^) Es ist hierbei die Yoraussetzung gemacht, dass der Teildruck der Yer-
Undong Temachl&ssigt werden kann (s. w. u.).
508 II* Chemische Dynamik.
wo k'' eine andere Konstante ist, welcbe neben k' nur die Molekalar-
koeffizienten m^ und m^ entbalt.
Dieser Ausdruck stimmt der Form nacb vollig iiberein mit dem
fur den Dampfdruck einer einfachen Fliissigkeit, oder allgemein fur das
beterogene Gleicbgewicht erster Ordnung mit einer Gaspbase. Das
beisst, wenn wir^ dorcb die eben angegebene Bedingung beziiglicb des
Yerbaltnisses beider Gasmengen iiber einen Freibeitsgrad verfiigt baben,
80 bleibt nur einer nacb, und wir kommen auf die typiscbe Form solcher
Gebilde. Unser Korper verbalt sicb demnacb derart, dass er einer
Gleicbung p = f(t) geniigt, indem jeder Temperatur ein bestimmter
Druck entspricbt, und umgekebrt. Ebenso wird der Einfltfss der Tem-
peratur durcb eine Formel von der Gestalt
dp_^
dT ~VT
dargestellt, wie sie fur den Dampfdruck giltig ist.
Indessen gilt, wie besonders betont werden soil, diese Beziebung
nur unter der oben angegebenen Bedingung, dass die Gase im Raume
in demselben Yerbaltnis vorbanden sind, in welcbem sie sicb aus dem
festen Korper entwickeln. Dieser Umstand ist friiber nicbt mit be-
rticksichtigt worden, und man bat geglaubt, den Dissociationsdruck der-
artiger binarer Verbindungen aucb beim Uberscbuss eines der Zer-
setzungsprodukte wie einen gewobnlicben Dampfdruck messenzudiirfen^).
Die eben gemacbten Uberlegungen lassen sicb obne wesentlicbe Ande-
rung auf beliebig viele feste Korper und Gase erweitern, nhA wir ge-
langen zu dem folgenden allgemeinen Satze: Giebt ein fester Korper
verscbiedene Gase in konstanten Verbaltnissen ab, so verbalt er sicb
in einer Atmospbare, welcbe die Gase in denselben Verbaltnissen ent-
balt, wie der feste Korper sie abgiebt, so, als gabe er nur ein einziges
bomogenes Gas aus. Die Bcrecbtigung zu dieser Yerallgemeinerang
liegt darin, dass durcb die Festsetzung, dass die Verbaltnisse konstant
sein soUen, bei n verschiedenen Gasen n — 1 Bedingungen gegeben sind.
Da das Gebilde nacb der Voraussetzung aus zwei Pbasen besteht*)* so
giebt das n + 1 Bedingungen und von den n + 2 Freibeiten eines Ge-
bildes aus n Bestandtcilen bleibt sonach in alien Fallen nur eine Frei*
beit iibrig, und es gilt die Gleicbung p = f(t).
^) Auf den hier begangenen Fehler babe ich bereits 1B86 in der ersten Auf*
lage meines Lehrbuches (llj 686) hingewiesen.
') Die Schlussweise bleibt wesentlich die gleiche, wenn mehrere feste Korper
Torhanden sind; dann muss notwendig die Zahl der Gase, oder die Zahl der zwi*
schen ihren MengenverhMtnissen vorbanden en Freibeiten entsprechend kleiner seiA^
Ghemische Oleichgewichte zweiter OrdnuDg.
509
Auch kann man die Sache so auffassen, class das konstant zu-
sammengesetzte Gasgemenge fur die betracbteten Yorgange als ein
einziger Bestandteil gilt (vgl. S. 478), wodurcb man auf das gleicbe
Ergebnis kommt.
24. Nioht&quivalente Mengen. Die Form, in welcber bei nicbt-
aquivalenten Mengen der beiden gasformigen Zersetzungsprodukte die
Abhangigkeit des Gesamtdruckes Ton Volum annimmt, bangt natur-
gemass Ton den Werten der Molekularkoeffizienten m^ und mg ab. 1st
im einfachsten Falle m, =m2, so ist das Produkt der beiden Teildrucke
Pi and ps konstant, also PiP2 = k. Nach einem bekannten Satze hat
nan die Summe zweier Faktoren, deren Produkt konstant ist, ihren
kleinsten Wert, wenn beide Faktoren einander gleicb sind. Es ist also
Fig. 55.
der Gesamtdruck P = Pi + P2 ©in Minimum, wenn Pi = Pj , d. h. wenn
keines der beiden Ga^e im tiberschuss ist; in alien anderen Fallen ist
der Gesamtdruck grosser.
Da nun, wenn wir ein solches Gasgemisch aus ungleichen Anteilen
znsammenpressen, gleicbe Anteile beider Gase zu dem festeu Korper
zmammentreten, so ist das Verhaltnis der nachbleibenden Gasmengen
Doch mehr im Sinne einer Ungleichheit Terschoben, und der Gesamt-
druck muss daber trotz der Bildung des festen Eorpers zunebmen. Um-
gekebrt nimmt bei der VolumTcrgrosserung der Gesamtdruck ab.
Man kann sich die Verbaltnisse durch eine einfache Zeicbnung
▼eranschaulichen. Um zunacbst den Einfluss der Zusammensetzung auf
den Gesamtdruck kennen zu lemen, konstruiere man die KurTe Pi-p^
= const, mit p^ und p^ als Veranderlicben ; man erhalt, wie bekannt
510 II* Chemische Dynamik.
eine rechtwinklige HyperbeL Die SumiDen p^ -|- Ps erhalt man, wena
man von den Punkten des Hjperbel, z. B. a, /3, / Horizontale ad,
^ff\ YY bis zur Vertikalaxe zieht; dies sind die Abscissen p^. Ver-
langert man diese Geraden um die Werte der entsprecbenden Ordinaten
a'o, jS'o, /'o bis a", jS", 7", so liegen diese Punkte, wie aus der Kon-
struktion ersicbtlicb, in einer unter 45^ durch o gehenden Geraden
(der zweiten Axe der Hyperbel) und die Strecken «"«, j9"i9, y"/ stellen
die gesuchten Gesamtdrucke dar. Fiir den Scbeitel der Hyperbel fi hat
diese Strecke ein Minimum, und nimmt von da symmetrisch nacb beiden
Seiten zu.
25. Konstanter t)l3ersohu8S. Bezeichnet man die beiden Teildrucke
Pi und Pj mit p und p + a, so wird beim Vergrossem oder Ver-
kleinern des Yolums die absolute Menge des iiberschussigen Gases immer
konstant sein, da stets aquivalente Mengen der beiden Gase entstehen
oder verschwinden. Der Teildruck a des tiberschusses ist dagegen dem
GesamtYolum V des Gasgemenges umgekehrt proportional, so dass wir
setzen miissen u = -r=-, wo a der Teildruck beim Volum Eins ist
a a
Daraus folgt der Gesamtdruck P = p + p -f- -— = 2p + -^'
Andererseits ist Pi.p2 = k und pj + pj, = P. Eliminiert man einen
der beiden p- Werte, so folgt die einfacfae Beziehung:
Differenziert man P nach p und setzt den Wert gleich Null, so
folgt fur das Minimum von P die Bedingung p* = k oder p==yt
Damit also P seinen kleinsten Wert hat, muss der Druck des einen
der beiden Gase gleich Vk sein. Da andererseits Pi.pj=k, so ist
dies nur moglich, wenn auch der Druck des anderen Gases gleich Vk
ist, d. h. wenn beide Gase in aquivalenten Mengen anwesend sind.
Das gleiche Ergebnis war oben durch eine andere Betrachtung er-
halten worden.
Lost man die Gleichung nach p auf, so folgt
p + yp>«_4k
P = -— -^ '
und zwar gelteu beide Vorzeichen, indem das eine den Druck des einen,
das andere den des anderen Gases liefert. Oenn das Produkt
p + yp«_4k P-VP»— 4k
P+P- = .J ^
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung.
511
ergiebt k; es ist ako p+.p- = PiPj» und da einer der Werte p-j. oder
p. jedenfalls den Teildruck eines der Gase darstellt, so muss es dem-
nach anch der andere tbun.
SteUt man p als FuDktion Ton P dar, so erhalt man (Fig. 56, wo
k = l gesetzt ist) eiue Hyperbel,
deren Asymptoten einen von k
abhangigen Winkel bilden. Jede
p-Koordinate hat zwei Durch-
schnittspunkte, welche die beiden
Teildmcke der vorhandenen Gase
angeben, und je verschiedener diese
beiden werden, um so grosser ist ^
der Gesamtdruck P. Im Punkte Pq
werden beide p einander gleicb,und
dieserPankt entspricht gleichzeitig
dam kleinstmoglichen Werte von P.
Eliminieren wir dagegen, um nur messbarc Grossen zu behalten,
^und p^p + -^j = k, so
♦ -
3-
2 -
:i p 3 4
Fig. 56.
6'
p ans den beiden Gleichungen P = 2p-^
folgt:
P = j/-|^- + 4k Oder PV = l/a« + 4kV«.
Die erste Form' der Gleichung zeigt, dass nur im Falle a = 0, also bei
aqaiyalenten Mengen beider Gase, der Gesamtdruck P unabhangig Tom
Volum V ist, also das Dampf-
dmckgesetz Geltung hat, die
zweite, dass nur fur k = 0,
d. h. wenn iiberhaupt keine
Dissociation eintritt, das
Bojlesche Gesetz bestehen
wiirde. Thatsachlich weicht
die Beziehung zwischen
Drack und Volum von beiden
Grenzfallen ab.
Diese Beziehung lasst
sich graphisch veranschau-
lichen, wie das in Fig. 57
gescbehen ist, und zwar stellt
aich die Kurve als eiue recbtwinklige Hyperbel dar, indem fur kleine
Volume der Druck P ins Unbegrenzte zunimmt, wahrend fiir grosse
Volume sich P dem Werte 2yk, d. h. der Summe der beiden Teildmcke
512 n. Chemische Dynamik.
bei gleichen Volumen der beiden Gase nahert. Die beiden Asymptoten
Bind daher V = 0 und P = 2Vk = 2p.
Es stellt sich also die einfache Beziehuug herans, dass das Ver-
halten eines homogenen Gases beziiglich Druck und Volum durch ganz
dieselbe Eurve dargestellt wird, wie das des dissociierten Gemisches in
diesem Falle. Nur ist die Kurve um einen bestimmten Betrag in der
Richtung der Druckaxe verschoben, und das Gemenge yerhalt sich, als
folge der Cberschuss des einen Bestandteils dem Boyleschen Gesetze,
wahrend sicb stets der Druckbetrag aus der reinen Dissociation der
Verbindung als konstante Grosse dazu addiert.
26. (Hgenwart der Verbindtuig im Gkisraume. Bei den bisberigen
Erorterungen ist die Voraussetzung festgebalten worden, dass sich der
Gesamtdruck des Gasgemengos, das mit der festen Phase im Gleichg^
wicbt steht, nur aus den Teildrucken der Bestandteile zusammensetzt,
und dass somit in der Dampfphase keine messbare Menge der unzer-
setzten Verbindung in Dampfgestalt Torhanden sei. Wir lassen jetzt
diese Annahme fallen.
Zunachst ist notwendig bei gegebener Temperatur der Teildruck
der Verbindung konstant, so lange diese als feste Phase zugegen ist
In der fur die Konzentrationen geltenden allgemeinen Gleichung
b*^
= k
a^i.a™»
ist also die Konzentration b der Verbindung konstant, da der Dampf-
druck es ist, und die Beziehung
a™«.aj« = const
bleibt unverandert bostehen, ob b eine messbare Grosse bat oder nicht
Wir erhalten sogar durch diese Oberlegung die Uberzeugung, dass der
Wert yon b immer endlich bleiben muss, wie weit er sich auch unter*
balb des messbaren Gebietes befinden mag. Denn ware b in alter
Strenge gleich Null, so ware auch a™i.aj* = 0, d. h. es ware keine
■Dissociation des Stoffes moglich. Dissociierbarkeit und Fliichtigkeit im
unzersetzten Zustande sind also mit einander verkniipft; da aber die
Konstante k im iibrigen sehr verschiedene Werte annehmen kann, so
stehen beide Eigenschaften durchaus nicht iiberall in gleichem Verhaltnis.
Etwas anders gestalten sich die Formeln durch EinfiihruDg der
Teildrucke. Nennen wir wie friiber P den Gesamtdruck, p^ und p, die
Teildrucke, die den Bestandteilen entsprechen, so haben wir noch den
Teildruck py der Verbindung einzufubren, und es gilt allgeoiein
P = Pi+P2+Pt.
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 513
Fur den Fall der Dissociation ohne Oberschuss eines Bestandteils
werden die neuen Formeln von den alien sich nur dadurch unter-
scbeiden, dass an Stelle von P der Ausdruck P — p^ tritt (S. 507). Wir
gelangen demnach zu der Schlussgleichung P = k''-|-py, und da pr
gleicbfalls bei gegebener Temperatur eine Konstante ist, so wird an deu
Folgemngen, welche S. 508 beziiglich des allgemeinen Yerbaltens ge-
zogen worden sind, nichts geandert. Umgekebrt wird aus dem Yer*
halten eines solchen Gebildes sich keiue Moglichkeit ergeben, zu er-
mitteln, ob und in welchem Betrage im Gasgemisch die Yerbindung
anwesend ist.
27. Bestimmong von pv Ob py einen endlichen Wert hat, er-
fahrt man am besten aus der Messung der Dichte des Dampfes der
dissociierten Yerbindung. Bestebt dieser Dampf nur aus den Bestand-
teiien ohne die Gegenwart der Yerbindung, so gilt
PM = PiMi+p,M„
wo P der Gesamtdruck und M das scheinbare Molekulargewicht des
Dampfes ist, wie es sich aus der gemessenen Dichte ergiebt. Ferner ist,
wenn kein Bestandteil im tiberschuss anwesend ist, Pi=nijpn und
Pi = msPn, sowie P = miPn + m8Pn, wo pn der Druck von einem Mol
Gas unter den vorhandenen Umstanden ist, so dass wir haben:
mj +mj
Das scheinbare Molekulargewicht ist also der zusammengesetzte
Mittelwert der Molekulargewichte der Bestandteile.
Enthalt dagegen der Dampf etwas von der Yerbindung mit dem Mole-
kulargewicht nMy = miMi 4-i^s^s ^^^ ^^^ ^^™ Drucke p^i so ist das
scheinbare Molekulargewicht grosser. Denn es gilt dann
PM = PjM^i + PjMj + PtMv.
Unter der Yoraussetzung, dass kein Bestandteil im Uberschuss vor-
handen ist, haben wir
[(m^ +mj)pn + pT]M = (miMi + m,M,)pn + nM^py
und daraus
Pt (m, 4-™2)M — nMv
Pn nMv — M
Nun ist -^ das Yerhaltnis zwischen dem thatsachlichen Druck der
Pn
Yerbindung zu dem Druck, den ein Mol eines Gases (also auch der
Ostwftld, Chemle. 11,3. 2.Anfl. 33
514 H- ChemiBche Dynamik.
Pt
Verbindung) in demselben Raume ausiiben wiirde; es ist also -^ gleich
dem Bnicbteil der Gesamtmenge der Gase, welcher in die Verbindung
iibergegangen ist
Dies Verfahren fiibrt indessen nur dann zum Ziel, wenn m^ -|- m, :^n
ist, d. h. wenn die Verbindung aus den Bestandteilen unter Volnm-
anderung entstebt Im anderen Fall wird die Dicbte dnrcb den Ver-
bindnngSYorgang nicbt geandert, man kann uber diesen also aus der
Dicbte nicbts erfabren. Die obenstebende Gleichung nimmt demgemaas
fiir diesen Fall den nnbestimmten Wert 0/0 an.
28. Zweites VeifUiren sur Bestimmtuig von Pv. Andererseits
ergiebt sicb pr aus der Untersucbung des Verhaltens des Gebildes aus
Gas und festem Eorper, wenn eines von den Gasen im Uberschuss ist.
Denn wenn wir annebmen, dass im Gasraume neben den Bestandteilen
nocb die Verbindung yorbanden ist, so baben wir, wenn wir der Ein-
facbbeit wegen zunacbst m^ =m2 = l setzen, den Gesamtdruck P=Pi
-j-p^-j-py, wabrend fur das Gleichgewicht die Beziebung Pi.p2=^
besteben bleibt. Setzt man wieder wie oben Pi=p und P8 = p + y-»
so gilt p(p+Y]=k und P = 2p+Tr + PT> und eliminiert man
p aus beiden Gleicbungen, so folgt
^-p^=K-J^+4t.
Die Gleicbung ist der S. 510 entbaltenen ganz abnlich, nor dass
sie P — Pt an Stelle Ton P entbalt. Die Beziebung zwischen P und V
wird klso wieder durch eine recbtwinklige Hyperbel dargestellt, deren
eine Asymptote die Gleicbung V = 0 bat. Nur bat die andere Asymptote
nicbt die Gleichung P = 2Vlk oder =2p, sondern die Gleichung P =
Po~l~2P' B^^ is^ ^^^ u^ ^^'^ Betrag des Druckes p^ der Verbindung
weiter geriickt. Die S. 511 gemachte Bemerkung bleibt also auch hier
in Geltung.
Um py zu bestimmen, bedarf es zweier unabhangiger Messangspaare
von Druck und Volum, von denen eines am besten ohne Oberschuss
eines Bestandteils gemacht wird. In diesem Falle ist a = 0, and wir
baben, wenn wir den entsprecbenden (kleinsten) Gesamtdruck Pj^ nennen»
P„ = p, + 2yk Oder (P„, — pO* = 4k.
Eliminiert man hiermit 4 k aus der vorigen Gleicbung, und qaadriert»
80 folgt
i
ChemiBche Gleichgewichte zweiter Ordnung. 515
(P-p,)»-(Pm-pO» =
a»
nod darch die Umformang des Unterschiedes zveier Quadrate und Auf-
losong nach p^
pt = -g- (Pm + p — -v»-(p_p^) ;•
wodurch p, in lauter bekannten Grossen aasgedriickt ist
Ahnlicbe Rechnuagen lassen sich fiir den allgemeinen Fall durch-
fiihreD, dass m^ und m^ von £ins verschieden sind. Da sie indessen
nichts wesentlich Verschiedeues bieten, so kann einstweilen auf sie ver-
zichtet werden. Ohnedies ist bisher keine experimentelle Priifung einer
der bier entwickelten Formeln vorgenommen worden. Wenn eine solcbe
Arbeit auch vermutlich nicbts erbeblicb neues zu Tage fordern wUrde,
80 ist docb die experimentelle Veranscbaulicbung der errecbneten ein-
facben Verbaltnisse um so mehr als eine zu erledigende Aufgabe der
Wissenscbaft zu bezeicbnen, als klare Vorstellungen yon den bier gol-
tenden Gesetzen nocb wenig verbreitet, und die vorbandenen Arbeiteii
Tielfiacb obne solcbe ausgefubrt worden sind.
29. Bzperimentelle Best&tignng. Aucb in diesem Falle ist die
Tbeorie der Beobacbtung ziemlicb weit vorausgegangen. Nacbdem scbon
1873 and 74 Horstmann and Gibbs (S. 113 a. ff.) die bier auftreten-
den Beziebangen abgeleitet batten, dauerte es bis 1881, dass ein eut-
sprecbender Fall gepriift wurde. Dies gescbab durcb Isambert (s.w. u.),
der, obne anfangs von der vorbandenen Tbeorie Eenntnis zu baben,
aas seinen Beobacbtungen zu dem gleicben Scbluss gelangte, wie jene.
Wie wenig verbreitet zu jener Zeit ricbtige Anscbauungen iiber die vor-
liegenden Verbaltnisse waren, obwobl man sie aucb obne die tbermo-
dyoamiscbe Tbeorie von Horstmann und Gibbs aus dem Guldberg-Waage-
schen Massenwirkungsgesetze ableiten konnte, gebt daraus bervor, dass
lun dieselbe Zeit ^) von zwei verdienten Forscbem die Ansicbt aufgestellt
nnd verteidigt wurde, dass ein solcber dissociierbarer Stoff in einer
itmospbare, welcbe einen der Gasbestandteile mit einem Druck von
mehr als der Halfte des Dissociationsdruckes entbalt, iiberbaupt nicbt
verdampfen kann.
Der zuerst untersucbte Fall eines festen Sto£fes, der in zwei gas-
iormige Bestandteile von gleicbem Volum zer^llt, ist der des Ammo-
niamsolfhydrids: NH « + H * S i;^ NH* • HS.
Es ist von Isambert*) studiert worden.
*) C. r. »3, 595 tt. 730. 1881. «) C. r. 92, 919. 1881; 94, 958. 1882.
33*
516 ^I* Chemische Dynamik.
Zunacht ergaben sich beim Yerdampfen im leeren Raume konstante
Dissociationsdrucke, die nur von der Temperatur, nicht aber von der
Menge des festen Sulfhydrids oder dem Raum, in welcbem die 6ase
sich verbreiten konnten, abhingen. Bei 4*2^ betrug der Druck 13*2 cm,
bei 32.60 gchon 77.2.
•
Bei Gegenwart eioes indifferenten Gases, wie Stickstoff und Waaser-
stoff, entstand eine Druckznnahme Ton dem Betrage des Dissociationa-
druckes im leeren Raume; diese Gase batten daher keinen Einfluss auf
die Dissociation. Anders verhielten sich Ammoniak und Schwefelwasser-
stoff, indem sie den Zersetzungsdruck, entsprechend der obigen Theorie,
erheblich herabdriickten.
Isambert hat gleichzeitig bei derselben Temperatur den Druck in
einer Rohre, welcbe reines Sulfhydrid enthielt und den in zwei anderen
Rohren, in welchen sich ein tJberschuss von Schwefelwasserstoff oder
Ammoniak befand, beobachtet. Nach der oben entwickelten Theorie
muss dann fiir alle drei Versuche das Produkt aus den wirksamen
Mengen beider Gase gleich sein. Den wirksamen Mengen aber ist der
Gasdruck proportional; wir konnen daher die yon Isambert beobachteten
oder aus seinen Angaben zu berechuenden Teildrucke p, und p^ ein-
fuhren und es muss sein PiPa =p/Pf' = p/'pj".
Der Teildruck in der Rohre mit reinem Sulfhydrid findet sicb
leicht; er ist die Halfte des beobachteten Gesamtdruckes. Fiir die
Versuche mit einem Uberschuss giebt Isambert den Druck desselben und
die Druckzunahme durch die Dissociation des Sulfhydrids unter diesen
Umstanden. Fiigt man die Halfte des letzteren zum ersten, so hat man
den Druck des iiberschiissigen Gases, wahrend die Halfte selbst der
Druck des anderen Gases ist. So giebt Isambert in Schwefelwasserstoff
Yon 14.4 cm Quecksilberdruck den Dissociationsdruck 440; daraus folgt
der Druck des Schwefelwasserstoffs zu 16*45 und der des AmmoDiaks
zu 2*05. In solcher Weise sind alle Zahlen umgerechnet, wobei aller-
dings die Voraussetzung gemacht ist, dass bei dem Yersuch das Gas-
Tolum strong konstant gehalten worden ist Uber diese notwendige
Yorsichtsmassregel findet sich keine Bemerkung.
Die nachstehenden Tabellen enthalten unter t die Temperatur,
unter q den Dissociationsdruck des reinen Sulfhydrids, unter p^ den
Teildruck des Ammoniaks, unter p, den des SchwefelwasserstofEsi
und zwar fiir zwei Versuche. Zuletzt sind die Grossen V4 4*9 PiPi
und Pi'pa'} welche der Theorie nach gleich sein soUen, zusammen*
gestellt.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 517
t q Pi ' Pj Pi' Pi' V^q' P1P2 Pi'Pi'
4-1 » 126 202 165 0-68 400 ^S^ 33^8 275"
7-0 15.5 3-86 16*9 1-36 40*0 600 56-8 545
10-1 184 468 173 180 399 844 810 720
120 212 5.93 18-6 250 40-3 112 110 101
15^ 25-9 8*22 20-1 8-91 41*5 168 165 162
173 30-0 103 21.4 5.35 419 225 220 224
19*3 34-9 12-6 23*6 6-42 42-5 304 291 271
22-0 410 159 25-5 905 43*3 420 406 392
231 450 199 272 114 447 506 487 510
251 50*1 20-8 294 13*8 45-8 627 607 632
Bei diesen Yersuchen war iiberall ein tJberschuss von Schwefel-
wasserstoff angewandt worden. Die nachstehenden Messungen beziehen
sich auf Ammoniakuberschuss.
t q Pi Ps Pi' Ps' 'Aq* PiP« Pi'P«'
41 •
126
35*7
1*44
39.9
089
39*7
514
35*6
7*0
15*5
35*6
192
39*8
135
600
682
53.7
10-1
184
35*3
2*73
39*4
2*16
84*4
96*3
850
12*2
21*2
36-3
347
40*5
2-87
112
126
116
15-0
259
38*1
5.59
41*3
446
168
2]d
184
17*3
301
37.7
6*43
41*6
5-59
225
243
232
193
34*9
382
8*00
423
741
304
306
314
220
410
40*7
108
44.3
10*1
420
439
447
231
450
40*5
124
43*9
11*8
506
503
518
25*1
501
417
14-6
45*3
14*3
627
608
648
Die Temperaturen sind in beiden Tabellen die8elben; somit sind immer
je finf Versuche vergleichbar. Es finden nicht uiibetrachtliche Unter-
schiede statt, namentlich am Anfang der Tabellen, wo sehr kleine
Dnioke gemessen werden, welche mit ihren relatiT sebr grossen Be-
obachtungsfehleni als Faktoren eintreten.
Zieht man aus je Tier zusammengehorigen Werten von pp^ das
MitteU so weicht dasselbe sehr wenig mehr von V4Q* ^^9 indem die
Versuchsfehler sich aufheben.
t
V^q"
PjPs, Mittel
41 •
37.9
370
7*0
, 600
583
10*1
84*4
83*1
12*2
112
114
150
168
178
17*3
225
230
19*3 •
304
296
22*0
420
429
23*1
506
505
25*1
627
624
Wie man sieht, ist die Ubereiustimmung jetzt ganz geniigcnd.
518 n. Ghemische Dynamik.
Ahnliche UotersuchuDgen mit gleichem Eh-gebnis sind spater you
Walker und Lumsden^) ausgefuhrt worden.
30. Cyanammonium. Vou Isambert ist in gleicher Weise, wie das
Ammoniumsulfhydrid das ebenfalls aus gleichen Volumen der Bestand-
teile entstehende Cyanammonium*) untersucht worden, welches bei 7^
bereits einen Dissociationsdruck von 17 cm aufweist Die Verhaltnisse
erweisen sich bei einem Uberschuss von Ammoniak ganz denen des
vorigen Paragraphen ahnlicb. Ein Uberscbuss von Cyanwasserstoff kann
nur in sehr bescbrankter Weise angewendet werden, weil dieser bei
den Versucbstemperaturen fliissig ist, und sein Dampfdruck nicht viel
den des Gyanammoniums iibertrifft. Wenn man aber in eine Cyanammo-
nium enthaltende Rohre fliissige Gyanwasserstoffsaure bringt, so stellt
sich ein Druck her, welcher von der relativen Menge beider
Stoffe unabhangig ist, und von dem Dampfdruck der Gyanwasserstoff-
saure wenig abweicht. Doch enthalt der Dampf nicht Gyanwasserstoff
allein, sondern gleichzeitig eine gewisse Menge Ammoniak, wie Isambert
durch unmittelbare Versuche erwiesen hat.
Dies riihrt, wie alsbald ersichtlioh ist, daher, dass unter diesen
Umstanden das Gebilde drei Phasen enthalt, und also nur noch einen
Freiheitsgrad besitzt. Solche Gebilde aber zeigen, wenn sie eine dampf-
formige Phase enthalten, immer die Eigenschaft des bestimmten Dampf-
druckes p = f(t), der nur von der Temperatur, nicht aber von den
Mengenanteilen der drei Phasen abbangt. Dabei ist es gleichgiiltig, ob
der Dampf einheitlich oder ein Gemenge ist.
Auf diese Verhaltnisse wird weiter unten eingegangen werden.
Nachstehend gebe ich eine Tabelle, entsprechend den auf S. 517
fur die Drucke q von Gyanammonium, und die Teildrucke von Ammoniak
Pi und Gyanwasserstoff p, bei gleicher Temperatur. Hinzugefiigt sind
die Werte von ^/^q* und PiP^.
t
q
Pi
Pi
V^q'
PiPt
73 »
175
33.6
219
77
74
74
17-7
346
1-88
78
65
92
19-6
346
2-64
96
91
93
200
354
2-50
100
89
94
202
348
252
102
88
94
20-5
35-0
262
105
92
102
214
347
312
114
108
») Joum. Chem. Soc. 1897, 428.
>) G. r. 94, 958. 1882 and Ann. chim. phys. (5) 28, 332. 1883.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 519
t
q
Pi
Pa
V.q*
Pi Pa
11^«
227
35-8
3-52
129
127
112
233
35.1
3-94
136
138
112
234
35.7
3.75
137
134
114
235
35.4
402
138
142
12.0
24.6
354
4-43
151
157
14.3
26-6
361
5-22
177
188
14.4
26.6
36.0
525
177
189
155
297
36-0
6-55
221
236
15-7
301
360
6-55
227
236
15.7
301
36.6
662
227
243
170
322
364
7-69
259
280
173
32.6
364
7.86
266
286
Die UbereinstimmuDg der beiden letzten Spalten ist geniigend.
31. PhoBphoninmbromid. Ein weiteres Beispiel derselben Gesetze
ist das gleichfalls von Isambert^) untersuchte Phosphoniumbromid,
PH*Br, welches aus gleichen Volumen PhosphorwasserstoflE und Brom-
wasserstoff entsteht. Die nachstehende Tabelle ist in friiherer Weise
angeordnet; q ist der Dissociationsdruck der reinen Verbindung, p^ der
Teildrack des Phosphorwasserstoffs, p^ der des Bromwasserstoffs, und
die Spalten Va^* ^^^ P1P2 gestatten den Vergleich der Theorie mit
der Erfahrung.
t
q
Pi
Pa
V*q»
Pi Pa
76 »
119
310
112
35.4
34.7
9.6
14.3
30.7
1.91
51-1
586
10.0
149
306
201
55*5
615
125
175
310
227
76.6
70.3
125
176
311
2-28
774
70-8
136
181
31-0
2-64
81-9 .
81-8
143
18-8
310
2.72
88.4
84.4
19.8
267
31.4
5-07
1782
159-2
Die Obereinstimmung findet ungefahr in denselben Grenzen statt,
iiod die Abweichungen sind unregelmassig nach beiden Seiten verteilt.
Ahnliche Ergebnisse hat die Anwendung eines Uberschusses von Brom-
wasserstoff ergeben.
t
q
143
Pi
255
Pa
205
Pi
1-86
Pa
24.6
v^q"
Pi Pa
Pi Pa
96 «
511
523
45.7
100
149
2-68
205
1-93
24.6
55.5
54.9
475
125
175
3.53
213
3.I6
251
76-6
751
79-2
13-6
18-1
3.68
210
330
253
81-9
77.3
834
14.3
18-8
389
211
3.33
25-2
88-4
82-0
83.8
') C. r. 96, 643. 1888.
520 ^^' Chemische Dynamik.
Die Versuche sind mit mehreren aus der vorigen Tabelle yergleich-
bar, 80 dass je vier Werte beobachtet sind, welche UbereinstimmuDg
geben miissen. Die Abweichungen sind wieder sowohl positiv wie negatir.
32. Der Fall m^ > m,. Auch der Fall, dass die beiden Molekular-
koeffizienten verschieden sind, ist Gegenstand der ezperimentellen Unter-
suchung gewesen. Horstmann hat ziierst auf den bier auftretenden
Umstand hiDgewiesen, dass gleiche Uberschiisse der beiden Gase in
solchen Fallen wesentlich yerschiedenen Einfluss auf das Gleichgewicht
haben. Wahrend in dem oben erorterten einfacheren Falle beide Gase
sich gleich verhalten, indem die Funktion p^p^ in fiezug auf die bei-
den Drucke p^ nnd p^ symmetrisch ist, so wirkt im Falle p^^p^=
const, wo m^ und m^ verschieden sind, jedes der Gase nach einem
eigenen Gesetz. In dem einfachsten Falle m^ = 1, m^ =2, wo die Glei-
chung in pip| = const, iibergeht, muss beispielsweise p^ auf das vier-
fache wachsen, wenn p^ auf die Halfte abnimmt. Lasst man aber pi
auf das yierfache wachsen, so muss p^ auf '/^^ abnehmen, damit das
Gleichgewicht bestehen bleibt.
Ein Beispiel, in welchem dieser Fall verwirklicht ist, liegt beim
carbaminsauren Ammon vor, das nach der Gleichung
2NH» + C0« :;! NH*. CO'NH^
entsteht und zerfallt.
Zunachst hat Naumann^) nachgewiesen, dass dieser Stoff that-
sachlich einen bestimmten Dissociationsdruck besitzt, wenn man ihn
im leeren Baume verdampfen lasst. Der Dampf besteht aus den Zer-
setzungsprodukten ohne nachweisbare Menge des Salzes, wio Naumann
durch Messuugen der Dampfdichte ermittelte. Sie wurde in zwei Ver-
suchen gleich 25*6 und 25*8 gefunden, wahrend der theoretische Wert
fiir ein Gemenge aus zwei Volumen Ammoniak und einem Yolum
Kohlendioxyd Vs(2Xl7 + 44) = 26 betragt.
Ferner hat Isambert ') Messungen iiber das Verhalten der Dampfe
des Ammoniumcarbamats gegen das Boylesche Gesetz gemacht und
sich iiberzeugt, dass die Abweichungen von gleicher Grosse und in
gleichem Sinne waren, wie die der beiden Gase Ammoniak und Kohlen-
dioxyd. Der Dampf weist sich demnach als ein einfaches Gemenge der
Bestandteile aus.
Aus einer grosseren Zahl yon Beobachtungen leitete Naumann
folgende Tabelle ab, wo die Drucke in cm Quecksilber angegeben sind.
*) Lieb. Ann. 187, 48. 1877.
>) C. r. 96, 340. 1883.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 521
t
P
t
P
t
P
t
P
-15»
026
10«
2.98
26 «
975
42 <»
27.8
-10
OAS
12
340
28
110
44
316
- 5
075
14
3-90
30
12.4
46
34-8
0
124
16
4-65
32
143
48
38-8
2
157
18
537
34
16.6
50
433
4
190
20
6-24
36
191
52
48.5
6
2-20
22
7-20
38
219
54
545
8
257
24
8-48
40
24.8
56
58
61-4
69.6
Die letzten Werte sind nach Messungen von Erckmann^) erganzt
Den Einfluss eines Uberschusses eines der Zersetzungsprodukte
stodierte erst Horstmann.
Da er seine Versuche bei verschiedenen Temperatnren anstellte,
ermittelte er znnacbst den Dissociationsdruck des nnyermischten carb-
aminsauren Ammoniaks bei den benutzten Temperaturen. Um die Teil-
dracke p^ und p, ans dem beobachteten Gesamtdruck q zu berechnen,
beachten wir, dass der Teildmck des Ammoniaks "/j q, der der Koblen-
saure ^/jq ist. Es ist daher pjp^ gleich */87q^ indem p^ den Teil-
dmck des Ammoniaks, p, den der Kohlensaure darstellt. In der nach-
stehenden Tabelle steht unter p^ der Teildruck des Ammoniaks, unter
Pt der der Eoblensaure, unter q endlich der Druck des carbaminsauren
Ammoniaks ohne Beimischung. Darauf folgt das Produkt pfpg und
der Wert */j7q*, die der Theorie nach gleich sein sollen.
Tabelle 1. Eohlens&are im Oberschuss.
Temp.
Pi
Pfi
4
Pi' Pi
V«q*
204»
3.02
489
642
446 393'
218
2.40
8.18
7.10
471
53-3
18-3
166
9-58
5-50
26-4
277
18-3
154
1300
5-50
30-9
24-7
197
127
15-52
5.33
25-0
225
18.6
1-20
1914
5-63
274
26-5
17.9
M8
1815
5-33
252
225
17-8
M3
21.20
5.30
271
221
17-6
101
23-35
5-23
234
21.3
18.6
089
29-31
5-65
28-2
268
177
0-86
28-89
5-26
21-4
215
177
0-87
3202
526
242
21-5
I8.3
087
34-5(>
5.55
261
25.4
I8.4
0-64
1154. 1885.
4200
5.55
17-2
2^4
') Ber. 18,
I
522
n. Chemische Dynamik.
Tabelle 2. Ammoniak im Cbenchnss.
Temp.
Pi
3d4
Pi
150
q
709
Pi*P«
233
V,T<1'
218 •
33.3
20-6
4-86
1-33
653
31-4
414
20-8
6-71
099
662
44-6
431
177
5-55
0-68
5-26
21.0
215
20-8
735
0-75
6-62
405
43.1
208
9-83
0-49
6-62
474
431
217
1275
023
7^
36*5
518
Wahrend die erste Tabelle einigermassen stimmt, zeigt die zweite
noch grosse Unterechiede^ die zu einem Teil daher riihren, dass die
Yersucbsfefaler wegen der Kleinbeit der Werte von p^ einen iibermassig
grossen Einfloss gewinuen, zom anderen wohl daher, dass Horstmann
die Notwendigkeit, das Volum bei der DnickmessaQg zu beriicksich-
tigen, noch nicht kannte. Um einen Oberblick iiber die trotzdem un-
zweifelhafte Bestatigung der Theorie zu geben, teile ich die yon Horst-
mann gegebene Zeichnung mit (Fig. 58), in welcher die Abscissen die
Uberschiisse yon Eohlensaure, bez. Ammoniak darstellen, die Ordi-
naten den Bruchteil des Dampfdruckes, welchen das carbaminsaure
Ammoniak in diesem Uberschuss zeigt. Die obere Kurve stellt den
theoretischen Einfluss des Kohlensaureiiberschusses dar, die nntere den
des Ammoniaks; die eingetragenen Punkte und Kreuze sind die beob-
achteten Werte.
Ahnlicbe Versuche sind spater von Isambert^) bei hoheren Tem-
peratoren ausgefiihrt worden. Ich stelle die yon ihm erhaltenen Zahlen,
in gleicher Weise umgerechnet, wie die yorigen, nachstehend zusammen,
zunachst fiir Ammoniakiiberschuss.
') C. r. 93, 731. 1881.
Chemische Gleichgewichte zweiter OrdnuDg. 523
Temp.
Pi
Pi
q
Pi'P«
Vs^q'
43-0 «
45-9
3.14
34.6
6-61
615
464
51-3
3-66
420
963
10-00
500
552
734
51-0
2236
1970
515
557
7.39
55-6
230
255
53-0
601
9.62
60.1
34.7
321
55-3
65-6
122
670
525
44.7
57-6
724
15.5
764
812
662
610
840
21-1
94.2
141.1
1242
641
•
92-8
253
1132
2178
2155
Ein t)ber8chuss von
Kohlensaure
ergab:
44-7 «
110
43.7
380
5.29
815
485
15-6
532
470
1294
1541
50-5
173
569
52-0
170
229
52-0
20.1
591
561
239
262
54-5
25-7
65-0
64-6
429
400
566
296
692
723
606
561
59-9
390
790
89-2
1202
1054
615
436
83-8
967
1593
1343
Auch hier stimmen die beiden letzten Spalten, deren Zahlen der
Bequemlichkeit wegen durch 1000 diyidiert warden, annahernd iiberein,
doch zeigen sich die Messungen aus dem gleichen Grunde, wie bei
Horstmann, nicht als sehr genau.
Isambert hat zwei Jahre spater seine Versuche mit verfeinerten
Hilismitteln, namentlich in Bezug auf die Erhaltung der Temperatur,
wiederfaolt ^). Leider hat er diesmal nicht die beobachteten Zahlen ge^
3
geben, sondern nur die Werte von q und von V'VaPiPj* welche der
Theorie nach iibereinstimmen miissen. Seine Tabelle ist
y^^'Uviv.
* q
€l)6rschtt88 12.9 ccm
C0« e.locmCOa
e.OccmNBP
11.4ccm NH«
Mittel
34^» 170
17.0
165
I6.7
181
17.1
372 211
211
20.5
20.6
21.6
210
391 234
234
22.9
229
237
232
41.8 269
272
26-8
266
275
27-0
42-5 28.8
28-9
284
286
292
28.8
43.9 314
315
312
314
31.8
315
46-9 376
37.5
372
376
378
37.5
50-1 45-8
45.3
452
45.4
45.5
45.4
526 526
524
622
524
52*6
524
••
Die Ubereinstimmung ist viel besser als fruher,
namentlich :
zwiscl
q nnd dem Mittel der vier Reihen fur T^ViPfPs* D^bei muss indessen
») a r. 97, 1212. 1883.
524 n* Chemische Dynamik.
beriicksichtigt werden, dass bei der oben benutzten Becbenmethode, wo
q' bestimmt wurde, die prozentiscben Fehler sicb dreimal starker gel-
tend macben, als bier bei der Reduktion auf q.
33. Zwei feste Kdrper nnd ein Gas. Wenn drei Pbaseii in
Gestalt zweier fester Korper und eines Gases vorbanden sind, so baben
wir^ falls das Gas von unveranderlicber Zusammensetzung ist, ein Ge-
bilde mit einer Freibeit, welcbes das allgemeine Yerbalten derartiger
Gebilde mit einer Gaspbase, namlicb eine eindeutige Temperatur-Druck-
kurve aufweisen wird, welcbe einer gewobnlicben DampfdruckkurVe einer
fliicbtigen Fliissigkeit abnlicb ist, und dem gleicben Gesetz iiber den
Zusammenbang des Druck-Temperatorkoeffizienten mit der Reaktions-
warme geborcben wird.
Wie ans dieser Darlegung unmittelbar folgt, geboren zur Definition
eines derartigen Gleichgewicbts mit einer einzigen Freibeit notwendig
zwei feste Korper neben dem Gase oder Dampfe. Dieser Umstand ist
sebr lange iiberseben worden, und fast durcb die ganze Entwicklung
dieser Frage ziebt sicb der Irrtum bin, als kame es nur auf den einen
Stoff an, der durcb seine Zersetzung das Gas bergiebt, nicbt auf den
anderen, der dabei entstebt. Es ist dies ein ganz abnlicber Irrtum, wie
er so lango beziiglicb der Loslicbkeit der Salze bestanden bat, demzufolge
versaumt wurde, den besonderen Zustand des festen Salzes anzugeben, in
Bezug auf welcbes die Losung gesattigt ist, und obne dessen Kenn-
zeichnung die Bestimmung unvollstandig ist. Als Erster, bei welcbem
Elarbeit iiber diesen Punkt vorbanden ist, muss nacb dem Yorgange
von van der Waals Bakbuis Roozeboom^) (1886) genannt werden; bis
zu dieser Zeit, und aucb ziemlicb lange nachher, sind alle anderen auf
diesem Gebiete ausgefiibrten Arbeiten in dieser Hinsicbt unvollstandig.
34. Gesohiohtliches. Die Auffassung eines „Zersetzungsdrucke8^^
im Falle einer chemiscben Anderung, der dem gewobnlicben Dampf-
druck voUkommen vergleicbbar ist, ist auf E. Mitscberlicb ') zuruck-
zufiibren, der ein krystallwasserbaltiges Salz (Glaubersalz) in den leeren
Raum eines Barometers bracbte, und dessen Dampfdruck wie den einer
bomogeuen Flussigkeit bestimmte. Eine Hervorhebung dessen, dass es
sicb bier um einen von einer gewobnlicben Verdampfung verscbiedenen
Vorgang bandelt, findet sicb indessen nicbt, und Mitscberlich scbeint
*) Rec. Pays-Bas 4, 337. 1886 and Zeitschr. f. phys. Chemie 4, 41. 1889.
Gibbs wird UDzwelfelhaft schon frOher die richtige Antwort auf diese Frage be-
sessen haben; doch hat er sich nicht ausdrilcklich hierzu ge&ussert.
*) Lehrbuch I, 565. 1844.
Chemische Gleichgewichte zweiter OrdnuDg. 525
dies nicbt sowohl als zweifelhaft, sondern als eines Naohweises nicht
mehr bediirftig aogesehen zu haben.
Viel spater erst ist im Anscblusse an Devilles Untersucbungen
iiber die DissociationserscbeinuDgen (S. 83) durcb Debray^) fur Gal-
ciumcarbonat ein derartiger Satz ausdriicklicb aufgestellt worden.
Debray erbitzte Ealkspat in eiaem PorzolIaugefasSy das mit einem Mano-
meter und einer Qaecksilberlnftpumpe verbunden war, auf Temperaturen
▼on 350<>, 440^ 7bO^ und 920 <> in den Dampfen von Quecksilber,
Schwefel, Cadmium und Zink'). Bei 350^ fand keine, bei 440^ mir
sporenweise Zersetzung statt. Bei 750^ entwickelte sich reichlicb
Eohiendioxyd. Wurde dieses fortgepumpt, so entstand neues, und zwar
in solcher Menge, dass sicb ein Druck Ton 8,5 cm Quecksilber ber-
stellte; alsdann horte die Zersetzung auf. Bei 920^ betrug der Druck
des Koblendioxyds 52 cm. Bei diesen Temperaturen kann man Kalk und
KohlenAioxyd sowohl trennen, als verbinden. Erbalt man den Druck
danernd unter dem angegebenen Werte, so zerfallt das Calciumcarbonat
Tollstandig; bei Drucken dariiber wird Kohlendioxyd aufgenommen.
Spater hat sich indessen herausgestellt, dass der Zerfall des Kalk-
spates und seine Riickbildung kein so einfacher Vorgang ist, wie Debray
angenommen hatte. Weinhold hat^) bei einer Wiederholung der Ver-
suche von Debray nicht dieselben Zahlen, wie dieser finden konnen,
sondern viel grossere erbalten, welche auch nicht konstant waren. Auch
hat Raoult^) gezeigt, dass Kalk bei Rotglut nur die Halite der zur
Bildung von normalem Carbonat erforderlichen Kohlensaure schnell auf-
ninunt, und ein drittes Viertel langsam; das vierte Viertel wird iiber-
Iianpt in messbarer Zeit nicht aufgenommen. Ferner hangt die 6e-
schwindigkeit der Aufnahme sehr davon ab, auf welche Temperatur der
Kalk vorher gebracht war; je starkere Glut er erfahren hat, um so
geringer ist seine Fahigkeit, sich mit Kohlensaure zu verbinden.
Vermutlich hatte Debray von vornherein so viel Kohlensaure ent-
femt, dass weniger als die Halfte nachblieb; dann sind die konstanten
Zersetzungsdrucke erklarlich,
Genauere Bestimmungen der Dissociationscurve des Calciumcarbo-
Bates liegen von Le Chatelier^) vor, der die Temperaturen mittels eines
») C. r. 64, 603. 1867.
*) Diese Temperaturen waren damals nicht richtig beatimmt; Cadmium war
ait 860<> statt 7^0^ Zink mit 1040^ statt 920 « in Rechnung gebracht worden.
') Fogg, Ann. 149, 221. 1879.
«) Compt rend. 92, 189. 1881.
^ Compt. rend. 102, 1243. 1883.
526 n. Chemische Dynamik.
thermoelektrischen Paares gemessen hat. Die Beobachtungen ^) sind in
der folgenden Tabelle vereinigt.
Temperatur
Druck in cm Quecksilber
547 •
27
610
46
625
5-6
740
25-5
745
289
810
67-8
812
76-3
865
1133
35. KrystallwasBerhaltige Salze. Debray brachte bald nach der
Mitteilung seiner Versuche am Ealkspath eine Reihe analoger Bestim-
mungen^) an einem Material bei, welches viel leichtere Messungen er-
moglichte. Es war das ein krjstallwasserhaltiges Salz, das gewohnliche
phosphorsaure Natron, Na«HP0*.12H*0.
Ahnliche Versuche waren, wie erwahnt, schon von Mitscherlich ge-
macht worden. Spater hatte G. Wiedemann eine Anzahl derartiger
Messungen noch vor Debrays Arbeiten ausgefiihrt; die Ergebnisse war-
den aber zuerst an so wenig zuganglicher Stelle^) veroffentlicht, dass
sie unbekannt blieben. Als dann spater^) die ausfiihrliche Abhandlang
^) Le Chatelier bemerkt dazu, dass keineswegs, wenn man das Calcium-
carbon at einer Temperatur von 812^ anssetzt, wo der DissociationBdruck gleick
dem einer Atmosph&re ist, eine geschwinde Zersetzung eintritt Vielmehr I&sst
sich eine solcbe erst bei viel hOherer Temperatur beobachten. Erhitzt man das
Calcium carbonat auf beliebig hdhere Temperatur, so zeigt die sich zersetzende
Masse immer 925^, welches auch die ftussere Temperatur ist, wenn sie nnr so
hoch ist, dass eine sttlrmische Zersetzung stattfindet. Auch bei anderen Disso*
ciationserscheinungen l&sst sich ein solcher, erheblich fiber der eigentlichen Zer-
setzungstemperatur liegender Punkt der sttirmischen Zersetzung beobachten, wel-
cher nahezu unabh&ngig von der Erhitzungstemperatur von der reagierendea
Masse angenommen wird. Die Erscheinung h&ngt wesentlich von der Zersetzunga-
geschwindigkeit ab, die mit steigender Temperatur sehr schnell zunehmende
Werte erh<, so dass bei einem bestimmten Punkte die durch die schnelle Zer-
setzung verbrauchte W&rme gerade durch die Umgebung zugef&hrt wird, am eine
station&re Temperatur zu erhalten. Steigert man die Temperatur aussen, so nimmt
die Zersetzungsgeschwindigkeit so rapid zu, dass der Wftrmeflberschuss fast toU-
st&ndig fortgeftthrt wird, und nur eine geringe thats&chliche Temperatorerhdhong
in der Masse erfolgt.
>) Compt. rend. 66, 194. 1868.
') Verb, des naturwiss. Yereins zu Karlsruhe 1866, S. Heft
*) Pogg. Ann., Jubelbd. 474. 1874. — Journ. f. pr. Chemie (2) ^ 338. 1874.
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 527
enchien, beanspruchte Debray^) Wiedemann gegeniiber die Prioritat,
woraaf dieser die vorstefaenden geschichtlichen Daten gab').
Die Versache von Debray ergaben, dass das krystallisierte phos-
phorsaure Natron bei bestimmter Temperatur einen bestimmten Dampf-
druck hat, unabfaangig von der Menge des verdampften Wassers. Diese
Uaabhangigkeit dauert indessen nor so lange, bis fiinf Mole Wasser
yerdampft sind; dariiber zeigt sich ein viel geringerer Dampfdruck.
Debray fiifart dies darauf zuriick, dass nach dem Verdampfen der fiinf
ersteD Wasseratome das Salz Na'HP0^7H*0 entstanden sei, welches
man bei Temperaturen iiber 30^ aus der Losung krystallisiert erhalten
kauD. Dies ist einigermassen wahrscheinlich, wenn auch nicht bewiesen;
ebenso ist die zweite feste Phase im zweiten Gleichgewicht nicht be-
stimmt Inzwischen soUen die Zahien von Debray als geschichtliches
Dokoment mitgeteilt werden.
Temperatur
Pi
r.
Ps
Ta
123 •
0-74 cm
0694
0-48 cm
0452
16-3
099
0.717
0-69
0500
207
141
0-776
094
0517
24-9
1-82
a777
129
0-561
315
302
0-819
213
0-618
364
395
0-877
305
0-678
400
5-00
0901
412
0-750
Unter p^ and p, sind die Dampfdrucke des wasserreichen und des
wasserarmen Saizes mitgeteilt, unter r^ und r, die Verhaltnisse dieser
Werte zum Dampfdruck des Wassers bei gleicher Temperatur.
Die Messungen von G. Wiedemann^) beziehen sich auf einige Sul*
fate der Magnesiareihe; ioh teile die Zahien nicht mit, da auch keine
Angabe liber die Beschaffenheit der unter Wasserverlust entstandenen
Produkte yorliegen, die Angaben somit unyollstandig sind.
Dagegen ist zu betonen, dass Wiedemann die Unabhangigkeit des
DisBociationsdruckes von der relativen Menge der beteiligten Substanzen
experimentell priifte und bestatigte, indem er Sorge trug, dass das
Verhaltnis der Salzmenge zum Dampfraum in weiteren Grenzen ver-
Bchieden genommen wurde; er fand fiir gleiche Temperaturen Gleich-
heit des Druckes. Ferner hob er hervor, dass ganz andere Druckwerte
erhalten werden ^ wenn noch etwas Mutterlauge in den Krystallen ent-
balten ist. Im Lichte der gegenwartigen Auffassung ist dies notwendig,
') Compt. rend. 79, 890. 1874.
*) Pogg. Ann. 168, 610. 1874.
») Pogg. Ann., Jubelbd. 444. 1874.
i
528 n. Chemische Dynamik.
denn wenn statt des Gebildes [hoheres Hydrat, niederes Hydrat, Dampf]
das Gebilde [hoheres Hydrat, gesattigte Losung, Dampf] yorhandeii
war, so musste diesem Gleichgewichte, das eine andere Phase enthalt,
auch cin anderer Dampfdruck entsprechen.
36. Einwendmigeii. Gegen die Ergebnisse von Debray und Wiede-
mann machton Precht and Kraut ^) einerseits und A. Naumann') ander6^
seits geltendy dass der Druck nicht von der Menge des Salzes unab-
hangig sei, und dass sich iiberhaupt kein konstanter Dissociationsdruck
herstellen lasse.
Wiedemann hatte so grosse Salzmengen angewendet, dass in seinen
Apparaten die Salze zum Teil weniger als ein Prozent ihres Wasser-
gehaltes verloren; ein Einfluss der Menge ware daher, selbst weno er
vorhanden war, haufig unmerklich geblieben. Precht und Kraut be-
nutzten deshalb viel weniger Salz, verfielen aber dabei in den Fehler,
zu wenig anzuwenden, so dass der Wassergehalt desselben tiberhaapt
nicht ausreichte, um den gebotenen Raum bis zum Maximum des
Dampfdrucks auszufiiilen. Dadurch ging die voUstandige Definition des
Gleichgewichtszustandes verloren, denn neben einer einzigen Phase, dem
entwasserten Salze, konnen innerhalb bestimmter Grenzen beliebige
Dampfdrucke bestehen.
Naumann, welcher gar keinen konstanten Druck beobachten konnte,
hatte seine Versuche so eingerichtet, dass das Eintreten eines solchen
auf das ausserste erschwert war'). Er arbeitete mit Kupfervitriol und
wendete jedesmal ganze Krystalle an, deren Oberflache relativ sehr
klein ist. In dem ziemlich grossen leeren Raume bei 78^ verlor zunachst
die Oberflache des Krystalls das Wasser, welches nicht ausreichte, um
den Maximaldruck herzustellen. Alsdann begannen die mehr nach innen
gelegenen Teile ihr Wasser abzugeben, ein Vorgang, der um so lang-
samer verlaufen musste, je dicker die aussere entwasserte Schicht
wurde. Wenn inzwischen die Temperatur sank, so konnte das Wasser
von der kleinen Oberflache nur unvollkommen aufgenommen werden
und der Dampfdruck blieb grosser, als dem Gleichgewicht entsprach.
Beide Fehlerursachen lassen ihre Wirkung in dem mitgeteilten sehr
ausfiihrlichen Zahlenmaterial erkennen.
Aus einem Versuch^) indessen, welchen Naumann mit zerriebenen
Krystallen anstellte, hatte er iibrigens schon die Umstande erkennea
konnen, unter welchen konstante Werte erhalten werden, denn die
») Liei). Ann. 178, 129. 1875. •) Ber. 7, 1573. 1874.
«) Vergl. A. H. Pareau, Wied. Ann. 1, 47. 1877.
*) A. a. 0. S. 1582
Chemische Gleicfagewichte zweiter Ordoung.
529
50
40
3if
10
ff
^
Drucke, welche zwischen 77-8*^ und 78S^ beobachtet wurdon, stimmten
ionerhalb eines Millimeters uberein, mit Ausnahme der ersten Beob-
achtang, bei welcher der Gloichgewichtszastand noch nicht erreicht war.
Es handelt sich also bei diescn Beobachtungen urn eine ungeniigende
Beriicksichtigung der Geschwindigkeit, mit welcher der Gleichgewichts-
zastaDd ionerhalb der Fehlergrenzen der Messung erreicht wird.
37. Versnohe Ton A. H. Pareau. Die Zweifel liber die thatsachliche
Konstanz dcs Zersetzungsdruckes krystallwasserhaltiger Salze warden
darch eine Arbeit von A. H. Pareau*) zerstreut. Derselbe brachte eine
gewogene Menge krystallwasserhaltigen
Salzes in ein Flaschchen, welches durch
einen Schliff und einen Dreiwegbahn
mit dem oberen Teil einer in Millimeter
geteilten Messglocke verbunden war.
Di^e kommunizierte durch einen Gummi-
scblanch mit einem zweiten Gefass nach
Art einer Geisslerschen Qaecksilberluft-
pampe, so dass man sowohl Druckmes*
songen vornehmen, wie auch Luft oder
Wasserdampf nach Bedarf unter Be-
nntzung des Dreiweghahnes aus dem Flaschchen auspumpen konnte.
Hit Hilfe dieser Vorrichtung konnte eine gegebene Salzprobe nach
Belieben and in gemessener Weise entwassert werden.
Die Resultate waren yon denen Debrays und Wiedemanns nicht
Terschieden; der Zersetzungsdruck blieb derselbe, unabhangig yon dem
zersetzten Anteil. Nur ergab sich beim Strontiumchlorid, SrCl'.6H^0,
oachdem das Wasser bis auf 2 bis 3H'0 entfernt war, ein ganz anderer,
ond zwar viel kleineror Druck, welcher aber auch seinerseits wieder
koQstant war. Die beistehende Fig. 59 veranschaulicht dies Verhalten;
dieOrdinaten sind die Dampfdrucke bei 59-9®, die Abscissen die Mengen
des Krystallwassers in Molekeln.
Die Dampfdruckwerte, welche Pareau beobachtete, sind in Fig. 60
dargestellt, deren Abscissen die Temperatur und deren Ordinaten den
Dmck in cm Quecksilber darstellen. Die Kunre A gilt fur Wasser, B
fir Ghlorstrontium mit 6H*0, C fur Kupfersulfat mit 5H*0, D fur
Uranylsulfat mit 3H«0 und E fur Chlorbaryum mit 2H«0. Pareau
▼ennutct, dass der Zersetzungsdruck wesentlich nur yon der Zahl der
Kiystallwasseratome abhangig ist.
Fig. 59.
») Wied. Ann. 1, 89. 1877.
Oitvald, Chemle. II, t. 2. Anil.
34
530
II. Chemische Dynamik.
38. Axmnoniakyerbindnngexi Ton Metalidhloiiden. Ein Material,
an welchem die Konstanz des Dissociationsdruckes sich leichter als bei
wasserhaltigen Salzen beobachten lasst, bot sich Isambert^) in deo
Verbindungen, welche zahlreiche Metallchloride mit gasformigem Ammo-
niak eingehen.
Chlorsilber verbindet sich mit Ammoniak uber 20^ in dem Ver-
haltnis 2AgG1.3NH^ Unterhalb 15^ erbalt man eine doppelt so
ammoniakreiche Yerbindung, AgC1.3NH'. Beide haben bei konstanter
Temperatur einen koustanten
Druck, die zweite einen viel
^1 I I , |_/ "I I \ grosseren als die erste. Sein
Wert ist unabhangig von dem
zersetzten Anteil. Wenn man
der Yerbindung AgC1.3NH» fol-
geweise bei konstanter Tempe-
ratur Ammoniak entzieht, so
stellt sich stets derselbe Drack
wieder her, der den beiden festen
Phasen AgC1.3NH» + 2Aga.
3NH» angehort, bis die Halfte
alios Ammoniaks entfemt ist»
alsdann tritt ein neuer, kleinerer
Druck der Phasen 2AgC1.3NH»
400 500 _j, AgCl auf, welcher wieder un-
verandert bleibt, so lange dber-
haupt noch Ammoniak genug da ist, um den gegebenen Raam unter
diesem Druck zu fullen.
Der Zersetzungsdruck der Yerbindung AgCl.SNH' betragt bei 21*
schon 80 cm; die Yerbindung kann sich daher bei dieser Temperatur
nicht mehr aus Ammoniak unter Atmospharendruck bilden. Bei 68*
erreicht auch die Yerbindung 2AgG1.3NH' den Druck der Atmo8phare»
und deshalb nimmt Chlorsilber bei dieser Temperatur keiu Ammoniak aofl
Ahnlich verhalten sich die folgenden Yerbindungen, welche Isambert
nntersucht hat: CaCl«.2NH3; CaCl«.4NH»; CaCl«.8NH»; CaJ«.6NH»;
ZnCl«.6NH» und ZnCll2NH«;MgCP.6NH» und MgCP.3NH»;HgCLNH^
Gharakteristisch verschieden yom Yerhalten dieser Yerbindungen
uach festen Yerhaltnissen ist das, welches porose Stoffe, welche Gase
adsorbiert haben, aufweisen. Bei Kohle, welche mit Ammoniak beladea
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100
200
300
Fig. 60.
1) Compt. rend. 66, 1259. 1868.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung.
531
ist, lasst sich von einem konstanten Druck, der Yom Volum unabhangig
ist, nicbts bemerken; derselbe nimmt bei konstanter Temperatur stetig
ab in dem Masse, wie man Ammoniak entfemt.
Die von Isambert beobacbteten Dissociationsdrucke sind nacbstebend
ZQsammengestellt ^). Es ist nicht in alien Fallen anznnehmen, dass die
zweite Phase immer das ammoniakfreie Chlorid ist, sondern es mogen
aach niedere Ammoniakverbindungen vorkommen; doch liegen keine
Angaben dariiber von
AgCl.
3NH«
2AgC1.3NH»
CaCl«.8NH»
o.o<»
293
200 •
9.3
10-4 •
231
10-6
50-5
310
125
160
320
17.5
655
470
26-8
204
390
24.0
93.7
58-5
52.8
25.8
54-1
280
135-5
690
78-6
30-6
607
342
1713
715
94-6
34.8
87-1
48-5
2414
77.5
1198
390
1081
515
4132
835
1593
43-5
1451
54.0
4641
86-1
181-3
462
1561
57.0
488.0*
88.5
1030
201.3
488-0*
53-5
1916
«
Das Ammoniak verfliissigt
sich.
CaCl«.
4NH»
GaJ
».6NH»
MgCl«
.6NH»
10.0'
12-8
108.0«
10.4
117^<»
20-7
11.0
14-5
1150
138
122.0
31.9
264
31-8
1260
174
1410
520
37.0
591
1310
21.4
1400
719
46.0
94.3
14a5
366
1490
915
53.0
1218
1535
58-4
1500
^ 110.0
164.0
836
1520
1199
1720
1054
157.0
1411
175.5
128-6
183.0
1542
185-5
170-6
ZnC]
•.6NH»
ZnCl*
.4NH»
ZnCl«
2NH»
HgCl.NH»
IM*
8-2
31 •
5-7
222^
9.6
168 • 29.1
S0.2
10.3
46
107
225
131
167 35.2
9M
129
58
175
237
23-8
173 430
874
25-6
68
291
253
572
•
179 54.7
*) Ich entnehme die Zahlen elDer Abhandlung von Ditte (Encych chim. I, I9
5831 da mir das Original nicht zu Gebote steht.
34*
532 II- Chemische Dynamik.
ZnCl>
.6NH»
ZnCl«
.4NH"
ZnCl«.2NH»
HgCLNH»
44^
343
76
43.3
278 84-5
185 66-2
525
568
82
55-6
297 1021
189 751
60-8
82-8
90
771
194 91-4
67-0
1041
95
930
201 1055
705
1228
100
108-6
740
145-3
109
1555
77.5
1672
1125
175^
78-5
172.2
Die Kurven verlaufen samtlich ohne Kreuzungen nahezu parallel
zu einander und zu den Dampfdrackkurven fluchtiger Stoffe.
In ganz ahnlicber Weise verhalt sich eine Yerbindung CdS0^.6NHS
welche man dnrch t)berleiten von Ammoniak iiber Kadmiumsulfat er-
halt^). Der pulverformige Stoff enthalt gewohnlich viel mehr Ammo-
niak, als der Formel entspricbt, der Uberscboss ist aber nur durcb
Oberflachenwirkung festgebalten. Denn wenn man den Dnick bei einer
bestimmten Temperatur misst und dann etwas Ammoniak aospumpt,
80 stellt sich der friibere Druck nicht her, sondern ein kleinerer, and
das geht so lange fort, bis der Ammoniakiiberschuss entfernt ist. Von
diesem Augenblick ab wird der Druck konstant und unabhangig von
der entfernten Ammoniakmenge.
39. Weitere Frfifung des DiBSOoiationBgeBetBeB. Die Grenauig-
keit der Angaben Isamberts ist Ton Horstmann im Interesse der Disso-
ciationstheorie einer sehr eingehenden Priifung') unterzogen worden,
durch welche jene Tollkommene Bestatigung erfahren hat. Insbesondere
war ein Versuch beweisend. Es war in zwei Glaskolben Chlorsilber
enthalten; in einem war dieses mit Ammoniak gesattigt, im anderen
befand sich zunachst kein Ammoniak. Beide Kolben waren mit Mano-
metern yersehen und durch eine Rohre mit Hahn verbunden. Durch
Erwarmen des Ammoniak enthaltenden Kolbens konnten beliebige Mengen
des Gases in den anderen Kolben getrieben werden. Nach dem tJber-
treten des Ammoniaks und Schliessen des Hahns stellte sich nadi
kurzer Zeit ein konstanter Druck her, der in beiden gleich war, und
dieser Zustand blieb derselbe, bis fast allcs Ammoniak in den zweiten
Kolben iibergetrieben war. Zum Schluss war nur noch 0*02 des Ghloi^
silber- Ammoniaks unzersetzt geblieben, wahrend der andere Kolben nor
einige Prozent unveranderten Chlorsilbers enthielt, ohne dass der Druck
in beiden yerschieden gewesen ware.
<) Isambert, Compt. rend. 70, 456. 1870.
*) Ber. 9, 749. 1876.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 533
Eine ahnliche Arbeit an krystallwasserhaltigen Salzen ist von
J. L Andrea^) durchgefiihrt worden, und hat das gleiche Resultat er-
geben. Die Versuche wurden teilweise mittels eines TeDsimeters nach
Bremer (s. w. xl) durch unmittelbare Messung des Dampfdruckes you
Salzen in verschiedenem Grade der Entwasserung ausgefiihrt (statiscbe
Methode), teils derart, dass zwei Kolbchen mit den zu vergleichendeu
Salzproben luft- und dampfdicht miteinander verbunden wurden, und
nach langerer Aufbewabrung durch Wagung ermittelt wurde> ob und
in welchcm Betrage Wasser von der einen Probe auf die andere iiber-
g^angen war (djnamische Methode).
Die meisten Versuche wurden mit Chlorstrontium ausgefiihrt, das
sich schnell und genau einstellte. Das gewohnliche Hydrat enthalt
6H'0, ausserdem besteht eines mit 2H*0.
Als beispielsweise ein Kolbchen mit SrCl* + 5-8H*0 und eines
mit 8rCl*+ l-65H^O mit einander verbunden wurden, gingen in 19 Ta-
gen 0-038 g Wasser von dem ersten in das zweite iiber, wodurch die
Wassergehalte auf 542 und 2*01 H'O iibergingen.
Bei weiterer Aufbewabrung blieb das Gewicht wahrend 200 Tagen
unverandert, zum Beweise, dass nunmebr beide Gemische vollkommen
gleichen Druck besassen. In einem zweiten Falle anderten zwei Proben
mit 5-8 und 0-6 H*0 ihr Gewicht gegenseitig wahrend 34 Tagen urn
0.191 g auf 4-01 und 2-01 H«0, und blieben dann 150 Tage ohne Ge-
wichtsanderung miteinander im Gleichgewicht
Dies Gleichgewicht ist nicht von der Temperatur abhangig; zwei
Kolbchen, die sich bei 20^ ins Gleichgewicht gesetzt batten, anderten
sich auch nicht in 14 Tagen bei 30 ^
Zwei Proben, von denen die eine 2-6 H*0, die andere kein Wasser
enthielt, kamen in einiger Zeit auf 2-0 und 0'137H'O und liessen sich
dann wahrend 41 Tagen vollig unbeeinRusst. Also ist das Hydrat mit
2H'0 neben einer Spur Anhydrid im Gleichgewicht mit alien wasser-
armeren Gemischen bis zum wasserfreien Salz.
Nach der statischen Methode wurde beispielsweise beobachtct:
Temperatur
SrCl« + 5.76H«0
SrCP + 245H«0
170 «
5-27 cm
5-29 cm
337
5-38
536
45-6
547
540
564
557
545
417
540
545
184
529
5-28
*) Zeitschr. f. phys. Chemie 7, 241. 1891.
534 n. Chemische Dynamik.
Die Zahlen bedeuten Ablesungen an dea Skalen der Manometer,
die mit den bezeichneten Salzproben verbunden waren. Die Flussigkeit
der Manometer war Ol, die grosste Abweicbung entspricbt 0-008 cm
Quecksilberhohe, wahrend man den Dampfdruck des KrystaUwassers
bei den hoheren Temperaturen auf 5 bis 10 cm Quecksilber schatzen
kann. Die Gleichheit der Dampfdrucke ist demnach auf etwa Viooo ^^
Wertes erwiesen.
40. Theorie. Aus der Gleichung fiir das Gleichgewicht einer
homogenen Gasmischung
erhalten wir die fiir unseren Fall geltende^ weim wir durch die An-
wesenheit zweier fester Phasen fur zwei gasformige Bestandteile die
Konzentrationen konstant machen. Es sind zwei Falle moglich, indem
entweder b^ und b,, oder a und b^ (oder was dasselbe ist, a und b,)
konstant werden. Indessen fiihren diese Falle zu dem gleichen Ergeb-
nis, namlich dass auch die Konzentration des dritten gasformigen Be-
standteils einen bestimmten Wert annebmen muss, der nur von der
Temperatur, nicbt aber von den relativen Mengen der drei Stoffe ab-
bangen kann.
Wie dies zu Stande kommt, ergiebt sich aus der genaueren Be-
tracbtung der Reaktionsgleichung. Sei diese n^B^^^ngB, =mA, so
mogen die Stoffe B^ und B^ in festem Zustande vorbanden sein. Dann
werden im Dampfe die Konzentrationen b^ und b^ durch die Dampf-
drucke beider Stoffe gegeben sein, und durch teilweise Verbindung
zwiscben ihnen wird eine bestimmte Menge von A entstehen, deren
Konzentration a zur Erfiillung der Yoraussetzung geringer sein muss,
als dem Dampfdruck des Stoffes A im festen (bez. fliissigen) Zustande
entspricbt Die Konzentration a der Verbindung ist somit eine gani
bestimmte, nur von der Temperatur abbangige, da die Konzentrationen
der Bestandteile b^ und bg dies sind, und a mit ihnen durch die
Gleichgewichtsgleichimg verkniipft ist.
Ganz dieselben Betrachtungen gelten, wenn die Dampfdrucke Ton
solcher Grosse sind, dass neben der Verbindung A der eine Bestandteil,
etwa Bi, in fester Form anwesend ist. Dann ist wieder durch diese
die Konzentration a und b^ in der Gasphase vermoge der allgemeinen
Gleichgewichtsgleichung auch die Konzentration b, gegeben, und swar
unabhangig von den Mengen der anwesenden festen Phasen.
Das Gesetz, dem dies Gleichgewicht unterliegt, stimmt somit fiber-
ein mit dem, welches fur das Gleichgewicht erster Ordnung mit einer
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnang. 535
Freiheit entwickelt worden ist (S. 339 and 350), uud es mag gleich
an dieser Stelle hervorgehoben werden, dass auch in alien verwickelteren
Fallen immer das gleiche Gesetz gilt, wenn durch das Vorhandensein
Ton n -{- 1 Phasen bei n Bestandteilen die Zabl der Freiheitsgrade auf
Eins reduziert wird. Das heisst, es giebt fur jede Temperatur eine
bestimmte Konzentration in der gasformigen Phase, bei welcher allein
Gleichgewicht bestehen kann; die Veranderung dieser Konzentration
mit der Temperatur ist durch eine Formel von derselben Gestalt wie
die bekannte Dampfdruckformel mit der Entstehungswarme der Gas-
phase Yerkniipft.
Das sind denn auch in der That die Gesetze, welche erfahrungs-
massig fur den Yorliegenden Fall gefunden worden sind. In dem letzt-
erw'ahnten Zusammenhange ist ausserdem ein wichtiges Kriterium fur
die Entscheidung der Frage enthalten, ob bei teilweiser Gleichheit der
fasten Phasen die gasformigen gleichen Druck, entsprechend gleicher
Konzentration aufweisen werden oder nicht; ist die Gasbildungswarme
gleich, so sind es auch die Gasdrucke bei libereinstimmenden Tempe-
raturen, sind sie verschieden, so konnen die Gasdrucke zwar zufallig
bei einer bestimmten Temperatur gleich sein, sie sind es dann aber
sicher nicht bei alien Temperaturen.
Die oben geschilderte experimentelle Priifung des Gesetzes hat
sich allerdings bisher auf den Fall beschrankt, dass nur einer der vor-
handeuen Bestandteile fliichtig ist, so dass die Gasphase, praktisch ge-
sprochen, nur aus diesem Bestandteil besteht Doch muss das gleiche
Gesetz auch gelten, wenn beide feste Phasen Dampfe in merklicher
Henge abgeben konnen, so dass die Gasphase beide Bestandteile neben
der Verbindung enthalt. Auch dies Gemenge der drei Gase oder Dampfe
hat bei gegebener Temperatur unveranderliche Werte der Einzeldrucke,
Qnd daher auch des Gesamtdruckes. Nur hat man in diesem Falle auf
den wesentlichen Unterschied zu achten, dass bei veranderter Tempe-
ratur jeder der Dampfe seinem eigenen Temperaturgesetz folgt. Das
Verhaltnis der drei Bestandteile verschiebt sich mit veranderter Tem-
peratur im allgemeinen gleichfalls, so dass wir hier einen Dampf haben,
der zwar dem Dampf druckgesetz folgt, aber dabei von veranderlicher
Znsammensetzung ist
41. Der Einflnss der Temperatur. Wie bei alien Gebilden mit
einer Freiheit, die eine Gasphase enthalten, gilt auch fiir den vorlie-
genden Fall eed eine Dampfdruckformel von der Gestalt
dT~ VT*
536 H- Chemische Dynamik. .
Oder bei Geltung der Gasgesetze, wenn m Mole Gas bei der Reaktion
freiwerden. ^^ g__
dT ~ mRT« '
wo Q die Reaktionswarme bei der Aufnahme von m Molen Gas durch
die festen Stoffe unter konstantem Drucke ist.
Wie der vorliegende Fall der erste war, bei welcbem die GeltuDg
eines Gesetzes des konstanten Dissociationsdruckes erkannt worden ist,
80 war er auch der erste, auf welchen die Gesetze der Thermodynamik
und insbesondere die obenstehende Formel angewendet wurde, welche
die TemperaturanderuDg des Dissociationsdruckes mit der Dissociations-
warme in Beziebung setzt und die eine aus der anderen zu berechnen
gestattet. Das Verdienst, diesen entscbeidenden Schritt gethan zu haben,
kommt wie erwabnt (S. Ill) A. Horstmann zu, an den sich etwas
spater, aber wohl unabbangig, Peslin und Moutier angescblossen haben.
Die ersten Versucbe, die Giiltigkeit der Formel zu erprobeo, fielen
sehr ungiinstig aus. Aus den Messungen von Debray (S. 526) berechnete
Horstmann^) fur das Natriumpbosphat mit 7 Atomen Wasser die Bin-
dungswarme von 38-7 K, und fiir das mit 5 Atomen Wasser 14-1 K fiir
das Mol Wasser, wahrend Pfaundler^) durch kalorimetriscbe Messungen
24-0 und 22-3 K fand. Horstmann wies allerdings darauf bin ^), dass der
Fehler wahrscheinlich in der ungeniigenden Genauigkeit Yon Debrays
Messungen liegen konne, wo kleine Fehler in den Drucken grosse
Abweichungen in den Warmewerten verursachen, doch wirkte der
Widerspruch so abschreckend , dass alles Enisles die Berechtigung zur
Anwendung der Thermodynamik auf chemische Erscheinungen in Frage
gestellt wurde*).
Die analogen Rechnungen von Horstmann^) und Peslin^) an Debrays
Messungen mit Calciumkarbonat ergeben kaum eine bessere Dberein-
stimmung. Horstmann berechnete die Dissociationswarme zu 270 K
auf ein Mol, wahrend die thermochemischen Messungen 425 K geben.
Peslin berechnet 291 und 299 E. Auch diese Zahlen sind nichts weniger
als ermutigend. Ebensowenig stimmt die Berechnung der oben er-
wahnten Dampfdruckmessungen von G. Wiedemann und Pareau (S. 529)
mit den Warmewerten.
>) Lieb. Ann., Suppl. 8, 126. 1870—72.
») Ber. 4, 773. «) Ber. 4, 847.
*) Naumann, Ber. 4, 760.
») Lieb. Ann., Suppl. 8, 128. 1870—72.
•) Ann. chim. phys. (4) 24, 208. 1871.
ChemUche Gleicbgewichte zireiter Ordnung. 537
42. Varaaohe von F. C. F. Froweln. Unter solchen UmBtlinden
wir 68 ein sehr erwtinschter Fortschritt, dass auf Veranlassung aiid
nnter Leitung von vao't HoS die Frage ezperimentell toq neuem durch
Froweia*) bearbeitet wurde. Es gait hierbei vor a i c
Bllem die Dampfdruckmessung zu verfeinero, und dies
gcUag durch einen von Bremer angegebenea Appa-
nt, Fig. 61. Id der Kugel A befindet sich das Salz,
in B konzeotrierte Schwefelsaure, iiber der der Wasser-
duDpfdmck Null ist. Die Eugeln werden nach der
Fiilluag zugcschmolzcii ; in das U-Robr, das als Ma-
nometer dieut, kommt Ol, uud iiachdem man den
Apparat fast horizontal gelegt hat, ao dass das Ol
nach C uud D gefloBseu ist, nird das Ganze luftleer
gepnmpt und dann bei a abgeschmolzen. Wird nun
der Apparat aufgerichtet und in ein Wasserbad yon
konstanter Temperatur gebracht, so kann man, nach-
dem das Gleichgewicbt sich hergestellt hat, am Ma-
nometer den Wasserdampfdruck ablesen.
Was die Berccbnung anlaugt, so ist in der Formel
dlnp _ Q
dT ^Rf«" Fig. 61.
Q die BindungBwarme von einem Mot gasformtgeu Wassere. Snbtra-
hiert man die auf Wasser beziigliche Formel, wo L die Verdampfnngs-
larme des Wassers ist,
d In Ph L
dT ~"RT»'
M kommt , , p
^^°^_Q-L_ W
dT — RT» ~ RT'"
*oW=Q — L die fiinduDgswarme des flilssigen Wassers ist Inte-
griert man uuter der Voraussetzung, dass W konstant iat, was inner-
Wb nicht atlzu weiter Temperaturgrenzen zulassig erscheint, so folgt
Kach dieser Formel bat Frowein seine Resultate berechnet.
Unter Fortlassung der einzelnen Beob&chtungsreibea gebe ich oach-
■tehend die Scblusstabelle der erhalteneu Ergebnisse:
'} Zeitecbr. f. pbja. Chemie 1, 5. 1887.
538 n. Chemische Dynamik.
Salz
W beob.
Wber.
CuS0*.5H«0
34-1 K
334 K
BaCl«2H«0
38*3
38-2
8rCl«.6H«0
234
319
MgS0*.7H«0
37^
39*9
ZnS0*.7H*0
342
344
ZnS0*.6H»0
218
22-8
Die CbereinstimmuDg der Reihen W beob. und W ber. ist zam Teil
Yorziiglicb, zum Teil massig; im Falle des Cblorstrontiums ist sie ganz
unbefriedigend. Die Ursache hienron liegt moglicberweise daran, dass
das Salz id dem Apparate nichti wie in der Rechnung angenomnien, za
SrCi^.2H^0 verwitterte, sondern zu dem wasserfreien Salze. Denn der
t)bergang des hoheren Hydrats in das nachst niedere ist kein notwea-
diger Vorgang, und sind Eeime des Bihydrats vcrmieden, des wasser-
freien Salzes aber vorhanden, so erscheint der Cbergang in letzteres ganz
wohl moglich. Fiir diese Umwandlung aber betragt die Warmetonung
nach Tbomsen (II, 264) 3M E fiir ein Mol Wasser, was mit der be-
rechneten Zahl 31*9 K ganz gut iibereinstimmt.
Im Falle des Zinksulfats wurde ein ahnlicher Einfluss unmittelbar
beobachtet. Zwei Apparate gabeii ganz vorscbiedene Drucke; bei der
Analyse des Salzes zeigte sich, dass in der einen Probe weniger als
6H^0 enthalten waren. Die entsprechende Berechnung der Bildungs-
warmen ergiebt, wie die Tabelle ausweist, eine befriedigende TJberein-
stimmung.
43. Besiehung srwisohen den versohiedenen mdgliohen Di08ooia>
tionsdraoken. Halten wir das eben erorterte Beispiel fest, nach welchem
wir zwei Hydrate und eine wasserfreie Form haben, die wir mit Ant
An und Ao bezeichnen, so konnen wir fragen, in welchem Verhaltnis
die zugehorigen Drucke uber je zweien dieser Stoffe, also die Drucke
Pmn9 Pmo uud pno ZU ciuander stehen. Zu dem Zwecke denken wir uns
einmal Am unmittelbar zu Ao entwassert, das andereMal erst zu An> und
dieses zuAo. Da der Anfangs- und Endzustand dieselben sind, so mussen
auch die Arbeiten, welche der Stoff Am bei der Umwandlung in Ao leistet,
beiderseits gleich sein.
Um diese Arbeiten zu berechnen, denken wir uns den Wasaerdampf,
den Am 4~ -^n bei dem Drucke pmn liefert, bis auf einen bestimmten
Druck p isotherm ausgedehnt; die zugehorige Arbeit ist, da m — n Mole
Wasserdampf bei diesem Druck abgegeben werden^ gleich
(m^n)RTln^^-
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 539
An deiD nun entstandenen Gebilde An + Ao tritt der Druck pno ein und
wir haben fiir die Uberfiihrung der iibrigen n Mole Wasserdampf auf den
gleichen Druck p die Arbeit nRTln^^- Bildet sicb andererseits aus
P
dem hoheren Hydrat unmittelbar das Anhydrid, so werden m Mole beim
I^ck pmo ausgegeben, und wir haben die Arbeit m RT In -^-^* Zwischen
diesen Grossen muss die Gleichung bestehen
(m — n)RTln^^ + nRTln^ = mRTln^^
P P P
o^er PSxT'^-PSo^PSo'
welche Beziehung gestattet, aus zwei gemessenen Drucken den dritten
za berecbnen.
Eine Priifung dieser bemerkenswerten Beziehung ist noch nicht
vorgenommen worden, da sie, soviel mir bekannt, bisher nicht ausge-
sprochen worden ist. Nach den oben mitgeteilten Erfahrungen scheint
die Auffindung geeigneter Versuchsstoffe (vielleicht eignet sich Ghlor-
strontium) nicht aussichtslos zu sein^).
44. Weitere expeiimentelle XJntersachungen. Das Gesetz von der
Bestandigkeit des Dissociationsdruckes ist wiederholt angewendet wor-
den, um die Existenz yerschiedener bestimmter Verbindungsstufen bei
der folgeweisen Entfernung des fliichtigen Dissociationsproduktes zu er-
kennen. Auf die entsprechenden Erorterungen von Debray und Isambert
') Man gelangt zu der gleicben Formal (die indessen noch einen anbestimm-
ten Faktor enth<), wenn man die Dampfdruckgleichung auf den Fall anwendet.
^ pit d In p„n
mn
dT (m— n)RT«
d In pno Qno
dT nRT*
d In Pmo Qmo
dT ~ mRT*'
^ Qnm, Qno, Qmo die Hydrationsw&rmen sind, und zwar gilt Qmn fflr die Auf-
Bihme von m — n Mol Wasserdampf durch das Hydrat S + nH*0 nnter t^bergang
in S+rnHH); Qno und Qmo gelten fUr die Bildong der Hydrate S + nH'O und
S-f rnHK) aus dem Anhydrid S.
Da notwendig Qmn «» Qmo — Qno, 80 folgt
(m — n)dln pmn 4~nd In pno ^ nid Inpmoy
and darch Integration
(m — n) In pmn +n In pno «- m In pmo + const.
IKe Gleichung wird mit der oben gegebenen identisch, wenn man die Konstante
gieich Null setzt.
540 U. Chemlsche Dynamik.
ist bereits (S. 532) hingewiesen worden. Von Hannay^) ist die
Methode in der Art benutzt worden, dass er die Menge des KrystaU-
wassers bestimmte, welche ein regelmassiger Luftstrom in einer be-
stimmten Zeit au8 einer Salzprobe fortfuhrte. Magnesiumsulfat mit
7 Atomen Krystallwasser verier zunachst 1«67 7q Wasser in der Minute,
bei 100^, bis ein Atom Wasser entwichen war; dann betrug der Ver-
lust nur 0*67 % in der Minute, bis das Saiz mit 4 Wasser entstanden
war. Der weitere Wasserverlust war klein und horte auf, als MgSO*, H*0
entstanden war. Auf gleicbe Weise ermittelte Ramsay, dass Eisenoxyd
und Thonerde keine bestimmten Hydrate biiden, wahrend beim Blei-
oxyd deren zwei existieren.
Untersuchungen ahnlicber Art sind dann zahhreich, namentlich tod
H. Lescoeur ausgefiibrt worden^); die Citate finden sich unten angegeben.
In einer ausfiihrlicben, 1888 erschienenen Schrift^) gefat Lescoeur
besonders auf das Verfabren der Bestimmungen ein. Nach einer aus-
fiihrlichen und nicht immer gerecbten Kritik der alteren Metboden
scbildert er die seinen. Fiir das statische Verfabren diente der Appa-
rat Fig. 62, der im wesentlichen einen Hofmannscben Dampfdicbte-
apparat darstellt. Der besondere Teil ist eine balbcapillare fiohre, die
in dem Barometerrohr nacb oben fiibrt, wo sicb das Glas mit der zu
untersucbenden Substanz auf sie stUtzt. Unten ist diese Robre mit
einem Dreiwegbabn versehen, weicber nach Bedarf deren Inneres mit
dem Quecksilber der Wanne zu verbinden, oder davon abzuschliessen
gestattet. Der Versuch wird ausgefiibrt, indem das Robrcben mit der
Substanz eingefiihrt, und dann die Luft mittelst der Gapillare aus dem
Barometerrobr ausgepumpt wird. Dann wird der Dampfmantel ange-
heizt, und da alsdann nocb eine weitere Menge anbaftender Luft und
Feuchtigkeit zu entweicben pflegt, so wird die Luftpumpe nocb cinmal
betbatigt. Alsdann kann der Quecksilberstand an dem geteilten Baro-
meterrohre abgelesen werden; eine an der Quecksilber wanne angebrachte
Scbraube dient in gewohnter Weise zur Ablesung der Quecksilberober-
flacbe in dieser. Soil der Stoff boi verschiedenen Graden der Ent-
wasserung untersucbt werden, so kann man nach Beendigung des Ver-
sucbes wioder die Pumpe wirken lassen und beliebige Mengen Wasser^
dampf entfemen.
*) Journ. Chem. Soc. 1877, 8. 381.
") Compt. rend. 96, 1578. 1833 u. ff. — Ann. chim. phys. (6) 19, 588. 1890;
ib. 21, 511. 1890; 28, 237. 1893; (7) 2, 78. 1894; 4, 218. 1895; 7, 416. 1896;
9, 587. 1896.
') Recherches sar la dissociation des hydrates salines. Lille 1888.
Chemische GleicliKewichta zweiter Ordnung.
541
Ist der Druck in der Nahe toq 76 cm, so dient ein Apparat wie
in Fig. 63, bei dem die Quecksilberwaiuie durch ein verstellbares Stand-
rohr ersetzt ist.
Ansser diesem Verfahren benutzte Lescoeur die Bestimmnng doe
Tftupanktee ale eine sehr beqneme, aber nicht ebeo genaue Methode.
In ein weitmnndiges Glas wurde der zu nntersnchende Stoff nebst
Fig. 62.
Fig. 68.
eineni Thermometer gebracht; ausserdem ragte in das Glas ein diian-
wandiges Geiase mit vergoldetem Silber, das Ather imd ein Thermometer
aithielt Mittelst eines Lnftstromes, der in Blasen durcb den Ather ge-
fobrt wnrde, konote dieser abgekiihlt werden, and man beobacbtete die
Tetoperatur, bei der der erste Beschlag auf der polierten Flache er-
schien. Entnimmt man den TabeUen iiber den Dampfdruck des Wassers
die den beiden Temperatnren znkommenden Druckwerte, so giebt deren
Verbaltois den relativen Dampfdmck der Verbindang an.
Das Verfahren ist nur in Fallen anwendbar, wo der Dampfdmck
Ton dem des Wassers nicbt sehr Terschieden ist Lescoeur giebt alsGrenze
542 n. Chemische Dynamik.
fiir die Brauchbarkeit an, class die Temperaturerniedrigung bis znm
Taapunkt 20^ nicht iibersteigen soil.
Endlich benatzte Lescoeur noch das Verfahren, aus dem gemessenen
Yolum der Luft, die sicb mit Dampf aus der VerbinduDg gesattigt hatte,
and dem durch Absorptionsmittel bestimmten Gewichtsgehalt dieser Luft
an Wasserdampf den Dampfdruck in bekannter Weise zu berechnen.
Nach diesen verschiedenen Methoden hat nun Lescoeur eine grosse
Anzabl von Stoffen nntersucht, und die verschiedenen Hydrate bestimmt,
die unter seinen Yersuchsbedingungen sicb in den Dampfdruckwerten
kennzeichneten. Da er auf die notwendi^e Vollstandigkeit in der De-
finition seiner Gebilde nicht aufmerksam gewesen ist, so ist auf die
Ergebnisse an dieser Stelle nicht einzugehen; als Material fiir zukiinftige
voUstandigere Untersuchungen werden sie gute Dienste leisten.
Das obenerwahnte von Hannay und Ramsay benutzte Verfahren
der Bestimmung der Verdampfungsgeschwindigkeit ist in der Folge von
MiJller-Erzbach^) vielfach in einer Form angewendet worden, bei welcher
auf die Anwendung eines Luftstromes verzichtet und der Vorgang der
freien Diffusion iiberlassen wurde. Er brachte in einen Exsiccator iiber
Schwefelsaure eine Anzahl Rohrchen, von denen eines Wasser, die an-
deren das zu untersuchende Salz enthielten. Die Diffusion des Wasser-
dampfes erfolgt unter diesen Umstanden proportional dem Dampfdruck^
proportional dem Querschnitt und umgekehrt proportional der Lange
der Rohre. Wenn man also Rohren von gleicher Form anwendet, so
ist der Gewichtsverlust, welchen ihr Inhalt erfahrt, proportional dem
Dampfdruck desselben. Dividiert man den Gewichtsverlust z. B. eines
krystallwasserhaltigen Salzes durch den, welchen reines Wasser unter
genau denselben Umstanden erleidet, so giebt der Quotient den relativen
Dampfdruck des Salzes. Durch Multiplikation desselben mit dem Dampf-
druck des Wassers ergiebt sich der des Salzes.
Die Brauchbarkeit der Methode hangt offenbar davou ab, dass die
Geschwindigkeit der Dissociation praktisch unendlich gross gegen die
der Diffusion ist, denn nur unter dieser Bedingung ist der relative
Wasserverlust ein Mass des Dampfdruckes. In manchen Fallen scheint
dies zuzutreffen, wie sich aus den von Miiller-Erzbach mitgeteilten Ver-
suchen ergiebt, die dieser infolge von Angriffen^) auf seine Methode
») Wied. Ann. 28, 607. 1884; 25, 357. 1«85; 26, 409. 1885; 27, 623. 1886,
und zahlreiche spfttere Aufs&tze.
») Lescoeur, Compt. rend. 103, 931. 1886. — Schultze, Wied. Ann. 81, 204.
1887 nnd 82, 329. 1887.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 543
mitgeteilt hat^). Indessen liegen auch sicher Faile vor, wo die Voraus-
setsnng nicbt zutrifft, und da das Verfahren selbst kaum die Mittel an
die Hand giebt, die guten Falle von den schlechten zu unterscheiden,
so ist es trotz der bestehenden Einfachbeit der Hilfsmittel bedenklich
in der Anwendung.
Die Aufzablung der von Miiller-Erzbacb unter seinen Versucbs-
umstanden beobachteten Hydrate bietet ebenso wenig ein allgemeines
Interesse, wie die der Beobachtungen von Lescoeur.
45. Versohiedene Dampfdraoke desselben Hydrates. Als erster^
bei dem vollstandige Elarheit iiber die Notwendigkeit beider festen
Phasen zur Definition des Gleichgewichts anzutreffen ist^ muss wie schon
erwabnt H. W. B. Roozeboom') genannt werden, der bei Oelegenbeit
einer eingebeuden Untersuchung iiber die Gleichgewicbte zwischen Cblor-
calciam and Wasser experimentell festgeatellt bat, dass dasselbe wasser-
reichere Hydrat yerscbiedene Dampfdrucke ergiebt, je nacbdem sich
tenchiedene niedere Hydrate daneben befinden. Der Fall bat ein be-
wnderes Interesse dadurch, dass die beiden niederon Hydrate gleiche
Zosammensetzang, aber yerscbiedene Bestandigkeit und demgemass ver-
schiedenen Einfluss auf den Dampfdruck baben. Sie sind yon der Zu*
sammensetzung CaCl', 4H'0 und werden yon Roozeboom durch die
Zeichen a and p unterscbieden; a ist die weniger bestandige Verbin^^
dung. Die Dampfdrucke pa and p^? yon GaCl'.GH^O mit den Salzen
a and p sind:
p«
p«
V?
P/»
Temp.
CaCl«.6 EH) + CuCl«.4 HK)
a ^
CaCl« 6HK) + CaCl«.4HH)|j
n
-15*
0027 cm
0-190
0022 cm
0-153
0
0-092
0200
0076
0-165
+ 10
0-192
0-210
0-162
0177
+ 20
0378
0212
0-315
0-182
+ 26
0-608
0216
0-432
0-186
+ 292
—
—
0-667
0-188
+ 29^
0-680
0-218
—
—
Unter pa/^ and f^/jt sind die relatiyen Dampfdrucke, d. h. die
Verbal tnisse zum Dampfdruck jr des Wassers yerzeichnet. Die Tem-
peratoren 29-2^ bez. 29*8^ sind die Schmelzpunkte der beiden Hydrate.
46. Bine feste Phase neben Damp£ In dem Falle, dass neben
einer einheitlicfaen gasformigen Phase nur eine feste yorbanden ist,
^) Wied. Ann. 81, 1040. 1887; 82, 325. 1887. — Zeitschr. f. phys. Chemie
% 113. 1888.
*) Zeitschr. f. phys. Chemie 4, 41. 1889. — Rec. Fays -Baa 8, 56. 1889.
544 II> Chemische Dynamik.
bleibt das Gleich^ewicht unbestimmt. Das heisst, es kann neben der
festen Phase die gasformige in innerhalb gewisser Grenzen beliebiger
EoDzentration besteben, ohne dass eine Reaktion einzutreten braucht.
Man hat auch hier ein Gebiet stabiler und eines metastabiler, bez.
labiler Gleichgewichtszustande zu unterscheiden. So lange die Eonzen-
tratioD der Gasphase unterhalb des Wertes bleibt, der dem Gleichge-
wicht mit der vorhandenen festen Phase und einer zweiten, die sich
bilden konnto, entspricht, ist das Gleicbgcwicht stabil, denn die Ent-
stehung der zweiten festen Phase wiirde dem zweiten Hauptsatze wider-
sprechen. Es ist aber ausserdem moglich, dass die Konzeutration der
Gasphase grosser wird, als die des Gleichgewichts; dann ist der Zu-
stand metastabil, weil die zweite Phase sich zwar bilden konnte, aber
nicht notwendigerweise sich bilden muss. Nur wenn ein ,,Keim^ der
zweiten festen Phase vorhanden ist, der mit der ersten in unmit-
telbarer Beriihrung steht, wird die . Umwandlung eintreten und
sich so lange fortsetzen, bis das Gleichgewieht erreicht ist
Schliesslich kann man erwarten, dass bei weiterer Eonzentrations-
zunahme der Gasphase die metastabile Grenze iiberschritten wird, und
die zweite feste Phase freiwillig entsteht
Giebt es mehr als zwei feste Phasen, die sich unter den gegebenen
Umstanden bilden konnen, so entsteht eine entsprechend grossere Man-
nigfaltigkeit von stabilen und instabilen Gebieten, die sich ohne Schwie-
rigkeit iiberblickcn lasst.
Um diese Uberlegungen sich zu Yeranschaulichen, denke man sich
ein Salz, welches ein oder mehrere Hydrate zu bilden vermag, z. B. das
S. 526 erwahnte Binatriumphosphat. Wird das wasserfreie Salz in eine
Atmosphare von Wasserdampf gebracht, deren Druck bei 24*9^ weniger
als 1*29 cm Quecksilber betragt, so kann keine Reaktion eintreten.
Wird der Dampfdruck des Wassers grosser als 1*29 cm, so kann die
Bildung des Salzes mit 7H'0 eintreten, sie braucht es aber nicht,
und es ist denkbar, dass auch bei hoherem Wasserdampfdruck ein be-
liebig lange dauemder Zustand bestehen bleibt. Wird der Druck weiter
gesteigert, so beginnt bei 1-82 cm das Bestandigkeitsgebiet des Phasen-
paares Na^HPO^.TH^O plus NajEPO^. 12H*0 mit den angrenzenden
metastabilen Gebieten.
Ebenso braucht umgekehrt, wenn der Druck des Wasserdampfes
in Gegenwart des Salzes Na^HPO^. 12H'0 unter 1-82 cm liegt, nicht
notwendig die Bildung der Phase Na,HP04.7H*0 einzutreten, sondem
es konnen metastabile Gleichgewichte bei mehr oder weniger weit dar-
unter liegenden Druckwerten bestehen, die schliesslich freilich in das
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 545
labile Gebiet einmunden, wo die Bildung der zweiten Form freiwillig
and uDwiderstehlich erfolgt.
Au experimentellen Tbatsachen hierfdr ist mir nur eine Beobachtung
bekannt, welcbe Faraday^) mitgeteilt hat. Wahrend bekanntlich ge-
wohnliches Glaubersalz schnell an der Luft verwittert, weil der Dampf-
druck der Phasen Na*SO*.10H*0 plus Na*SO* viel grosser ist als
dem gewdhnlichen Dampfgebalte der Zimmerluft entspricht, so konDte
Faraday vollkommen uiiverletzte Krystalle in einer offenen Schale, nur
locker mit Papier bedeckti belie big lange aufbewabren, ohne dass Ver-
witterung eintrat. Solange also die Phase Na'SO^.lOH^O allein vor-
banden war, konnte auch beim relativ geringen Dampfdrucke des Wassers
in der Luft mit einer kleineren Konzentration des Wasserdampfes im
Gleicbgewichts- oder Ruhezustande sein. Dieser Zustand wird aber im
Aogenblicke zerstort, wo die kleinste Spur der Phase Na^SO^ in Be-
rohrung mit Na^SO^.lOH'O tritt: dann besteht nur ein moglicher
Dampfdruck, und ist er noch nicbt erreicht, so verdampft so lange
Wasser, oder verwittert das Salz so weit, bis der Gleichgewichtsdruck
sich hergestellt hat
Die Ahnlichkeit mit den Cberschreitungserscheinungen der Gleich-
gewichte besteht also darin, dass auch hier eine mogliche Reaktion (die
Verwitterung) ausbleibt, so lange kein „Keim'* der entsprechenden Phase
(wasserfreies Salz) zugegen ist, und dass die Reaktion beim Hinzubringen
eines solchen Keimes alsbald beginnt,
Eine weitere Ahnlichkeit liegt darin, dass die Wirkung des Keimes
eine rein ortliche ist, und Punkt fiir Punkt yon dem Keim aus fort-
schreitet. Fiir die Verwitterung krystallwasserhaltiger Salze ist diese
Thatsache, allerdings von ganz anderen Gesichtspunkten aus, Yon Pape')
beobachtet und untersucht worden. Schon an friiherer Stelle (I, 919)
sind die raumlichen Verwitterungsfiguren (Eugeln, ein- und drei-
axige Ellipsoide, je nach dem Krystallsystem) erwahnt und geschildert
worden. Dass iiberhaupt solche Formen entstehen, kann nur begriffen
werden, wenn man annimmt, dass die Verwitterung nur an solchen
Stellen eintreten kann, wo Hydrat und Anhydrid an einander grenzen,
da nur hier die Bedingung des bestimmten Zersetzungsdruckes, die Ko-
ezistenz der beiden festen Phasen gegeben ist. Der homogen gebliebene
Teil des Krystalls hat auf diesen Wert ebenso wenig Einfluss, wie der
Tollstandig verwitterte. Wo aber die kleinste Spur Anhydrid in Be-
*) Die Notiz findet sich in einem ftlteren Bande von PoggendorfPs Annalen,
doch habe ich die Stelle nicht wieder ausfindig machen kOnnen.
*) Fogg. Ann. 124, 329. 1865 u.ff.
Ostvald, Chemie. n,2. 2.Aufl. 35
546 n. Chemische Dynamik.
riihruDg mit dem Hydrat Yorhanden ist, ist die Gleicbgewichtsbedingung
durch einen bestimmten Dampfdruck gegeben, and ist die vorhandene
Konzentration des Wasserdampfes in der Loft zn klein, 8o muss die
Beaktion eintreten, welche die Herstellnng der Gleicfagewichtskonzen-
tration bewirkt, d. b. die Verwitterung. Was fnr den ersten BerUhrungs-
punkt gait, gilt fiir alle folgenden, and das Ergebnis ist ein Verwitte-
rungsellipsoid mit den allgemeinen SymmetrieYerbaltnissen des yorhan-
denen Erystallsystems des Hydrats.
Fiir die entgegengesetzte Cberscbreitang, dass z. B. ein trockenes
Salz in einer Atmosphare von hoherem Dampfdrucke, als der der ge^
sattigten Losnng, nicht zerfliesst, wtisste ich kein wohluntersachtes Bei-
spiel anzugeben. Bei den Untersuchangen Ton Miiller-Erzbacb (S. 542)
scheinen derartige Vorgange gelegentlich aufgetreten zu sein. Doch
lassen sicb die Mitteilungen kaum in unserem Sinne verwerten, da in
den erwahnten Arbeiton die Notwendigkeit, fur die Dampfdrocke krystall-
wasserhal tiger Salze zwei festePhasen zu definieren, nicht auegesprocb en
isty and auch nicht in der Versuchsanordnung bewasst zur Geltung kommt.
Eine auf den Punkt gericbtete Untersuchung ^iirde wahrscheinlich bald
derartige Falle kennen lebren.
Es ist vielleicht niitzlich, darauf binzuweisen, dass der eben be-
trachtete Fall mit dem S. 503 u. S, erorterten ausserlich iusofern iiber-
einstimmt, als hier wie dort eine feste Phase neben einer gasformigen
vorliegt. Der Unterschied besteht darin, dass die dort angenommene
Moglichkeit einer Veranderlichkeit in der Zusammensetzung der Gasphase
hier ausgeschlossen sein soil. Dadurch ist eine Freiheit mehr gegeben,
und es folgen die geschilderten Eigentiimlichkeiten.
47. Zwei Oder ein fester E5rper. Lasst man in den bisher be-
trachteten Fallen die Gasphase Terschwinden, so gewinnt das Gebilde
aus zwei festen Eorpern einen zweiten Freiheitsgrad, dergestalt, dass bei
gegebener Temperatur noch der Druck innerhalb gewisser Grenzen be-
liebige Werte annehmen kann, ohne dass eine Anderung des chemischen
Zustandes eintritt. Die beiden festen Stoffe verhalten sicb jeder, als
wenn der andere nicht vorhanden ware, and bemerkenswerte Eigentiim-
lichkeiten sind nicht hervorzuheben.
Das gleiche gilt fur das dreifach freie Gebilde aus einem festen
Korper allein.
Doch ist zu erwahnen, dass die Freiheit dieser Gebilde nicht un-
begrenzt ist. Im allgemeinen giebt es nacb oben und nacfa unten be-
stimmte Werte von Druck und Temperatur, bei welchen neue Pbasen
auftreten und die vorhandenen die unstetige Umwandlung, die dem
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 547
»kondensierten" Gebilde eigen siud, erleiden. t)ber diese Grenzen binaus
ist zwar das Besteben jener Gebilde noch moglicb, doob nur im meta-
stabilen Zustande, binter welcbem das labile Gebiet und damit die
Notwendigkeit der Umwandlung auftritt. Freilicb kann die Gescbwin^lig-
keit dieser UmwandluDg aucb im labilen Gebicte so gering sein, dass
UDS der Eorper praktiscb als stabil erscbeint.
48. Drei feste Kdrper nud ein Gkts. Wird durcb die Hinzunabme
eines weiteren festen Stoffes die Zabl der Pbasen auf vier yermebrt,
80 liegt keine Freibeit mebr vor, und es giebt nur ein bestimmtes Paar
▼on Werten des Druckes und der Temperatur, bei welcben das Gebilde be-
steben kann. Gebt man Ton diesem Punkt zu boberen Temperaturen, so ver-
schwindet eine Pbase, und zwar die, durcb deren Verscbwinden die grosste
Eotropiezunabme, d. b. die grosste Warmeaufiiabme erfolgt; umgekebrt
Terbalt es sicb bei der Temperaturerniedrigung. Gebt man andererseits
Ton diesem Punkt zu boberen Drucken, so verscbwindet diejenige Pbase,
darcb deren Verscbwinden die grosste Volumabnahme erfolgt und um-
gekebrt
Durcb diese Eigenscbaft erweist sicb ein solcbes Gebilde dem ganz
ahnlicb, welcbes durcb die Eoexistenz dreier Pbasen bei einem Bestand-
teil entstebt (S. 428). Giebt es dort einen „dreifacben Punkf ', so bat
man bei zwei Bestandteilen einen vierfacben, von dem es bier je nach
der Zusammensetzung aus gasformigen, festen und fliissigen Pbasen neun
Terschiedene Falle geben kann.
Von diesen moglichen Fallen betracbten wir als den tbeoretisch
einfacbsten zunacbst den aus drei festen Pbasen und einer gasformigen.
49. Der Tierfkohe Punkt als Durohsohnittspunkt der p-t-Kurven.
Ebenso wie der dreifache Punkt als der Durcbscbnitt der Zustands-
korven zweier Gebilde mit je einer Freibeit erscbien (wobei die dritte
Zostandskurye notwendig aucb durcb den Durcbscbnitt der beiden ersten
geben musste), so wird man jeden vierfacben Punkt als einen Durcb-
schnittspunkt zweier Zustandskurven auffassen konnen, welcbe zwei
moDOvarianten dreipbasigen Gebilden angehoren. Aucb wird man ver-
langen konnen, dass die Zustandskurven der beiden anderen iQOglicben
dreipbasigen Gebilde unter einander und mit den genannten den gleicben
Durchschnittspunkt aufweisen miissen, so dass fur alle vier monovari-
aoten Gebilde die Zustandscurven sicb in einem und demselben Punkte
scfaneiden.
Ahnlicbe Erwagungen gelten natiirlicb aucb fUr Gebilde aus drei
und mebr Bestandteilen.
35*
548 ^- Chemiscbe Dynamik.
Urn eine Anschauung far den zanachst zu betrachtenden Fall zu
haben, dass drei feste Pbasen ej, e,, e, und eine Dampfphase d Tor-
liegen, denken wir uns drei verscbiedene Salzbjdrate neben Wasser-
dampf. Dann werden die Gebilde e^e^d und e^esd je eine besondere
Dampfdruckkurve haben, and diese Kurven werden sicb an einem be-
stimmten Punkte schneiden; die zugehorigen Werte yon Temperatur und
Druck siud die, bei welchen beide Gebilde, e^e^d und e^egd, d. h. ins-
gesamt die vier Pbasen e^, e,, e, und d neben einander besteben konnen.
Die Betracbtung jedes anderen Kurvenpaares fiihrt zu demselben £r-
gebnis, und da es fiir das Zustandekommen des Gleichgewichts
der Tier Stoffe keinen Einfluss baben kann, von weloher ur-
spriinglicben Anordnung man ausgegangen ist, so folgt^ dass
alle moglichen vier Kurven sicb in demselben Punkte scbnei-
den miissen.
Von den betrachteten Kurven sind drei Dampfdruckkurven, und
eine ist eine der Eiswasserkurve analoge fiir das Gleiehgewicht eie^e,,
bei welcbem eine sehr grosse Anderung des Druckes nur eine sehr ge-
ringe Anderung der Temperatur bervorruft und umgekebrt^ und die
daher fast parallel der Druckaxe verlauft.
Es seien beispielsweise drei feste Hydrate A.mH'O, A.nH^O und
A.rH^O gegeben; m sei der kleinste Wert (gegebenenfalls auch Null),
r der grosste. Damit ein Gebilde aus den drei Hydraten mit Wasser-
dampf im Gleiehgewicht sein kann, muss die Gesamtzusammensetzung
der drei festen Pbasen in Bezug auf den Wassergehalt zwiscben mH'O
und rH^O liegen, und beim Durchschreiton des tibergangspunktes ver-
schwindet eine der drei festen Pbasen auf Kosten, bez. zu Gunsten der
anderen.
Die Umwandlung wird stets der Formelgleichung
(n — m)A.rH«0 + (r — n)A.mH«0;;:r(r — m)A.nH«0
entsprechen, welche besagt, dass das hochste und niedrigste Hydrat zum
mittleren zusammentritt. Ob mit steigender Temperatur der Vorgang
von links nach rechts, oder von rechts nach links erfolgt, hangt davon
ab, welches das Zeichen der Warmetonung ist; es findet wie immer der
mit Warmeverbrauch verbundene Vorgang statt, und man wird a priori
nicht sagen konnen, ob die Bildung des mittleren Hydrats aus den beiden
ausseren Warme entwickelt oder verbraucht. Dem entsprechend werden
wir zwei Falle zu unterscheiden haben, je nachdem mit steigender Tern*
peratur die Gleichung vorwarts oder riick warts zu lesen ist
Ferner aber treten zwei verschiedene Falle ein, je nachdem die
durchschnittliche Zusammensetzung der Gesamtmenge der festen Pbasen,
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnung.
549
die wirmit A .xH*0 bezeichnen, derartist, class in<X'<n, oder n<;x<;r
ist; dass x zwischen m und r liegen muss, ist bereits oben bemerkt
worden. Im ersten Falle reicht die Wasscriuonge iiicht aus, um alles
Salz ins mittlere Hydrat zu verwandeln; um so weniger ist es moglich,
dass sich ein Gemenge aus dem mittleren und dem hoheren Hydrat
bildet Vielmehr sind nur die Paare A.mH^O + A..nH*0 und
A.mH«0 + A.rH«0 moglich.
Liegt dagegen x zwischen n und r, so ist mehr Wasser vorhanden,
als fur das mittlere Hydrat erforderlich ist, und es ist nicht moglich,
dass das Paar A.mH'0-|-A..nH'0 sich bildet; vielmehr sind nur die
Paare (nr) und (mr) in leicht verstandlicber Bezeichnung moglich.
Wahrend also im ersten Falle das niedrigste Hydrat beiden Paaren
gemeinsam war, ist es im zweiten Falle
das hochste, niemals aber das mittlere.
Letzteres entsteht oder verschwindet
vielmehr jedesmal beim Durchgang durch
den Ubergangspunkt «
Die beistehende Fig. 64 giebt von
diesen Verhaltnissen eine Anschauung.
Die drei Phasen m, n, und r ergeben
drei Paare, mn, mr und nr, welchen
jedem eine bestimmte Dampfdruckkurve
aa', bb', cc' zukommt. Im Cbergangs-
ponkte o schneiden sich diese drei
Karven; gleichzeitig teilt der Punkt o
jede dieser Kurven in eineu stabilen und einen metastabilen, bezw.
labilen Teil, und wenn nichtstabile Zustande vermieden werden, so
muss die Dampfdruckkurve eines der (sich umwandelnden) Gebilde aus
zwei Teilen bestehen, die bei o so zusammentreffen, dass sie einen nach
nnten offenen stumpfen Winkel bilden.
Solcher Moglichkeiten sind drei vorhanden, namlich aob', aoc' und
boo'. Von diesen ist aber eine auszuschliessen, da die drei Kurven-
verbindungen den Umwandlungen
mn in mr
mr in nr
mn in nr
entsprechen, von denen die letzte, wie eben dargelegt, unmoglich ist
Je nachdem die Phasen paare mn und mr, bez, mr und nr den Kurven
von links nach rechts oder umgekchrt zugeordnct sind, ergeben sich die
vier Falle, welche eben dargelegt worden sind.
Fig. 64.
550 II* Chemische Dynamik.
Darch den Durchschnittspunkt der drei Dampfkurven geht noch
die vierte p-t-Kurve of, welche sich auf drei feste Phasen ohne Dampf
bezieht, und von der bereits oben die Rode war.
Was hier der Anschauung wegen an Hydraten dargelegt worden
ist, gilt naturlich fiir jedes andere Gebilde zweiter Ordnung mit drei
festen Phasen. Stets wird die Zusammensetzung der letzteren so be-
scbaffen sein, dass man eine Ton ihnen durch Zerlegung in die beiden
anderen ohne Rest umwandein kann; diese Phase ubernimmt dann die
Rolle des ^mittleren'* Hydrats, d. h. sie tritt nur an der einen Seite der
Umwandlungsgleichungen auf.
Die experimentelle Untersuchung eines hierher geborigen Falles
liegt in der Litteratur noch nicht vor.
50. Erdrternzig eines besonderen Falles. Einige weitere Betrach-
tungen lassen sich an den Fall kniipfen, dass eine der festen Phasen
einen Bestandteil allein ent-
rrfrii--^^ halt. JZu diesem Zwecke kann
man sich das Gleichgewicht
Eis, Salzhydrat und wasser-
freies Salz (oder niedrigeres
Hydrat) neben Wasserdampf
vergegenwartigen. Macben
wir die meist zutreffende
Annahme, dass Eis plus An*
^^«- ^^' hydrid sich unter Warme-
entwicklung in das Hydrat verwandeln, so wird dieses unterhalb des
Umwandlungspunktes bestandig sein, und oberhalb dieses unter Warme-
absorption in Eis plus Anhydrid iibergehen. Der Obergangspunkt ist
dann die Temperatur, bei welcher die Dampfdruckkurve des Eises mil
der Dampfdruckkurve des Gebildes Anhydrid plus Hydrat zum SchniU
kommt, und zwar liegt bei niederen Temperaturen diese Kurre iiefer,
bei hoheren die Eiskurve, Fig. 65.
Verfolgt man die Analogie mit dem eben erorterten allgemeinen
Beispiele der drei Salzhydrate, so wird man auch hier zwei Falle uuter-
scheiden, je nach dem sich das Anhydrid oder das Eis beziiglich des
Verhaltnisses, in welchem beide zum Hydrat zusammentreten, im t)ber-
schuss befindet Wir haben demgemass auf beiden Seiten des Uber^
gangspunktes
I. Eis + Anhydrid == Hydrat + Anhydrid.
II. Eis + Anhydrid = Hydrat + Eis.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 551
Nor im ersten Falle findet ein Scbneiden der Dampfdruckkurven
statt, weil links die Verdampfungswarme des Wassers aus Eis, rechts
di^ aus dem Hydrat die Neigung der Dampfdruckkurve bestimmt Im
sweiten Falle verdampft dagegen beiderseits nur Eis, die Dampfdruck-
kurre ist nur die des Eises und geht stetig durch den Ubergangspunkt.
Der scheinbare Widersprueh, der hierin gegeu den Satz liegt, dass
im allgemeinen die tJbergangspunkte als Durchscbnitte entsprccbender
Damipfdrackkttryen gekennzeicbnet sind (vgl. z. B. S. 548), bebt sich
dorcb folgende Betracbtung. Entziebt man dem Gebilde I links Wasser-
dampf, und yerdiobtet diesen in Beriibrung mit dem Gebilde I recbts,
so Terscbwindet links Eis, wabrend recbts Hydrat entstebt. Das iiberr
geliibrte Wasser erleidet somit eine Anderuug seines Zustandes, welcbe
einer Arbeitsleistung entspricbt, und demnacb ist der Dampfdruck cbar
rakteristiscb fiir die Verscbiedenbeit der beiden Oebilde. Filbren wir
aber das Gleicbe an II aus, so verscbwindet links Eis, und es entstebt
recbts gleicbfalls Eis. Die Menge der festen Pbasen kommt fur das
Gleicbgewicbt nicbt in Betracbt, die Uberfubning entspricbt keinem
Arbeitsunterscbied und folglicb kann aucb kein Dampfdruckunterscbied
yorbanden sein, da ein solcber einen Arbeitsunterscbied ergeben miisste.
Der Dampfdruck des Wassers ist fiir diese Art des Uberganges nicbt
charakteristiscb.
Dagegen wurde, wenn das Salz flucbtig ware, sein Dampfdruck am
Cbergangspunkt bei II einen Knick aufweisen, bei I aber nicbt. Dies
umgekehrte Verbalten ergiebt sicb aus ganz abnlicben Betracbtungen,
die nicbt wieder entwickelt zu werden braucben. Nun wird man jeden-
Ms auch dem Salze einen, wenn aucb unmessbar geringen Dampfdruck
zuscbreiben miissen; man kommt also zu dem Ergebnisse, dass von den
beiden Stoffen, die sicb am Gleicbgewicbt beteiligen, entweder der eine
Oder der andere, je nacb dem vorbandenen Cberscbuss, beim t)bergangs-
pimkte einen Knick in der Dampfdruckkurve aufweisen wird. Es wird
ako aucb der Gesamtdruck (Druck des Wasserdampfes plus Druck des
Salzdampfes) in jedem Falle einen Knick beim Ubergangspunkte baben,
Bnd damit ist die voUstaudige Aualogie mit dem Gleicbgewicbt erster
Ordnung bergestellt.
51. Drei feste Phasen. Wird aus dem Gebilde dreier fester Pbasen
mit Dampf der letztere fdrtgelassen, so gewinuen wir wieder einen Frei-
heitsgrad. Dieser kennzeicbnot sicb wieder dadurcb, dass die Moglicb-
keit des Gleicbgewicbts nicbt mebr auf einen bestimmten Wert von
Druck und Temperatur bescbrankt ist, sondern es sind innerbalb ge-
triaser Grenzen beliebige Drucke und Temperaturen moglicb, docb so.
552 U. Chemische Dynamik.
dass zu jedem Druck eine bestimmte Temperatar gehort, und um-
gekehrt.
Das hier auftretende Gleichgewicfat hat die grosste AhDiichkeit mit
dem erster Ordnung zwischen zwei iiicht dampfformigen Phasen, also
zwischen festem und fliissigem Korper oder zwischen polymorphen FormeD.
Stellt die Formel A -^ B :^^ G eine Reaktionsgleichung zwischen lautor
festen Korpern dar, so giebt es ftir jeden Druck nur eine bestimmte
Temperatur, bei welcher alle drei Stoffe neben einander bestehen
konnen. Erhoht man bei diesem Druck die Temperatur, so geht yod
den beiden moglichen eutgegengesetzten Reaktionen die Tor sicb, welche
Warme yerbraucht, und zwar voUstandig, so dass eine der drei Phasen
verschwindet und ein Gebilde mit zwei Freiheiten entsteht Umgekehrt
erfolgt bei Temperaturerniedrigung die entgegengesetzte, mit Warme-
entwicklung verbundene Reaktion bis zum Verschwinden einer Phase.
Von den Vorgangen mit Phasen veranderlicher Konzentration (Gasea
und Losungen) unterscheiden sich die hier erwahnten dadurch, dass
definitionsgemass die Zusammensetzung der Phase nicht als Verander-^
liche auftreten kann. Dadurch tritt einerseits diese Zusammensetzung
nicht in die variablen Gleichgewichtsbedingungen ein; das Gleichgewicht
iindet entweder gar nicht, oder in alien beliebigen Verhaltnissen der
beteiligten festen Stoffe statt. Andererseits kann eine Anderung einer
der Veranderlichen (Druck oder Temperatur) nicht wie in jenen Fallen
durch eine teilweise erfolgende Reaktion so kompensiert werden, dass
dadurch ein den veranderten Bedingungen entsprechendes neues Gleich-
gewicht entsteht, sondern die moglichen Reaktionen sind nur voll-
standige, bei denen mindestens einer der beteiligten festen Stoffe zum
Verschwinden gebracht wird.
Infolge dieser Eigentiimlichkeiten hat van'tHoff (S. 153) die Gebilde
aus Stoffen unyeranderlicher Konzentration „kondensierte Systeme"*,
und den Temperaturpunkt, bei dem in ihnen die volistandige Reaktioa
eintritt, den tibergangspunkt genannt. Je nachdem den Gebildea
keine Freiheit mehr zukommt, oder sie einen Freiheitsgrad besitzen, ist
der Obergangspunkt entweder ein absolut bestimmter Punkt, oder eine
Funktion des Druckes. Ist mehr als eine Freiheit vorhanden, so kann
von einem Obergangspunkt nicht mehr die Rede sein.
Solche ^ykondensierte Systeme" sind uns beim Gleichgewicht erster
Ordnung bereits entgegengetreten, und die charakteristische VoUstandig*
keit der Reaktion im einen oder anderen Sinne hat sich als Kennzeichen
sowohl der polymorphen Umwandlung, wie der Schmelzung und Es^
starrung herausgestellt. Da in jenem Falle auch die iliissigeu Phasen
Chemische. Gleichgewichte zweiter Ordnnng.
553
definitionsgemass von konstanter ZusammensetzuDg sind, so sind beim
Gleichgewicht erster Ordnung Fliissigkeiten unbeschrankt fahig, sich
am Aufbau kondensierter Systeme zu beteiligen. Bei Gleichgewichten
hoberer Ordnung kounen wir diese Voraussetzung nicht mehr machen,
und es muss daher ausdriicklich ausgesprochen werden, dass bier Fliissig-
keiten sich an kondensierten Systemen nur dann beteiligen konnen,
wenn durch die moglichen Reaktionen ihre Zusammensetzung nicht ge-
andert wird, d; h. wenn sie fiir keinen der entstehenden oder verschwin-
denden Stoffe als Losungsmittel dienen konnen.
52. Vier feste Fhaaen. Gebilde aus vier festen Phasen zweier
Bestandteile» die demgemass koinen Freiheitsgrad haben und nur bei
eioer bestimmten Temperatur unter
einem bestimmten Druck bestehen
konnen, sind experimentell bisher noch
Dicht beobacbtet worden. Von ihrer
Entstebungsweise kaun man sich fol-
gendermassen Rechenscbaft geben.
Es sei o ein vierfacher Punkt
aus drei festen Phasen und ciner
gasformigen, beispielsweise aus drei
Hydraten neben Wasserdampf. Nun
konnen viele Stoffe mehr als drei
Hydrate bilden. Tritt ein viertes
Hydrat A.sH'O bei irgend einer an-
deren, z. B. hoheren Temperatur auf,
80 wird dort eines von den bisherigen
Hydraten (z. B. A.mH^O) nicht mehr existieren konnen, da sonst funf
Phasen bei zwei Bestandteilen vorhanden waren. £s wird sich dort ein
zweiter vierfacher Punkt ausbilden, in welchen sich wieder drei Dampf-
dmckkurren und die p-t-Kurve o'f des ^kondensierten'^ Gebildes
kreozen; die Kurven werden den Paaren nr, ns, rs und dem konden-
sierten Gebilde nrs entsprechen.
Nan kann es geschehen, dass die beiden Kurven of und oT der
kondensierten Gebilde eine solche Lage haben, dass sie sich bei steigen-
dem Drucke nahem und sich schliesslich schueiden^). Der Schnittpunkt
stellt dann Druck und Temperatur dar, bei welchen die beiden Gebilde
ainr und nrs mit einander im Gleichgewicht sind, d. h. bei welchen die
vier festen Phasen m, n, r, s neben einander bestehen konnen.
*) Die andere Lage wOrde eineD Schnittpunkt bei grossen negativen Drucken
ergeben.
Fig. 66.
554 n. Ghemische Dynamik.
Die experimentelle Bearbeitung eines solchen Fallcs ist bisher noch
nicht yersucht worden.
Hiermit haben wir die Betrachtung samtlicher Falle abgeschlossen,
bei dcnen fiiissige Phasen nicht beteiligt sind. Lctztere bieten die
grosste Verwickelung und waren daher bis jetzt ausgeschlosaen. Wir
gehen nanmebr zu ihrer Betrachtung iiber.
B. Gleichgewichte mit Flussigkeiten.
53. Das Henrysche Gtesets. Beim Gleichgewicht einer fliissigen
und einer gasformigen Phase beginnen wir mit dem wichtigen Grenz-
fall, dass chemische Wechselwirkung zwischen Flussigkeit und Gas aus-
geschlossen ist. Dann erfolgt nur eine Losung des Oases in der Flussig-
keit, sowie eine des Dampfes im Gase, und es stellt sich ein zweifach
freier Gleichgewichtszustand heraus, in welchem far jede Temperatur
noch der Druck beliebig bestimmt werden kann, von dem dann die Zu-
sammensetzung abhangig ist, bezw. wo eine Yorgeschriebene Zusammen-
sctzung durch Herstellung eines pa^senden Druckes erzielt werden kann.
Das hier auftreteude Gleichgewichtsgesetz ist bereits fruher als
das Absorptionsgesetz von Henry (I, 613) ausgesprochen worden; es
besagt, dass fur jede Temperatur das Verhaltnis der Konzen-
tration des Gases in der Gasphase und in der fliissigen Lo-^
sung konstant ist.
Die verschiedenen Versuche, durch die das Gesetz bestatigt worden
ist, sind bereits mitgeteilt worden. Hier ist zunachst ern wichtiger
Scbluss aus der Form des Gesetzes zu Ziehen.
Da fur Gase die wirksame Menge der Konzentration proportional
ist, andererseits die Konzentration der Gasphase und die des gelosten
Gases in der fliissigen Phase nach dem Henryschen Gesetz gleichfalls
proportional sind, so folgt auf Grund des Gesetzes yon der gegenseitigen
Vortretbarkeit koezistierender Phasen, dass auch in Losungen die
wirksame Menge der Konzentration proportional ist Es ist
sofort hinzuzufiigen, dass dies Gesetz nur fiir yerdiinntere Losungen, so
weit das Henrysche Gesetz und die Gasgcsetzo gultig sind, Anwendung
findet.
Der yom Henryschen Gesetz unabhiingige experimentelle Nachweis
von der Giiltigkeit dieses Gesetzes ist bereits in der Lehre yon den
Reaktionsgeschwindigkeiten erbracht worden, und in der That beraht
die Kenutnis der allgemeinen Gesetzmassigkeitou in der chemischen
Kinetik und Statik auf dieser Voraussetzung und hat sich gescbichtlich
an dem Studium der gelosten Stoffe, nicht der gasformigen, ent-
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 555
wickelt. Dadurch ist gleichzeitig der Nachweis erbracht, dass die zu-
fallige Eigenschaft, eine gasformige Phase bei mittleren Temperaturen
und Drucken bilden zu konnen, nicht massgebeud fiir die Giiltigkeit
dieses allgemeinen Gesetzes geloster Stoffe ist.
54. Besiehimg zu den Gesetsen des osmotisohen Druokes. Es
ist gleichfalls schon dargelogt worden, dass die Betrachtung des osmo-
tischen Druckes geloster Stoffe noch eine Anzahl weiterer t)berein-
stimmoDgen zwischen ihnen und den Gasen ergeben hat, so da^s van't
Hoff fiir jene ein gleichlautendes Gesetz py=;RT mit gleichem Wert
der Konstanten R hat a/afstellen konnen. Mit Hilfo des Henryschen
Gesetzes lasst sich, wie van't Hoff gezeigt hat, die Notwendigkeit dieser
Obereinstimmnng beweisen, wenn man die Proportionalitat zwischen
Konzentration und osmotischem Druck yoraussetzt. Alsdann gilt fiir
Losungen bei konstanter Temperatur die Beziehung p7c==. const nnd,
da die Konzentration nmgekehrt proportional dem Volnm ist, auch
p'r = C\ Dadurch wird die Arbeit bei der unendlich Ueinen isothermen
Volnm- and entsprechenden Druckanderung gleich G'd In p', wo die ge*'
strichelten Buchstaben sich auf die Losung beziehen. Fiir Gase ist das
Element der isothermen Arbeit gleich RTd In p; haben wir demnach Gas
nnd Losung im Gleichgewicht, so verlangt das Gesetz der virtuellen
Energieandemng die Gleichung:
C'dlnp=RTdlnp.
Nun kann man das Henrysche Gesetz in der Form p = j9p' schreiben,
wo ^ die Loslichkeit des Gases in der Fliissigkeit bedeutet, da der os-
motische Druck proportional der Konzentration ist. Aus p = /3p' folgt
dp=r/Jdp' und durch Division mit der ersten Gleichung -J-=-^ oder
dlnp = dlnp'. Damit ergiebt sich aber: ^ ^
C' = RT,
d. L fiir die gerade herrschende Temperatur ist die Konstante des os-*
motischen Gesetzes gleich dem Produkt der Gaskonstaute mit der ab-
soloten Temperatur. Da ferner die Ableitung fiir jede beliebigo Tem-
peratur gilt, indem die von der Temperatur abhangige Loslichkeit fi aus
der Formal herausfalit, so muss C von der Form R'T sein, woraus
R'=R folgt.
Man kann, wenn man will, dies Ergebnis in der Gestalt aussprechen,
dass die meisten gelosten Stoffe (iiber die Ausnahmen vgl. I, 731) in
der Losung dasselbe Molekulargewicht haben, wie in Gasgestalt. Gegen
diese Formulierung ist eingewendet worden, dass ein solcher Satz nicht
bewiesen warden konne. Halt man sich an die euergetische Definition
556 I^* Ghemische Dynamlk.
der Molekulargrossea als der Stofflnengen, fur welche die Konstante R
in dem Gesetz py = RT gleiche Werte besitzt, so bleibt ersichtlicher
Weise nichts hypothetiscbes und zweifelhaftes in dem Aussprache nach,
dass die Molekulargrosse im gasformigen und gelosten Zustande den-
selben Wert hat. Zweifel sind allerdings vorhanden, weun man als
Molekulargewicht das „Gewicht des kleinsten Theilcbens Materie, das
eine selbstandige Existenz besitzt*' auffasst; dann aber liegt die Un-
sicherheit nicht erst bei der Ubertragung dieses Begrififes auf geloste
Stoffe, sondern bei dem Begriffe selber.
55. Dampfdmdk der Idsenden Flussigkeit. Wenn die Fliissigkeit
einen messbaren, eigenen Dampfdruck hat, so ist die aufgeioste Gas-
menge nicht mehr dem Gesamtdrucke proportional, sondern nur dem
Teildrucke des Gases, der sich nach Abzug des Dampfdruckes der
Fliissigkeit Yom Gesamtdrucke ergiebt.
Dieser Theildruck ist gewofanlich so berecfanet wordeu, dass man
den der Temperatur entsprechenden Dampfdruck der reinen Fliissigkeit
in Rechnung setzte. Fiir den Fall sehr wenig loslicher Gase und nicht
grosser Drucke ist diese Rechnung, wenn auch nicht prinzipiell richtig,
so doch praktisch zulassig. Fiir eine strengere Rechnung kommen noch
zwei Umstande in Betracht, welche den Dampfdruck des Losungsmittels
beeinflussen, und zwar im entgegengesetzten Sinne.
Zunachst iibt das iiber der Fliissigkeit stehende Gas auf diese eine
Pressung in dem S. 362 defiiiierten Sinne aus, wodurch der Dampf-
druck erboht wird, und zwar proportional der Pressung.
Ferner aber erleidet das Losungsmittel nach den allgemeinen Lo-
sungsgesetzen eine Dampfdruck verminderung durch den aufgelosten
Stoflf.
Der erste Einfluss ist von der Natur des Gases unabhangig und
fiir verschiedene Gase bei gleichem Drucke gleich. Der zweite hangt
von der Natur des Gases insofern ab, als durch diese die Loslichkeit
bestimmt ist; fiir aquimolekulare geloste Mengen wird auch dieser Ein->
fluss gleich fiir verschiedene Gase.
Fiir den ersten Einfluss war die relative Beeinflussung durch die
folgende Formel (S. 364) gegeben:
Jt — p Pgp
p "" RT'
wo ^ der Dampfdruck der gepressten, p der ungepressten Fliissigkeit,
P die Pressung, d. h. der Druck des fremden Gases, und <p das Mole-
kulai'volum der Fliissigkeit ist.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 557
Andererseits ist die Dampfdruckerniedrigung durch die aufgeloste
Gasmenge nach folgender Betrachtung zu finden.
1st j3 die Loslichkeit des Gases, d. h. das von der Volumeinheit
dee Losungsmittels aufgenommene Volum, p der Dampfdruck des reinen
Losungsmittels, pg der der mit dem Gase gesattigten Losung, so ist
die relative Dampfdruckvermindening:
P — Pg _ »
p ~ N '
wo D die Molekelzahl des gelosten Stoffes, N die des Losungsmittels
(I, 717) in einer gegebenen Menge der Losang ist. Sind 90 und V die
Molekularvolume von Losung und Gas bei dem vorhandenen Drucke
des Gases, so ist das von der Volumeinheit geloste Gasvolum P und
1 B
die Molekelzahlen sind N = — und n = -^. Daraus folgt:
q> \
p — Pg fig)
p V '
RT
Oder bei Einfuhrung von V = -p-
P — Pg _ff9PP
p ~ RT"
Die relative Dampfdruckverminderung durch die Loslichkeit des
Gases ist sonach proportional dem Druck des Gases P und der „mole-
knlaren Loslichkeit^ ffq>y d. h. dem von einem Mol des Losungsmittels
ftafgenommenen Gasvolum.
Vergleicht man beide Formeln fur die Dampfdruckbeeinflussung,
so ergiebt sich, dass die Vermehrung des Druckes vermoge der Pressung
gleich der Verminderung durch die Auf losung wird , wenn j3 = 1 ist,
d. h. wenn das von der Flussigkeit geloste Gasvolum gleich dem Volum
der Fliissigkeit ist. Im iibrigen bleibt ein Cberwiegen der Dampf-
dmckvenmnderung fur jS > 1, eines der Dampfdruckvermehrung fiir
3<I nach.
Das Ergebnis ist schon von W. Gibbs (S. 133) gefunden und aus-
gesprochen worden. Versuche zu seiner Priifung liegen noch nicht vor.
56. TeilwelBB chemisohe Wirkung. Wir woUen nun den Fall an-
oehmen, dass zwischen dem Gase und dessen Losungsmittel ein che-
niischer Vorgang stattfindet, so dass sich ein Teil des Gases in einen
snderen Stoff umwandelt. Dann werden wir den Satz aufstellen ^), dass
*) Fernet, Compt. rend. 46, 620. 1858.
558 n. Chemische Dynamik.
der umgewaudelte Anteil fur das Henrjsche Gesetz nioht mehr in Be-
tracbt kommt, dieses vielmehr nur fiir den nicht umgewandelten Anteil
giiltig ist Nennen wir g die Gesamtkonzentration des aufgenommenen
Gases und b die des veranderten Anteils, so ist g — b die Konzentration
des unveranderten Anteils, und nur diese kann der Konzentration f der
Gaspbase proportional gesetzt werden. £s gilt demnach:
g — b = 1.7,
wo 1, die Loslicbkeit des unverandert bleibenden Anteils, nocb eine
Funktion der Temperatur ist.
Zwischen g und b besteht nun eine Beziebung, welcbe von der Be-
schaffenheit der zwiscben dem Gase und seinem Losungsmittel statt-
findenden Reaktion abbangig soin wird. Diese Reaktion lasst sicb all-
gemein in der Form scbreiben:
m G -f- nL ^ ^j^ C^ -4- r^ C2 + • • • ,
wo G ein Mol des Gases, L eines der Fliissigkeit, C eines des Produktcs
und m, n und r die kleinstmoglichen Molekularkoeffizienten bedeuten.
Auf der recbten Seite erscheinen mebrere Glieder, da mebrere Produkte
nebeneinander entsteben konnen. Ein Gleicbgewicbt bei einem solchen
Vorgange wird der Pormel entsprecben:
c^.c» = k[cj],
wo Cg und Cc die Konzentrationen des gelosten Gases, des Losungsmittels
und des Produktes sind. Die Klammer [] soli bedeuten, dass der ein-
gescblossene Wert ein Produkt aus mebreren ubereinstimmend gebauten
Gliedern sein kann. Von diesen konnen wir in erster Annaherung Cl
konstant setzen, so dass wir baben:
c^ = k'[cj].
Nun ist die Konzentration Cg des unveranderten Gases gleicb g — b
angenommen, die des umgewandelten gleicb b. Daraus folgt:
(g-br=k'[b^.
Eliminiert man mittels dieser Gleicbung b aus der ersten Gleicbung,
so erbalt man die Beziebung zwiscben der Gesamtmenge g des gelosten
Gases und der Konzentration 7 in der Gaspbase. Hierbei ist voraus-
gesetzt, dass die entstandene Verbindung gelost bleibt.
Der einfacbste Fall liegt vor, wenn m = 1 ist und nur eine Ver-
bindung entstebt, so dass in der Klammer [] nur ein Faktor entbalten
ist, fiir den wir aucb nocb r = l annebmen; n kann dagegen einen von
Bins verscbiedenen Wert baben. Dana ist:
Ghemische Gieichgewickte zweiter Ordnung. 559
g — b = k'b, b =
k'+l
Qnd damit aus der ersten Gleichung:
g=(i4-ii)ir.
Au8 dieser Gleichung geht hervor, dass auch in diesem Falle das
Henrysche Gesetz bcstefaen bleibt* Der Fall tritt z. B. ein, wenn das
Gas mit dem Losungswasser ein Hydrat von der Formel G -|- nH*0 bildet.
Denn wird die Gleichung in der Form
f-=(' + T>
geschrieben, so sieht man, dass gegeniiber dem einfachen Henryscben
Gesetz — = 1 ein formaler Unterschied nicbt bestebt, indem nur statt
/ g — b
der wahren Loslichkeit 1 = ^ die scheinbare Loslichkeit
g r
L ^ — ^ d. h. das Verhaltnis der gesamten (umgewandelten und unyer-
aadert gebliebenen) von der Volumeinheit der Losung aufgenommenen
Gasmenge zur Konzentration in der Gaspbase sich als Konstante ergiebt.
£ine Moglichkeit, diesen Fall tod dem der Losung ohne Verbindung zu
unterscheiden, besteht nicht, so weit das Henrysche Gesetz in Betracht
kommt, wenigstens innerbalb der Grenze, fiir welche die Veranderung
des Losangsmittels durch die Bildung der Verbindung yernachlassigt
werden kann.
57. Der allgemeliiere Fall. Nimmt man den allgemeineren Fall,
dass mehrere Molekeln des Gases eine Verbindung mit dem Losungs*
mittel eingehen, so hat man aus g — b = 1/ und (g — b)™ = k'b' alsbald
l7 = k'°^.b" und g = ly+|/i^.
Hieraus ergiebt sicb, dass g und / einander nicht mehr proportional
Ueiben, sondern die absorbierte Gesamtmenge g wachst schneller, als
die Konzentration 7 des Gases, oder als dessen Teildruck. Schreibt
man die Gleichung in der Gestalt
i=i.=i+i7j^-
80 sieht man, dass ^ oder die scheinbare Loslichkeit L als Funktion
7
nm 7 in rechtwinkligen Koordinaten sich nicht mehr als eine Paral-
kle zur /-Axe darstellt, sondern als eine sich mit wachsendem 7 yon
560 ^' Chemische Dynamik.
der 7 -Axe entfernende oder ihr nahernden Kurve, je nachdem m>r
oder r>iii ist. '^ —
Nur im Falle, dass r = m ist, erhalten wir g = ly+|/_L_ und
7 r k'
Auf der rechten Seite ist nun y verschwunden, die Kurve in y und L
wird eine Gcrade und es tritt wieder die Giiltigkeit des Henryschen 6e-
setzes ein. Iq Worten heisst dies: Wenn durch die Reaktion des Gases
auf das Losungsmittel ebensoviel ueue Molekein entstehen, als Gas-
molekeln verschwinden, so bleibt das Henrysche Gesetz gultig. In
einem solchen Falle wiirde sich auch bezuglich der Gefrierpunktser-
niedrigung, oder allgemein beziiglich des osmotischen Druckes die ver-
diinnte Losung so verhalten, als ware das Gas ohne jede chemische
Anderung gelost.
Man darf also aus der Giiltigkeit des Henryschen Gesetzes in einem
bestimmten Falle nicht schliessen, dass das Gas ohne chemischen Vor-
gang gelost wird, sondern nur, dass, falls ein chemischer Vorgang statt-
findet, dieser die Bedingung r = m erfullt.
58. Vermehrong der Molekelzahl. Nehmen wir nun an, dass bei
der Einwirkung des Gases auf das Losungsmittel die Zahl der Molekein
sich vermehrt, indem z. B. elektrolytische Dissociation eintritt, so haben
wir die Gleichungen:
fiir das Gas: g — b = 7.1,
fur die Losung: g — b = k'b".
Aus ihnen folgt zunachst 7l = k'b°. Hier besteht also eine einfache
Beziehung zwischen der Gaskonzentration und der umgewandelten
Menge des gelosten Gases. Im Falle der binaren elektrolytischen Disso-
ciation beispielsweise ist n = 2, und wir haben
7l = k'b«.
Da b die Konzentration der lonen darstellt, der auch die elektrische
Leitfahigkeit der (verdiinnten) Losung proportional ist, so folgt, dass
die elektrische Leitfahigkeit im Falle des Gleichgewichts eines elektro-
lytisch spaltbaren Gases mit dem Losungsmittel der Quadratwurzel aus
der Konzentration oder auch aus dem Teildruck der Gasphase pro-
portional ist.
Dies Gesetz erinnert an die angenaherte Beziehung, dass bei wenig
dissociierten Stoffen die molekulare Leitfahigkeit der Quadratwurzel
aus der Verdiinnung oder dem Volum proportional ist. Schreibt man
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 561
diese Formel auf Konzeatrationen der beteiligten Stoffe um, so erhalt
man in der That einen iibereinstimmeDden Ausdruck^). Indesaeu be-
steht der wesentliche Unterschied, dass jene Formel nur angenahert fiir
wenig diasociierte Elektrolyte Geltung hat, wahrend die hier aufgestellte
allgemeiner giiltig ist; sie enthalt an Vernachlassigungen nur die Nicht-^
beriicksiohtigang des Einflusses der gelosten lonen auf die Konstante
des Henryschen Gesetzes. Die Quelle der Einfachheit dieser Beziehung
ist der Umstand, dass durch das Henrysche Gesetz der nichtdisso-
ciierte Anteil des gelosten Gases dem Gasdrucke proportional gehalten
wird, und nicht der gesamte; der dissociierte Anteil aber ist eine viel
einfachere Funktion des nicht dissociierten Teils, als der Gesamtmenge.
Eliminiert man b aus den Gleichungen, so folgt:
Beim Vergleicb dieser Formel mit dem einfachen Henryschen Gesetz
-^ = 1 ergiebt sich, dass das Verhaltnis zwiscben aufgenommener Gas-
menge g und Konzentration der Gasphase y oder die „8choinbare'* Los-
lichkeit L nicht mehr konstant ist, sondern mit 7 wechselt. Die Formel
giebt fur die Koordinaten L und 7 die Gestalt einer rechtwinkligen
Hyperbel, deren Asymptoten die Linien 7 = 0 und L = 1 sind. Fiir grosse
Gaskonzentration 7, bezw. fiir grossen Druck des Gases wird das unter
dem Wurzelzeichen stebende Glied klein, und die scheinbare Loslich-
keit L nahert sich der wahren 1; fiir kleine Gaskonzentration wird da-
gegen das Wurzelglied immer grosser, um fiir 7 = 0, L == 00 zu geben.
Je kleiner also die Konzentration der Gasphase wird, um so grosser
▼ird die scheinbare Loslichkeit. Das Verhalten ist gerade das umge-
kehrte Ton dem Falle, dass raehrere Gasmolekeln in der Losung zu
ei/iem Komplex zusammentreten , denn dann hat L fiir kleine 7 semen
kleinsten Wert und nimmt gleichzeitig mit 7 zu (S. 559). Man kann
aaf diese Weise aus den Abweichungen Yom Henryschen Gesetz Schliisse
auf die in der Losung stattfindenden Vorgange Ziehen.
Die eben entwickelteu Beziehungen ergeben, dass es viel schwerer
sein muss, die letzten Anteile eines Gases, das der elektrolytischen
a4
*) Die Leitf&higkeiteformel — r = kv ist (II, 668) aus der Konzen-
tratioDsformel j- <-» k entstanden, wo e die GesamtkoDzentration des Elektro-
e — d '
IjU, d die des dissociierten Anteils ist. So lange d klein gegen e ist, kaon man
^ e — d einfach e setzen, and hat dann die mit der oben gegebenen tlberein-
itimmende Formel ke»>d*.
Oitwald, Chemie. 11,2. 2.Aufl. 36
562 II> Ghemische Dynamik.
Dissociation fahig ist, seiner wasserigen Losung zu entziehen, als die
eines indifferenten Gases von gleicher Loslichkeit bei mittleren Drucken.
Wenn auch manche qualitative Erfahrung dafiir spricht, so liegt auch
(z. B. in dem verhaltnismassig zuganglichen Fall des Scbwefelwasser-
stoffs) nocli kein quantitativer Nachweis fiir die geschiiderte Abweichung
Yom Henryscben Gesetz vor. Im Gegenteil bat Schonfeld bei seinen
Bestimmungen der Absorptionskoeffizienten des Scbwefelwasserstoffs die
Giiltigkeit des Henryscben Gesetzes aucb fiir niedrige Drucke bebauptet.
Schwefelwasserstoff ware im iibrigen das geeignetste Beispiel fiir
den vorliegenden Fall. Zwar pflegt man dies Gas als eine zweibasiscbe
Saure» H^S, aufzufassen; indessen liegt eine ganze Anzabl yon Griinden
fiir die Annabme vor, dass die Dissociation in wasseriger Losung nacb
dem Scbema H^S ±^ H'-f- HS', also wie bei einer einbasiscben Saure
stattfindet. Die zweite Stufe der Dissociation ist bei einer so scbwacben
Saure wie Scbwefelwasserstoff so gering, dass sie weit ausserbalb des
Gebietes des bier messbaren liegt.
Die Halogenwasserstoffsauren HCl, HBr, HJ wiirden aucb bier zu
nennen sein. Docb ist ibre Dissociation und ibre Loslicbkeit viel zu
gross, als dass die einfacben Gesetze fiir sie Geltung bebalten konnten.
59. Gleiohzeitige Hydratation and elektrolytisohe DisBoaiation.
Ein wenig verwickelter liegt der Fall beim Ammoniak, dem Koblen-
und Scbwefeldiozyd, indem beide eben erorteilen Vorgange gleicb-
zeitig eintreten. Das geloste Gas verbindet sicb mit Wasser zu einem
Elektrolyt, und dieser zerfallt in lonen. Wir baben fiir diesen Fall
den veranderten Anteil b als aus zwei Teilen bestebend anzusetzen, dem
nicbt dissociierten UQd dem dissociierten Hydrat. Nennen wir letzteren
d, so gelten fiir den einfacbsten Fall folgende Gleicbungen:
g — b = l7
g-b = k'(b-d)
d« ,.
-b-=:d=^'
von denen die erste das Henryscbe Gesetz, die zweite die Hydrat-
bildung und die dritte die Dissociation ausdriickt. Durcb Substitution
von g — b aus der ersten und von b — d aus der dritten Gleicbung
aus
k k' 1/ k"ly
folgt ly^-yv-d*. Aus l/ = -j-,— d* folgt zunacbst d=|/ —rr^l
d« = k"(b — d) folgt b = d+4I~ und mit g-b = l7 folgtg — d —
d*
-r-77-==ly. Wird der Wert Ton d, bezw. d* substituiert, so erbalt man
k
die von b und d freie Gleicbung:
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 563
welche die Beziehang zwischen der Gaskonzentration / und der ge-
8amten Menge des gelosten Gases g darstellt.
Wie man sieht, findet auch in diesem Falle keine Proportionalitat
zwischen g und 7 statt, sonderu die Form der Gleichung ist der fur
die Dissociation ohne Hydratation giiltigen ganz ahnlich. Aucfa bier
ergiebt L = -^- gegen 7 ausgesetzt eine Hyperbel, deren Asymptoten
einerseits die L-Acbse, andererseits die Gerade L = lfl + -T— ) sind.
Wesentlicb ist zu bemerken, dass in dem von 7 freien Gliede nur die
Hydratationskonstante k, in dem mit 7 bebafteten Quadratwurzelgliede
dagegen beide Konstanten enthalten sind. Daraus folgt, dass wenn man
die eine dieser Konstanten unabbangig (z. B. durcb Leitfabigkeits-
messungen) bestimmt, man die andere aus passenden Messungen iiber
die Absorptionsgrossen ableiten kann.
60. Beispiele. Falle, in denen die bier gemacbten Voraussetzungen
erfiillt sind, liegen beim Koblendioxyd, Scbwefeldioxyd und Ammoniak
▼or. Die bier in Betracbt kommenden Reaktionen sind
CO, + H^O = HjCOj; H,COs = ff + HCO,',
SO, + H80 = H,S03; H^SOg =ff + HS03',
NHs + H,0 = NH^OH; NH^OH = NHi + OH'.
Am Koblendioxyd scbeinen bisber Abweicbungen vom Henryscben
Gesetz bei geringen Gasdrucken nicbt bemerkt worden zu sein. Dies
liegt daran, dass die Dissociation der Koblensaure und daber aucb die
Konstante k'' so klein ist, dass aucb 7 sebr kleine Werte annehmen
muss, damit das Glied unter dem Wurzelzeicben seinen Einfluss im
Sinne einer Abweicbung yon dem Absorptionsgesetz geltend macben
kann. Dagegen sind solcbe Abweicbungen, und zwar im erwarteten
Sinne, bei den beiden anderen Gasen in sebr ausgepragter Weise be-
obacbtet worden. Zwar batten Garius und Scbonfeld (I, 621) die Giiltig-
keit des Henryscben Gesetzes fiir diese beiden Stoffe nacbweisen zu
k5nnen geglaubt; docb zeigten spater Roscoe und Dittmar^), Sims^) und
Watts'), dass bedeutende Abweicbungen vorbanden sind. Und zwar,
was den damaligen Anschauungen wenig entspracb, gerade bei geringeren
Dracken weit erbeblicber, als bei grossen.
1) L. A. 112, 349. 1859.
*) L. A. 118, 345. 1861.
*) L. A., Soppl. 3, 227. 1865.
36*
564 II- Chemiscbe Dynamik.
Die Piiifung dieser Messungen von den bier gegebenen Gesichts-
punkten aus ergiebt zunacbst qualitativ eine gute Obereinstimmung
zwischen Beobachtung und Tbeorie. In Fig. 67 und 68 sind die von
Sims gezeichneten Eurven wiedergegeben, welche die Loslichkeit als
Funktion des Druckes darstellen? Fig. 67 gilt fur Schwefeldioxyd, Fig. 68
flir Ammoniak. Man erkennt alsbald, dass die Abweichungen urn so
grosser werden, je geringer der Gasdruck, oder die diesem proportionate
KoDzentration y wird; die Kurven zeigen eine ausgopragte Tendenz,
gegen die Ordinatenachse asymptotisch zu verlaufen. Dies ist geuau, was
die Formel erwarten lasst. Schreibt man sie auf die Gesamtloslichkeit
a
L = — um, 80 hat man
7
L=i(i + i,+Kp"n;>
in diesem Ausdruck ist fiir grosse / der Wurzelausdruck klein, wachst
aber mit abnehmendem / und wird fur 7 = 0 unendlich gross. Das von der
Theorie verlangte asymptotische Ausgehen der Kurve zur Ordinatenachse
7 = 0 ist also vorhanden. Ebenso ist der allgemeine Gharakter der
Hyperbel gut ausgepragt. Dass auch der zweite Arm nicht vollstandig
horizontal wird, ist wohl wesentlich auf den Umstand zuriickzufiihren,
class die bei grosseren Drucken beobachteten Loslichkeitswerte bereits
zu recht konzentrierten Losungen gehoren, fur welche man die Giiltig-
keit des Absorptionsgesetzes kaum mehr erwarten darf.
Was die Verwertung der Beobachtungen zur Ermittelung der in
der Formel auftretenden Konstanten anlangt, so soil hier nur bemerkt
werden y dass eine eingehende Dntersuchung der obwalteuden Verhalt-
nisse eben im Gauge ist, nach deren Abschluss ein vollstandigeres
Material fur den Zweck vorhanden sein wird.
Ein bemerkenswerter Schluss ist schliesslich noch zu erwahnen,
wcnn er auch eigentlich in ein spateres Kapitel gehort Wenn man in
dem Losungswasser einen starken Elektrolyten auflost, welcher mit dem
dissociiertcD Anteil des gelosten Gases ein Ion gemeinsam hat, wird
spater darzulegenden Gesetzen gemass die Dissociation des Gases bis
zur Unmerklicbkeit zuriickgedrangt werden konuen, und die reine Losungs-
erscheinuDg bleibt iibrig. Es ist also zu erwarten, dass in Ammoniak-
salz- oder Alkalilosungen Ammoniak, in sauren Sulfiten oder verdunnten
starken Sauren, wie die Hologenwasserstoffsauren, Schwefeldioxyd die
Abweichungen bei geringen Drucken nicht zeigen wird. Anderseits
ist zu erwarten, dass Elektrolyte, welche kein gemeinsames Ion ent-
halten, keinen Einfluss auf die Abweichungen iiben werden. Diese
Chemische Gleichgewicbte zweiter Ordnung.
565
1€0 ^tO *S0 6W 800 960 //XO fZSO
Fig. 67.
/600 irSO fS20 SffSO
JUtf
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Fig. 68.
0.00
566 II- Chemische Dynamik.
Schlussfolgerungen sind interessant genug, urn zu einer experimentellen
PriifuDg einzuladen.
61. tl^bersattigte Gasldsongen. Wird die Konzentration, bei welcher
die gasgesattigte Fliissigkeit mit der iiberlagernden Gasschicht im Gleich-
gewicht ist, in der Fliissigkeit iiberschritteoy so ist die Guslosung iiber-
sattigt. Sie scheidet dann keineswegs mit Notwendigkeit das iiber-
schiissige Gas freiwillig aus; vielmehr treten in diesem Falle Cber-
sattigungserscheinungen so leicht ein und bleiben so lange bestehen,
dass man ihnen experimentell iiberall begegnet. An - der Oberflache
einer solchen iibersattigten Gaslosung beginnt allerdings sofort einDifia-
sionsvorgang, darch welcben das Gas aus der Fliissigkeit in den Gas-
raam tritt, und dort den Druck (oder das Yolum) vergrossert Im
Innern der Fliissigkeit dagegen findet keine freiwillige Bildung yon Gas-
blasen statt, solange nicht die Ubersattigung gross ist, und die Fliissig-
keit bleibt dauernd iibersattigt.
Man wird also auch fur diese Art der Ubersattigung zwei Gebiete
anzunebmen haben: Das metastabile, in welchem die Ubersattigung
nur durch einen „Keim" aufgehoben werden kann, und das labile, in
welchem sie freiwillig aufhort. Nur tritt bier die bemerkenswerte That-
sache auf, dass jeder gasformige Stoff als Keim wirkt, und in seiner
Umgebung die Ubersattigung aufhebt. In solchem Sinne (vgl. S. 388)
ist jedes Gas mit jedem anderen isomorph.
Uberlegt man, dass beim Uberleiten eines beliebigen fremden Gaaes
liber eiue mit eincm bestimmten Gase gesattigte Losung der Teildrudc
dieses Gases sehr klein gemacht werden kann, so sieht man, dass iiber-
sattigte Gaslosungen ausserordentlich leicht entstehen; Man bemerkt
die Thatsache der Ubersattigung in solchen Fallen gewohnlich gar nicht,
da unter solchen Umstauden von einer plotzlichen Entwicklung des Gaa-
iiberschusses nicht die Rede ist, vielmehr etwa hineingebrachte Blas-
chen fremder Gase sich nur sehr langsam vergrossern.
Nur wenn die Ubersattigung verhaltnismassig gross ist, begiont
der Zustand wirklich labil zu werden, indem sich Blaschen freiwillig
bilden. Versuche iiber die Grenze beider Zustande scheinen noch nie
angestellt worden zu sein.
62. \3«80liiohtlioh68. Die altesten Beobachtungen iiber die Ef-
scheinungen iibersattigter Gaslosungen riihren von dem wunderlichen
Pester Chemieprofessor Winterl her, von dessen Arbeiten Kopp in seiner
Geschichte der Chemie^) eine ergotzliche Sohilderung gegeben bat.
*) Bd. 2, S. 282.
Chemische Gleicbgeviclite zweiter Ordnuog. 567
rend die NachprUfang seiner experimedtellen Behauptungen durch die
zeitgenossischen Ghemiker iiberall ergaben, dass es sich urn missver-
itandene oder ubertriebene Auffassungen an sich bekannter and gewohn-
licher Erscheinungen handelte, stand anderseits Winterl wegen der
naturphilosophischen Fassung seiner Ansichten in grossem Ansehen
bei dem ahnlich gesinnten Naturforscher seiner Zeit, insbesondere in
Deatschland.
Eine grosse RoUe in den Angaben Winterls spielte die Andronia,
eine mit merkwiirdigen Eigenschaften behaftete Erdc, die auf verschie-
dene Art aus roher Pottasche bergestellt werden sollte, und die sich
spater als ein Gemisch von Eieselsaure und Thonerde erwies. Eine der
Darstellnngsmethoden bestand darin, dass man die Pottasche mitKohlen-
saare (zn Bicarbonat) sattigen and danu so dnrch verdiinnte Saare zer«
setzen sollte, dass keine Kohlensaurc entweicht.
Der ebenfalls stark natnrphilosophisch gesinnte danische Physiker
and Ghemiker Oerstedt, der wiederholt fiir Winterl eintrat, nahm diese
fiir jene Zeit sehr aaffallende Angabe auf, und iiberzeagte sich durch
eigene Versuche^), dass der Versuch in der That gelingt.
,Jn ein nicht zu enges Gylinderglas goss ich eine (mit Kohlensaure
gesattigte) Kaliauflosung, und Hess hierauf, mit Hiilfe eines mit einem
Filtrum versehenen glasernen Trichters verdiinnte Salzsaure tropfenweise
hineinfallen, dass sie mitten auf die Oberflache der Kalilosung und mit
der moglichst geringsten Fallhohe fiel. In dem Augenblicke, da der
Saaretropfen die Auflosung beriihrte, entwickolten sich einige wenige
Luftblasen, darauf krauselte sich die Fliissigkeit von der Oberflache
abwarts, so wie es sonst stattfindet, wenn sich zwoi Fliissigkeiten ver-
miscben; etwas unter der Oberflache zeigten sich wieder einige wenige
Luftblasen 9 und hierauf ging die Wallung auf warts. Bald kam eine
ganze Lage Saure Uber der Auflosung zu stehen. Wenn ich nun alles
ruhig liess, bemerkte man beinahe gar keine Luftentwicklung; die wenigen
Laftblasen, die aufstiegen, kamen von den Stellen, wo die Beriihrungs-
fliche der Saure und des Alkali an das Glas stiess; aber auch diese
Wirkung wurde nur an den ungleicheren Stellen des Glases bemerkt.
Nach und nach nahm der Umfang der oberen Lage zu, und endlich
wurde alles vermiscbt Nun stiegen wohl einige Luftblasen vom Boden
aaf, aber einem lebhaften Aufbrausen sah dies so wenig ahnlich, dass
e9 eher den Luftentwicklungen, welche schwache galvanische Batterien
iffl Wasser hervorbringen, glich.... Es schien, dass eine Saure keine
1) Getaleos Joum. f. Chemte und Physik, 1, 276. 1806.
568 U. ChemUcbe Dynamik.
Lufbentwicklung' aus einem kohlensauren Alkali hervorbringen konnte,
wean nicht die Yermischung beider in Beriihruog mit einem festcn
Korper steht.,.. Sobald ich einen festen Korper, eiDen Plaiindraht,
eine Glasstange, ein Stiick Siegellack, eine Schreibfeder darid eintaadite,
80 wurde alsbald Luft entwickelt, die sich in vielen kleinen Blasen an
den festen Korper setzte und von da aus entwickelt wurde. Sobald der
feste Korper herausgenommen wurde, so horte das Aufbrausen auf, das
aber sogleich aufs neue anfing, so wie man ihn wieder hineinstellte.
Selbst mehrere Stunden nach der Yermischung beider Korper fand
dieser Umstand statt
„An den scharfen Kanten des festen Korpers zeigten sich die Laft-
blasen in vorziiglicher Menge; man beobachtet dies sehr leicht, wenn
man ein Messer mit breiter Klinge hineinstellt. Die allerkleinsten, bei*
nahe unsichtbaren festen Korper, die in der Mischung schwimmen mogen,
geben eine Luftentwicklung, die man von der Flussigkeit selbst her-
riihrend halt .... Es ist also durch viele und abgeanderte Yersuche
bewiesen, dass keine LuftentWicklung in> einer Mischung von Saure und
kohlensaurem Alkali stattfindet, ausser insoweit, als dieselbe in Be-*
riihmng mit einem festen Korper steht.**
Oerstedt geht nun zu einem Erklarungsversuch iiber, den er aos
der damals von Rumford aufgestellten Behauptung entnahm, dass FltLssig-
keiten ausser durch Fortfiihrung keine Warme leiten konnten, und
meinte, die Unmoglichkeit, die Yergasungswarme aus der Flussigkeit
aufzunehmen, bedingte die Notwendigkeit des festen Korpers, dem ja
Warmeleitung zukommt. Indessen fand er selbst, dass diese Ansicht
mit den Thatsachen im Widerspruch stand, und schloss damit, dass er
sich nicht getraue, eine wirkliche Erkl&rung der Erscheinung zu gebeu*
Dagegen machte er in sehr verstandiger Weise auf eine Anzahl ahu-
licher Ersoheinungen aufmerksam, die alle das Gemeinsame haben, daaa
unter Bedingungen, wo die Entwicklung eines Gases aus einer Fliissig-
keit zu erwarten ist, dieses immer an den beriihrenden festen Korpem
erscheint Dies gilt nicht nur fiir lufthaltige Fliissigkeiten unter der
Luftpumpe, sondern z. B. auch noch fiir ein Gemisch von Schwefelalkali
mit Saure, wo bei passender Yorsicht sich auch kein Sohwefelwasaor-
sto£Fga8 entwickelt, ausser an eingetauchten festen Korpern.
Bemerkenswert ist endlich, dass Oerstedt auf die Analogie hinweiat»
dass auch Krystalle, die sich aus einer Fliissigkeit ausscheidea, Tor-
wiegend sich an rauhe feste Korper ansetzen.
Als Gesamtergebnis dieses ersten Schrittes kann man sonnit die
Entdcckung der Thatsacbe hinstellen, dass iibersattigte Gaslosungea
Ghemische Gleicbgewichte zweiter Ordnimg. 569
moglich sind, d. h. solche, die mehr Gas enthalten, als unter den vor-
haDdenen Verhaltnissen von der Flussigkeit aafgenommen werden wiirde.
Doch fehlt nicht nur der Name, sondern sogar der klare Begriff, dass
das Gas wirklich im gelosten Zustande vorhanden ist; vielmehr geht
aos einzelnen Wendungen Oerstedts hervor^ dass er eher annimmty die
Zersetzongy die zur Bildung des Gases fuhrt, sei iiberhaupt noch nicht
eingetreten.
Was die Wirkang der festen Korper anlangt, so findet sich die
Beobachtongy dass an Unebenheiten and Kanten sich das Gas zuerst
absetzt Da noch keine Abnung davon vorhanden ist, dass nur die an
8oIcfaen Stellen vorhandenen Gasblaschen die Wirkung baben, wird diese
der Form des festen Korpers zugeschrieben, ohne dass auf die Er-
Uamng einer solchen Eigenschaft eingegangen wiirde.
63. Unterraohtiiigen Ton 8oh5nbeiiL Eine unabhangige and viel
ringehendere Schildemng der Erscheinungen bei uberskttigten Gas«
losongen, sowie ein Versach zu ihrer Erklarung, die manohes zntrefFende
entbalt, findet sich in einer Arbeit von G. F. Schonbein ^) unter dem Titel:
Einige Beobachtungen iiber das Verhalten der salpetrichten
Saure zu dem Wasser and eine damit in Beziehang stehende
eigentiimliche Dampfbildung.
Die Versache warden mit flussigem StickstofiFhyperozyd, NO', an-
gestcUt, welches sich beim Aaflosen in Wasser zu Salpetersaure and
Stickozyd zersetzt; letzteres ist gasformig and wenig in wasserigen
Floflsigkeiten loslich. Es zeigen sich dabei folgende Erscheinungen.
Die Zersetzung erfolgt nicht augenblicklich, denn die Gasentwicklnug,
die je nach den Verhaltnissen von vornherein mehr oder weniger stark
war, dauert auch beim Erhitzen noch mit geringerer Heftigkeit fort.
In der Kalte hort die Gasentwicklung bald auf, kann aber durch ver-
•ehiedene Umstaode in jedem Augenblick hervorgerufen werden. Ein
eiDgetaachter Platindraht wirkt in solohem Sinne, indem er sich mit
Blasen von Stickoxyd iiberdeokt and bei konzentrierterer Losung ein
heftiges Aafschaumen hervorraft. Wirksamer noch als Platindraht sind
ioidie Metalle, welche mit der gleichzeitig gebildeten Salpetersaure
Bnter Gasentwicklung reagieren konnen, wie Silber, Kupfer und Messing.
In solcher Gasentwicklung erkennt Schonbein die wesentliche Ur-
aache der Erscheinung. Dass diese durch irgend ein Gas, nicht nur
durch das chemisch entwickelte verursacht wird, beweist er dadurch,
ein Stiick Holz, dessen Poren mit Luft gefiillt sind, ganz obenso
') Pogg. Ann. iO, 382. 1887.
570 II- Chemiscbe Dynamik.
ein stiirmisches Aufbraasen hervorruft, und diese Wirkung verliert, wenn
man es durch langeres Kochen unter Wasser von Luft befreit hat.
Schonbein schliesst darau8, dass die Gas* und Dampfentwicklung
iiberhaupt darch feste Korper^ an denen irgend eine Lnftart entsteht,
befordert werden muss, und giebt zur Bestatigung dafiir einige Ver-
suche mit Wasser bei seinem Siedepunkte. Hat man schwach ange-
satiertes Wasser zum Sieden erhitzt, und entfernt die Flamme, so bringt
ein in das ruhig gewordene Wasser eingetauchter Eisendraht sofort ein
heftiges Aufwallen henror. Schonbein fiihrt dies ganz sachgemass da-
rauf zuriick, dass ein Blascben Wasserstoff oder irgend eines anderen
Gases in Beriibrung mit der nahezu zum Siedepunkt erhitzten Fliissig-
keit sich sofort vergrossern muss, indem das Wasser in das Blaschea
hinein verdampft, und zwar so lange, bis der Teildruck des Wasser-
dampfes im Blascben gleich dem der Temperatur entsprechenden Dampf-
druck geworden ist. Dadurch wird das Blascben in der Nahe des
Siedepunktes um ein Vielfaches vergrossert, und dies ist die Ursache
des Aufwallens.
Schonbein erkennt ausdriicklich an, dass, wahrend dieser Fall ganz
klar ist, die Durchfiihrung derselben Auffassung beim Stickstoffhyper-
oxyd auf Schwierigkeiten stosst Er meint, dass die Bestandteile dieses
Stoffes sich in der wasserigen Losung „gewissermassen in einem Zu-
stande der Spannung befinden, so dass ein geringfiigiger Umstand eine
Aktion veranlassen kann*^ Die Anziehung zwischen der Salpetersaure
und dem Stickoxyd, aus denen man das Hyperoxyd zusammengesetzt
ansehen kann, sei eben imstande, die Tendenz des Stickoxyds, Gas-
form anzunehmen, zu iiberwinden. „Wenn durch irgend einen Umstand
diese Anziehung nur um ein weniges geschwacht wird, so muss das
Stickoxyd aus seiner Verbindung sich frei machen konnen." Nun wird
die untersuchte Losung mit einer Kohlensaurelosung verglichen, die auch
an hineingebrachte gashaltige Korper Blasen absetzt; als Ursache dieses
Vorganges sieht Schonbein aber die Kapillarkraft an, die durch die
Anziehung des festen Korpers zum Wasser die Anziehung des letzteren
zu dem au^olosten Gase schwacht. Dadurch cntstehe eine erste Spur
von Gas, und diese vergrossere sich dann ahnlich, wie das beim Wasser-
dampf dargelegt wurde, nur dass bier der Grund zur Yergrosserung
nicht so ersichtlich ist, wie dort.
Wie man aus dieser Darlegung crsieht, fehlt Schonbein zur rich-
tigen Auffassung seiner Bcobachtungen nur der Bcgriff der iibersattigten
Gaslosung, d. h. einer solchen, welche unter den vorhandenen Umstan-
den mehr Gas euthalt, als dem (Partial- oder Gesamt-Druck) entspricht.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnang. 571
Dass eine solche in Analogie zu den damals scbon ganz gut bekannten
iibersattigteD Salzlosungen bestehen konne, ist ibm offenbar gar nicht
in den Sinn gekommen, obwohl er bier das von ibm ausdriicklicb ge-
suchte Gedaukenglied gefunden batte, um die Erscbeinungen am er-
hitzten Wasser mit denen an der Losung des Stickstofifbyperoxyds in
eine YoUkommene Parallele zu setzen.
Fasst man den durcb 9cbonbein bewirkten Fortscbritt in der Frage
znsammen, so ist vor alien Dingen die Erkenntnis wicbtig, dass als
Ursacbe fiir das Aufbrausen das Yorbandensein fertiger Gasblascben
klar erkannt ist. Diese Blascben konnen entweder in Gestalt eines
anderen Gases durcb porose Korper in die Flussigkeit gebracbt werden,
Oder aucb durcb irgend einen passenden cbemiscben Vorgang darin er-
zengt werden. Daraus ergiebt sicb eine sacblicb vollstandige Erklarung
dafur, welcbe feste Korper akti? sind, und welcbe es uicbt sind, sowie
durcb welcbe Umstande der eine Zustand in den anderen iibergebt.
Die Wirkungsweise der Blascbenkeime wird im Falle der erbitzten
fliicbtigen Fliissigkeiten klar eingeseben, indem erkannt wird, dass jede
Gasblase unter solcben Umstanden sicb notwendig durcb eintretenden
Dampf vergrossem muss. Dagegen fcblt noch immer der Begriff der
nbersattigten Gaslosuug, und damit der Ubergang vom Fall der Dampfe
aaf den der Gase.
64. Untersnchongen von G^mez. Dieser Begrifif der iibersattigten
Gaslosung, wie er oben definiert worden ist, wurde dann scbliesslicb
Ton Gernez ^) im Anscbluss an seine Untersucbungen iiber iibersattigte
Salzlosungen aufgestellt und zur rationellen Deutung der friiber be-
obachteten, sowie einer grossen Anzabl neuer Erscbeinungen benutzt.
Die letzteren bringen allerdings keinen prinzipielleu weiteren Fort-
scbritt, dienen aber sebr gut dazu, die verscbiedenen Formen zur An-
Bchanung zu bringen, unter welchen das Prinzip, dass jedcs beliebige
Gas sicb einer iibersattigten Gaslosung gegeniiber so verhalt, wie ein
fester Korper zu seiner iiberkalteten Scbmeize, zur Geltung kommt. Die
Ergebnisse lassen sicb in folgendc Leitsatze zusammenfassen.
Die Korper, an welcben sicb Gasblasen entwickeln, ver-
lieren diese Eigenscbaft nacb einer gewissen Zeit Ein Stab
aus irgend welcbem Material, den man in Selterswasser eintaucbt, be-
deckt sich zunacbst mit einer dicken Scbicbt von Blasen. Entfernt man
diese, so entsteben weniger, und nacb einigen Wiederbolungen wird der
Sub Quwirksam, wabrend das Wasser noch immer iibersattigt ist, wie
man sich durcb das Eint^ucben eines anderen Stabes iiberzeugen kann.
») C. rend. eS, 883. 18G6.
572 U. ChemiBche Dynamik.
Langeres Verweilen in Wasser, und ebenso starkes Erhitzen lasst
die Eigenschaft gleichfalls verschwinden.
Feste Korper, die nicht mit Luft in Beriihrung wares,
aind unwirksam. Dies wurde bewiesen, indem man eine iibersattigte
Alaunlosung mit Selterawasser iiberachichtete und nun durch dieses
einen Stab mit einer Spur Alaun am Ende in die untere Fliissigkeit
brachte. Es bildete aich am Stabe ein Alaunoktaedcr; durch Heben
kounte es in das Selterawasser gebracht werden, ohne dort die mindeste
Gasentwicklung zu vcrursachen.
Alle Gase bewirken die Gasentwicklung aus iibersattig*
ten Gaslosungen. Es wurde in eine solche eine an sich unwirksam
gemachte, fast kapillare Rohre getaucht, die am oberen Elnde ge-
schlossen und mit Luft gefullt war. Man sah alsbald an der unteren
Ofinung der Rohre sich eine Blase bilden, die sich Tergrosserte, ab-
riss, durch eine neue ersetzt wurde, und so fort.
Gernez erinnert bier an das Verhalten der festen Eorper und ihre
individuelle Wirkuog, und fragt sich, oh vielleicht die in der Luft ent-
haltenea Spuren Kohlensaure die Ursache der Kohlensaureentwicklung
aus dem Selterswasser gewesen sei. Er stellte deshalb eine iibersattigte
Losung von Stickoxydul in Wasser her, und fand ganz dieselben Er-
scheinungen. Die Natur des Gases kommt demnach nicht in Betracht.
Daraus ergiebt sich die ^Erklarung fiir die bekannte Wirkung
rauher Korper. In ihren UDcbenheiten ist eine Menge Luft enthalten,
Yon denen jedes Blaschen sich vergrossert, und eine Blase bildet. Durch
den Vorgang selbst wird die Luft allmahlich von dem Korper ent-
femt, und die Wirkung hort auf. An der Luft iiberkleiden sich alle
festen Korper mit einer Schicht davon; durch langes Behandeln mit
Wasser wird sie aufgelost, durch Erhitzen vermoge des yergrossertoi
Druckes (und wohl auch wesentlich durch den gleichzeitig entwidcelten
Wasserdampf von dem Wasser, das die meisten festen Korper gleich-
falls in grosserer Menge verdichten) entfemt.
Auch die Erscheinungen bei der Zersetzung des Wasserstoffhyper-
ozydes werden in ganz snchgemasser Weise auf ahnliche Ursachen zu-
riickgefiihrt. Die Einzelheiten hieriiber werden spater nach einer ein*
gehenderen Arbeit mitgeteilt werden.
Gegen die von Gernez aufgestellte Theorie wendete sich Tomlinaon^),
der wieder seine auch fur iibersattigte Salzlosungen zur Geltung ge»
brachte Theorie der „chemi8ch reinen und unreinen*' Flachen anzu*
'} Phil. Mag. (4) 84, 136. 1864.
Chemische Gleichgewicbte zweiter Ordnang. 573
wenden suchte. £r nahm an, dass die „Anziehang*' zwischen dem
Wasser und einer reinen Flache grosser sei, als die zwischen dieser
Flache und dem Gase; daher bleibe das Gas in der Losung. Wird
aber die Flache unrein gemacht, so bleibe die Anziehnng zum Gase
dieselbe wie friiher, die Anziehnng zum Wasser aber nehme stark ab;
die Folge davon sei, dass sich Gas an der nnreinen Flache eutwickelt.
Es hat kein Interesse, auf die einzelnen Yersuche einzugehen, die
Tomlinson zur Unterstiitzung seiner Ansicht anfiihrt. Soweit sie richtig
sind, lassen sie ebensogut eine Erklarung nach der anderen Ansicht zu;
andere, die einen Gegensatz zeigen, sind spater von Gemez^) als irrig
erkannt und nachgewiesen worden. Der ganze Fall ist wieder ein lehr-
reiches Beispiel fiir die schadliche Wirkung der molekularen Anziehungs-
hypothesen beziiglich der unbefangenen Auffassung der Erscheinungen ;
es fallt Tomlinson nie ein, dass die von ihm angenommenen Anziehungen
nnr hypothetisch sind; er ist vielmehr von ihrer Aniresenheit ebenso
iiberzeugt, wie Ton der Anwesenheit seiner Versuchsmaterialien.
65. Versnche von H. Schr5der. Wenig spater als Gernez und
unabhangig von ihm yerofifentlichte H. Schroder eine Arbeit') iiber den
gleichen Gegenstand, in der er zu ganz iibereinstimmenden Ergebnissen
gelangte; gleichzeitig gab er eine eingehende Geschichte des Gegen-
standes, die Yorstehend benutzt worden ist.
Von den einzelnen Ergebnissen sei zunachst das hervorgehoben,
dass die Schicht adsorbierten Gases, die sich beim langeren Verweilen
jedes festen Korpers in der Luft oder einem anderen Gase auf der
Oberflache ausbildet, diese nicht aktiv macht. Ein frisch gezogener
Glasfadeu, der immer inaktiv ist, behalt diesen Zustand . dauernd bei,
wenn man ihn in eine Flasche einschliesst, gleichgiiltig, ob diese mit
Luft oder z. B. mit Kohlensaure gefuUt ist. Nur die Oberzlige mit
Staab und Fett, die an der Luft bei ungeschiitztem Liegen entatehen,
bedingen die Wirksamkeit. Daraus ist zu schliessen, dass jene adsor-
bierten Gasschichten gar nicht als Gase im eigentlichen Sinne aufgefasst
warden diirfen.
Man konnte den Einwand erheben, dass solche Schichten jedenfalls
in Tielen Fallen auch nicht Fliissigkeiten sind, namlich wenn die Tem-
peratar des Yersuches oberhalb der kritischen Temperatur des betreffen-
den Gases liegt. Dies ist ganz richtig; die Schichten befinden sich in
einem Zustande, in welchem die gewohnlichen Kriterien der Aggregat-
>) Compt reod. 75, 1705. 1872; 76, 89 u. 566. 1873.
s) Pogg. Ann. 137, 76. 1869; Erg&nzangsbd. 5, 87. 1871.
574 n. Chemische Dynamik.
zustande nicht mehr zutrefifen. Denn die adsorbierten Schicbten zeigen
weder die fiir die Gase cbarakteristiscben Beziebungen zwiscben Druck
und Volum; ibr Volum ist vielmebr ziemlicb unabbangig vom Druck.
Sie zeigen aber aucb nicbt die fiir Fliissigkeiten cbarakteristiscbe Ver-
scbiebbarkeit der Teile gegen einander, und konnen ibre Anordnung
nur durcb Dififusion, nicbt durcb Convection andern. Solcbe Scbicbten
darum feste Korper zu nennen, wiirde gleicbfalls zu Widerspriicben
fiibren. Die Definitionen der Aggregatzustande gelten nur fiir Mengen
von allseits endlicben Dimensionen; geben diese unter eine gewisse
Grenze herunter, die in der Nabe Yon 10~^ cm liegt, und die man die
molekularen Dimensionen zu nennen pflegt, so ist derZustand der Masse
wesentlicb durcb die Mitwirkung der Oberflacbenenergie bedingt und
auf solcbe Gebilde baben die fiir endlicbe Mengen geltenden Begriffe
der Aggregatzustande keine Anwendung mebr.
Die Wirkung von Staubiiberziigen auf die Mitnabme von Luft in
die Fliissigkeit ist an sicb ersicbtlicb; die Wirkung des Fettes beruht
gleicbfalls darauf, dass infolge der unvoUstandigen Benetzung eine Luft-
scbicbt mitgenommen wird. Dies ergiebt sicb am deutlicbsten daraus,
dass man Fettscbicbten durcb Bebandeln mit Alkobol oder langes
Venveilen unter Wasser inaktiv macben kann. Dieser Nacbweis ist
insofern von Interesse, als von anderer Seite*) bebauptet worden war,
dass durcb die geringe Oberflacbenspannuug des Fettes die Aufhebung
der Cbersattigung bei Gaslosungen (wie bei iibersattigten Salzlosungen)
bewirkt wiirde.
Im unmittelbaren Zusammenbange steben daber Benetzbarkeit und
Aktivitat: Ein fester Korper ist an solcbeu Stellen aktiv, an denen er
unbenetzbar ist, und umgekebrt. Beriibrt man einen frisch ausgegliibten
Platindrabt an einer Stelle mit dem Finger, so wird diese allein aktiv,
und beim Herausziehen aus der Fliissigkeit zeigt sicb der Drabt iiberall
benetzt bis auf die eine Stelle, von der sicb die Fliissigkeit zuriickziebt
Daber werden aktive Korper durcb Eintaucben in warme Kalilosung,
die das Fett aufnimmt, scbnell inaktiv.
Die ausgesprocbenen Verbaltnisse gelten fiir massig iiberbitzte iiber-
sattigte Losungen; stark iibersattigte zeigen Gasentwicklung aucb von
reinen Korpern aus, wenn Reibung hinzutritt. Durcb die Reibung
werden aucb reine Flacben zur Gasentwicklung befabigt, und zwar er-
klait Scbroder dies Verbalten fiir ein ganz allgemeiues. Ist die Uber-
sattigung nocb gering, so wirkt nur die Reibung barter Korper: Stabl
*) Tomlinson, Phil. Mag. (4) 84, 136. 1867.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 575
brmgt Doch Blasen uDter Umstaoden hervor, unter denen Kupfer un-
wirksam ist, und man kann Losungen herstellen, in denen sich Kupfer
wirksam zeigt, dagegen nicht Cadmium. An Flachen, denen die gebil-
deten Gasblasen einige Zeit anhangen, kann man die Wirkung der Reibung
dadurch sichtbar machen, dass sich jede Reibungslinie in eine Blasen-
linie yerwandelt. Haben sich aber die Blasen einmal abgelost, so ist
die Wirkung an jener Stelle zu Ende, und eine neue Blasenlinie ent*
steht nicht. Glasflachen geben viel leichter Blasenlinien, als Metall;
wahrend aber in Platingefassen solche noch leicht erhalten werden konnen,
ist es bei Kupfergefassen schwer, sie uberhaupt auch unter giinstigon
Bedingungen hervorzubringen.
Als Ursache dieser letzten Erscheinungen nimmt Schroder in ziem-
lich unklarer Weise an, dass die Reibung »,unmittelbar zur Umwandlung
von mecbanischer Arbeit in latente Warme oder Werk Anlass giebt*'.
Eine gleiche Theorie stellt er fiir die Wirkung der Luft auf iibersattigte
Gaslosnngen auf, indem er darlegt, dass Gase die Stofife sind, welche
die fragliche Umwandlung am unmittelbarsten bewirken. Eine klarere
Darstellung, wie er sich diese Wirkung denkt, hat er nicht gegeben, so
dass Yon diesem Teile seiner Arbeit nur die Darlegung iibrig bleibt,
dass die Wirkung der mit Gasen bedeckten festen Korper in der That
auf endlichen Mengen Gas beruht, und nicht auf dem festen Korper,
der als Trager desselben dient.
Was die Deutnng des Entstehens der Blasenlinien anlangt, so sind
sie moglicherweise auf die Reibungswarme zuriickzufuhren. Da die
Losong iibersattigt ist, so wird jede Spur eines Gases alsbald sich ver-
grossem miissen; wird also durch eine ortliche Temperaturerhohung
irgendwo die freiwillige Entstehung einer kleinen Gasblase hervorge-
rafen, so wachst sie unmittelbar, und dann findet meist gleich auch
eine mechanische Zertriimmerung und Ausbreitung der Gasblase (die
ja ans dem angegebenen Grunde an der Reibungsflache entstehen musste)
statt, durch welche zahllose weitere Blaschen langs der geriebenen Flache
gebildet werden.
Schroder hat die Warmewirkung der Reibung wohl auch ins Auge
ge&Bst, meint sie aber nicht als Ursache ansehen zu konnen, weil die
entwickelte Warme zu gering sei. Dazu kann bemerkt werden, dass
es sich nicht um die gesamte Warmeentwicklung handelt, sondern darum,
dass an irgend einer Stelle die Temperatur hirireichend hoch gestiegen
isL Gerade die bessere Wirkung der harteren Stoffe mit kleinerer Be*
rahrangsflache spricht fur die obige Auffassung und gegen Schroder,
da die bei weichen Korpern aufgewendete Reibungsarboit grosser und
076 II- Chemische Dynamik.
nicht kleiner ist, als bei harten, wahrend jene doch schlechter wirken.
Wichtigcr ist der Einwand, dass auch iiberkaltete Schmelzen dnrch
Keiben zum Erstarren gebracht werden konnen, wo doch die Reibungs-
warme die entgegengosetzte Wirkung haben miisste. Doch sind hierlibcr
nur einzolne Angaben (Schroder fand die ErscheinuDg fur iiberkalteteii
Phosphor bestatigt) und keine syetematische Untersnchung vorhanden,
80 dass dieses Argument noch schwebeud bleibt. Man konnte anfiihren,
dass der Schinelzpunkt des Phosphors durch Druck sich erhoht, and dass
somit an den gedriickten Stellen insofern eine Ursache zur Erstarrung
gegeben sei, als dort der Phosphor sich welter von seiner Schmelz-
temperatur befindet und daher starker iiberkaltet ist. Dann aber miisste
N eine Fliissigkeit, die sich beim Erstarren ausdehnt, und deren Schmelz-
punkt daher durch Druck sinkt, die Empfindlichkeit gegen Druck nicht
zeigen. Hingegen findet sich die Angabe, dass iiberkaltetes Wassor
durch blesses Schiitteln sich bei gewissen Temperaturen nicht zum Er-
starren bringen lasst, wohl aber^ wenn Glasstiicke in dem Gefass sind,
die gegen einander und die Wand schlagen. Alle diese Verhaltnisse
verdienen eine sorgfaltige Priifung.
Wie man sieht, ist zum Zwecke eiuer Erklarung der ,31&8enlinieu"
nur erforderlich, nachzuweisen, dass langs der Linie die vorhandene
Losung, wenigstens einen Augenblick lang, iibersattigter war, als die
Hauptmenge, und alle Faktoren, durch welche der Schritt aus dem
metastabilen Gebiete in das labile bewerkstelligt werden kann, sind auch
fiir die Hervorbringung dieser Erscheinung wirksam. So kounten, wie
Gernez Termutete, auch beispielsweise ortlicho Druckverminderungen
innerhalb der Flussigkeit, die etwa durch elastische Schwingungen der
Gefasswand langs des Striches hervorgerufen werden, die gleiche Wir-
kung haben. Einige Schwierigkeit, die indessen nicht uniiberwindlich
scheint, wiirde bei dieser Auffassung die scharfe raumliche Ausgestal-
tung machen. (Vgl. hierzu den unten beschriebenen Versuch von
Gaignard-Latour.)
In der zweiten Abbandlung Schroders finden sich erhebliche neue
Thatsachen nicht zahlreich; um so mehr hypothetische Erorterungen,
welche die Frage nicht wesentlich forderten. Von ersteren seien zwei
hervorgehoben.
Zunachst die Aktivitat durch Erschiitterung. „Wird ein Glas-
gefass, in dem sich eine hoch iibersattigte Gaslosung befindet, von aussen
durch Stoss erschiittert, so entwickeln sich an der Stelle der Gefass-
wand, auf welche der Stoss oder Schlag gegeben wurde, Gasblasen;
jedoch nur dann, wenn der Stoss oder Schlag rasch und kraftig genug
Ghemische Gleichgewichte zweiter OrdnuDg. 577
ist, dass eine Art Ricochetieren der Fliissigkeit eintritt £s erklart 8ich
dies durch momentane Druckyermindening. Klin gen des Glases ist
dazu keineswegs ausreichend."
Ferner unterscheidet Schroder zwei Arten der Aktivitat: erstens
die gewohnliche, bei der sich einzelne Blasen bilden, die an dem Korper
haflen and erst nach Erreichung einer gewissen Grosse abreissen;
zweitens die ^stromende Aktivitat". Bei dieser reissen die Gasblasen
sehr klein ab, zeigen kein Anhaften an der Oberflacbe und erneuern
sich fortwahrend.
Ob diese beiden Erscheinungen wirklich wesentlich verschieden sind
Oder aber nur von dem Grade der tJbersattigung abhangen, geht aus
der Schilderung von Schroders mannigfaltigen Versuchen hieriiber nicht
hervor; mir scheint letzteres wahrscheinlicher.
66. Die Sohlussarbeit von Gemez. Die verschiedenen Einzel-
nntersnchungen iiber den Gegenstand fasste Gernez 1875 in oine
grossere Abhandlung zusammen^), in welcher er insbesondere auf die
Benntzung der von ihm gefundenen Thatsachen zur Erklarung einiger
sogenannter katalytischer Vorgange einging. Die zunaehst aufgestellten
Erfahmng'ssatze iiber das Allgemeine der Erscheinungen sind von den
frdher (S. 571) mitgeteilten nicht wesentlich verschieden, denn alle Bc-
obachtungen sprechen iibereinstimmend dafiir, dass die Wirksamkeit der
festen Korper zur Entwicklung der Gase aus iibersattigten Losungen
von gasformigen'Uberziigen herriihrt, mit denen sie sich auf irgend eine
Weise bedecken. Die allgemeine Wirksamkeit eines fremden Gases Hess
rich durch folgenden Versuch nachweisen. Eine Glasrohre wurde eng
ansgezogen und in der Nahe des untcren offenen Endes zusammenfallen
gelassen, so dass sich dort eine kleine Glocke bildete. Wird ein seiches
Rohr in eine iibersattigte Gaslosung getaucht, so entwickelt $ich an
seiner Oberflache, wenn es frisch ausgegliiht war, kein Gas, dagegen
von der unteren freien Flache des in der Glocke enthaltenen Luft-
blaschens ein bestandiger Strom, der immer lahgsamer wird, da sich
der Luft immer mehr von dem Gase der Losung zumischt und dem-
gemass die Obersattigung in Bezug auf diese sich vermindert.
Ebenso erklart sich leicht die Thatsache, dass ein kleines Blaschen,
das in einer langen Saule iibersiittigter Losung aufsteigt, sich sehr
bedeuteud vergrossert, in dem Masse, wie es durch die Fliissigkeit
wandert
') Ann. 8C. dc. norm. sup. (2) 4, 311—362. 1875.
Ottwald, Cbemie. 11,2. 2.Aufl. 37
578 ^' Ghemische Dynamik.
Demgemass ist die Erscheinung so aufzufassen, class an jeder Stelle,
wo die iibersattigte Losung mit irgend einem Gase in Beriihrung steht,
das geloste Gas in das Yorhandene hineindiffundiert, und dass dieser
Vorgang nicht eher aufhort^ als bis der Teildruck des eingetretenen
Gases der Sattigung der Losung mit eben diesem Gase entspricht
Daraus geht insbosondere hervor^ dass zwar aucb eine Blase des
in der Losung enthaltenen Gases in der ubersattigten Losung Gasent-
wicklung verursacben muss, dass aber die Wirkung yiel geringer sein
muss, als bei einem fremden Gase, wo der Teildruck des sich ent-
wickelnden anfangs gleicb Null ist. So wurden in einem auf die oben
beschriebene Weise angestellten Parallelversuche mit WasserstoS und
Eohleusaure aus einer iibersattigten Eohlensaurelosung Blasen in folgen-
den Zeitraumen erhalten:
Wasserstoff 344, 355, 476, 525, 550, 626, 707"
Kohlensfture 476, 485, 680, 770, 780, 846, 1000".
Die Voraussetzungen dieser Erklarung, dass iibersattigte Gaslosungen
nur an ihrer Oberilache Gas verlieren, und dass der Verlust durch
Diffusion aus dem Inneren wieder ersetzt wird, wurden durch weitere
Versucbe gestiitzt. So liess sich eine bei drei Atmospbaren gesattigte
Losung von Eohlensaure unter der Luftpumpe vom Luftdruclic befreien,
ohne dass irgend welche Blasenbildung eintrat (das Gefass war sehr
sorgfaltig gereinigt); ferner zeigte eine Kohlensaurelosung, die mehrere
Tago offen an der Luft gestanden hatte, dass sie an ihrer Oberflache
Yiel armer an Gas geworden war. Die Analyse wurde' in der Art ge-
macht, dass ein aktiYer Platindraht in die Fliissigkeit geseukt wurde:
es entwickelte sich yon ihm in der Nahe der Fliissigkeitsoberflacbe
Yiel weniger Gas, als aus den tieferen Teilen, und schliesslich gab die
Oberflache gar kein Gas mehr, und nur in den unteren Teilen bcdeckte
sich der Draht mit Blasen.
In dem zweiten Teile seiner Arbeit erortert Gernez die Frage, ob
nicht eine Dissociation solcher Stoffe, die gasformigc Produkte geben
konnen, auf gleiche Weise herYorzubringen ist, und bejaht sie auf Grund
eutsprecbendcr Versucbe. So entzieht ein indifferenter Gasstrom einer
Losung Yon krystallisiertem Kaliumsulfhydrid unmittelbar Scbwefel*
wasserstoff. Ebenso Yerhalten sich Losungen Yon Bisulfiten und Bi-
acetaten; besonders auffallig ist die Wirkung bei Bicarbonaten. Auch
treten solche Zersetzungen ein mit Stoffen, deren Zersetzungsprodukte
erst bei hoherer Temperatur gasformig werden, wenn man sie erwarmt;
so Yerliert im Luftstrome Magnesiumnitrat bei 150® bedeutende Meugen
Salpetersaure; Ammoniumnitrat Yerliert bei 150® Ammoniak und wird
Cbemiscbe Gleicbgewicbte zweiter Ordnung. 579
saner. Die Wirkung ist immer darauf zuriickzufiihren, dass die fremden
Gfase dem Zersetzuugsprodukt gegeniiber sicb wie ein Vakuum yer-
halten und somit geringe vorhandene Dissociation proportional ihrer
Menge zor Anscbauung bringen. Demgemass bat Debray^) gezeigt, dass
ancb neutrales Kaliumcarbonat im leeren Raume Koblensaure verliert.
Endlich wendet Gernez die Ton ibm beobacbteteu Tbatsachen zur
Erklamng gewisser katalytiscb genannter Erscheinungen an, insbc-
sondere der Gasentwicklung aus Wasserstoffhyperoxyd. Er fasst die
Losong dieses Stofifes als iibersattigt in Bczug auf Sauerstoff auf und
hebt bervor, dass man solcbe Losungen sehr lange unverandert aufbe-
wabren kann^ wenn man sich gereinigter Gefasse bedient. Aucb yer-
halt sich die Losung gegen gereinigte und nicbt gereinigte Oberflacben
ganz wie eine andere iibersattigte Gaslosung. Man kann selbst Platin-
scbwamm unwirksam gegen Wasserstoffbyperoxyd machen, wenn man ibn
bis zur Weissglut erwarmt und in siedendem Wasscr abloscbt; nacb
einiger Wiederbolung dieser Bebandlung gelangt man zum Ziele*).
Ebenso sind andere fein verteilte Metalle unwirksam gegen Wasserstoff-
hyperoxyd, wenn man bei ibrer Bildung Gase vermeidet und sie mit
Waaser auskocbt. Auf die gleicbe Weise wird die bekannte Wirkung
des Fibrins erklart; dieses wird unwirksam, wenn man es langere Zeit
mit starkem Alkobol bebandelt^).
In einer Beziehung unterscbeidet sicb die Wirkung des Platin-
schwammes gegen Wasserstoffhyperoxyd von der gegen Selterswasser:
wahrend sie dem letzteren gegeniiber mit der Zeit geringer wird,
steigert sie sich beim ersten. Gernez fiibrt dies darauf zuriick, dass
der Zerfall beim Wasserstoffbyperoxyd unter Warmeentwicklung statt-
findet und dadurch die Wirkung gesteigert wird, wahrend bei gewobn-
lichen iibersattigten Gaslosungen das umgekebrte der Fall ist. Die
gleichzeitig erfolgende Reduktion gewisser Metalloxyde, wie des Silber-
oxyds schreibt Gernez gleicbfalls der entwickelten Warrae zu; aucb
diese Erklarung wird nicbt obne weiteres anzunehmen sein. Es macht
sicb bier die oft auftretende Erscbeinung geltend, dass ein Erklarungs-
prinzip, das fiir eine gewisse Summe von Tbatsachen brauchbar und
>) Compt. rend. 64, 606.
■) Zweckmassiger ware wabrscheinlich ein l&ngeres Gluhen im AVasserdampf
and Erkaltenlassen in einem ununterbrochenen Wasserdampfstrom bis zur Bildung
flttssigen Wassers.
*) Die Erklftnmg erscbeint nicbt unbedenklich , da aucb andere organiscbe
Stoffe fthnlich luftbaltig sind, wie Fibrin, obne die starke Wirkung desselben auf
Wasserstoffhyperoxyd zu zeigen.
37*
580 n. Chemische Dynamik.
richtig ist, nnberechtigter Weise auf benachbarte Thatsachen aasge-
dehnt wird, bei denen noch andere Ursacben mitspielen, bezw. Tor-
wiegend thatig sind. Denn bei der analogen Reduktion der t}ber-
mangansaure durch Wasserstoffbyperoxyd versagt jene Erklarung ^nz-
lich, well 68 sich um oinen Vorgang in bomogener Fliissigkeit bandelt
Ganz ahnlicbe Betrachtungen lassen sicb auf die von Scbonbein
studierten Erscheinungen bei der wasserigen Losung von Stickstoffhyper-
oxyd anwenden. Gernez bescbreibt einige entsprecbende Versucbe, die
denen mit den iibersattigten Gaslosungen nachgebildet sind, und die
auch die gleichen Resultate gegeben haben.
Ein sehr ausfiihrlicber Teil der Arbeit ist von einer Polemik gegen
gleicbzeitige Forscber auf demselben Gebiete, insbesondere Schroder
(Pogg. Ann. 187, 76. 1869) und Tomlinson (Pbil. Mag. (3) 88, 204.
1869; ib. 84, 142; 45, 276. 1873), Henrici (Pogg. Ann. 147, 555.
1872), Mensbrugghe (Compt. rend. 74, 1038; Ann. chim. pbys. (4) 26,
318) eingenommen.
67. PositiTer und negaHver Dmdk. In einer Abbandlung von
Caignard-Latour ^) ist eine Thatsacbe mitgeteilt, die mit den hier er-
orterten im Zusammenhange stebt, namlich die Ausscheidung von Gas-
blascben aus Fliissigkeiten durcb Stoss oder tonende Scbwingungen.
Hier bedingt die auf Volumvergrosscrung zielende Beansprucbung der
Fliissigkeit, wenn sie einen bestimmten Betrag, der von der Natur des
Gases und der Siittigung abhangt, iibersteigt, das Auftreten von Gas-
blaschen.
Diese Thatsacbe scheint im Zusammenhange mit der von Schroder
untersuchten Erscheinung der Blaschenbildung an den Linien, iiber die
man mit einem Stab gestrichen hat, zu stehen. Gernez hat sich uber-
zeugt, dass der Druck allein keiue Gasentwicklung vorursacht. Bringt
man einen unwirksam gcmacbten Glasstab vorsichtig an die Wand eines
mit Selterswasser gcfullten Glases, und driickt obne weitere Bewegung
den Stab beliebig stark gegen die Wand, so erfolgt nicbts; fuhrt man
ihn aber die Wand entlang, selbst unter geringem Druck, so entsteht
alsbald eine Blasenlinie (vergl. S. 575).
Das Pulver einer gesprungenen Glasthrane bringt keine Gasentr
wicklung hervor, wcnn man sie Yorher unter Wasser hat zerspringen
lassen; lasst man sie aber in Selterswasser zerspringen, so ontstehen
sofort zahllose Gasblasen. Gernez versucht diese Thatsacbe durch die
Annahme eines Hin- und Wiederschwingens der Fliissigkeitsmolekeln
^) Ann. chim. phys. 56, 252. 1834.
Ghemische Gleichgewicbte zweiter Ordnung. 581
unter dem Einflusse der durch die Bruchstucke der Glasthrane ausge-
ubten Krafte zu erklaren. Doch handelt es sicb offenbar um ganz den-
selbcD Fall, wie bei der tonenden SchwingUDg: nicht die Teile, in denen
tJberdruck herrscht, geben Gas aus, sondern die, in denen der Unter-
druck einen bestimmten Betrag uberschritten hat.
Etwaa naber kommt Gernez am Scblusse seiner Arbeit der ricb-
tigen Auffassnng, wo er auf die Versucbe von Bertbelot^) liber die ge-
zwuDgene Ausdebnung der Fliissigkeiten binweist, ans denen bervor-
geht, dass Fliissigkeiten einem negativen (eigentlicb positiven) Druck
QQterworfen werden konnen, obne ibre Stetigkeit einzubiissen. Erst
wenu dieser Druck einen bestimmten Betrag iibersobritten bat, findet
die Zusammenziebung auf ein kleineres Volum unter Bildung einer
Dampfblase statt.
Der Versucb bestebt darin, dass man eine moglicbst luftfrei ge-
fflachte Fliissigkeit in eine Robre einschliesst, die sie bei einiger Er-
warmung vollstandig anfiillt. Lasst man dann die Fliissigkeit abkiihlen,
80 kann sie die Robre bei Temperaturen voUig angefiillt balten, bei
denen ihr Volum unter gewobnlicben Yerbaltnissen merklicb kleiner
ware; sie erleidet danu einen Druck im umgekebrten Sinne, d. b. eine
Beeinflussung, durch welcbe ihr Volum grosser ist, als beim Druck
Noll. Lasst man die Temperatur weiter fallen, so kommt ein Augen-
blick, wo sich plotzlich unter knackendem Gerausch eine Blase bildet
und die Fliissigkeit ihr gewobnliches Volum annimmt. Natiirlicb lasst
sich die Erscheinung nur bervorbringen, wenn jede Spur Gas oder
Dampf, d. h. jede Spur einer beterogenen Phase vermieden ist.
Gernez scbildert die Vorgange in seinem Sinne folgendermassen:
„Wenn man nun die Molekelu einer mecbanischen Beeinflussung unter-
wirft, so muss sio immer energisch sein, damit eine Aufbebung der
Kontinuitat in der Fliissigkeit bervorgebracht wird. Falls diese Be-
einflussung eine binreicbend starke Schwingung ist, konnen die fliissigen
Holekeln an gewissen Punkten bis auf geniigende Entfernungen ge-
bracbt werden, um sich zu trennen; alsdann wird im Inneren dor
Fliissigkeit ein absolutes Vakuum entsteben, welches alsbald sowobl
Tom Dampfe der Fliissigkeit, wie von einer gewissen Menge des an
der freien Flacbe sich eutwickelnden Gases erfiillt sein wird, so klein
abrigeos auch die absolute Menge des in der Fliissigkeit enthaltenen
Gases sein mag. Die Molokeln werden sebr bald in ibre Gleicbge-
wicbtslagen zuriickkebren, der leere Raum yerschwindet, der Dampf
1} Ann. chim. phys. (3) 30, 232. 1850.
582 ^J- Chemische Dynamik.
verdichtet sich vollstandig. Was aber das Gas aiilangt, so liegt ent-
weder tJbersattigung vor, und dann kann es sich nicht wieder losen;
es hinterbleibt eino Blase, die sich beim Aufsteigen durch die Fliissig-
keit auf Kosten des gelosten Gases vergrossern wird. Oder aber die
Losung ist ungesattigt; auch dann kann sich das Gas in Blasen ent-
wickeln. Denn wahrend der Verkleinerung der Blase, innerhalb deren
sich das Gas entwickelt hat, vermindert sich die absorbierende Ober-
flache, und es genugt die Sattigung.einer sehr diinnen Schicht, damit
Gas iibrig bleibt, und eine Blase vorhanden ist."
An diesen Darlegungen ist nur die wesentliche Erganzung vorzu-
nchmen, dass der Betrag des Unterdruckes, bei dein sich eine Blase in
einer Fliissigkoit bilden wird, fiir die reine Flussigkeit am grossten sein
wird und urn so kleiner ausfallen muss, je mehr die Fliissigkeit mit
Gas iibersattigt ist. Erst wenn durch die Kompressions- und Dila-
tationswellen in der Fliissigkeit an einer Stelle der letzteren der Unter-
druck so gross geworden ist, dass die metastabile Grenze iiberschritten ist,
kann sich dort eine Blase bilden; Kompression allein kann niemals diese
Wirkung haben. Anderseits ist die Annahme, dass zuerst ein Vakuum
ontsteht, uberflUssig und irrefUhrend; vielmehr ist es sachgemasser, die
Bildung cines Gemisches von Gas und Dampf, wie es den am Orte ebcn
vorhandenen Verhaltnissen entspricht, anzunehmen, zumal es sonst schwer
ware, von der verschiedenen Leichtigkeit der Blaschenbildung je nach
dem Grade der Cbersattigung, wie sie die Versuche ergeben batten,
Rechenschaft zu geben.
Die Wirkung des Streichens mit einem Stabe auf die Bildung einer
Blasenlinie schreibt Gernez demnach einer Vibrationsbewegung zu, welche
der Stab bei seiner Bewegung langs der Wand hervorrufen soli; die
Auffassung ist ganz plausibel, wenn auch ihre Durchfiihrung durch
Gernez zu wiinschen iibrig lasst.
68. Zwei Arten der tnbers&ttigung. Zum Schlusse wird es gut
sein, auf einen Unterschied hinzuweisen, der bei den friihereu Er-
orterungen nicht zur Geltung gekommen ist, namlich den der Ober-
sattigung beziiglich des Gesamtdrucks und der beziiglich des Teil-
drucks. Sattigen wir z. B. Wasser bei einer bestimmten Temperatur
mit Kohlensaure unter dem Drucke einer Atmosphare, so wird die
Losung nicht iibersattigt sein, so lange man oberhalb gasformige Kohlen-
saure von Atmospharendruck hat. Ersetzt man aber dies Gas durch
ein anderes, z. B. durch atmospharische Luft, so ist die Losung alsbald
beziiglich des Teildrucks iibersattigt, wahrend sie es fur den Ge-
samtdruck nicht ist. Eine solche Losung wird nie freiwillig Gasblasen
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 583
entwickeln konnen; auch wird in ihr eine Blase von Koblensaure nicht
wachsen. Wohl aber wird jede Blase eines fremden Gases sich stark
?ergrossern, indem Koblensaure in sie binein diffundiert. Sie verbalt
sicb wie eine Fliissigkeit bei ibrer Siedetemperatur unter dem vorban-
denen Dracke, die aucb zwar vorbandenene fremde Gasblasen ver-
grossern, aber keine reinen Dampfblasen bilden kann, solcbe vielmebr
bei der geringsten Temperaturerniedrigung verfliissigen miisste. Den
tlbersattigungscbarakter zeigt eine solcbe Losung aber dadurcb, dass
sie nicbt sicb unverandert balten kann, sondem fortwabrend, wenn
aacb langsam, ibr Gas an die fremde Atmospbare durcb Diffusion ab-
giebt.
Eine Losung von Koblensaure dagegen, die man bei mebreren
Atmospbaren gesattigt bat, ist bei einer Atmospbare Aussendruck aucb
dann iibersattigt, weun sie mit reiner Koblensaure in Beriibrung ist,
and natiirlicb um so mehr, wenn sie sicb in Luft von einer Atmospbare
Druck befindet. Sie kann nicbt nur Koblensaure an angrenzende Gas-
atmospbaren verlieren, sondem aucb freiwillig Blasen bilden; eine Blase
von reiner Koblensaure wird sicb in Beriibrung mit der Losung nicbt
unverandert balten, sondem gleicbfalls vergrossem.
Freilicb ist fur die Blasenbildung der Umstand zu beacbten, dass
das Innere einer Blase unter starkerem Drucke stebt, als die Summe
des Aussendruckes plus dem bydrostatiscben Drucke der Fliissigkeit an
der betracbteten Stelle betragt. Es kommt nocb der Druck durcb die
Oberflacbenspannung binzu, und da dieser umgekebrt proportional dem
Radius der Blase zunimmt, so siebt es aus, als wenn zur Bildung der
Blase ein unendlicb grosser Oberdruck erforderlicb sei, da ja im ersten
Attgenblick der Bildung der Radius der Blase Null ist.
Wir stossen bier auf einen der zablreicben Falle, wo eine pbysi-
kalisch ricbtige Gleicbung zu Unmoglicbkeiten fiibrt, wenn man eine
ibrer Veranderlicben gleicb Null macbt. Es ist dies ein cbarakte-
ristischer Unterschied zwiscben den matbematiscben Gleichungen and
denen der Pbysik. Wabrend man bei jenen die ersten Aufscbliisse iiber
die Beschaffenheit einer Funktion sicb dadurcb erwirbt, dass man die Ver-
anderlichen gleicb Null oder Unendlicb setzt, kann man sicber sein, dass
eine physikaliscbe Gleicbung unter dieser Voraussetzung entweder nicbts-
sagend oder unmoglicb wird. Dies riihrt im allgemeinen daber, dass
eine physikaliscbe Gleicbung das tbatsacblicbe Verhalten der darge-
stellten Erscheinung nur unter der Voraussetzung wiedergiebt, dass
aosser den betracbteten Energieformen, die in der Gleicbung zum
Aasdmck gebracbt sind, andere nicbt in Frage kommen. Eine solcbe
584 I^- GhemUche Dynamik.
VoraussetzuDg ist niemals streng; es sind im allgemeinen in jeder £r-
scheinung viel mehr Energieformen vorhanden, als die Gleichung ent-
halt, und man lasst sie fort, weil ihr numerischer Betrag unter den
Umstanden, unter denen das durch die Gleichung ausgedriickte Gesetz
Geltung hat, kleiner ist, als die Fehlergrenze, innerhalb deren das Gesetz
erwiesen ist. Andert man aber die Veranderlichen in weiterem Umfange,
so werden im allgemeinen schliesslich immer Zustande eintreten, bci
denen die vernachlassigten Formen endliche Werte annehmen, und dann
fiihrt die weitere Anwendung der Gleichung zu Widerspriichen.
Im vorliegenden Falle gilt das Henrysche Absorptionsgesetz oder
iiberhaupt das Sattigungsverhaltnis zwischen Gas und Fliissigkeit iiur
unter der Voraussetzung einer ebenen Trennungsflache zwischen beiden,
und man kann ahnlich wie die Verschiedenheit des Dampfdruckes an
verschieden gekriimmten Flachen auch eine Verschiedenheit ihrer Gas-
sattigung energetisch als notwendig erwoisen. Es beteiligt sich mit
andern Worten auch die Oberflachenenergie an dem Gleichgewicht
zwischen Gas und Fliissigkeit, und wird deren Betrag erheblich neben
dem der Volumenergie, so wird das auf der ausschliesslichen Beriick-
sichtigung der letzteren bcruhende Sattigungsgesetz ungiltig.
In Anwendung auf unseren Fall werden wir sagen, dass eine Blase
mit unendlich kleinem Radius unmoglich ist, da in ihr ein unendlich
grosser Druck herrschen miisste. Da anderseits es erwiesen zu sein
scheint, dass auch die Gasiibersattigung ohne Dazwischenkunft fester
Korper nicht unbegrenzt ist, sondern es einen Grenzwert giebt, iiber
dem sich Gasblasen freiwillig bilden, so wird man schliessen miissen, dass
auch die kleinsten Gasblasen im Augenblicke ihrer Entstehung eine
endliche, wenn auch geringe Grosse haben.
69. Blasohen von molekularen Abmessungen. In solchem Sinne
konnte man die Vermutuug hegen, dass die mogliche Grenze der Cber-
sattigung bei Gaslosungen durch den Druck gegeben sei, der sich in
einem Blaschen von molekularen Abmessungen, d. h. mit einem Radios
von 10~^cm herstellt. Denn wenn man die Fliissigkeiten als ans
Molekeln bestehend ansieht, so kann nicht wohl ein kleineres Blaschen
sich in ihr bilden, als eines von der Grossenordnung der Molekeln;
ein noch kleineres wiirde keine wirkliche Oberfiache haben, sondern
miisste als ein „molekularer Zwischenraum'* aufgefasst werden. Nun
lasst sich nach der friiher gegebenen Formel (II, 38) far den Druck
im Inneren einer Seifen blase auch der Druck im Inneren einer Grasblase^
die sich mitten in einer Fliissigkeit befindet, berechnen; er betragt die
Halfte jenes Druckes, da nur eine OberQ^x^he vorhanden ist, wahrend
Chemische Glelchgewichte zweiter Ordnung. 585
die Seifenblase deren zwei hat. Ferner betragt die OberilacheuspannuDg
des Wassers bei Zimmertemperatur in Gewichtseinheiten (g pro cm)
0-076; setzen wir diesen Wert und den Radius r = 10~® in die Formel
2/
80 folgt p= l-5x 10""^ in Gewichtsmass, oder, da eine Atmospharo
rund 1000 gem-* betragt, der Druck gleich 15000 Atmospharen in
rnnder Zahl.
Ist demnach Wasser bei Atmospharendruck mit einem Gase ge-
sattigt, so miisste der Druck auf ^/ig^oo^tm. erniedrigt werden, damit
sich ein Blaschen von molekularen Dimensionen bilden kann. Wiewohl
keine Messungen iiber den Gegenstand vorliegen, scbeint dieser Wert
doch iibertrieben hoch, und man wird vermuten miissen, dass demgemass
die Grosse des ersten Blaschens, das sich aus einer ubersattigten labilen
Gaslosung freiwillig abscheidet, sehr viel betrachtlicber ist, als die mole-
kularen Dimensionen^).
70. Qemisohe fl^ohtiger Flussigkeiten. Von dem bisher betrach-
teten Falle der Losung eines Gases in einer Fliissigkeit bis zu dem
eines Gemisches aus zwei Flussigkeiten findet ein stetiger tibergang
statt, da durch Erhohung der Temperatur bis iiber den Siedepunkt der
niedriger siedenden Fliissigkeit der zweite Fall in den ersten verwan-
delt werden kann, ebenso wie durch Temperaturerniedrigung bis unter
den Verfliissigungspunkt des Gases der erste in den zweiten iibergeht;
die gleichen Cbergange konnen durch Anderung des Druckes bewirkt
werden.
^) Diese RechnuDg ist schon an fraherer Stella (II, 986) angedeutet wordeu.
An gleicher Stelle ist darauf hingewiesen worden, dass der elektrolytisch abge-
schiedene Wasserstoff aDscheinend in noch viel hdherem Masse tkbers&ttigt seiu
kaon, als diesem Drucke entspricht; indessen wissen wir noch nichts bestimmtes
daraber, dass die WasserstoffK^sung, die sich an der Kathode bildet, nacbdem die
Wasserstoffionen ibre Ladung verloren baben, identiscb ist mit der, die man
dnreh Auf Idsen von gasfdrmigem Wasserstoff in Wasser erb<. Sollten beide yer-
sehieden sein (die ftir einen heutigen Cbemiker naheliegende Bemerkung, dass ja
im ersten Falle sich der Wasserstoff atomistisch abscheide, w&hrend er im
zweiten gewdhnlicher molekularer Wasserstoff sei, entscheidet nichts, da sie voll-
kommen faypothetisch ist und daher nichts beweisen kann). so w&re damit aller-
illnga die Mdglichkeit einer sehr weitgehenden tJbers&ttigung bezQglich der Urn-
wandlang in gasfOrmigen Wasserstoff erkl&rlich. Doch sind mir keine experimentellen
Tbatsacfaen bekannt, die einen solchen Unterscbied bewiesen oder auch nur an-
deoteten.
586 n* Ghemischd Dynamik.
Demgemass sind auch die Gesetze des zweiten Falles von denen
des ersten nicht mebr verschieden, als durch das mogliche Auftreteu
neuer Phasen bedingt ist; solange dieses letztere vermieden bleibt, sind
die Gesetze identisch.
Wir werden also zunacbst das Henryscbe Gesetz auszusprechen
baben; es lautet, dass die Konzentration in der Dampfpbase zu der in
der fliissigen in konstantem Verbaltnis stebt, oder dass der Dampfdrack
einer in geringer Menge in einer andereu gelosteii fliicbtigen Fliissig-
keit dem Gehalte der Losang an dieser Fliissigkeit propoi-tional ist.
Hierbei gilt, wie im vorigen Falle, die Beziebung nur fur den
Teildruck der gelosten Fliissigkeit, nicbt fiir den gesamten Druck der
Losung, falls aucb das Losungsmittel flucbtig ist Fiir den Teildruck,
der Yom Dampfe des Losungsmittels berriibrt, gilt vielmebr das friiber
erorterte Gesetz, nacb welcbem dieser Druck im Verbaltnis N:N + n
kleiner ist, als der des reinen Losungsmittels.
Eine Priifung dieses Gesetzes, bei welcber der Ubergang von
gelosten Gasen zu gelosten Fliissig-
keiten vorliegt, ist von J. W. Doyer^)
ausgefiibrt worden. Das Verfabren be-
stand darin, dass in einem vervoUkomm-
neten Liebigscben Kugelapparat, wie er
von Will und Bredig*) angegeben wor-
den war, Losungen von Ammoniak und
verschiedenen Aminen mit einem durch-
geleiteten Luftstrome bebandelt wurdeu.
Es stellte sicb dann ein Dampfdruck
TT cQ ^ <J68 gelosten Stoflfes in der durchge-
leiteten Luft ber, dessen Gleicbgewicht
mit der Losung durch die vielfaltige Beriibrung in dem genannten
Apparate (vgl. Fig. 69) gesicbert wurde.
Die Berecbnung der Versucbe gescbiebt nacb den folgenden For-
meln. Ist V das Volum der aus dem Gasometer bei t^ und dem Baro*
meterstande B entnommenen Luft, so ist das der bei T^ durcbtretenden
gleicb ,. 1 + aT B
V = V
1 +at B — X — Wt-i'
wo X der Druck des gelosten Stoffes und Wt^i der Unterschied der
Drucke des Wasserdampfs bei T und t® ist; der Einfluss des gelosten
>) Zeitschr. f. phys. Chemie 6, 481. 1890.
«) Ber. 1889, 1084.
Ghemische Gleichgewichte swelter Ordnung. 587
Stoffcs auf den letzteren Druck ist hierbei vernachlassigt, cbenso der
Ton den Fliissigkeitssaalen in den Apparaten herriihrende Druck. Ist
7 dann das Gewicht eines Liters des gelosten Gases bei 0^ and 76 cm,
1 X
80 ist es bei T® und xcm Druck gleich y-z—. — m--7^» also das Ge-
1 + a I To
wicht g und der Druck x des mitgefiihrten Gases
VBxy _ __B~ Wx-t
8-(l+«t)(B-x-WT-t)76 "''^ ^-' "BVy
'■^76g(l + at)
Um die „LdslichkeiVS d. h. das Verhaltnis der Konzentrationen in
der Dampf- und der Fliissigkeitsphase zu berechnen, kann man entweder
g|v berechnen und damit in den Gewichtsgehalt der Losung dividieren.
Oder man berechnet aus dem Molekulargehalt der Losung den osmo-
tischen Druck des gelosten Stoffes und dividiert ihn durch den Druck x
in der Dampfphase.
Die Ergebnisse sind in der folgenden Tabelle zusammengestellt.
Die Zahlen unter „Gehalt'* bedeuten Mole in einem Liter der Losung,
die in der folgenden Spalte enthaltenen Werte sind „Ld8lichkeiten*'
zufolge der eben gegebenen Definition; jede Zififer gebort einem be-
sonderen Versuche an, und der Yergleich ergiebt einen Massstab fiir
die Genauigkeit der Messungen. Die Zablen gelten fur 60^0.
Stoff
Gehalt
Loslicbkeit
Ammoniak
1
386, 396, 380
11
0-5
382, 385
Methylamin
1
506
>»
0-5
516
Dimethylamin
02
230, 230
11
01
229
Athylamin
04
323
»
0-33
319
Di&thylamiD
02
91
»
01
87, 89
Propylamin
0-2
233
Ein Einfiuss der Dissociation in wasseriger Losung macht sich «och
nicbt geltend, offenbar weil in den verhaltnismassig wenig verdiinnten
Losangen, die nicht unter ^/^Q-normal gehen, der dissociierte Anteil
ooch nicht erheblich ins Gewicht fallt. Li der That ist die Dissocia-
tion des Ammoniaks bei dieser Konzentration, aus der Leitfahigkeit be-
rechnet, etwa zwei Prozent, die der Amine 5 bis 7 Prozent; bei den
▼erhaltnismassig geringcn Verschiedenheiten der benutzten Konzentra-
588 n. Chemische DyDamik.
tionen beschraukt sich daher der Einfluss der Veranderlichkeit des
Dissociationsgrades auf ein bis zwei Frozen t, d. h. er bleibt innerhalb
der Fehlergrenzen der Versuche. Bei grosseren Verdaanungen oder
starker dissociierten Stoffen wiirde dieser Einfluss mehr und mohr zur
Geltung kommen. Zu seiner Berechnung konnen die Uberlegungen von
S. 560 u. ff. unmittelbar Anwendung finden.
71. Dampfdruok der Ldsong eines fl^ohtigen Stoffes. Wenn der
aufgeloste Stoff selbst fliichtig ist, so ist der gesamte Dampfdruck, dor
zur Beobachtung kommt, die Summe der Dampfdrucke des Losungs-
mittels und des gelosten Stoffes. Beide lassen sicb unter der Voraus-
setzung der Gesetze verdiinnter Losungen berechnen*).
Der Dampfdruck des Losungsmittels in der Losung wird gleich dem
des reinen Losungsmittels sein, multipliziert mit dem Verhaltnis der Mole
des Losungsmittels N zur Summe der Mole des Losungsmittels und
des Gelosten n oder dem „Moleubruch". Ist P^ der Dampfdruck des
reinen Losungsmittels, so ist der Dampfdruck desselben iiber der Lo-
N
sung gleich Pq vr jI — ' ^^^ Dampfdruck des gelosten Stoffes sei p; er
wird der Konzentration in der Losung gemass dem Henryschen Gesetze
proportional sein. Bezeichnet man den gesamten Dampfdruck mit D,
so ist demnacb
Nun ist das Verhaltnis der beiden Stoffe in der Losung c =
^ J— , das im Dampfe c'=-~; substituieren wir dieso Ausdriicke, so
folgt, nachdem beide Seiten der Gleichung von Eins abgezogen sind,
mit einer kleinen Umformung
Po-D _ D ,
p — ^ — ~n~ c ,
oder, wenn wir die Abweichung des Quotienten D/Pq von Eins vernach*
lassigen, Pa — D
-\ = c — c.
Die Gleichung ist in dieser (ungenaueren) zweiten Form zuerst von
M. Planck*) aufgestellt word en, der sie auf einem ziemlich abweichen-
den Wege (der natiirlich prinzipiell die gleichen Ausgangspunkte hat)
abgeleitet hat. Sie hat folgenden Inhalt:
») W. Nernst, Zeitschr. f. phys. Chemie 8, 124. 1891.
>) Zeitscbr. f. phys. Cbemie 2, 405. 1888.
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnnng. 589
Das Zeichen von Pq — D stimmt mit dera von c — c' iiberein.
Das heissty der Gesamtdruck der Losung iibertrifift den des reinen Ld-
niDgsmittels bci gleicher Temperatur dann, wenn der Anteil des ge-
losten Stoffes im Dampfe grosser ist, als in der Flussigkeit, oder mit
anderen Worten, wenn das Destillat reicber an dem gelosten Stoffe ist,
als die Ausgangsmiscbung. Umgekehrt ist der Gesamtdruck der Losung
kleiner als der des Losungsmittels, wenn sich der geloste Stoff im
Rackstande konzentriert. Gebt der geloste Stofif gar nicht in den
Dampf (iber, so wird c =0, und wir erhalten das Raoultsche Dampf-
druckgesetz der Losungen (I, 717) zuriick, von dem wir ausgegangen
varen.
Sind schliesslich Destillat und Kiickstand gleich zusammcngesetzt,
80 wird die rechte Seite der Gleichung gleich Null, uud somit wird
auch P^ = D, d. b. der gesamte Dampfdruck andert sicb nicbt^) gegen
den des reinen Losungsmittels. In diesem Falle blcibt gleicbzeitig die
Losung wahrend der Destination unverandert, wahrend sie in den
friiheren Fallen bierbei verdiinnter, bez. konzentrierter wurde, und zwar
besteht diese Beziehung fiir alle Konzentratiouen, inuerbalb dcren die
Gleichung giiltig ist.
Die vorstehenden Erorterungen gelten fiir die genauere Formel
ebenso, wie fiir die einfache. Denn in dem mittleren Falle, wo Po = D
ist, werdcn beide identiscb, und in den beidcn angrenzenden Gebieten
D
P,
?«>• D und Pq <C D haben c — ^ c' und c — c' immer gleiches Zeichen.
0
^) Man darf diesen Fall durchaus nicht mit dem der LOsungen von kon-
Btantem Siedepunkt verwechselo, welche dadurch entsteheu, dass die Kurve des
gesamten Dampfdruckes ein Maximum oder Minimum hat; eine seiche Ver-
vechselung scheint Planck (a a. 0. S. 408) begangen za haben. Die im Text ge-
gebene Gleichung gilt nur fQr verdiinnte Ldsungen und ftir den Fall, dass der
Teilungskoeffizient zwischen Ldsung und Dampf gleich Eins ist; dann ist der ge-
samte Dampfdruck unabh&ngig von der Konzentration (innerhalb des Gebietes
der rerdannten LOsungen) und wird als Funktion der Konzentration durch eine
lor Achae der letzteren parallele Qerade dargestellt. In dem von Eonowalow er-
wahnten Falle eines Maximums oder Minimums des gesamten Dampfdruckes
handelt es aich dagegen um konzentrierte LOsungen, deren gemeinsamer Dampf-
druck keineawegs unabhangig von der Konzentration und auch nicht gleich dem
Dampfdracke des Losungsmittels ist. Vielmehr ist der Teilungskoeffizient im
Gegens&tze zu dem Henryschen Gesetze eine Funktion der Konzentration, und
geht nor bei einem bestimmten Werte durch £ins. Die Kurve des gemeinsamen
Dampfdruckes ist keine zur Konzentrationsachse parallele Gerade, sondern hat nur
bei einem bestimmten Werte eine parallele Tangente.
590 ^I- Ghemische Dynamik.
Planck bat (a. a. 0.) seine Formel auf die Messungen yon Kono-
walow^) angewendet, um die Konzentration des gelosten Stofifes im
Dampfzustaiide zu borechnen, und A. Winkelmann') hat die Ergebuisso
in folgender Weise einer experimentellen Priifung unterzogen. Von
einer grosseren Menge des Gemisches wurde teils durch Verminderung
des ausseren Druckes, teils durch Durchleiten eines langsamen Lofb-
stromes ein gcringer Betrag abdestilliert und dieser auf seine Zu-
sammensetzung durch Messung des Brecbungsvermogens analysiert Vor-
versucho batten orgebeu, dass beide Methoden gleicho Resultatc ergaben,
wenn man den Luftstrom langsam genug nimmt; anderenfalls wird
leicbt von der in grosserer Menge verdampfenden Fliissigkeit zu wenig
erhalten. Die abdestillirte Menge braucbte nur goring zu sein, bci dem
benutzten Abbeschen Refraktometer gcuiigten 0-08 g.
Die Versuche wurdeu mit Propylalkohol und Wasser angestellt, da
dor Yon Planck berecbnete Isobutylalkohol eine Destillat lieferte, welches
sich in zwei Schicbten sonderto und somit nicht im Refraktometer ana-
lysiert werden konnte. Zur Messung gelangte ein Gemisch mit 6*2 Pro-
zent Alkohol, fur welches die Dampfdruckverbaltnisse von Eonowalow
untersucht worden waren. Die Gesamtergebnisse sind in der 'folgenden,
der erwahnten Abbandlung von Nernst entnommenen Tabelle cnthalteu.
Prozent Alkohol
Temp.
Po
D
P
P
*
c
beob.
ber. P ber. N
1765
150
20-8
147
61
0293
—
642 580
31-5
31-3
—
30-7
—
523
66-0 59*4
403
557
794
546
248
0-312
574
67-2 602
510
967
138-7
94.8
439
0-316
60-8
67-7 619
Unter ber. P stehen die nach der veroinfachten, unter ber. N die
nach der genaueren Formel berechneten Werte. Wie man sieht, stimmeu
die letzteren weit bosser mit den beobachteten Werten iiberein. Die
grosseu Unterschiede sind zu erwarten, da zwiscben P^ und D Unter-
schiedo von mehr als 20 Prozent vorhanden sind.
72. Siedetemperaturen der Ldsongen fiuohtiger Stoffe. Fiir den
cinfacheren Fall, dass der aus einer Losung sich entwickeinde Dampf
nur das Losungsmittel und nicht (in messbarer Menge) den gelosten
Stoff enthalt, ist das Gesetz bereits (I, 723) mitgotcilt worden, nach
welchem der Siedepunkt proportional der Menge des gelosten Stoffes
steigt, imd zwar fiir aquimolekulare Mengen verschiedener Stoffe um
*) Wied. Ann. 14, 43, 1881.
«) Wied. Ann. 39, 1. 1890.
Ghemische Gleichgewichte zweiter. Ordnung. 591
gleichyiel; der Erhohungskoeffizient steht in einfacher Abbangigkeit von
dem Siedepunkt and der Verdampfungswarme des Losungsmittels.
Das Gesetz ist, wie Arrbenius^) gezeigt hat, eine uomittelbare
Folgerung des Gesetzes der Dampfdruckverminderang. Dem entsprechend
moss sich eine abniiche Betracbtung, wie die eben gegebene, aucb auf
die Siedepunkte der Losungen fliicbtiger Stoffc anwenden lassen. Dies
ist aucb bereits von Planck') gescbeben; in einfacberer Weise jedocb
durch W. Nernst*).
Sind auf N Mole des Losungsmittels n Mole eines fliicbtigen Stoffes
N
gelost, 80 ist der Teildruck des Losungsmittels P = P^ WJl — > ^^ ^o
den Dampfdruck des reinen Losungsmittels bei der Siedetemperatur der
Losung unter dem Barometerstaude B bedeutet. Der Teildruck des
gelosten Stoffes sei p; dann ist B = P-|-p, und durcb Einsetzen des
obigen Wertes erbalten wir
Die Abweicbung von der Siedetemperatur des reinen Losungsmittels
(die positiy oder negativ sein kann) durcb die Zufiigung der n Mole
des gelosten Stoffes sei A; ferner werde der Temperaturkoeffizient des
Dampfdruckes dPo/dT mit /S bezeicbnet; dann ist Po = B + j9J, und
^^™it , /. ^ ^T V
/ n M _1_\
^~ VN + n B ' N + n /
Den Wert von i5 = dPQ/dT kann man entweder experimentell aus
der Dampfdruckkurve bestimmen, oder nacb der bekannten Gleicbung
dP_B^
"dT~RT«
berechnen, wo q die molekulare Verdampfungswarme und R die Gas-
konstante ist. Fiir nicbtfliicbtige Stoffe, wo p = 0 ist, gebt die Formel
natiirlicb in die oben erwabnte einfacbe iiber.
Beacbtet man, dass p/B = c', gleicb dem Verbaltnis der beiden
Stoffe im Dampfe, und n/(N + n) = c, gleicb dem Verbaltnis der Stoffe
in der Fliissigkeit ist, so kann man alsbald die Gleicbung auf die Form
bringen
_ ,_ j9zl N _j9J P_ '
^" "" ~ B"'N + n"" B 'Po'
') Zeitschr. f. phys. Chemie 4, 550. 1891.
«) Zeitschr. f. phys. Chemie 2, 411. 1888.
*j Nemst, Zeitschr. f. phys. Chemie 8, 128. 1891.
592 ^^- Chemische Dynamik.
Hieraus ergiebt sich, ganz entsprechend den fur den Druck er-
erhaltenen Beziehungen, dass c — c' dasselbe Zeichen hat, wie A and
gleicbzeitig damit Null wird. Wenn also der Siedepunkt eines Losuugs-
mittel9 durch den Zusatz eincs fliichtigen Stoffes sinkt, so ist in dem
Dampfe mebr von diesem enthalten, als in der Losung, und umgekehrt:
bleibt der Siedepunkt ucrverandert, so bat der Dampf and der Biick-
stand die gleicbe Zusammensetzung^).
Ganz ebenso, wie fur die Molekulargewichtsbestimmung der nicht-
fluchtigen Stoffe sicb die Metbode der Siedepunktserbobung genauer
und bequemer erwiesen bat, als die der Dampfdruckmessung, so gilt
dasselbe fur den bier vorliegenden Fall. Aus der Messung des Siede-
puukts kann man sichorer, als aus Dampfdruckmessuugen das Teilungs-
verbaltnis des gelosten Stoffes zwiscben Flussigkeit und Dampf ermitteln,
Yorausgesetzt, dass kein Zweifel iiber das Molekulargewicht des gelosten
Stoffes in der Flussigkeit bestebt.
Was die experimentelle Priifung dieser Formel anlangt, so liegl
bieriiber nur die Bemerkung von Nernst') vor, dass er bei Benzol und
Cbloroform in atberiscber Losung die Siedepunktserbobungcn der Kon-
zentration proportional und urn 20, bez. 10 Prozent geringer gefunden
babe, als sicb aus den Molekulargewicbten fiir den Fall der Nicbt-
fliicbtigkeit berecbnen wiirde. Die vollstandige Durcbfiibrung der Kon-
troUe durch die Analyse des aus der Losung entweicbeuden Dampfes
feblt indessen.
73. Chemische Vorgange in der Ldsung. Der einfaohate Fall.
Ebenso wie bei der Losung von Gason in Fliissigkeiten gostaltcn sich
die einfacben Beziebungen mannigfaltiger, wenn sicb der geloste Anteil
(teilweise) in einem anderen Zustande befindet, als der Dampf. Zunacbst
wird wieder im Anscblusse an die S. 558 u. ff. gegebenen Erorterungen
zu sageu seiu, dass iiber die Frage, ob der geloste Stoff mit dem Losungs-
mittel eine Verbindung bildet oder nicht, aus der Foim des Dampf-
druckgesetzes oder aus dem Werte der dabei auftretenden Koeffizienten
keine Auskunft gewounen werden kann, solango keine Anderung der
Zabl der Molekeln cintritt. Die Bescbaffenbeit der Molekeln kaou
in beiden Zustiinden vcrscbieden sein; wenn aber aus je n Moleu des
^) Die letzte Formel ist gleichfalls von Planck in seiner oben erw&hnten
Arbeit gegeben worden, jedocb unter Fortlassung des Faktors P/Po) entsprechend
der (entbehrlichen) Yoraussetzung, dass auch im Dampfe die relative Konzen-
tration des geldsten Stoffes klein sei.
*) Zeitschr. f. pbys. Cliemie 8, 129. 1891.
Ghemische Gtdichgewichte zweiter Ordnang. 593
im Dampfzastande vorhandenen Stoffes n Mole irgend einer Yerbindung
(z. B. eines Hydrats) entsteheD, so bleibt die Proportioaalitat zwischen
dcD KoDzcntrationen im Dampf- und im Losungszostande erhalten.
Der Orund hiervon ist, wie a. a. 0. bemerkt worden ist, bier aber
znr mehreren Klarheit wiederholt sei, dass aoch in der Losung ein
Gleichgewicht zwischen den veranderten und den nnverandert gebliebenen
Anteilen des gelosten Stofifes besteht, durch welches zwischen beiden
(onter der gemachten Voraussetzung, dass die Zahl der Mole sich nicht
andert) glei6hfalls Proportionalitat bedingt wird. Da gemass dem Henry-
schen Gesetz zwischen der Konzentration im Dampf and in der Losung
bezQglich des nnverandert gebliebenen Anteils Proportionalitat besteht,
andererseits wegen des Massenwirkungsgesetzes eine solche auch zwischen
der nnveranderten und der veranderten Menge erhalten bleibt, so folgt
notwendig auch Proportionalitat zwischen der Konzentration im Dampf
nod der gesamten gelosten Menge.
Ein Mittel die Frage zu beantworten, ob eine aquimolekulare Urn-
waodlung in der Losung eintritt, ist also in der Form des Loslich-
keitsgesetzes nicht zu linden. Wohl aber wiirde ein solches zu erlangen
sein, wenn man aus unabhangigen Betrachtungen Aufschluss iiber die
Werte der auftretenden Loslichkeitskoeffizienten erlangen konnte und
diese mit den thatsachlich beobachteten vergliche.
74. Verwiokeltere FSlle. Aufschluss iiber Vorgange in der Losung
erlangt man indessen, wenn die Molenzahl in der Losung eine andere
ist, als im Dampf, oder experimentell gesprochen, wenn der osmotische
Druck in der Losung vom Dampfdruck bci gleicbcr Konzentration (und
gleicher Temperatur) verschieden ist. Von W. Nernst') siud zwei dcr-
artige Falle, Essigsaure in Benzol und Wasser.in Ather, eingehender
untersucbt worden. Im ersten Falle hat sich aus den Gefrierpunkts-
bestimmongen (I, 750) ergeben, dass Essigsaure in der Benzollosung
wesentlich der Formel C^HgO^ entspricht, also Doppelmolckoln bildet,
wahrend sie im Dampfzustando aus einfachen und doppelten Molekehi,
aber bei den hier vorliegenden Temperatur- und Druckverhaltnissen
Torwiegend aus den ersteren besteht. Man wird aus diesem Grunde
nicht erwarten konnen, dass zwischen der Konzentration der gesamten
Essigsaure im Dampf und in der Losung Proportionalitat besteht, und
ebensowenig, dass sich eine solche zwischen dor Konzentration der
Essigsaure in der Losung und der Anderung des Siedepunktes ein-
stelleo wird.
>) Zeitschr. f. phys. Ghemie 8, 129. 1891.
Ottwald, Cbemle. 11,9. 2.Aufl. 38
694
n. OkemiwAe DjBtatk.
Id der That yeranlasst der Zusats yon EssigBaure za Benzol znersi
eine Erniedrigung, daim aber eine Erhohung des Siedepunktes, so dass
bei etwa 4-6 Prozent Essigsaare der Siedepunkt der Losung gleich dem
des reinen Benzols ist Die beobachteten Anderongen dee letiteren
*0J..
■kO-B -
-01
Fig. 70.
dnrch den Zusatz Ton m Prozent Essigsaure sind in der nachstelieneleD
Tabelle wiedergegeben; zur mehreren Veranschaulichnng ist die Be-
ziehung in Fig. 70 aach gezeichnet ^).
SiedepnnktaerhOhung tod Benzol durch Essigstare.
m
d
m
J
0.150
-^.070
413
-^0.066
0-663
-0189
5.00
-0032
1-64
—0.152
6.88
+0^063
1.87
—0155
7.58
+0118
2.60
—0.182
8.42
+0.180
Um nun das ^Verteilungsgesetz'S nach welchem das Verhaltnis der
Eonzentrationen sowohl der einfachen wie der Doppelmolekein der
Essigsaure in beiden Pfaasen konstant ist, zu priifen, hat man diese ein-
zelnen Werte zu berechnen. Zunachst werde die Zabl n der geloeten
Molekeln berechnet.
Ist % der Dissociationsgrad der Doppelmolekein (Molekulargewicht
= 120) in der Losung, so ist in lOOg Benzol n=(l +x)m/l20. Die
Dissociation x hat einen kleinen Wert; Nemst schatzt sie auf 0-1 (ur
') Au8 der Zeichnnng ergiebt sich, dass der la m»5 gehOrige W«rt too
d — 0*032 sein mosSy so dass das +-Zeicben in der Abhandlukg ein Ihiiek-
fehler ist.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 595
m=: 0*663. Fiir die anderen Losungen muss sie nach der Formel far
binare Dissociation berechnet werden, wonach = const, ist; setzt
1 — X
man die eben angegebenen Werte x = 0-l, m = 0-663 ein, so folgt
== 0-0074, wonach sich die x fiir die iibrigen Werte ergeben.
Anderseits ist N= 100/78, wo 78 das Molekulargewicht des Ben-
zols ist; fur n/(N + n) = r folgt daher t= ^^. . , - ^ — -, wo das
lo4-4 + m (1 + x)
X im Nenner neben 154-4 vemachlassigt werden kann.
In der Gleichnng von S. 591, P = B(.j:,- -^-t?-; — ) erhal-
\N + n B N + n/
ten wir durch Einsetzen dieser Werte, wenn i\och fiir ^ der aus der
Verdampfungswarme berechnete Wert 22-2 und B = 750 mm Qaeck-
8ilber gesetzt wird,
p==750r— 22.2J(1 — r).
Die Ergebnisse befinden sich in der nacbstehenden Tabelle unter
pber. 1.
m
X
pber. 1
pber. 2
d
s
0150
0-20
24
2-6
2-24
0-87
0-663
010
6-6
6-5
244
0-70
1-64
0065
118
116
261
0-60
1-87
0061
12-9
12-6
263
0-58
260
0055
161
15-7
271
054
413
0042
21-8
21-4
2-81
048
500
0038
236
239
283
0-47
6-83
0033
314
311
296
0-40
753
0031
33-5
334
2-99
0-38
8-42
0029
36-4
36-5
302
036
Zanachst ergiebt sicb, dass der Teildruck der Essigsaure im Dampf
keineswegs der Konzentration m in der Losung prpportional ist. Wohl
aber soil die Konzentration der MoleCjH^Oj, sowie die der MoleC^HgO^
in beiden Phasen proportional sein; wir berecbnen die ersteren Eon-
zentrationeu,
Fiir den Dampf lasst sich der Dissociationsgrad g aus der Dampf-
dichte d ermitteln. Fiir letztore hat Gibbs eiue Formel gegeben, welche
die vorhandenen Beobacbtungon zusammenfasst, und nach der die in
der Tabelle gegebencn Werte von d berechnet sind. Da 4-146 die Dichte
der Doppelmolekeln der Essigsaure ist (Luft=l), so folgt (S. 319)
. 4-146 — d
38*
596 n. Ghemische Dynamik.
welcke Werte gleichfalls in die Tabelle eingetragen sind. Die Ron-
centration der einfachen Molekeln im Dampf ist proportional dem Pro-
dukt von Dichte, Druck und Dissociationsgrad, also proportional
4.146 — d
p,d ^'^^ - = p(4>146-d),
die in dor Losung ist proportional mx^), so dass wir haben
P= 4-146 -d°°"^^'
wird die Konstante gleich 15-76 gesetzt, so ergeben sich die unter
p ber. 2 in der Tabelle gegebenen Werte, welche wie man sieht, ge-
uiigend mit denen unter p ber. 1 iibereinstimmen, und somit die Richtig-
keit der gemachten Yoraussetzungen bestatigen.
In der gleichen Abbandlung teilt Nernst nocb eine ahnliche Rech-
nung an Beobacbtungen von Beckmann iiber die Siedepunkte von Ather-
Wassergemischen mit. Auch bier finden starke Abweicbungcn von der
Proportionalitat zwischen Gehalt und Siedepunktsanderung statt, und
eine Berecbnung der Zablen fiihrt auf die Aniiahme, dass Wasser in
Ather in gosattigter Losung etwa zur Halfte aus einfachen und zur
Halfte aus doppelten Molekeln bestebt.
75. Der Znstand der Stoffe in verdiumter Iidsnng. In den vor-
ausgegangenen Erorterungen ist bereits v^iederbolt von einer wichtigen
Yerallgemeinerung Gebrauch gemacht worden, welche nunmehr aus-
driicklich ausgesprochen werden soil: dass namlich fiir Stoffe in ver-
diinnter Losung, auch beziiglicb des chemischen Gleichge-
wichts, die gleichen Gesetze giiltig sind, wie fiir Gase.
Es ist an friiherer Stelle (I, 671) des breiteren dargelegt worden,
wie ein solcher Satz fiir die stochiometrischen Beziehungen der
Stoffe in verdiinnter Losung giiltig ist. Man kann die Gesamtheit jener
Beziehungen dahin zusammenfassen, dass Volum, (osmotischer) Druck
und Temperatur fiir stochiometrisch vergleichbare Mengen gelostcr Stoffe
die gleichen coUigativen Beziehungen ergeben, wie fiir Gase. Ihren
Ausdruck erhalt dies Gesetz dadurch, dass die der Menge proportionale
Konstante der Gleichung pv = RT fiir chemisch vergleichbare Mengen
^) In der Abbandlung von Nernst ist die Konzentration der normalen Mo-
lekeln proportional ml/ = 1/01(1 — x) gesetzt. Der Ausdruck ist nicht
unrichtig, aber von unnOtiger Umst&ndlichkeit.
Chemische Gleichgewichte sweiter Ordnung. 597
gleiche oder einfach multiple Werte hat. Es lasst sich daher ein System
solcher Mengen aafstellen, in welchem die Gesetzmassigkeiten chemischer
Umwandlungen einen einfachen Ausdrnck annehmen, wean man sie so
bestimmt, dass die Konstante R fiir alle geliisten Stoffe gleich und auch
der Gaskonstante gleich ist Man pflegt solche Mengen Molekularge-
wichte zu nennen; indessen ist die mit dieser Bezeichnnng yerbundeue
liTpothetisGhe Anschaunng fiir die Ausbildung des Systems keineswegs
Qotwendig, wie sich ans der eben gegebenen Darlegung ersehen lasst.
Die Ansdehnung der stochiometrischen Gesetze des osmotischen
Dmckes auf die chemischen Gleichgewichte geloster Stoffe ist bereits
TOD Tan't Hoffy dem Entdecker jener Beziehangen yersucht worden,
konnte aber damals wegen der noch nicht gedenteten Koeffizienten i
(S. 185) nicht richtig durchgefiihrt werden. Nachdem diese Dentong
dorch Arrhenius bewerkstelligt worden war, hat Ostwald (S. 190) zunachst
den einfachsten Fall der Dissociation eines binaren Elektrolyts mit £r-
folg behandelt, worauf die gleichen Grundlagen auf zahlreiche und
wichtige weitere Falle angewendet wurden.
Wegen der yoUigen Obereinstimmung der Zustandsgleichung fiir
Case nnd geloste Stoffe bediirfen die fiir jene entwickelten Formen gar
keiner Umgestaltung, um fiir Losungen an wend bar zu sein. Die Au£h
driicke, welche Konzentrationen enthalten, bleiben auch in der
Deatung unyerandert; die, in denen Drucke yorkommen, miissen auf
osmotische Drucke umgedeutet werden. Damit ist alles Erforderliche
geschehen.
76. Die wirksame Menge geldster Stoffe. Das Henrysche Gesetz
fiihrt (S. 554) zwar zu dem Schlusse, dass die wirksame Menge ge-
loster Stoffe proportional der Konzentration ist, und dem gleichen
Gesetze daher wie die der Gase folgt; iiber den absoluten Wert der
wirksamen Menge ist aber dadurch noch nichts ausgesagt, und dieser
bestimmt sich erst aus einem fiir jeden Stoff und jedes Losungsmittel
besonders zu ermittelnden Koeffizienten, der ausserdem als eine Funk-
tion der Temperatur angesehen werden muss. In dem einfachsten Falle
eines Gases wird dieser Koeffizient durch die Loslichkeit (I, 616)
gegeben, d. h. das Verhaltnis des Volums des absorbierten Gases zu
dem Volum der absorbierenden Fliissigkeit
Steht namlich ein Gas mit irgend einem chemischen Gebilde im
Gleichgewicht, so kann. wie bereits mehrfach bemerkt worden ist, das
Gas durch jedes beliebige andere chemische Gebilde ersetzt werden,
mit dem es unter gleichen Umstanden im Gleichgewicht ist (yorausge-
setzty dass die iibrigen Bestandteile der Gebilde nicht aufeinander rea-
598 !!• Ghemischc Dynamik.
gieren). Die raumliche KoDzentration des Stoffes wird in diesea ver-
schiedeuen Gebilden verschieden sein, da sie aber im Gleichgewicbt
81 nd, 80 wird man seine wirksame Menge iiberall gleicfa gross setzen
konnen, indem man eben die wirksame Menge entsprecbend definiert
Um also die Faktoren za bestimmen, welche die raumlichen Koozea-
trationen in wirksame Mengen iibersetzeu, haben wir zunachst einen
Normalzustand zu wablcn, fur den wir den Faktor gleich Eins setzen,
und hierfiir bietet sich der Gaszustand als der geeignetste dar.
Scbreiben wir das Heurysche Gesetz in der Form Cf = ^Gg, so ist
/) der Faktor, mit welchen die Gaskonzentration zu multiplizieren ist,
um die Losungskonzentration des Gleichgewichts zu ergeben; l/i3
ist daber der Faktor, mit welchem die Losungskonzentration zu mal-
tiplizieren ist, um die wirksame Menge des gelosten Stoffes
zu ergeben. Scbreiben wir in der Gleichung Cg = Cf//3 fur c den Bruch
m/y, wo y das Volum der Flussigkeit und m die Menge des gelosten
Stoffes ist, so folgt Cg = -r— , und wir sehen, dass sich der geloste
Stoff yerhalt, als ware er gasformig in dem Volum j9y enthalten; die
Loslichkeit /3 ist also der Faktor, mit dem man das Volum der Lo-
sung multiplizieren muss, um das „wirksame Volum'* des gelosten
Stoffes zu erbalten.
Gewohnlich ist die Loslichkeit j3 der Gase kleiner als Eins, d. h.
das fiktiye Volum der Losung ist kleiner, als das gemessene. Doch giebt
OS auch Falle, wo es grosser ist, ohne dass darum die einfachen Losnogs-
gesetze schon erheblich unrichtig werden; dies ist beispielsweise bei Stick-
oxydul und Kohlensaure der Fall, welche bei niedriger Temperatur sich
in weniger als ihrem Volum Wasser losen. Man wiirde also irren, wenn
man aus der kleincn Loslichkeit der sogenannten permanenten Gase in
Wasser und anderen Fliissigkeiten den Schluss zoge, dass jenes fiktive
Volum etwa „der Zwischenraum zwischen den Molekeln^ ware, wie dies
schon Dal ton yermutet hat, aber nicht hat begriinden konnen.
Ausser fur geloste Gase kann man das wirksame Volum auch far
fliichtige Fliissigkeiten aus der Konzentration des gesattigten Dampfes
berechnen; allgemein kann man es fiir jedon Stoff ermitteln, der in
Gestalt einer Gasphase mit irgend einem Gebilde im Gleichgewicht ist
Hat man es fiir ein flUssiges oder festes Gebilde ermittelt, so erfihrt
man mittels jedes weiteren Gleichgewichtsyersuches, an welchem dies
Gebilde beteiligt ist, fiir die entsprechenden anderen Phaseo, und es
ist somit ganz allgemein die Aufgabe, die wirksame Menge dieses
Stoffes in yergleichbarem Masse festzustellen, losbi^r.
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 599
Nicht losbar ist dagegen die Aufgabe in dem Falle, dass von dem
Stoffe keine Gaspbaee bekannt ist Die den Gasgesetzen entsprecbenden
LosuDgsgesetze helfen bier nicbt, denn zwei Losungen, in denon ein
Stoff glcicben osmotiscben Diuck bat, sind keineswegs im Losungs-
gleicbgewicbt. Hier bleibt nur iibrig, fur irgend einen bestimmten Zu-
stand die wirksame Menge willkiirlich fcstzustellcn; dann besteht
immer die Moglicbkeit, fur jedes andero Gebilde den darauf beziiglicbcn
Koeffizienten experimentell zn ermitteln.
77. Beispiele. Die Dissooiation des geldaten Stiokstoffpero2cyds.
Vermoge der Gultigkeit der Gaegesetze fur vcrdiinnto Losungen erlangen
wir die Moglicbkeit, die im vorigen Kapitel entwickelten Gesetze fiir
das Gleicbgewicbt bylotroper Gase auf das Gleicbgewicbt gelostcr Stoffe
anzuwenden. In gleicber Weise werdcn sicb aucb die fiir beterogene
Gleicbgcwicbte erster Art geltenden Beziehungen bei Losungen wieder-
fiadeD, so dass wir eine vollstandige Wiederbolung der Verbaltnisso des
Gleicbgewichts erster Ordnung in diesem besonderen Falle des Gleicb-
gewichts zweiter Ordnung, dass einer der fliissigen Bestandteile stark
aberwiegt, zu erwarten baben.
Zunachst ist zu fragen, ob das Gesetz der homogenen Disso-
ciation, wie es in der Formel S. 306 ausgedriickt ist, im Falle der
Losungen gepriift worden ist. Dies ist gescbehen, und zwar gerade in
demselben Falle, in welcbem es bei den Gasen gepriift worden ist:
im Falle des Stickstoffhyperoxyds. Der Gegenstand ist von J. T. Cundall ^)
experimentell untersucht worden, und zwar war die Analyse auf den
Umstand begriindet, dass die bekannte gelbrote Farbe wesentlich von
der Form NO* berriibrt, wahrend der Form N*0* keine, oder doch
nor eine sehr geringe Farbung zugescbricben werden kann. Mit Hilfe
eines kolorimetrischen Verfahrens bcstimmte Cundall fiir eine Anzabl
fon Losungen in Cbloroform die Farbstarken im Vergleicb zu rcinem
Hyperoxyd bei 0®. Um bieraus den absoluten Betrag der Konzentration
au NO' zu findcn, vcrglicb er dieses mit einer Saulo von Stickstoff-
hyperoxyddampf, deren Gebalt an NO* nacb einer Formol von Gibbs*)
berechnet wurde. Daraus ergab sicb unter der wenigstens annabernd
richtigen Voraussetzung, dass die Farbstarko des NO' im gelosten und
gasformigen Zustande gleicb ist, dass reines Hyperoxyd bei 0^ nur
0-0468 Prozent NO* entbalt; mit Hilfe dieser Zahl wurde fiir die aus-
gedehnteste Versuchsrcibe bei 0® folgende Tabelle gefunden:
*) Joum. Ghem. Soc. 1891, 1076. — Daza Ostwald, ebenda 1892, 242.
*) Amer. Joum. of Sc. 18, 1879.
600
n. Chemische Dynamik.
TolumiiroMDte
Volum in Titer
BeUtire
Abtolnte
1 x>
in der Ldstuig
anf ein Mol
Disflodation
DiBflodation
T 1-X
144
4.28
5.1
000239
134
3-0
206
8-25
000152
1-12
4-0
154
31
0-00145
136
53
116
299
0-00140
169
7.1
0.87
2.46
000115
151
7.5
0*82
2-64
0*00124
187
I7.6
0-81
235
000110
1-49
8.9
0*69
195
0-00091
120
101
062
244
0W114
2-10
10.37
0.60
2-58
0.00121
2-44
104
0.60
260
0-00122
2*46
13.0
0.47
197
0-00092
180
xlO"
Die erste und dritte Spalte sind yon Cundall gegeben. Aas der
ersten wurde die zweite folgendermassen abgeleitet. Ein Mol oder 92 g
92
N«0* haben, da die Dichte 1-4903 ist, das Volum , ,n^o =61'7ocm;
l*490o
das Molekularrolum einer Losung, in welcher n Volumprozente N*0*
entfaalten sind, betragt somit ccm oder Liter. Die
n n
vierte Spalte ergiebt sich aus der dritten durch Multiplikation nut
0*000468, dem Bruchteil dissociierten Hyperoxyds in der unyerdiinnteo
Substanz.
Die fur den Vorgang gultige Gleiohgewichtsgleichung ist genan
dieselbe, die fiir die Dissociation im Gaszustande giiltig ist, namlidi
X*
= kv, wo X der Bruchteil des N*0*, der in NO* zerfallen ist,
1 — X
und y das Volum (in Litem fiir ein Mol) bedeutet. Wie man aus der
letzten Kolumne, welche die k-Werte enthalt, ersieht, zeigen die Werte
yon k mit Ausnabme der ersten zwar grosse, aber unregelmassige
Schwankungen um den Mittelwert. Viel besser stimmt eine bei 8-2*
beobachtete Reihe:
9.93
6-0
4-8
36
2-5
2-0
16
14
0-8
iVnl Ajrvn In
BelatlTe
Dissociation
Absolute
Dissodation
1 x«
•
i^«uckk wau
▼ l-x
0-62
3-8
0-00178
5-1
103
4-4
0-00206
41
1-28
4.5
000211
3.5
171
5.7
0*00267
4*2
247
65
0-00304
3.7
3-1
7-0
0-00328
8-5
3.9
8-06
000377
36
4.4
8-7
0-00407
3*8
7.7
11-2
0*00524
3*6
xlO*
Ghemische Qleicbgewichte sweiter Ordnang. 601
Es hat im Hinblick auf S. 598 einiges Interesse, die hier gefun-
denen Zahlen mit denen zn vergleicheii, welcbe das Stickstoffhyperoxyd
im leeren Raumo giebt. Dazu dient uns die Angabe von S. 320, dass
bei 0® das Gas yon der Dichte 2-90 unter einem Drncke von 25-066 cm
ZQ 0-102 dissociiert ist Daraus folgt, dass ein Mol des Gases, welches
bei 0® und 76 cm im unzersetzten Zustande das Volum yon 22*3 Liter
■ 1. .. :. .!_... 1.1. 1. :, tr 1 22.3x76x1102 nAnx'.
einnehmen wurde, thatsachhch das Volum ^^ ^^^ =74.7 Liter
2o.0oD
hat. Berechnet man hieraus die Konstante k = - „ • f^Q^J = 2-09
74*i u.oyo
>^10""*, so findet man sie etwa 400 mal grosser, als die fur Chloro-
formlosung giiltige von 0-5x10-^. Die Dissociation ist somit in der
Losung sehr viel geringer, als im leeren Raume, und um den gleichen
Diasociationsgrad hervorzubringen, muss das 400fache Volum von Chloro-
form genommen vrerden.
Cber den Einfluss der Temperatur auf den Betrag der Dissociation
wnrden gleichfalls Versuche angestellt. Aus der mittleren Reihe mit
3 Volumprozent, also dem Molekularvolum v = 206 Liter, ergab sich:
Temperatur
V
Const. X 10*
0 «
000162
112
51
000226
25
10.9
000318
4.9
160
0.00376
6-8
200
000533
10.4
250
000725
256
Die Zahlen verlaufen nicht sehr regelmassig, doch zeigeu sie, dass
die Konstante exponentiell mit steigender Temperatur zunimmt, indem
fiir je 5* etwa der doppelte Wert erreicht wird.
In einer zweiten Mitteilung ^) hat Cundall seine Versuche mit ver-
schiedenen Losungsmitteln wiederholt und bedeutende Abweichungen
bei gleicher Konzentration gefunden. Die Ergebnisse der bei verschie-
denen Temperaturen angestellten Messungen hat er nur in Gestalt der
relativen Dissociationsgrade gegeben, indem wie frilher die Farbung von
Iccm Hyperozyd bei 0^ als Einheit benutzt wurde. Nachstehend babe
ich aus seinen Zahlen die Gleichgewichtskonstanten berechnet'). Die
erste Tabelle enthalt die beobachteten Dissociationen, die zweite die
daraus berechneten Eonstanten und deren Verhaltnis.
') Joam. Chem. Soc. 1895, 794.
*) Bei der Angabe des Yolums ist auf die W&rmeausdehnung der LOsungs-
mittel keine RQcksicht genommen worden. Dies schien erlaubt, da die Konstanten
Unsicherheiten von mehreren Prozenten enthalten.
602
II. Chemische Dynamik.
Dissociation bei
L<)sung8inittel
Volum
10 •
20«
30 «
Chloroform
3-36
000360
000680
00124
Metbylenchlorid
339
0-00290
000562
0-0106
Tetrachlormethan
3-48
000463
000819
0-0143
Athylenchlorid
345
000197
0-00407
00702
Atbylidenchlorid
313
000323
000600
0-0109
Benzol
3-33
000215
000431
0-00796
Chlorbenzol
3-40
0.00304
000562
0-00992
Brombenzol
3-22
000314
0-00547
0-00936
Bromoform
3.39
0.00234
000515
0-00983
Brom&thyl
293
000328
0-00632
00114
Atbylenbromid
334
0-00365
0-00585
0-00950
Siliciamcblorid
334
000705
00122
00243
Scbwefelkohlenstoff
3.20
000570
0-0105
00179
Essigs&ure
325
0-00107
0-00215
0-00398
Konstante x 10^ ffir
Verb<nis
10*»
20 *»
30 «
1^20 • *10
l^ao • I'to
Chloroform
39
12-9
46
3-3
5-5
Metbylenchlorid
2-5
93
33
37
35
Tetrachlormethan
6-3
198
61
30
31
Athylenchlorid
113
4-5
140
40
3-1
Atbylidenchlorid
33
115
38
3-5
3-4
Benzol
139
5-6
190
4-0
3-4
Chlorbenzol
2-7
93
29
35
3-1
Brombenzol
31
9-3
27
30
2-9
Bromoform
1-61
7-8
28
4-9
36
Brom&thyl
37
13-6
44
37
33
Atbylenbromid
50
10-2
27
21
2-6
Siliciumchlorid
14-8
44
172
3-0
40
Scbwefelkohlenstoff
102
34
102
3-3
3-0
£8sig8&Qre
35
142
49
40
3-4
Wie man sieht, schwanken je nach der Natur des Losungsmittels
die Konstanten in Grenzen wie 1 : 7. Die „di8sociierende Kraft" der
yerschiedenen Losungsmittel ist, wie Cundall (a. a. 0.) sagt» in erster
Annaherung eine additive Eigenschaft der Bestandteile, doch lehren z. B.
die Unterschiede zwischen Athylen- und Atbylidenchlorid, dass kousti-
tutive Einfliisse von ziemlich hohem Betrago vorhanden sind.
Der Einfluss der Temperatar erweist sich als ziemlich, aber doch
nicht ganz iibereinstimmend. Fiir 10^ Temperaturerhohung nekmen die
meisten Konstanten auf etwas mehr als das Dreifache zu, doch inner-
halb weiter Grenzen, deren ausserste Werte 2«1 (Athylenbromid) uud
4-9 (Bromoform) sind.
Chemische Gleicbgewichte zweiter Ordnang. 603
Berechnet man den Einfluss der Temperatur auf die Dissociation
des gasformigen Hyperoxyds, so ergiebt sich nach den Versuchen von
Natanson fiir den Druck von 4946 cm bei 2P eine Dissociation von
0-192, woraus die Konstante zu l«03xlO-^ folgt. Da sie oben fiir 0®
za 0-209 xlO~^ berechnet wurde, so ist das Verhaltnis zwischen beiden
Temperaturen nind 1 : 5. Diese Zahl ist etwas kleiner als bei den
meisten Losungsmitteln , wo das Verhaltnis zwischen 54 und 174 fiir
den Zwischenraum 10^ bis 30^ schwankt. Daraus geht, gemass der
mehrfach benutzten Formel, hervor, dass die Dissociations warme des
Hyperozyds in den Losungen im allgemeinen grosser ist als in Gas-
gestalt, doch bildet die letztere einen Grenzwert, der yon einigen Fliis-
sigkeiten nahezu erreicht wird.
78. Beziehiing zwisohen den Koeffllzienten der L5sliohkeit und
des Gleichgewichtfi. Angesichts der vorstehenden Beobachtungen kann
man sich folgendc Frage stellen. In der Gasphase, welche sich mit einer
flossigen Losnng yon Stickstoffhyperoxyd im Gleichgewicht befindet, muss
znfolge des Daltonschen Gesetzes der Nichtbeeinflussung der Bestand-
teile eines Gasgemenges trotz der Anwesenheit yon Dampfen des Lo-
SQugsmittels dasselbe Gleichgewicht mit derselben Konstanten herrschen,
wie in reinem Stickstoffhyperoxyd von gleichem Druck und gleicher
Temperatur. Es muss demnach zwischen den Loslichkeitskoeffizienten
der beiden Formen des Stickstoffhyperoxyds, der Gleichgewichtskonstante
im Gase und der in der Losung eine eindeutige Beziehung bestehen,
der zufolge, wenn drei dieser Grossen gegeben sind, die yierte sich
aus ihnen berechnen lasst.
Man kann sich diesen Schluss auch folgendermassen entwickeln.
Es sei in der Losung Gleichgewicht zwischen den beiden Formen vor-
handen. Von der Losung werden in einen dariiber befindlichen Raum
von beiden Formen solche Mengen abdunsten, als den Konzentrationen
und den Loslichkeitskoeffizenten entsprechen. Diese Mengen miissen im
Gasraume aber im Gleicbgewichte sein, denn wareu sie es nicht, so
konnte man aus dem Gebilde ein Automobile zweiter Art herstellen.
Seien also q und c^ die Konzentrationen des einfacheu und des
doppelten Hyperoxyds im Gaszustande, C^ und C^ dieselben in der Lo-
snng, so sind die beiden Loslichkeiten durch ^^ =Ci|C| und j5a = C, /c,
definiert. Anderseits gilt yermoge des Massenwirkungsgesetzes cj = kc2
and C* = KC2, wo k die Gleichgewichtskonstante im Gase und K die
in der Losung ist. Aus beiden Gleichungspaaren folgt:
604 II- Gbemische Dynamik.
eine Formel, die sich leicht auf Gleichgewichte beliebig vieler Stoffe
erweitem lasst
Wenn somit das Hyperoxyd in der Losung z. B. weniger dissociiert
ist, als in dem iiber der Losung befindlichen Dampfe, so kann man
dies, wenn man will, auf die Ursache zuriickfuhren, dass das doppelte
Hyperoxyd im Losungsmittel eine grossere Loslichkeit besitzt, als das
einfache. Umgekehrt kann man auch mit demselben Recht sagen, dass
die yerbaltnismassig grossere Loslichkeit des doppelten Hyperoxyds daher
riibrt, dass sich in der Losung das einfache yorwiegend in das doppelte
verwandelt. Beide Ausdriicke besagen dasselbe, und man ist nicht be-
rechtigt, eine von den gegenseitig abhangigen Grossen, die Loslichkeit
oder den Gleichgewichtskoeffizienten, fur die primare, die andere fiir
die sekundare zu balten.
Derartige Betrachtungen sind in allgemeiner Form zuerst von
P. Aulich 1887 angestellt, jedoch nicht veroffentlicht worden. Spater
hat W. Nernst unabhangig dieselben Schlusse entwickelt, und seine £r-
gebnisse^) sind gleichzeitig mit denen Aulichs zur Mitteilung gelangt.
Einfachere Falle dieser Betrachtung sind schon friiher (S. 352)
Yorgekommen. AUe solche Beziehungen ergeben sich als unmittelbare
Folgen der iiberaus braucbbaren Form des zweiten Hauptsatzes: Was
auf eine Art im Gleichgewicht ist, ist auf alle Art im Gleicb-
gewicht
79. Tautomere Umwandlung in Iidaung. Ein einfacheres, aber
experimentell noch nicht hinreichend studiertes Beispiel bietet die
^tautomere** Umwandlung der Keto- oder Aldoverbindungen in die entr
sprechenden Enolformen (S. 337). Im Gegensatz zu den Erscheinungen
beim Stickstoffhyperoxyd erfolgt hier keine Anderung der Molekular-
grosse, und demgemass ist kein Einfluss des Volums, bez. der Verdun-
uuug zu erwarten, da eine Anderung derselben die wirksame Menge
beider Bestandteile in gleichem Masse trifft Wir miissen demnach
schliessen, dass das Gleichgewichtsverhaltnis beider Formen in einem
gegebenen Losungsmittel nur von dessen Natur und der Temperaiur
abhangig sein kann, nicht aber von der Verdiinnung.
Von W. Wislicenus ist (a. a. 0.) allerdings beziiglich der Formyl-
phenylessigester angegeben worden, dass die alkoholische Losung in
konzentrierter Form relativ sehr viel mehr von der Eetoverbindung
enthalt, als im verdiinnten Zustande. Doch ist dies wohl nur ein schein-
barer Widerspruch, da sich die Angabe auf hochst konzentrierte Lo-
^) Zeitschr. f. phys. Ohemie 8, 105 u. 187. 1891.
Chemischo Gleicbgewichte zweiter Ordnang. 605
soQgen beziebty aus wolcben sich der Stoff bereits abscbeidet, wahrend
die theoretische Forderung nur aaf yerdiinnte bis massig konzentrierte
Losungcn Anwendang findet. Docb wird es immerbin von Interesse sein,
die Grenzen kennen zu lernen, innerbalb deren jene einfacbe BeziehuDg
besteht.
Der grosse £iDfluss, den die Natur des Losungsmittels auf das
Gleicbgewicht zeigt, tritt in der S. 338 mitgeteilten Tabelle sebr auf-
fillig hervor. Ancb bier ist die S. 603 erwa&nte Beziebung za den
lioslicbkeitskoeffizienten giiltig, und es ist insbesondere zu erwarten,
dass, wenn aucb in den mit verscbiedenen Losungsmitteln bergestellten
Losnngen das Verhaltnis beider Formen sebr yerscbieden ist, in den
Dampfen dieser Losungen beide Formen in demselben (bez. bei yer-
schiedenen Temperaturen in sebr wenig^) yerschiedenen) Verbaltnissen
Torhanden sein miisseu. Eine experimentelle Priifung dieses Schlusses
^re yon Interesse.
80. ChemiBohe Weohselwirkong awisohen beiden Bestandteilen.
Neben dem eben betracbteten einfacberen Falle, dass nur einer der
beiden Bestandteile der Losung eine cbemiscbe Anderung erleidet, konnen
wir alsbald den yerwickelteren in Betracbt zieben, dass beide Bestand-
teile cbemiscb aufeinander ^inwirken.
Die Untersucbung der Frage gebort der alteren Gescbicbte der
Verwandtschaftslebre an, denn es ist bereits mitgeteilt worden, dass die
Untersucbungen yon Bertbelot und Pean de St. Gilles *) liber die Bildung
▼on Ester und Wasser aus Alkobol und Saure sicb auf einen solcben
Fall bezieben. Aucb bat dieser Fall bei der Entwicklung der Theorie
der Massenwirkung durcb Guldberg und Waage als das erste Beispiel
gedient, an welcbem die Giiltigkeit der Tbeorie erprobt wurde.
Guldberg und Waage fanden zwiscben jenen Beobacbtungen und
iliren Recbnungen keine so gute t)bereinstimmung, als sie zu erwarten
sich berecbtigt glaubten. Sie fubrten desbalb die Idee der Neben -
wirkungen ein, denen sie einen wesentlichen Einfluss auf die quanti-
tatiye Gestaltung des Gleicbgewicbts zuscbrieben. Dadurcb konnten sie,
allerdings auf Eosten der Einfacbbeit, einen sebr guten Anschluss
zwiscben Beobacbtung und Recbnung erzielen.
Viel spater als diese Forscher, docb sicber unabbangig yon ibnen,
hat dann yan'tHoff') die gleicbe Aufgabe in gleicbem Sinne aufgegriffen,
*) Wegen der geringen Umwandlungsw&rme ist die Verschiebung des Gleicb-
gewicbts mit der Temperatur gleicbfalls nar als geringfOgig anzunebmen.
*> Ann. Cbim. Pbys. (3) 65, 385. 1862 u. ff.
») Ber. 10, 669. 1877.
Ofttwald, Chemie. 11,2. 2.Aufl. 89
606
II. GhemUche Dynamik.
aber sie dem einfachen Massenwirkungsgesetze gemass durchgefuhrt.
Ein wesentlicher Fortschritt in der prinzipiellen AuffassoDg lag dariD,
dass er die von den alteren Forschern eingefiihrte „chemi8che Kraft^S
welche dem Produkte der wirksamen Mengen proportional gesetzt wurde,
aufgab. Er setzte vielmebr (wie aucb Goldberg und Waage in einem
anderen Teile ihrer Arbeit gethan batten) die Gescbwindigkeit der
Reaktion dem Produkte der wirksamen Mengen proportional, und fasste
das Gleicbgewicbt dynamisch als den Zustand auf, in welchem die 6e-
schwindigkeiten der entgegengesetzten fieaktionen einander gleich ge-
worden sind.
Ist daher 1 die urspriinglicbe Menge Saure in der Volumeinheit,
k die des Alkohols, u die des Esters und q die des Wassers, so gilt
fiir den Gleicbgewicbtszustand :
Ci(l— ii)(k — u) = Cju(q + u).
Fiir das Verbaltnis — ^ wurde der Wert 4 gefunden, und damit
ergaben sicb die folgenden Tabellen. Znnacbst fanden sicb fur den
Fall q = 0 folgende Werte von u:
k
I
n
m
IV
V
Bechn.
VI
VII
Vlll
IX
X
0.05
0-05
0-049
0-08
0-078
0078
048
(
0-171
0171
0-2
)
0-189
0-193
028
0-226
0-232
0-33
1
0-293
0-311
0-45
0389
0-39
05
0414
0-423
0-429
0-67
0-519
0-528
0-548
1
0-6
0-682
0-676
0-672
0-665
0-667
0-665
0-665
0-675
0-648 j 0-667
15
0792
0-838
0-818
0-785
0-779
0-759
1
2
087
086
0-872 ! 0-858
0-845
0-828
0-831
0-84
0-869
2-24
i 0-876
0-8«)4
2-8
0-892
!
0895
0-856
3
0-9
0.902
0-882
0-87
0-874
0-894
4
0929
0-902
0-893
8
: 0966
0-945
84
■
0-949
092
1
12
1
0978
0-932
19
1
0986
0-95
1
500
I
1
1
1
Zweitens wurde der Fall berecbnet, wo aquivalente Mengen Sauie
und Alkohol mit wecbselnden Mengen Ester oder Wasser soaammen-
gebracbt wurden. Die Grosse u ergab sicb:
Chemische Gleicbgewichte zweiter Ordnuog.
607
^ 1
^ ,
Bechnnng
II
III
0
0665
0-667
0-665
•
0-665
0-05
0639
0-658
0.13
0.626
0646
0-43
0-589
0-604
0.5
0-596
0.614
0.55
0-59
0.614
0-65
0563
0-557
1
0-542
0559
0-547
15
0-5
0-486
1.6
0521
0-492
2
0465
0-452
0-458
3 .
0.41
0407
4
0-368
0341
6-5
0-288
0.284
115
0-212
0.198
23
0-13
0116
49
007
008
Schliesslich hat van't Hoff auch die iibrigen von den Genaiinteii
beobachteten Beispiele berechnety und einen ahnlichen, nicht sehr yoU-
kommenen Anschluss zwischen Versnch und Rechnung gefunden.
Die Ursache wird, abgesehen von den gewohnlichen Versuchs-
fehlem^ wohl wesentlich darin liegen, dass bei den hier yorhandenen
eDdlichen Eonzentrationen die Gleichsetzung der raumlichen Konzen-
tnitioQ mit der wirksamen Menge nicht ganz zulassig ist. Wissen wir
doeh, dass sowohl die Alkohole, wie auch die Sauren in nicht- wasserigen
liOsangen Neigung znr Bildnng mehrfacher Molekeln neigen (I, 752);
noch mehr gilt dies for das Wasser. Somit kann man die im grossen
ond ganzen nnzweifelbaft vorhandene Obereinstimmung zwischen Beob-
achtuDg und Rechnung allerdiugs als einen Nachweis ansehen, dass die
benotzten Prinzipien im wesentlichen richtig sind, nicht aber als eine
sehr weitgehende zahlenmassige Bewahrung derselben.
81. Spatere Untersaohongen. Das Problem der chemischen Vor-
gaoge zwischen den Bestandteilen binarer Gemenge wurde dann im
lichte der inzwischen gewonnenen Fortschritte von W. Nemst^) anfge-
Bommefi, and gemeinsam mit Hohmann experimentell bearbeitet. Die
eben erwahnte Schwierigkeit beziiglich der wirksamen Menge der be-
teiligten Stoffe wurde dadurch ausgeschlossen, dass die Versuche mit
ziemlich grossem t)berschusse des einen Bestandteils, also in verdiinnter
Losiing des anderen, vorgenommen warden. Dadurch ergab sich fiir
diesen die wirksame Menge proportional der Konzentration. Fiir den
<) Ztschr. f. phys. Ghem. 11, 345 und 352. 1893.
39'
608 II* Chemische Dynamik.
anderen, in grosser Menge vorhandeDen Bestandteil koDnte die wirksame
Menge konstant angenommen werden^).
Genauer und wenig verwickelter ist der Ansatz, dass die wirksame
Menge des Losungsmittels in der Losung sich zu der im reinen Za-
stande verhalt, wie der Molenbruch zu Eins, oder, wie dasselbe sagt,
wie der Dampfdruck der Losung zu dem des reinen Losungsmittels.
Die Priifung der Tbeorie nahmen Nernst und Hohmann an einem
Falle Yor, der schon von Konowalow') untersucht, jedoch nicht ganz
ricbtig formuliert wordeu war. Es bandelt sich um die Einwirkung
Yon starken organiscben Sauren auf Amylen. Dabei«erfolgt eine einfache
Addition, und es bildet sich der entsprechende Ester des sekundaren
Amylalkobols. Der Vorgang verlauft nur teilweise, indem umgekehrt
der Ester beim Erbitzeu sich teilweise in Amylen und Saure spaltet
Ist a die Zabl der Mole Amylen auf 1 Mol Saure, und x die entspre-
chende Zabl fiir den Ester nach der Herstellung des Gleichgewicbts,
so gilt fiir die Reaktion
Amylen -j- Saure = Ester
die Gleichung:
(a-x)(l-x)_
Fv -^'
wo V das Volum und E die Gleicbgewicbtskonstante ist'). Eine Be-
rechnung der Versuche Konowalows mit Dicbloressigsaare ergab eine
ziemlich befriedigende Ubereinstimmung, die jedenfalls besser ausfiel,
als mit den von Konowalow selbst berechneten Werten.
*) Nernst macbt be! dieser Gelegenheit eine Bemerkong, die iwar eine an-
mittelbare Folge aos der Definition der wirkaamen Menge ist, und deren sinnge-
m&sse Anwendnng scbon frUber gelegentlicb stattgefunden batte; docb ist der ans-
drflcklicbe Aussprucb immerbin nOtig gewesen. Sie gebt dahin, dass es nicbt
mOglicb ist, durcb Yermebrung des einen Bestandteil es dessen wirksame Menge
onbegrenzt zu steigern, sondem dass diese eine bestimmte endlicbe Greuze hat,
die in der wirksamen Menge des reinen Stoffes liegt. Wenn also z. B. zwiscbea
Wasser und einem aufgelOsten Stoffe sicb ein Gleichgewicht derart hersteUt, dass
ein Brncbteil des letzteren ein Hydrat bildet, so kann die relatiye Menge dieses
Hydrats durcb VerdOnnung der L6sung nicbt unbegrenzt gesteigert werdan, son-
dem das Yerh<nis des bydratisierten und des nicbthydratisierten Teilea itrebt
einer bestimmten Grenze zu, die bei relativ geringen tl^berscbUssen dea Lteongs-
mittels bereits fast vollst&ndig erreicbt ist. Damit entfallen die YorsteUangen der
Yertreter der „Hydrattheorie^S dass mit steigender YerdAnnung eine statgende
Tendenz znr Bildung Yon Hydraten bis ins Uubegrenzte anzunehmen iat.
■) Ztscbr. f. pbys. Chemie 1, 63. 1887 und 2, 380. 1888.
') Der von Konowalow gemacbte Febler bestand in der Weglassusg dei
Wertes Y aus der Gleicbgewicbtsgleicbung.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung.
609
Eigene Versuche mit Dichloressigsaore ergaben folgende Tabelle:
a
V
X gef.
K
X ber.
105
215
0455
0-00331
0450
130
245
0.480
000364
0491
261
40L
0615
0-00312
0595
327
479
0.580
000407
0.618
445
640
0-628
000354
0.640
5.70
769
0629
0-00^89
0658
591
794
0658
000344
0-660
7-30
959
0.650
0-00373
0-670
8.03
1046
0-682
0.00328
0678
8-16
1062
0-669
000349
0674
1133
1439
0-688
0-00335
0.684
13.80
1734
0.700
0-00324
0689
15.36
1829
0703
1 0.00339
0697
Man bemerkt insbesondere die sehr geringe Veranderlichkeit Yonx
mit steigender AmylenmeDge; zwischen a = 6 und a=15 andert sichx
nur von 0-658 bis 0-703.
Aach entsprechende Versuche mit Tricbloressigsaure ergaben eine
ahnliche gute Cbereinstimmung.
a
V
X gef.
K
X ber.
182
322
0700
000149
0749
215
361
0762
0.00120
0-762
412
595
0814
000127
0-821
4-48
638
0-820
000126
0-826
6-63
894
0-838
000125
0-844
6-80
915
0-839
0-00125
0-845
713
954
0.855
0-00112
0-846
767
1018
0-855
000113
0-848
9.12
1190
0-857
000116
0852
951
1237
0.8H3
000111
0-853
1418
1787
0-873
0-00107
0-861
Als indessen die Menge des Amylens noch weiter vermehrt wurde,
blieb die Reaktion nicht, wie zu erwarten war, bei etwa x = 0*88 stehen,
sondern ging weiter, bis alle freie Saure verschwunden war. So wurden
die Dacbstehenden Werte beobachtet.
a
V
X gef.
K
X ber.
1359
1709
0.875
000106
0-861
2305
2835
0-885
000102
0-862
2415
2966
0-886
000101
0-862
31-10
3813
0-923
000110
0-863
52-57
6348
0-963
000031
0-868
9562
11479
1000
0-873
610 n. Ohemische Dynamik.
Hier liegt also ein entschiedener Widerspruch mit der Theorie Yor.
Da sich in den Versuchsrobrcn Krystallabscheiduugen zeigten, so durfte
angenommen werden, dass das Verschwindeu der freien Saure durch
eine Nebenreaktion venirsacht worden ist. Das Vorhandensoin storen-
der Verunreinigungen wurde aucb dadurcb wahrscheinlich gemacht, dass
die Siedepunktserhobungen des Amylens durcb aufgeloste Tricbloressig-
saure zu klein und dabei unregelmassig ausfiel, docb gelang es nicbt,
durcb Vorbebandeln des zu verwendenden Amylens mit derselben Saure
und Abdestillieren des unverbundenen Anteils diesen von der ver-
muteten Verunreinigung zu befreien.
Mit Trichlorbuttersaure wurden ahnlicbe, zunacbst sebr gut stim-
mende Ergebnisse erbalten, docb zeigte sicb aucb bier dieselbe Abwei-
cbung von der Tbeorie bei grossem Amyleniiberscbuss. Bei a=:43-3
wurde x = 0-956 statt 0-72 beobacbtet. Tricblormilcbsaure gab weniger
gute Zablen. Mit Benzoe- und Salicylsaure wurde die Reaktions-
gescbwindigkeit so klein, dass keine sicberen Beobacbtungen mebr mog-
licb waren, indem sekundare Zersetzungen sicb iiber den Hauptvorgang
lagerten.
Der Einfluss der Temperatur zeigte sicb in der Ricbtung, dass mit
deren Ansteigen die Zersetzung des Esters zunabm. Es entspricbt dies
der Warmeentwicklung beim Additionsvorgange, welcbe im Falle der
Halogenwasserstofifsauren betracbtlicb ist (II, 388) und wabrscbeinlich
aucb mit den genannten Sauren nocb bedeutende Werte aufweisen wird.
Aus der Verscbiebung des Glcicbgewicbts mit der Temperatur berecbncD
die Verfasser 69 K fur die Tri- und 55 K fiir die Dicbloressigsaure;
fur Bromwasserstoff bat Berthelot 153 K gefunden; scbatzt man dessen
Verfliissigungswarme auf 78 K, so wiirden 83 K fiir die Verbindung im
iliissigen Zustande nacbbleiben.
Die Untersucbung, ob die reagirenden Stoflfe unter den vorhandenen
Umstanden samtlicb normale Molekulargrosse aufwiesen, ergab, dass
dies beim Amylen und dem Ester sicber der Fall ist; aucb die Sauren,
welcbe in anderen Koblenwasserstoffen moist als Doppelmolekeln auf-
treten, erwiesen sicb als vorwiegend monomolekular. Dies wurde, da
Siedeversucbe kein geniigendes Resultat ergeben batten, folgender-
massen ermittelt.
Konzentrierte wasserige Losungen von Tricbloressigsaure wurden
mit Benzol einerseits, mit Amylen andererseits ausgescbiittelt, bis sicb
Gleicbgewicbt hergestellt batte. Hat nun die Saure in beiden Koblen-
wasserstoffen die gleicbe Molekulargrosse, so miissen aucb die Konzen-
trationen, die sicb in jenen mit den gleicben wasserigen Losungen
Chemische Oleicfagewichte zweiter Ordnung. 611
einstellen, einander proportional sein. Thatsachlicb warde gefunden,
dass die Konzentrationen in der Benzollosung sicb verhielten, wie die
Quadrate der Konzentrationen im Amylen. Da andererseits durch Ge-
frierpunktserniedrignngen festgestellt werden konnte, dass die Saure in
Benzol bimoleknlar ist, so folgt nach einer Schlussweise, ahnlicb der
S. 595 angewendeten, dass die Saure im Amylen monomolekular sein muss.
Ein weiterer interessanter Teil dieser Arbeit, welcber sicb auf den
Verlauf desselben Vorganges in anderen Losuugsmitteln beziebt, kann
erst an spaterer Stelle mitgeteilt werden.
Die Gleicbgewicbtskonstanten mit verscbiedenen Sauren ergaben
sich in derselben Reibenfolge stebend, wie dereu Dissociationskonstanten
in wasseriger Losung. Obwobl eiue solcbe Beziebung nicbt notwendig
ist (und aucb in anderen Fallen sicber nicbt stattfindet), so ist docb
ihr Eintreffen in dem vorliegenden Falle zu bemerken.
Scbliesslicb wird die Frage erortert, welcbes der Einfluss einer
paraUelen Bildung isomerer Ester sein wiirde. Es ergiebt sicb, dass
ebensowenigy wie der Gbarakter der Gescbwindigkeitsgleicbung (S. 249)
dureb eine Nebenreaktion gleicber Ordnung beeinflusst wird, dies fur
die Gleicbgewicbtsgleicbung der Fall ist. Seien x^ und x^ die Mengen
der isomercn Ester, welcbe beim Gleicbgewicbt vorbanden sind, so
gelten die Glcicbungen:
(l-(x^+^»))(a-(xi +x,))
una '
(1 - (X, + x,))(a - (X, + X.)) _
- ^^Y — K,.
Fnhrt man die Beziebung Xj-|-Xs=x ein, so ergiebt sicb aus
beideu alsbald die Gleicbung:
(l-~x)(a-x)_ K,K, _
xV * ~Ki+K,~ '
welche in der Form mit der einfacben iibereinstimmt.
82. ilftBsige Gemlsche mittlerer Konzentratioii. Uber die Ge-
setze der Losungen baben wir gute Kenntnis, so lange diese verdunnt
sind; und zwar beziebt sicb diese Kenntnis sowobl auf den in geringer
MeDge Yorbandenen oder gelosten Stoff, wie auf den in iiberwiegender
Menge vorbandenen, das Losungsmittel.
Es seien zwei FlUssigkeiten gegeben, die wir mit 1 und 2 be-
zeichnen, and welcbe in alien Verbaltnissen miteinander bomogene Ld-
rangen bilden konnen. Dann werden wir die Eigenscbaften der beiden
= K.
612 n. Chemische DynAinik.
Fliissigkeitsanteile, die uns hier bcschaftigen, als bekannt annehmen,
wenn wir die Teildrucke pi und p, der beiderseitigen Dampfe als
Funktionen der Zasammensetzung der Fliissigkeit kennen. Um diese
ZusammeDsetzuDg darzustellen, fiibren wir den ^Molenbruch'* x ein,
der definiert ist durch die GleichuDg
X =
N. + N,
Hieriu ist N^ nnd N, die Zahl der Mole jedes der beiden Beetandteile,
au6 denen die Losung bestebt. Diese Teildrucke sind durch folgende
Formeln gegeben.
Wenn sehr wenig yon der ersten Fliissigkeit im Gemenge yorban-
den ist, so ist deren Teildruck p^ proportional dem Molenbmcb x
und ausserdem yon einer Konstanten jr abbangig, welcbe umgekebrt
proportional der Loslicbkeit im Sinne des Henryscben Gesetzes (S.554)
und im iibrigen yon den gewahlten Einbeiten abbangig ist. Wir babea
demgemass pj=jrx.
Ist andererseits sebr yiel yon der ersten Fliissigkeit im Gemenge
entbalten, so ist ibr Teildruck durcb das Raoultscbe Gesetz (I, 719)
gegeben, und bat, wenn P^ der Dampfdruck der reinen ersten Fliissig-
keit ist, den Wert p^ = Pj x.
Beide Gleicbungen sind insofern wesentlicb yerscbieden, als die
Konstante n der ersten yon der Natur des gelosten Sto£fe8 ebenso wie
yon der des Losungsmittels abbangig ist, da beide den Wert der „Lds-
licbkeit'* bestimmen. Die Konstante P| des zweiten Gesetzes ist da-
gegen nor eine Eigenscbaft der ersten Fliissigkeit, und yon der Natur
der zweiten unabbangig, wenn man die Konzentration wie gescbehen in
Molen ausdriickt.
Beide Gesetze werden identiscb, wenn ^^ = Pj ist In diesem
Falle erscbeint es als moglicb, dass dasselbe Gesetz iiber alle Konzen-
trationen, also yon x = 0 bis x = l berrscht, und es ist yon Wert,
die Bedingung dieses einfacbsten Falles, jr^ =P^, genauer zu betracbten.
Die Konstante n^ des ersten Gesetzes p^ = jr^ x ergiebt sich folgender^
massen. Das Henrysche Gesetz lautet, wenn Cf die Konzentration (Gramm
im Kubikcentimeter) des ersten Stoffes in der Losung, Cg die im Dampfe
bezeicbnet, Cf=/9cg. Nun ist fur eine yerdiinnte Losung yom Mole-
kulargebalt x die Konzentration Cf= - , wo m das Molekularge*
wicbt des gelosten Stofifes und 9) das Molekularyolum des Losungs-
mittels ist, denn m x ist das Gewicbt in Grammen, das in (f com Losung
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnang.
613
enthalten ist. Fiir den Dampf ist die KoDzentration Cg = "p^, denn
ein Mol oder m Gramm davon sind in dem Volum v enthalten, das
sich aus der Gasgleicbung py = RT ergiebt. Warden diese Grossen
in das Henrysche Gesetz eingefiihrt, so ergiebt sicb der Ausdruck:
RT
und beide Gesetze werden ubereinstimmend wenn
vird.
Oder jj =
RT
Die Deutung dieser Bedingung ergiebt sich, wenn man RT = Pj4^
setzt, wo P| der Dampfdruck des reinen Sto£fes bei der gewahlten
Temperatur nnd $ das zugehorige Dampfvolum, d. h. das Molekular-
Tolum des Dampfes ist Dann wird /9 = — , d. h. der Loslichkeits-
koeffizient muss gleich dem Volum des gesattigten Dampfes sein, der
sich aus einem com Fliissigkeit bildet, oder auch gleich dem Verhalt-
nis der Konzentrationen der reinen Fliissigkeit im dampfformigen und
fliissigen Zustande.
Im iibrigen besagt die Bedingung :n:j ==P|, dass der Teildruck der
ersten Fliissigkeit in alien Miscbungen ein solcher Brucbteil des Dampf-
druckes der reinen Fliissigkeit ist,
wie das Verhaltnis ibrer Molenzahl
zur gesamten Molenzahl oder der
nMolenbmch'^ Halt man sich ferner
gegenwartig, dass der Dampfdruck
ein Mass fur die wirksame Menge
ist, so folgt, dass in diesem ein-
fachsten Falle auch die wirksame
Menge des gelosten Stoffes gleich
der des reinen, multipliziert mit dem
„Molenbruch*' x ist
Die geometrische Veranscbau-
lichung ergiebt sich, wenn man als ^^^' ^^'
Abscisse den Molenbrucb x, als Ordinate den Teildruck p^ ansetzt.
Wahrend der linke Teil der Dampfdruckkurve je nach der Natur der
Flussigkeiten verscbiedene Lagen oa, ob, oc (Fig. 71) haben kann, ist
das rechte Ende bei P^ notwendig so gerichtet|, dass es sich als eine
p.
o
614 n. Chemische Dynamik.
Gerade von der Richtung P^o darstellt. Der oben erwahnte einfachste
Fall tritt fiir oa ein, wenn es so liegt» dass die Verlangerung durch
Pi fiihrt.
Ganz dieselben Betrachtangen lassen sich auf den zweiten Bcstand-
teil des Gemenges anwenden. Trifft auch fiir diesen zu, dass der Teil-
druck des Dampfes dem Molenbruch proportional ist, so stellt sich die
dazu gehorige Kurve wieder als eine Gerade dar, deren Lage nur die
umgekehrte ist: sie beginnt bei x = 0 mit dem Werte fur den reinen
Stoff und nimmt proportional dem Molenbruch bis auf Null ab.
Der gesamte Dampfdruck ergiebt sich in diesem Falle gleichfalls
als eine Gerade, welchen zwischen den Werten der Dampfdrucke der
beiden unvermischten Fliissigkeiten verlauft.
In dem besonderen Falle, dass die Gerade der Abscissenaxe parallel
verlauft, tritt hierzu noch die Eigenschaft, dass der Dampf und die
Fliissigkeit die gleiche Zusammensetzung haben. Dazu ist noch erforder-
lich, wie sich aus der Darstellung unmittelbar ergiebt, dass die Siede-
punkte der beiden Bestandteile gleich sind. Dann ist der Dampfdruck,
unabhangig von der Zusammensetzung, immer gleich dem jedes der Be>
standteile.
Die hier auftretende Bedingung, dass die Kurvc des gesamten
Dampfdruckes der Abscissenaxe parallel geht, fiir die Gleichheit von
Dampf und Fliissigkeit, hat sich bereits friiher (S. 589) bei der Be-
trachtung verdiinnter Losungen, also fur den Anfangspunkt der Dampf-
druckkurve, ergeben. Sie hat allgemeine Bedeutung, und wir werden
sie spater in der Gestalt wiederfinden, dass sie auch Geltung hat, wenn
der Parallelismus mit der Abscissenaxe nur in einem Punkte vorhanden
ist, d. h. wenn die Kurve des gemeinsamen Dampfdruckes an irgend
einer Stelle eine der Abscissenaxe parallele Tangente hat.
In Formeln haben wir, wenn p^ und p, die Teildrucke der Flussig-
keiten sind, welche im Verhaltnis von x:l — x Molen gemischt sind,
Pi = P^ X und Pa = Pj (1 — x) ,
woraus:
p. Pa 1 — X
Nun ist Pj : p, das Verhaltnis der Mole beider Sto£fe ioi Dampf,
X : 1 — X das in der Fliissigkeit
Es stehen somit diese beiden Verbal tniszahlen in einem konstanten
Verhaltnisse, welches durch den Quotienten der Dampfdrucke der beiden
reinen Stoffe gegeben ist.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 615
83. VersuGhe. Die eben geschilderten einfachsten Voraussetzungen
warden von F. D. Brown ^) bei Gelegenheit einer Untersuchung iiber
gebrochene Destination gemacht, docb stimmen seine Messungen, wie
spater^) von R. A. Lehfeldt gezeigt wurde, nicbt mit der Annahme.
Dagegen warden eiuige derartige Falle durch Linebarger^) beobachtet.
Das Vcrfahren bestand darin, dass durch das Fliissigkeitsgemenge von
bekannter Zusammensetzung ein Strom getrockneter Luft von bekanntem
Volum geleitet wurde. Aus dem Gewichtsverluste ergab sich der ge-
samte Dampfdruck; die Zusammensetzung des Dampfes wurde durch
Analyse festgestellt. Zu diesem Zwecke wurden Gemenge mit Fliissig-
keiten benutzt, welche ein Halogen enthielten, und die Dampfe mittels
Dorchleiten iiber gluhenden Natronkalk zersetzt; aus der Wagung des
abgeschiedenen Halogens (in der Gestalt von Halogensilber) und der
Eenntnis des Gesamtgewichtes des durchgegangenen Dampfes konnte das
Gewicht jedes der beiden Bestandteile, und daraus ihr Druck in Dampf-
gestalt berechnet werden. Durch Versuche mit reinen Fltissigkeiten wurde
das Verfahren gepriift, und in solchen Fallen als hinreichend geuau er-
wiesen, wo der Dampfdruck bei der eingehaltenen Temperatur klein
(bis 10 cm) war; bei grosserem Drucke machten sich Abwerchungen
geltend, indem die berecbneten Drucke kleiner gefuuden wurden, als
die Yon anderen Beobachtern angegebenen unmittelbaren Messungen^).
Mit Gemischen von Benzol oder Toluol mit Monochlor- und Mono-
brombenzol wurde der einfachste Fall beobachtet. Die Dampfdruck-
liuie beider Bestandteile ergab sich als eine Gerade in Bezug auf den
Molekulargehalt, und ebenso die Linie des Gesamtdruckes als der nach
der Mischungsregel berechnete Proportionalwert zwischen den Dampf-
drucken der einzelnen Bestandteile.
Bezeichnet demgemass P| den Druck des Monochlorbenzols, p, den
des Benzols im Gemische, das aus xMolen des ersten und 1 — xMoIen
*) Journ. Chem. Soc. 36, 547. 1879.
«) Phil. Mag. (5) 40, 402. 1895.
*) Journ. of the Amer. Chem. Soc. 17. 1895.
*) Abweichungeii dieser Art kdnnen nicht, wie in der Abhandlnng er-
wihnt ist, den Abweichungen der D&mpfe von den Gasgesetzen zugescfarieben
▼erden. Denn diese liegen in solchem Sinne, dass das fortgefQhrte Gewicht wegen
der zu grossen ZusammendrQckbarkeit der D&mpfe zu gross, also auch der daraus
imter der Voraussetzung der Gasgesetze berechnete Druck zu gross ausfallen
mfisste, und nicht zu klein, wie ihn die Berechnung ergab. Yielmehr handelt es
sich im Falle flachtigerer FlUssigkeiten wahrscheinlich um UnTollst&ndigkeit der
Sittigung des Luftstromes, die um so eher eintreten konnte, je gr()sser der Dampf-
druck and somit die im Luftvolum enthaltene Dampfmenge war.
616 II- Chemische DyDamik.
des zweiten besteht^ und sind P^ und P^ die Dracke der reinen Stoffe,
so lassen sich gemass den Darlegungen S. 614 die Teildmcke au8 den
Molenzahlen nacb den Formeln:
Pi=PiX und p,=P,(l— x)
berechnen.
Die nachstehende Tabelle enthalt in der ersten Spalte die Werte
von z, wie sie sich aas der Wagung der Bestandteile der Mischong er-
geben baben, unter p^ beob. und p^ beob. die gefundenen Teildrucke.
Daneben sind die gemass den eben gegebenen Formeln berechneten
Teildrucke unter p^ bez. p, ber. angefiihrt Wie man sieht, sind Ab-
weichungen Yorhanden; diese verlaufen aber gesetzlos, und sind daher
wahrscheinlich auf Yersuchsfehler zuriickzufuhren, welche relati? um
so mehr ins Gewicbt fallen, je verscbiedener die Mengen beider Be-
standteile sind.
Dampfdrucke von Benzol und Chlorbenzol bei 84-8^
X
Pi beob.
pi ber.
Ps beob.
p^ber
0-0000
0-00
0-00
U-54
—
0-1518
0-17
0-31
12-46
12-40
02908
0-66
0-59
10-13
1022
0-6506
1-23
1-32
5-13
5-04
0-7921
191
160
279
300
1-0000
2-03
-_
0-00
0-00
Unter x = 0 und x :^ 1 stehen die Dampfdrucke der reinen Ver-
bindungen P^ und P|.
Ebenso verhalten sich Gemenge von Toluol mit Chlorbenzol, und
Benzol mit Brombenzol. Alle diese Fliissigkeiten baben auch die Eigen-
schaft, dass sie dem van der Waalsschen Theorem der iibereinstimmen-
den Zustande entsprechen. Auch ist die Mischungswarme dieser Fliissig-
keiten sehr klein; bei dem Versuche, sie zu bestimmen, hat Linebarger
(a. a. 0.) Werte gefunden, die sich kaum von den Versuchsfehlem
unterscheiden.
Wir konnen demnach mit einigem Rechte annehmen, dass in den
vorliegenden Fallen, und im allgemeinen in solchen Fallen, in denen die
Fliissigkeiten iibereinstimmende Zustande aufweisen, thatsachlich der ideale
Grenzfall nahezu eintritt, dass die wirksame Menge der gelosten Fliissig-
keiten gleich der im reinen Zustande, multipliziert mit dem Molenbmch ist
Fin weiterer Fall, in welchem die gleiche einfache Beziehung be*
steht, ist in neuester Zeit von Ch. Hartmann ^) bei Methylchlorid und
Kohlendioxyd beobachtet worden.
M Commun. fr. the Phys. Lab. Leiden Nr. 43. 1898.
Chemische Gleicbgewichte zweiter Ordnung.
617
Indessen lasst sich erwarten, dass es sich hier um Grenzfalle han-
delt, die nur angenahert, wohl nie aber in aller Genauigkeit dem ein-
&chen Gesetze gehorchen. £s ist demDach von Wichtigkeit, sich ein
Bild Yon dem allgemeinen Verhalten solcber Gemische zu macben, was
zunacbst in grossen Ziigen versucbt werden soil.
84. Angenftherte Theorie der Dampfdruoke gemlsohter Fl&ssig-
keiten bei alien Konaentrationen. Auf Grund anserer Kenntnis iiber
den Verlauf der Teildruckkurven binarer Gemiscbe am Anfang and am
Ende, d. b. bei tiberwiegender Menge des einen oder des anderen Be-
standteilS} lassen sich einige Scblusse uber den mutmasslicben Yerlauf
der Kuryen in dem Zwiscbengebiete zieben. Es wird zweckmassig sein,
sich auf diesem Wege einen tlberblick iiber die yorhandenen Moglich-
keiten zu schaffen, beyor wir auf die allgemeine Theorie der Gemiscbe
auf Grund der beiden Hauptsatze eingeben.
Wenn der friiher (S. 612) definierte Koeffizient 3i grosser ist, als
Pj, 80 muss die Kurye des ersten Be-
standteils wie a, Fig. 72, beginnen.
Da sie jedenfalls in der Richtung
PiPi auslaufen muss, so bat sie in-
zwischen mindestens einen Wendepunkt,
in welchem der zweite Differential-
q[QOtient sein Zeichen wecbselt, und der
anfimglicb nacb unten konkaye Lauf
der Linie sich in einen konyexen
yerwandelt
Das umgekehrte gilt flir den Fall,
dass ^<CPi ist; die Kurye b ist zuerst konyex, spater konkay nacb
unten. Auch sie muss mindestens einen Wendepunkt haben, und wir
nehmen yorlaufig an, dass nur ein solcber auftritt
Zwischen beiden Moglichkeiten liegt als ausgezeichneter Fall der
geradlinige Verlauf c der Teildruckkurye.
Fig. 72 giebt die drei Falle, die mit a, b und c bezeichnet sind,
wieder.
Fiir die zweite Fliissigkeit gelten ganz dieselben Moglichkeiten.
Die gemeinsame Dampfdruckkurye steUt sich als die Summe der
Teilkuryen dar. Hierbei sind die Falle aa, bb und ab moglich. Je
nach dem Betrage der Abweicbung yon der Geraden ergiebt jeder dieser
Falle noch mehrere Unterfalle.
Die Verbindung zweier Kuryen yom Typus aa ist in Fig. 73 (S. 618)
dargestellt. Sind die Abweichungen yon der Geraden gering, und sind die
Fig. 72.
618
II. Chemische Dynamik.
beiden Siedepunkte einigermassen verschieden, so entsteht eine nach
oben konvexe Kurye des Gesamtdruckes A. Je yerschiedener die Siede-
punkte sind, um so grosser diirfen die Abweichungen yon der Geraden
A
Fig. 73.
Fig. 74.
sein, nnd nmgekehrt, damit noch diese einfaebste Form obne Maximum
sicb bildet.
Sind nmgekehrt die Abweichungen von der Geraden gross, oder
die Siedepunkte nahe, so bildet sicb ein Maximum x aus, B. Wie sidi
aus der Zeichunng ersehen lasst, wird dies Maximum im allgemeinen
nacb der Seite der leicbter fliichtigen Fliissigkeit zu suchen sein.
Sind endlicb grosse Abweichungen you der Geraden and nahe-
li#gonde Siedepunkte gleichzeitig vorhanden, so kann sich ancb nodi
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung.
619
der zu unterst verzeichnete Fall C ausbilden, welcher durcb zwei Maxima
z, z and ein dazwischen liegendes Minimum 7 gekennzeichnet ist
Ganz entsprechende Verhaltnisse findet man bei der Verbindung
zweier Kurren vom b-Typus. Die zugehorigen Karven des Gesamt-
drackes, Fig. 74, sind entweder nach
Qiiten konvex obne Minimum, A, oder
koQYez mit eiuem Minimum nach der
Seite der weniger fluchtigen Flussig-
keit^ B, oder sie besitzen endlich zwei
Minima und oin dazwischen liegendes
Maximum, C.
Die Verbindung einer Kurve Yon
a-Typu8 mit einer vom b-Typus er-
giebt schliesslich entweder eine Ge-
samtkurvo mit einom Wendepunkte,
eine mit einem Minimum oder einem
Maximum, oder endlich eine mit bei-
den, Fig. 75. Das Maximum liegt not-
wendig auf der Seite der Fliissigkeit,
deren Kurve den b-Typus hat
Auf diese letzte Moglichkeit hat
bereits Nernst (Theor. Chemie, 1. Aufl.
1893, S. 99) hingewiesen. Doch sei
hier vorausgenommen, dass die aus
dem zweiten Hauptsatze abgeleitete
Theorie der binaren Losungen gerade
den Fall a, b nicht, bez. nur unter
Ausnahmebedingungen zulasst (s. w. u.).
85. Eigenschaften der versohie-
denen Qemisohe. Um das Verhalten
der Gemische; deren Typen eben ge-
geben worden sind, kennen zu lernen,
benutzen wir ein Prinzip, welches zu-
erst von Konowalow *) bei seinen ent-
sprechenden Untersuchungen aufgestellt
worden ist, und welches spater in sehr verschiedenen Formen aus all-
genaeiBen Oberlegungen, insbesondere aus energetischen Grundsatz^d
abgeleitet wurde.
Fig. 76.
») Wied. Ann. 14, 34. 1881.
620 ^- Chemische Dynamik.
Dieser Satz lautet, class bei isothermer VolumaDderung des aus
Dampf UDd Fliissigkeit bestehenden Gebildes die Anderung des Druckes
im entgegengesetzten Sinne erfolgen muss, wie die Anderung des Volums.
Es muss mit anderen Worten bei Volumyergrosserung der Druck ab-
nehmen, und bei Volumverkleinerung zunehmen.
Von Pliicker ^) ist scbon lange vor der Aufstellung des allgemeineu
Gesetzes experimentell die Tbatsache festgestellt wordeu, dass ein 6e-
misch TOD Alkohol und Wasser einen um so kleiueren Dampfdruck hat,
je grosser der Dampfraum wird. Die nachstehende Tabelle giebt seine
Beobacbtungen fur vier verschiedene Mischungen von 10, 25, 43 und
64 Gewichtsprozenten Alkohol wieder. Die Beobacbtungen wurden bei
99*8^ angestellt; die Drucke sind in willkiirlichen Einheiten gegeben.
Mischung
Eleines Vol.
Mlttleres Vol.
Grosses Vol
I
1002
1000
983
II
—
1833
1820
in
2298
2291
2285
IV
2718
2713
2709
In jeder borizontalen Reiho lasst sich die Abnahme des Druckes
bei der Zunahme des Volums verfolgen.
Die Notwendigkeit einer solchen Beziehung ergiebt sich daraus,
dass nach der Voraussetzung die untersuchten Zustande stabile Gleich-
gewichtszustande sein soUen. Eine Fliissigkeit, deren Druck bei
Volumvergrosserung zunahme, wiirde nicht im stabilen Gleichgewicht
sein, wenn sie unter dem einem bestimmten Velum zugehorigen Drucke
stande. Denn eine unendlich kleine Verschiebung aus diesem Zustande
wiirde die Folge haben, dass der Druck sich so andert, dass die Ver-
schiebung sich freiwillig fortsetzen miisste. Vergrossert man das Volum,
80 nimmt der Druck zu, und der vorhandene Druck kann die weitere
Ausdehnung nicht hindern; verkleinert man das Volum, so nimmt der
Druck ab, und der aussere Druck setzt den Vorgang fort.
Man findet in diesem Satze einen neuen Fall von dem allgemeinen
Prinzip der Widersetzung (S. 307), das wir schon friiher als einen Aus-
druck fiir die Voraussetzung des bestandigen Gleichgewichtes erkannt
haben.
Betrachtet man im Lichte des Satzes eine beliebige Dampfdruck-
kurye eines Gemenges, so wird bei Volumvergrosserung sich die nach-
bleibende Fliissigkeit so andem miissen, dass ihr Dampfdruck kleinor
wird. Es muss also die durch den Molenbruch ausgedruckte Zusammen*
*) Pogg. Ann. 92, 214, 1854.
Chemische Glelchgewichte zweiter Ordnung. 621
setzung in solchem Sinne sich andern, class die Abscisse sich naoh der
Seite der kleineren Ordinaten verschiebt. Umgekebrt erfahrt dabei der
Dampf eine Anderung der Zasammensetzung im entgegengesetzten Sinne.
Denkt man sich also an dem betrachteten Orte der Kurve einen Punkt,
der vermoge seines Gewichtes nach nnten strebt, so wird sein Herab*
gleiten die Anderung anzeigen, welche die FlUssigkeit bei isothermer
Verdampfung erfahrt. Umgekebrt wiirde ein nach Art eines Luftballons,
der anf der Kurve zu bleiben gezwungen ist, gleitender Punkt durch
seine Bewegung die Anderung in der Zusammensetzung des Dampfes
bei isothermer Destination anzeigen. Angesichts der entgegengesetzten
Bewegungen, welche Fliissigkeit und Dampf infolge der Schwere zeigen,
ist diese Vorstellung ein bequemes Gedachtnishilfsmittel, um sich die
thatsachlichen Vorgange zu vergegenwartigen.
An dem ausgezeichneten Punkte eines Maximums oder Minimums
desDampfdruckes kann einerseits der Dampfpunkt nicht steigen, anderer-
seits der Fliissigkeitspunkt nicht sinken. Infolge dessen kann sich auch
die Zusammensetzung des Dampfes, bez. des Ruckstandes nicht andern.
Wir haben also in beiden Fallen Gemische, deren Dampfe ebenso zu*
sammengesetzt sind, wie die Fliissigkeiten. Sind aber die beiden Phasen
gleich zusammengesetzt, so yerhalt sich das Gebilde wie eines erster
Ordnung (S. 478), d. h. es destilliert bei konstanter Temperatur, wie
eine einheitliche Fliissigkeit.
Dieser Schluss ist von Konowalow (a. a. 0.) gezogen und an einer
Reibe von Gemischen mit ausgezeichnetem Punkte bestatigt worden.
Solche Gemische waren zwar schon friiher bekannt gewesen, doch nicht
die eben entwickette Bedingung ihrer Entstehung. Der gleiche Satz
findet sich iibrigens bereits bei W. Gibbs kurz angegeben^).
Bezeichnen wir die Fliissigkeit, die auf der linken Seite der Figuren
vorwiegt, mit I, die rechts vorwiegende mit II, so ergiebt sich an der
Hand der Figuren 73 bis 75 folgendes Verhalten.
In Fig. 73 A gleitet der Fliissigkeitspunkt immer nach rechts, der
Dampfpunkt immer nach links. Es wird also der Dampf immer reicher
an I als die Fliissigkeit sein, und wenn der Destillationsvorgang wieder-
holt wird, so ist schliesslich alle Fliissigkeit I im Destillat, und alle
Fliissigkeit II im Riickstande.
Fig. 73 B yerhalt sich rechts vom Maximum ahnlich, und ein Ge-
menge aus diesem Gebiete wird bei wiederholten Destillationen zu
reiner Fliissigkeit II fiihren, die im Ruckstande verbleibt. Dagegen
>) Thermodynamische Stttdien, S. 118. Leipzig, 1892.
Ostwald, Cbemle. 11,2. 2.Aufl. 40
622 n. Ghemische Dynamik.
wird sich im Dampfe nicht die Fliissigkeit I unbegronzt anhaufen, son-
dern das dem Maximum des Dampfdruckes entsprechende Gemenge.
Umgekehrt wird ein Gemenge, dessen Zusammensetzung rechts vom
Maximum liegt, die Fliissigkeit I als Destillationsriickstand ergeben, and
wieder das Gemisch mil dem hochsten Dampfdruck als DestiUat. Eine
Fliissigkeit dagegeu, welcbe die Zusammensetzung hat, die dem Maximum
entspricbt, kann sich durch Destination nicbt andern, da der Dampf-
punkt nicht steigen kann.
In Summa wird also bei der Destination die Bildung des Gemisches
mit grosstem Dampfdruck angestrebt, das sich unter alien Umstanden
bildet; was in der Retorte zuriickbleibt, ist zufallig, und hangt von der
urspriinglichen Zusammensetzung des Gemisches ab.
Der Zusammenhang zwischen der Gleichheit von Dampf und Fliissig-
keit mit dem Auftreten eines Maximums oder Minimums der Dampf-
druckkurve ist nicht die einzige bemerkenswerte Seite der Erscheinung.
Durch die geometrische Betrachtung sehen wir noch einen anderen Zu-
sammenhang. Ein Maximum oder Minimum des gemeinsamen Dampf-
druckes bedingty dass die Tangente an der Kurve der Abscissenaxe
parallel wird. Dies aber geschieht nur, wenn die Tangenten an den
beiden Teilkurven bei demselben Werte der Zusammensetzung gleiche
und entgegengesetzte Neigungswinkel haben. Die trigonometrische
Tangente dieses Neigungswinkels ist fur den ersten Stoff dp^/dx; fur
den zweiten ist sie dp^/dx, und da beide entgegengesetzt gleich sein
soUen, so folgt dp^/dxH-dp2/dx = 0. Diese Gleichung ist eine not-
wendige Folge der Voraussetzung, dass an der fraglichen Stelle der
Gesamtdruck ein Maximum oder Minimum sein soil; denn diese Forde-
rung fuhrt zu der Gleichung: ^^ =Q» *^us welcher sich die
obenstehende Formel unmittelbar ergiebt.
Die Gleichheit von Dampf und Fliissigkeit fuhrt ihrerseits auf die
folgende Beziehung. An der Stelle des Maximums besteht die Flossig-
keit aus x Molen der ersten und 1 — x Molen der zweiten Fliissigkeit.
Der Dampf seinerseits ist im Verhaltnis der Teildrucke zusammengesetzt^
so dass wir baben: ,,, . ,
x/(l-x) = pjp,.
Die Formel lasst erkennen, dass das Maximum oder Minimum im
allgemeinen bei um so ungleicheren Verhaltnissen der beiden Flussig-
keiten eintreten wird, je verschiedener ihre Dampfdrucke sind, und um-
gekehrt. Hierbei sind allerdings die Dampfdrucke aus der Losung,
und nicht die der reinen Fliissigkeiten massgebend.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 623
86. FortBetzung. Fig 73 C zeigt eine Kurve mit zwei maximalen
Werten und einem Minimnm. Fiir Losungen dieser Art ist also fol-
gendes za erwarten. Gemenge, die vorwiegend I enthalten, werden sich
beim Destillieren in die reine Fliissigkeit I, die zuriickbleibt, und in
das dem ersten Maximum x entsprecbende Gemenge spalten, welches
iiberdestilliert; letzteres lasst sich durch Destillieren nicbt andern.
Enthalt die Fliissigkeit urspriinglicb etwas mebr von II, als diesem Ge-
menge entspricht, so bewegt sicb der Fliissigkeitspunkt nach rechts,
der Dampfpunkt nach links; der Dampf wird also der gleichen Zu-
sammensetzung, wie &iiher, zustreben, die Fliissigkeit reichert sich aber
an II an, and der Fliissigkeitspunkt bewegt sich bis zu der niedrigsten
Stelle der Kurve, den er erreichen kann, nach y; ein solches Gemisch
zerfallt durch Destination daher in die beiden konstant siedenden Ge-
menge, die den Punkten x und j entsprechen. Hat weiter das der
Verdampfung unterworfene Gemenge eine Zusammensetzung zwischen
7 uDd z, so trennt es sich in die beiden Gemenge, die den Punkten
7 und z entsprechen; ein an II sehr reiches Gemenge endlich zerfallt
in die reine Fliissigkeit II und das konstant siedende Gemenge mit
dem Dampfdruck z. Die beiden Bestandteile wiirden also drei ver-
schiedene Gemenge ergeben, welche alle unverandert destillieren.
Ein derartiger Fall ist bisher noch nicht beobachtet worden. Da
kein prinzipieller Grund Yorzuliegen scheint, welcher das Zustande-
kommen einer Kurve dieser Art verhinderte, so ware es eine dankens-
werte Aufgabe, Beispiele fiir diese mannigfaltige Erscheinung aufzusuchen.
Man wird sie am leichtesten bei Fliissigkeiten antre£fen, deren Siede-
pnnkte nahe beieinander liegen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass
manche Angaben liber Untrennbarkeit von Gemengen verschiedener
Stoffe durch Destination auf dem Zustandekommen solcher Dampfdruck-
karven mit zwei Maximalwerten beruhen.
Zu ganz ahnlichen Betrachtungen giebt Fig. 74 Anlass. Der ein-
£achste Fall A lasst erkennen, dass die Fliissigkeit I rein in der Retorte
zuruckbleiben wird, wahrend II sich im Destillat gleichfalls bis zur
Reinheit konzentrieren lasst. Bei B ist das Produkt, welches unter alien
Umstanden entsteht, das dem Minimum x entsprecbende Gemenge, wel-
ches stets als Retortenriickstand gewonnen wird ; ob daneben die Fliissig-
keit I Oder II gewonnen wird, hangt von der urspriinglichen Zusammen-
setzung ab. Die Kurve C endlich lasst zwei Minima und ein Maximum
erkennen; alle Gemenge mit vorwiegender Fliissigkeit I bis zum Punkte y
werden als konstanter Retortenriickstand das Gemenge x hinterlassen,
und im Destillat erhalt man je nach der urspriinglichen Zusammen*
40*
624 n. Cbemische Dynamik.
•
setzung entweder I rein, oder das Gemenge y. Liegt dagegen die Zu-
sammensetzung der urspriinglichen Fliissigkeit zwischen y und reiner II,
so bleibt unter alien Umstanden z als Retortenriickstand, und je nach
der anfanglichen Zusammensetzung sammelt sich im Destillat y oder
reine II. Auch hier treten drei verschiedene konstant siedende Ge-
menge zwischen denselben Flussigkeiten auf.
Was endlich die Verbindung zweier Kurven von verschiedenem
Typns, a und b anlangt^), so lassen sich vier Falle unterscheiden, die in
Fig. 75 zur Anschauung gebracht worden sind. Der gemeinsame Gha-
rakter aller dieser Gesamtkurven ist, dass jede von ihnen einen Wende-
punkt besitzt. Bei geringen Abweichnngen der Teildruckkurven yon
der Geraden und grosserer Verschiedenheit der Siedepunkte entsteht
eine Gesamtdruckkurve A, die zwar immer einen Wendepunkt hat, aber
weder ein Maximum, noch ein Minimum.
Weicht die eine oder die andere Teildruckkurve mehr von der Ge-
raden ab, so erhalt man eine Kurve mit einem Maximum, B, oder mit
einem Minimum, C. Damit diese Erscheinung sich ausbildet, ist ein
einigermassen erheblicher Unterschied der Dampfdrucke der Bestand-
teile erforderlich. Sind endlich die Siedepunkte wieder nahe, die Ab-
weichnngen der Teilkurven von der Geraden aber bedeutender, so ent-
steht schliesslich eiue Kurve mit einem Maximum und einem Minimum.
Die Maximalzahl der untrennbaren Gemische ist hier nur zwei. Auch
dieser Fall ist bisher nicht experimentell nachgewiesen worden.
Wir haben also im Falle aa und bb 0, 1 oder 3 untrennbare Ge-
mische; im Falle ab aber 0, 1 oder 2.
Uberlegt man, dass wahrscheinlich in den wenigsten Fallen der
Teildruck der Gemengbestandteile dem Molenbruch proportional sein
wird, so darf man die Erwartung aussprechen, dass bei Gemengen von
zwei Fliissigkeiten mit nahe gleichem Dampfdruck einer der drei Falle
mit mehreren ausgezeichneten Punkten, Fig. 73 C, Fig. 74 C oder Fig. 75 D,
mit grosser Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Eine dahin gerichtete
Untersuchung miisste also unmittelbare Friichte tragen.
Aus diesen Darlegungen folgt, dass man ohne die Teildruckkarven
zu untersuchen aus der Gestalt der Gesamtkurve einen Schluss auf den
Typus Ziehen kann, welchem die Teilkurven angehoren. Die Verbindung
zweier Teilkurven vom Typus a ergiebt notwendig eine Geaamtkorre,
die an beiden Enden nach unten konvez ist; ebenso bedingt die Kamr
^) Vergl. Indessen die BemerkuDg auf 3. 619.
Chemische Gleichgewichte zweiter OrdnuDg. 625
bination bb Gesamtkurven mit nach unten konkaven Kurvenenden. Die
Rombination abendlich giebt eine Eurve mit einem konkaven und einem
koriTexen Ende. Und zwar bat der Bestandteil den a»Typu8, welcber
am konkaven Ende in geringerer Menge vorhanden ist, nnd umgekehrt.
Zwei Maxima sind nur bei der Kombination a a, zwei Minima nur bei
bb moglich, wahrend ein Maximum und ein Minimum nur bei ab vor-
kommt. AUe diese Schlusse beruhen auf dem Umstande, dass der
Dampfdruck eines Stoffes durch Zusatz eines zweiten zunachst nahezu
proportional dem Molenbruch beeinflusst wird, so dass die Teildruck-
kurre in diesem Gebiete mehr oder weniger weit eine Gerade ist.
Es ist schliesslicb nocb die Moglicbkeit zu erwahnen, dass eine
der beiden Teilkurven eine Gerade ist. Wie man leicht iibersieht, sind
alsdann die Falle mit mehreren ausgezeichneten Punkten ausgeschlossen,
and es konnen nur Kurven mit einem Maximum oder einem Minimum
anftreten. Doch ist dieses Zusammentrefifen im Lichte der alsbald mit-
zuteilenden genaueren Theorie fiir Fliissigkeiten mit konstanter Dampf-
dichte gleichfalls ausgeschiosscn.
Die betrachteten Kurven sind unter der Voraussetzung abgeleitet,
dass als Abscissen die Werte des Molenbruches dienen. In vielen Fallen
wird man aber iiber das Molekulargewicht im Zweifel sein, das man
der Fliissigkeit zuzuschreiben hat. Durcb einen Irrtum in dieser Be-
ziehung wird nun zwar die Gestalt der Dampfdruckkurven insofern ge-
andert, als einige Teile in horizontalem Sinne zusammengeschoben,
andere ausgedehntwerden wiirden; die vorhandenen Maxima und Minima
aber wiirden bestehen bleiben. Sie wiirden auch bleiben, wenn man
als Abscissen den Gewichtsgebalt der Gemiscbe an beiden Fliissigkeiten
benutzte, nur wiirden dann bier wie im vorigen Falle eines unrichtigen
Molekulargewichtes die letzten Stiicke der Teilkurven nicht mebr in die
RichtuDg der Verbindungsgeraden zwiscben dem Anfangspunkte und dem
Dampfdruck der reinen Fliissigkeit fallen. Fiir die allgemeine Unter-
snchuDg auf das Vorhandensein eines oder mehrerer ausgezeichneter
Punkte ist eine Keontnis der wirklichen Molekulargrosse der Fliissig-
keiten daber nicbt erforderlich.
Dies ist aus geometrischen Griinden notwendig; es folgt aber aucb
daraus, dass diese ausgezeichneten Punkte eine von aller Theorie un-
abhangtge experimentelle Bedeutung haben.
Untersucht man von den eben gewonnenen Gesichtspunkten aus die
von Konowalow^) vero£Fentlichten Dampfdruckkurven binarer Losungen,
') Wied. Ann. 14, 34. 1881.
626
II. Chemische Dynamik.
SO lassen sich die Falle einsinniger Anderung des Dampfdruckes, sowie
die des einfachen Maximums oder Minimums des Dampfdruckes viel-
facb nachweisen. Ebenso sind Wendepunkte vorhanden; die Falle, in
denen sie auftreten, zeigen sie indessen in wenig ausgepragter Weise,
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Fig. 76. Wasser and AmeisenB&ure.
Fig. 77. Wasser und Methylalkohol.
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Fig. 78. Wasser and Athylalkohol.
Fig. 79. iWasser and PropylalkohoL
so dass ihre Existenz noch genauer nachgewiesen werden mtisste. Bei
Methylalkohol und Wasser sind nur Wendepunkte vorhanden, bei
Ameisensaure und Wasser, Fig. 76, ist ausserdem ein Minimum da. Das
in Fig. 81 dargestellte Gemisch Propionsaure und Wasser scheint aacb
bei 64^ ein Minimum neben einem Maximum zu besitzen, wenn man
nach der Zeicbnung urteilen darf, und verdient deshalb zunachst eine
i
Chemische Gleicligewichte zweiter Ordnung.
627
Untersuchimg. Von Fallen mit zwei Maximal- oder Minimal werten
finden sich aber in den Kurven von Eonowalow (wo iiberall Wasser
Essii.
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Propionsaure
Procent^eh alt
Fig. 80.
0)
Procent^ehalt
Fig. 81.
den einen Bestandteil bildet) keine Buiterseiuro
Andeutongen.
In Fig. 76 bis 82 sind samt-
liche Ton Konowalow beobachteten
Falle wiedergegeben.
87. Siedepunkt bin&rer Qe-
miflche. Alle eben durchgefiihrten
Erorternngen lassen sich uumittelbar
anf den Fall iibertragen, dass man
uicht die Dampfdrucke bei konstan- a)'
ten Temperatnren, sondern die Siede-
ponkte, d. h. die Temperaturen kon- k
stanter Dampfdrucke untersucht. Die
entsprecbenden Kurven, deren Ab-
scissen dnrcb den Molenbruch, deren
Ordinaten durch die Temperaturen
gebildet werden, werden im allgemeinen zu den geschilderten Kurven
Spiegel bildlich verlaufen, d. h. vro die eine ein Maximum batte, wird
die andere ein Minimum haben, und umgekebrt.
Procen-t^eKalt
Fig. 82.
628 ^I* Ghemiscbe Dynamik.
Nur ist zu beachten, dass die betrachteten Gleichgewichte aich mit
der Temperatur im allgemeinen etwas verschiebeu werden, und daber
die Isotbermen nicht yollkommen symmetrisch mit den Isobaren yer-
laufen werden. Wenden wir das allgemeine Prinzip des bewegUchen
Gleichgewichtes auf diesen Fall an, so wird, wenn das fliissige Gemenge
der beiden Flussigkeiten mit seinem Dampfe bei irgend einer Tempe-
ratur im Gleichgewicbte ist, bei der Temperaturerbohung und konstantem
Volum eine Verscbiebung des Gleicbgewichtes in solchem Sinne erfolgen,
dass insgesamt Warme aufgenommen wird. Das heisst, es wird die
FlUssigkeit, deren latente Warme die grossere ist, sicb im Dampfe ver-
mehren. Nun sind gemass der Kegel von Trouton die Dampfwarmen
gleicber Mole der verscbiedenen Flussigkeiten in reinem Zustande bei
gleicben Temperaturen annahernd gleicb; fiir den Sinn der bier vor-
bandenen Anderung wird also voraussicbtlich wesentlicb die Ver-
miscbungswarme der beiden Fliissigkeiten massgebend seiu, zunaal die
Vermiscbungswarme der Dampfe mit aller Zuversicht praktiseb gleicb
Null gesetzt werden kann. Es wird also bei Temperaturerbobung sicb
das Gleicbgewicbt zwiscben Fliissigkeits- und Dampfgemiscb in solchem
Sinne verschieben, dass die in der Fliissigkeit mit Warmeverbraucb ver-
bundene Eonzeutrationsanderung erfolgt.
Aucb bieriiber wird unten eine eingebendere Tbeorie mitgeteilt
werden.
Dass eine Verscbiebung des Gleicbgewicbtes mit der Temperatur
erfolgt, gebt aus dem Verlaufe der S. 626 und 627 in Fig. 76 bis 82
dargestellten Eurven bervor, und ist zudem von Roscoe und Dittmar')
in mebreren Fallen uachgewiesen worden. Bei Salpetersaure-Wasser-
gemiscben steigt nacb diesen der Gebalt an Salpetersaure mit der Tem-
peratur, bei solcben mit Cblorwasserstoff fallt er; ebenso verhalten sicb
Brom- und Jodwasserstoff. Wenn die oben gemacbte Voraussetzung
wegen der Dampfwarmen ricbtig ist, so ware zu scbliessen, dass bei der
Salpetersaure die Konzentrationszunabme, bei den anderen Sauren die
Abnabme in dem Gebiet der konstant siedenden Gemische mit Warme-
yerbrauch verbunden ist.
Um aus den Zeichnungen fiir die Dampfdruckisotbermen die for
die Isobaren derselben Stofifgemiscbe zu erhalten, bat man nur die
Durcbscbnitte der Horizontalen, welcbe den gewiinschten Drock dar-
stellt, mit den verscbiedenen Isotbermen zu bestimmen, um fiir jeden
W^ert des Molenbrucbes den zugehorigen Siedepunkt unter diesem Drucke
') Lieb. Ann. 116, 203. 1860.
Cbeaiaclie Qleichgewiclite zweiter OrdnuDg. 629
abzulesen. Ebenso kann man aus den experimentell rielleicht beqaemer
ZQ bestimmendea Isobareu die Isothermen ableiteD.
88. Experimentelle BeBtimmnng der Sinxelkurven. Eben so
wenig zahlreich, wie die Untersuchungen der Isothermen nnd Isobaren
des Gesamtdruckes binarer Losungen siod die Arbeiten iiber die Teil-
dnicke solcher Gemische. Wir finden solche zunachst in der bereits
erwiihnten Arbeit von Linebarger *). Neben den Gemengen, bei welcbeo
der Druck dee Gemisches sich aus den Drucken der Bestaodteile ge-
mass dem Werte des MoleDbruchee ztisamtnenBetzt (S. 615), fanden
sich in iiberwiegender Mehrzahl solche, bei denen eine mehr oder we-
niger grosse Abweichung vorhanden ist. Solche Abweichungen sind
asch bei GemiBchen vorbanden, deren Bestandteile im reinen Zuetande
normale Molekulargrosae (gemass dem TeniperaturkoeffizieDten der Ober-
flachenenergie) beBitzen; dooh sind sie bei polymerisierten Fliissigkeiten
im allgemeinen grosser.
>) Jooni. of tiM Amer. Ghem. Soc. 17, 1886.
630 ^^ Chemische Dynamik.
Die mit Flassigkeiten der ersten Klasse erhaltenen Werte sind
nachstehend in Tabellen und Kurven (Fig. 83 bis 86) wiedergegeben.
Benzol and Chloroform bei 34*8*.
X (Chloroform) p^ p^
0.00
0-00 14-54
1697
3-96 1265
50*53
1307 743
5947
1622 5-92
100-00
28-92 0-00
Toluol und Chloroform bei 34^^^.
X
Pi Pi
OW
0-00 4-68
38.74
6-47 3-44
60-43
1609 195
100-00
28-92 0-00
Benzol and Tetrachlormethan bei 34-8*.
X
Pi Pi
000
0-00 14-54
721
1-45 1354
18-68
3-25 1255
28-00
600 10-50
5019
9-13 756
63-88
10-31 5-45
77-89
1176 318
100-00
1694 —
Toluol und Tetrachlormethan bei 34-8"^.
X
Pi Pi
000
000 4-68
3069
515 370
53-85
7-83 2-23
60-00
991 194
91-87
1551 0-45
100-00
16-94 0-00
Bemerkenswert an diesen Kurven ist, dass noch immer der T^-
druck des Benzols oder Toluols dem Molenbruch proportional ist* ao
dass die entsprechende Kurve als Gerade zwischen dem Anfangspankte
und dem Dampfdrucke des reinen Benzols verlauft. Die Abweiohung
findet allein bei dem Teildrucke dor zugefugten Fliissigkeit statt; daher
ist auch die Abweichung der Kurve des Gesamtdruckes von der 6e-
Chemische Gleichgewlchte zweiter Ordnung. 631
raden dem Sinne and der Grosae nach gleich der Abweichui^ der Teil-
dmcke jener Fliissigkeiten ').
Hierauf stiitzt Linebarger die
Vennutimg, d&ss auch &]]e andoren
LoBungen 700 Fliissigkeiten in den
jionnalen" Flusaigkeiten Benzol nnd
Toluol (und auch in MoDOchlor- und
Honobrombenzol) diese Stoffe gerade
TeiMruckkurven haben werden , so
dass bereits auB Messnngen des Ge-
Buntdruckes durcb Abzieben der dem
Molenbniche proportionalen Teildrucke
dieser Stoffe sich die Teildrucke der
anderen in den Liisnngen werden be-
r«chnen lasseu.
Weiter vervendet er dieseu Schluss
211 einer Bestimmung toq Molekular-
grossen geloster Fliissigkeiten von
endlicher Konzentration und in rei-
nem Zustande. Der Gedaukengang ist
folgender.
Bestimmt man den Teildmck p^
des Benzols (bez. Toluols oder einer
der anderen „norn)alen" Fliissigkeiten)
in verschiedenen Gemengen mit der
zu untersuchenden, dereii Molekular-
gewicht bestimmt werden soil , so
kann man gemase der Formal p, =
(1 — x)P, den Molenbruch x berech-
nen. Besteht nun das Gemisch dem
Gewicht nach aue b^ Teilen der
Fliissigkeit und b, Teilen Benzol, „. .
') Der S. 613 gezogene Schluaa, dasx die KufTe des Teildruckea des gel5sten
StDfTes rhier des Chloroforms and TetrachlormethaDs) in den LOaungen, welche nur
veni; Benzol enthalten, tich asymptotiscfa der Verbiuduogsgeraden n&hern und
ftr vardttnnte LOBungen mit ihr zusammenfalleD muss, fiudet sich in der Zeich-
nang oicht zum AuBdruck gebracht. Wohl aber giebt der VerfasBer ela Bolches
Terb«It«D im Text ala beobacblet an. Dod zirar fallen beide Linien biB zn einem
Q«balt TOD 0-2 Molen des gelOBten Stoffes nahezu zusunmen.
632 n. Ohemische Dynamik.
und sind 1% und m, die entsprechenden Molekulargewichte , so ist
" — * woraus m^ = ^ • , folgt.
Die Versuche warden mit Benzol, bez. Toluol und Essigsaure an-
gestellt. Die Analyse der Dampfe geschah einfach durch Auffangen in
gemessener Kalilauge und Titration. Bei der Berechnung wurde ange-
nommen, dass die Dampfdichte der Essigsaure 104 bei 35^ und 110
bei 20® (den Versuchstemperaturen) war; dies wird auf Messongen von
Bineau ^) gestiitzt, bei welchen gleichfalls Gemische yon Essigsauredampf
mit Luft untersucht wurden. Da indessen die Dichte ausserdem von
dem Werte des Teildrucks der Essigsaure abhangig ist, da sich der
Dampf im Zustande der Dissociation befindet, so ist dadurch ein Fehler
in die Rechnung gebracht, welcher auf die Ergebnisse eine entsprechende
Unsicherheit Ubertragt.
Das Ergebnis der Rechnung ist, dass die Essigsaure zwischen
x = 0'l und 1-0 Molekulargewichte von 168 bis 224 ergiebt. Fiir die
einfache Formel ist das Molekulargewicht 60; doch ist schon aus den
Gefrierpunktsmessungen (I, 776) bekannt, dass auch in BenzoIIosungen
von geringer Konzentration die Essigsaure Doppelmolekeln bildet
Andererseits ergaben die Messungen der Oberflachenspannung durch
Ramsay und Shields*) fiir reine Essigsaure zwischen 16® und 46® das
Molekulargewicht 217; angesichts der eben erwahnten Fehlerquelle kann
man diese Zahlen als sich gegenseitig unterstiitzend ansehen.
Indessen soil nicht unterlassen werden zu bemerken, dass dieser
Auffassung sowohl experimentelle wie theoretische Bedenken entgegen-
stehen. Erstere sind von Lehfeldt (s. w. u.) erhoben worden. Letztere
liegen in der gegenseitigen Abhangigkeit der Teildrucklinien , welche
das gleichzeitige Auftreten einer Geraden und einer Kurve an demselben
Fliissigkeitspaar auszuschliessen scheinen.
89. Weitere Vereuohe. Ferner hat Lehfeldt') einige Falle mit
Riicksicht auf eine allgemeine Formel untersucht, deren Ableitnng als-
bald gegeben werden soil. Die Formel lautet:
dlnpi dlnpg
dlnx ~ dln(l— "x) '
und ist erst integrabel, wenn man p^ oder p, als Funktion von x kennX.
Durch die Annahme Pi = x^ Pj und pj = (1 — x)^Pj kann man die
1) Ann. cbim. phyg. 18, 226. 1846.
*) Zeitschr. f. phys. Chemie 12, 470. 1898.
») Philos. Mag. (5) 40, 397. 1895.
Chemische Gleichgewichte sweiter OrdnuDg. 633
Gleichung befriedigen, und Lehfeldt fiudet, dass diese ADnahme iu der
That seine Messungen darstellt.
Indessen ergiebt eine Priifung der Formel im Sinne der S. 612
gegebenen Erorteruogen, denen zufolge das eine Eude der Teildruck-
kurve eine ganz bestimmte, von der Natur der zweiten Fliissigkeit un-
abhangige Lage haben muss, einen Widerspruch. Zwar driickt sie aus,
dass bei kleinen Werten von x der Exponent k, der von der Natur der
Fliissigkeiten abhangt, stark zur Geltuug kommt, was der individuellen
Verschiedenheit der Loslichkeitskoeffizienteu entspricht. Ebenso ist,
wenn x sehr nahe gleich Eins ist, x^ nicht viel von x verschieden.
Doch hat die Erfahrung ergeben, dass zwiscfaen x = 0*8 und x = l das
Raoultsche Gesetz den Thatsachen gut entspricht, wahrend die Expo-
nentialformel bei nur einigermassen von Eins abweichenden Werten
von k in diesem Gobiete bereits hoffnungslose Unterschiede giebt. Zu-
dem ist der Ausdruck nicht geeignet, den in den Teildruckkurvcu not*
wendig yorhandenen Wendepunkt (S. 617) darzusteilen.
Man wird also in diesem Ausdruck nur eine Interpolationsformel
seben, welche bei geringen Abweichungen der Teildruckkurve von der
Geraden eine geniigende Darstellung der Beobachtungen ermoglicbt,
tbeoretische Bedeutung aber nicht besitzt.
Die von Lehfeldt angestellten Beobachtungen werden in der That
innerhalb der Fehlergreuze durch die angegebene Formel dargestellt.
Die Messungen wurden ausgefdhrt, indem man von einer grosseren
Menge des zu untersuchenden Gemisches einen kleineren Anteil bei 50®
abdestillierte, wobei der Druck je nach der Zusammensetzung so geregelt
worde, dass der Siedepunkt auf diese Temperatur fiel. Die Analyse
des abdestillierten Anteils wurde durch Bestimmung des Brechungs-
koeffizienten im Pulfrichschen Refraktometer gemacht, und liess sich
auf ein Zehntelprozent genau ausfuhren. Als Material diente Benzol
mit Athylacetat und Methylacetat.
Benzol und Athylacetat.
Benzolgehalt. Verh<nis Benzol : Athylacetat
in der Fl&ss. im Dampf beob. her. inderFldss. imDampfbeob. ber. Diff.
0-129
01305
01315
01481
O1501
01514
+ O0013
0-2585
0257
0-2565
0-3486
03459
03449
— 00010
0-d09
0497
0496
1037
09881
0-9845
— O0086
0-510
0498
0497
1041
0-9920
09891
— O0039
0756
0739
0738
3-098
2831
2-822
— 0-0009
0-8745
08585
O860
6-968
6-067
6-153
— 0-0086
634 II« Chemische Dynamik.
Die Konstante r worde gleich 0-962 angenommen. Die Oberein-
stimmung ist recht gut, doch deaten die Abweichungen auf einen syste-
matischen Unterschied zwischen Messung und Rechnung bin.
Eine zweite Reihe mit Metbylacetat ergab:
Benzol and '.
Bilethylac
etat.
Benzolgehalt
Verh<nis
Benzol : Metbylacetat
ler F1Q88.
im Dampf
in der Fltlss.
im
Dampf beob.
ber.
Diff.
0.185
0119
0-2276
01335
01299
0-0036
0310
0.194
0-4495
02407
0-2429
+ 0-002*2
04795
0321
0-9208
04730
04700
— 0.0030
0670
0491
2-032
09638
0-9734
+ 0-0096
0-860
07345
6-123
2-769
2698
— 0071
Hier war es nicht gelungen, die Temperatur ganz konstant auf 50^
zu balteuy und die Obereinstimmung ist weniger gut.
Das Material zur Priifnng der Frage, ob entsprechend den Ver-
mutungen von Linebarger die Teildruckkurve des Benzols beziiglich des
Molenbruchs eine Gerade ist, bez. sich in geniigender Annaherung dnrch
eine Gerade darstellen lasst, ist in den vorstehenden TabeUen nicht
enthalten, da die Angabe der Gesamtdrucke fehlt
Diese Liicke wurde durch eine zweite Abhandlung ausgefiiUt, in
welcher Lehfeldt^) einige andere Gemenge nach einem verbesserteo
Verfahren untersucbte, indem er Druck, Temperatur and Zasammen-
setzung bestinunte. Zur Messung der beiden ersten Grossen diente das
dynamische Verfahren: die Fliissigkeit befand sich in einem Siederohre
Yon der Gestalt eines weiten Probierglases mit einer Siedeerleichtemng
aus Bimstein mit Kupferdraht. Das Glas war mit einem Kork Ter-
schlossen, der ein Thermometer und einen Kiihler trug; von letzterem
aus war die Verbindung mit dem Manometer und der Luftpumpe ber-
gestellt. Die Erhitzung geschah in einem grossen Wasserbade, das etwa
5^ liber die Siedetemperatur erwarmt wurde. Gleichformige Ablesungen
des Thermometers wurden erst erhalten, wenn das Sieden im ToUen
Gauge war; damit die Kugel immer benetzt blieb, wurde sie mit etwas
Watte umwiekelt,' von der ein Streifen bis in die Fiussigkeit reidite.
Die Zusammensetzung der Dampfe wurde wieder nach dem Ab-
destillieren einer kleinen Menge refraktometrisch bestimmt Zur Ver-
dichtung geniigte kaltes Wasser, denn die Anwendung einer Kalte-
mischung gab keine anderen Resultate. Um vorzeitige V^erdichtung des
Dampfes in der Rohre, die zum Kiihler fiihrte, hintanzuhalten, war
^) Phil. Mag. (5) 41^ 42. 1898.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnang.
635
nahe an diese eine elektriscbe Gliihlampe gebracht; nach dem Cber-
decken des Ganzen mit einem Tuche geniigte diese Erwarmung. Der
Kiihler war mit einen Hahn versehen, urn zu beliebigen Zeiten Proben
abzapfen zu konnen.
Die Versuche wurdeii mit Benzol (B), Toluol (T), Tetrachlorkohlen-
stoff (G) und Alkohol (A) ausgefiibrt; die erhaltenen Ergebnisse sind
dorch Fig. 86 dargestellt. Wie man sieht, geben die drei erstgenannten
100
Fig. 86.
8to£fe, welche nach den Messungen der Oberflachenspannung von Ramsay
ond Shields als nicht associiert anzuseheu sind, miteinander nahezu ge-
rade Dampfdruckkurven, wahrend der associierte Alkohol sehr bedeu-
tende Abweichungen zeigt, welche in den beiden untersuchten Fallen
der Mischung mit Benzol und mit Toluol zu einem Maximum des
Dampfdruckes fuhren. Damach ist bei dem ersten Paar flir 0*35, bei
dem zweiten fiir 0*7 Mole Alkohol ein unter 50 cm Druck konstant
siedendes Gemisch zu erwarten.
Die friiher angewandte Formel (S. 632) giebt auch in diesen ein-
facheren Fallen die Zahlen geniigend wieder. Doch ist zu den oben
636 II* Ghemische Dynamik.
bereits gemachten Einwanden der von Margules^) erhobene hinzozu-
fiigen, dass sie fiir die Dampfdruckisotherme an den Endpunkten un-
endlich grosse Anderungskoeffizienten giebt» so dass die Eurven an
diesen Stellen senkrecht einsetzen miissten, was sie sicherlich nicht than.
Ferner versnchte Lehfeldt, die ursprungliche Di£Ferentialglei(diuDg
unmittelbar mit den Versuchen zu vergleichen, indem er statt der
DilBTerentiale endliche DijOTerenzen benutzte. Das Ergebnis war wenig
befriedigend, da derartige Recbnungen mit grossen Ungenaaigkeiten be-
haftet sind.
Schliesslich ergab eine Priifung der von Linebarger aufgestellten
Behauptung, dass bei den Gemischen aus associierenden and nicht
associierenden Fliissigkeiten die letzteren einen dem Molenbruch pro-
portionalen Dampfdruck aufweisen, wenn man fiir erstere die entspre-
chenden vervielfachten Molekulargewichte in Rechnung bringt, folgende
Koeffizienten:
Mole Alkohol
Eogff.
in Benzol
in
Toluol
10
60
2-0
30
5.7
26
50
5-3
42
70
50
5.7
90
4.9
60
Wenn man auch bereit sein wird, der „di8Sociierenden Kraft" der
beiden Koblenwasserstoffe yerschiedene Werte zuzuschreiben, welche die
Molekulargrosse des Alkohols verschieden beeinflnssen konnen, so machen
doch die in der Tabelle enthaltenen Zahlen einen zn unwabrscheinlichen
Eindruck, als dass man das Verfahren fur gerechtfertigt halten konnte.
Lehfeldt schiiesst demnach, dass man nicht berechtigt ist, fiir die ge-
losten Koblenwasserstoffe eine einfache Proportionalitat zwischen dem
Molenbruche und dem Teildrucke anzunehmen.
90. EnergetiBohe Theorie der binSren Oemiaohe. Wenn man die
Voraussetzung macht, dass die Dampfe, die sich aus dem Gemische
entwickeln, den Gasgesetzen folgen, so kann man einige einfache und
allgemeine Formcln aufstellen, welche ahnlich wie im Falle einheitlicher
fluchtiger Stoffe die verschiedenen bestimmenden Grossen der Gemische
miteinander in Beziehung setzen. Solche Entwickelungen sind tod
Duhem') und Margules^) in weit ausgedehnterem Masse durchgefiihrt
') Wien. Akad. Ber. 104, Dezember 1895.
') Dissolutions et Melanges.
') Wien. Akad. Ber. 104, Dezember 1895.
Chemische Oleichgewichte zweiter Ordnung. 637
worden, als sie bisher durch den Versuch haben kontrolliert werden
konnen. Sie sollen desbalb bier aucb nicbt in yollstandigem Auszuge
wiedergegeben werden, sondem nur in den fiir den Versuch am meisten
in Betracht kommenden Teilen.
Als Ausgangspunkt dient am einfacbsten der Ausdruck fiir die ge-
samte und die freie Energie eines Gemisches in Bezug auf die seiner
Bestandteile. Wir bezeichnen in der Folge mit Pj und P, die Drucke
der reinen Fliissigkeiten bei der Temperatur T (in absoluter Zahlung);
Pi und p, seien die Teildrucke der Bestandteile aus dem Gemische.
Die Zusammensetzung der Fliissigkeit werde durch die Molenzahlen N^
und Ng bezeichnet; N, /(N^ + Nj) ist der Molenbruch x. Fiir den
Dampf gelten die Molenzahlen % und n,. Dann kann man den Ver-
Iiist an freior Energie bei der Vermischung Ton N^ Molen der ersten
mit N, Molen der zweiten Fliissigkeit berechnen, wenn man aus einer
grossen Menge der Losung N^ Mole der ersten und N, Mole der zweiten
Fliissigkeit bei ihren Teildrucken p, und p, verdampft, die Dampfe auf
die Drucke der reinen Fliissigkeiten P^ und P, zusammenpresst, und
beide dann einzeln verfliissigt. Wahrend die erste und die letzte Ope-
ration gleiche und entgegengesetzte Arbeiten erfordern, und sich daher
aufheben, bleibt fiir die mittlere eine Arbeitsgrosse iibrig, deren Betrag
die Anderung der freien Energie angiebt. Urn dies gedachte Experiment
rein auszufiihren, ist notig, die Verdampfung aus dem Gemische durch
halbdurchlassige Wande yorzunehmen, so dass jeder der beiden Bestand-
teile einzeln seinem Teildruck gewonnen wird; doch erscheint eine solche
Annahme ganz zulassig. Diese, zuerst von Nernst^) angegebene Be-
tracbtung ergiebt folgendes:
Der Ausdruck fiir die Anderung der freien Energie bei der Mischung
der Fliissigkeiten berechnet sich wie folgt. Bei der Verdampfung
▼on Nj Molen aus einer grossen Menge des Gemisches bei der Tem-
peratur T und dem Teildruck p^ wird die Arbeit N, p^ Vj == N^ RT
geleistet, also ebensoviel freie Energie verloren. Dann werde der Dampf
auf den Druck P^ der reinen Fliissigkeit bei gleicher Temperatur ver-
p
dichtet, wozu die Arbeit N, RTln-— zuzufiihren ist; schliesslich yer-
Pi
fliissigt man den Dampf unter diesem Druck, wobei weiter N^RT ge-
p
wonnen wird; der Gesamtgewinn ist daher N, RTln— ^- Ebenso ver-
Pi
halt 88 sich mit den anderen Bestandteilen, und der Gesamtbetrag der
') Theoretische Chemie, I. Aufl. S. 103. 1893.
Ottwmld, Chemle. II,a. 2.Aufl. 41
638 n. GhemiBche Dynamik.
Zunahme der freien Energie bei der Trennung von N^ -f- N, Molen des
Gemisches aus einer sehr grossen Mengn der Losung ist:
RTfNiln^ + N.ln^Y
^ Pi Pt/
Der Ausdrack stellt auch umgekehrt den Verlust an freier
Euergie bei der Vermiscbung yon N^ Molen der ersten mit N, Molen
der zweiten Flussigkeit dar.
Hieraus leitet nun Margules (a. a. 0.) die folgende Beziehung ab.
Fiir konstantes N,, bezw. N^ haben wir entsprechend als Anderung
der freien Energie gefunden:
Ni
RT An ^ d Ni (N, konstant),
y Pi
0
RT An ^ dN, (Ni konstant).
6 P«
N
Nun folgt bei konstantem N, aus x= ^ * alsbald dNi =
dx ^1+^8 ^jx
N« :::; ;^ und bei konstantem K folgt dN, = — N^ — r'
" (1 — X)' to. 1 ^8
Ist dann F die freie Energie des Gemisches aus N;^ -{- N, Molen, und
F^, bezw. F, die eines Mols der Bestandteile, so gilt:
F=N,F, + N,F,-(N,+N,)RTJxln|^ + (l--x)lnM
I Pi P« i
und ebenso:
X
F = N.F,+N,F.-(N,+N,)RT(l-x)/*ln:^.--4f-^i.
0
1
F = N,F, -N,F, -(N, +N,)RTxy*ln|?-.^J.
X
Aus den beiden letzten Gleichuogen folgt unmittelbar:
n . f] Pi dx A P, dx
(1 — x) I In-^- ri = x / In-?-.— ;
differenziert man diese Gleicbung zweimal nacb x, so folgt:
d In p, d In Pj
Ghemische Oleichgewiclite zweiter Ordnang. 639
eine iiberaus eiQfache Beziehung zwischen den Teildrucken eines be-
liebigen Gemisches in ihrer Abbangigkeit von dem Molenbruch x^).
Eine einfache Umformung ergiebt den noch symmetrischeren Ausdruck:
d In X d In pi
dlu(l— x)~dlnpj '
, 1 — X d In Pi
Oder = , , ^^ •
X d In P2
Schliesslich lasst sich die Gleichung schreiben:
dpi^ 1— X Pi
dpg X p, '
wodarch eine sehr nahe gegenseitige Bedingtheit der beiden Kuryen
ausgesprochen wird.
OL Andere Ableitung. Die grosse Einfachheit und Wichtigkeit
dieser Gleichung macht es wiinschenswert, ihren Sinn durch eine mog-
lichst iibersichtliche Ableitung deutlicher zu machen. Icb verdanke
Dr. R. Luther die nachstehende Entwicklung.
Die Losung besteht aus N^ und N, Molen der beiden Fliissigkeiten.
Wir betrachten zwei Anteile I und II von gleicher Zusammensetzung.
Von dem Anteile I lassen wir zfN^ Mole des Bestandteils 1 mittelst
einer halbdurchlassigen Wand (S. 637) nach II destillieren. Dadurch
steigert sich hier der Dampfdruck um dp^, und nehmen wir A so klein,
dass wir die Zunahme um dp^ als linear auffassen konnen, so ist die
dazu erforderliche Arbeit fiir jedes Mol des uberdestillierten Bestand-
teils gleich V«dpiVi = V«RT^, also fiir die JN^ Mole:
Pi
2 ^' p, •
Nun lassen wir dazu zfN, Mole der zweiten Fliissigkeit von I
JN N
nach II destillieren, so dass ^ =1^' Dadurch wird die urspriing-
liche Zusammensetzung beiderseits wieder hergestellt, und die gesamte
Arbeit muss Null sein.
Bei dieser Destination bestand anfangs der Druckunterschied dp,
zu gunsten der Destination, da durch den Ubergang der ersten Fliissig-
keit zu II der Druck p, erniedrigt worden war. Die Arbeit, welche
hierbei herausgenommen wird, betragt*) entsprechend --^*-«RT — —^
^ Pi
^) Dies ist die S. 632 mitgeteilte, aach Yon Lehfeldt unabh&ngig entwickelte
Gleichung.
*) £b ist zu beachten, dass dp, notwendig entgegengesetztes Zeichen hat,wie dpj.
41*
640 n. Chemische Dynamik.
und die Summe muss Null sein. Unter Weglassung der gleichen Fak-
toren folgt also:
Pi Vi
A A ^^l N,
"^^^' ^" ■Zn;=-n7'
Pi Pj
N N
was wegen :rj — ^-vr- = x und :j^^ — ^-=^ = 1 — x mit der vorigen Glei-
chung identisch ist^).
92. DiBkuBBion. Die Gleichung x-^+(l--x)-^ = 0 statuiert
Pi Pi
eine gegenseitige Bedingtheit der Teildruckkurven, welche gestattet, falls
die eine gegeben ist, Uber die andere etwas auszusagen. Zunachst
miissen, da x, 1 — x, pj und p, wesentlich positive Werte sind, -—
dp
und -p^- immer entgegengesetzte Zeichen haben. Ist also die eine
Kurve in ihrem ganzen Verlaufe aufsteigend, so muss die andere ab-
steigend sein, und jedem Maximum der einen entspricht ein Minimum
der anderen, und umgekehrt Die letztere Bemerkung ist Ton Belang
fur die Theorie der teilweise mischbaren Fliissigkeiten (s. w. u.).
Ist die eine Teildruckkurve, z. B. die des ersten Stoffes, eine 6e-
rade, so gilt p^ =xPi und dpj =Pidx. Daraus folgt -z 1 ^=0
1 — X p,
Oder integriert In (1 — x) = In p, + C.
Die Integrationskonstante ergiebt sich daraus, dass fur x = 0 der
Teildruck p, in den Druck P^ des reinen Stoffes iibergeht. Dadorch
wird C = — InP,, ln(l~x) = ln|^ und
p,=(l-x)P,.
Die zweite Teildruckkurve ist also auch eine Gerade, wenn die
erste eine ist^). Ferner sind in diesem Falle die beiden Eonstanten
des Henryscben Gesetzes fiir die Losung einer dor beiden Fliissigkeiten
umgekehrt proportional ihren Dampfdrucken und Molekularvolumen, und
zwar P^=^- und 0,=^^ (S. 613).
^) Vgl. auch Dolezalek, Zeitscbr. f. phys. Ghemie 26, 821. 1898.
') Dies Ergebnis steht im Widersprucb mit den S. 631 mitgeteilten Ver-
sucben und Anscbauangen von Linebarger.
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 641
RT
Ist die Konstante nicht gleich — 5-, so haben wir fur kleine x ge-
mass dem Henryschen Gesetz p^=axP| und dpi=aPidx. Wird dies
in die GleichuDg gesetzt, so hebt sich der Koeffizient a heraus und wir
erhalten wieder — ^ = — ; und p, = (1 — x) P,. Dies ist der Aus-
p, 1 — X r« V
druck des Gesetzes von Raoult und van't Hoff, dass die relative Dampf-
p
dmckyerminderung des Losungsmittels oder *p gleich dem Molen*
bmch X ist.
Hierin liegt der weitere Schluss, dass die Grenze des Henryschen
Gesetzes fur die eine Flussigkeit mit der Grenze des Raoultschen Ge-
setzes fiir die andere iibereinkommt. Ist also z. 6. x = 0 bis x = 0*2
ab die Teildruckkurve fiir p^ eine Gerade, so ist es auch die fiir p^ in
demselben Umfange. Gleichzeitig sieht man, dass sich die Giiltigkeit
des Raoultschen Gesetzes mit jedem beliebigen Werte des Henryschen
Eoeffizienten vertragt
Wenn die eine Teildruckkurve gegeben ist, und von der anderen
ein Wert von p, und einer von dp,/dx, so ist sie in ihrem ganzen
Verlaufe bestimmt. Nun ist fiir x = 1 notwendig p, = 0, und fiir x = 0
ist p3=3P,, d. h. gleich dem Drucke des reinen Stoffes. Ferner ist bei
x = 0 wegen des Raoultschen Gesetzes -p-^ = Pg, so dass die Kenntnis
dx
des Druckes des reinen zweiten Stoffes geniigt, um aus der Teildruck-
kurve des ersten Stoffes die des zv^eiten abzuleiten.
Insbesondere werden in dem Falle P^^rP, beide Teildruckkurven
vollkommen symmetrisch um die Ordinate x = 1 — x = 0«5. Werden
also zwei Fliissigkeiten von gleichem Dampfdrucke gemischt, so stimmen
beide Teildruckkurven voUstandig miteinander iiberein.
Sind die Drucke P^ und P, verschieden, so ist die eine Kurve in
solchem Sinne ein Spiegelabbild der anderen, dass zwar der senkrechte
Massstab verschieden ist, die Zeichen des ersten und zweiten Differen-
tialquotienten aber stets entgegengesetzt sind, auch beide daher gleich-
zeitig durch Null gehen. Es wiederholt sich mit anderen Worten der
Gang^ der ersten Teilkurve beziiglich des Steigens oder Fallens, und
bezilglich der konvexen und der konkaven Kriimmung, sowie des Wende-
panktes an der zweiten Teilkurve, nur in anderem Massstabe.
Diese Verhaltnisse werden durch Fig, 87 (S. 642) veranschaulicht,
wo zo der willktirlich gezeidhneten Teilkurve I die drei abgeleiteten des
zweiten Stoffes, Ha, lib und lie fur P, >P,, P, = Pj und P, <Pj
gegeben sind.
642
II. Chemische Dynamik.
Beziiglich der S.617u. ff. gegebenen Erorterungen folgt hieraas, dass
nur Kurven von gleichem Typas gleichzeitig auftreten konnen, also
nur a mit a, b mit b oder zwei 6e-
rade. Eine Kombination zweier Teil-
druckkurvea von den TersGhiedenen
Typen a und b ist nicht moglich. So-
weit also die hier entwickelte Theorie
Geltung hat, werden also die in Fig. 75
gezeichneten Falle nicht moglich sein,
d. h. es wird nie ein Maximum neben
einem Minimum allein auftreten konnen,
sondern die Zahl der ausgezeichneteo
Punkte kann nur 0, 1 oder 3 betragen.
Die gemachten Voraussetzungen
beschranken sich auf die Giiltigkeit
der Gasgesetze und die Konstanz
von R. Die Theorie yerliert also ihre
Geltung fiir Dampfe mit yeranderlichei
Dichte, wie die Essigsaure. Ober den
Molekularzustand der Flussigkeiten ist
keine Voraussetzung gemacht
Die grosse Zahl von merkwiir-
digen Resultaten aus der Differential-
gleichung lasst eine ezperimentelle Untersuchung des Gebietes, abge-
sehen von seiner Bedeutung fiir die Feststellung der ^wirksamen Menge",
fur Losungen eudlicher Eonzentration von grossem Interesse erscheinen,
und solche Arbeiten sind deshalb in Gang gebracht worden.
93. Anwendongen. Da man aus der einen Teildruckkurye rer-
moge der Formel x , ^^ + (1 — x) , = 0 die andere ableiten
° dx ^ ^ dx
kann, ergiebt sich als Summe beider die Kurve der Gesamtdmcke U.
Es geniigt also eine Kurve, um die beiden anderen zu bestimmen, und
man kann umgekehrt aus der 17- Kurve die beiden Einzelkurven ab-
leiten. Dies ist von Margules^) folgendermassen geschehen.
Eliminiert man p, mittelst der Gleichung Pi -f- Pt == ^ aus der
Differentialgleichung, so folgt:
1st n als Funktion von x bekannt, so ist auch p^ bestimmt
^) a. a. 0. S. 23.
Fig. 87.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnang. 643
Die thatsachliche BerechnuDg macht Schwierigkeiteii) die in der
Integration der Differentialgleichung liegen. Margules nahnoi an, dass
die Teildrucke sich durch Gleichungen von der Gestalt
darstellen lassen. Zwischen den Eoeffizienten miissen dann wegen der
Differenzialgleichung die Beziehungen bestehen:
1*0 = «o — «1 /*!=««+ «3 H
fii = — Ot /J3 = — cf, — 2 a^ • • •
Femer ist:
^ = ^(ao-a,z-«,x(l-z)-...).
^=l^(-iS,+^i(l-x) + |S.x(l-x) + ...)
und fur x=:0 ^ = _ (^„ _ ^,)P, ,
furx = l ^ = («o-«i)Pi.
nnd wegen des Raoultschen Gesetzes:
farx = 0 ^ = _P,,
dx
dx
und folglich a^, = ^^ = 1 , a^ = /Jj = 0.
Endlich sind an den Enden die Neigungswinkel der Kurven
fur x = l
(^^)=_p..-*.-=(-)-p..
Nach diesen Formeln hat Margules die Messungen von Eonowalow
an Gemengen Ton Methyl- und Athylalkohol niit Wasser berechnet.
Die umstehenden Figuren 88 u. 89 (S. 644) geben seine Resaltate wieder.
Wie man sieht, handelt es sich in beiden Fallen um Teilkurven Tom
Tjpua a (Fig. 72, S. 617).
644
II. GhemiBche Dynamik.
Au8 den Teildruckkurven lasst sich alsbald die ZusammensetzuDg
des Dampfes berechnen, welche jedem Werte von x entspricht Die
Fig. 88.
Fig. 89.
nachstehende Tabelle giebt die Zahlen wieder; die Druckwerte bezieben
sich aaf den des reinen Wassers bei
Einheit.
80^ (3549 cm Quecksilber) als
Prozente Alkohol
X
Pi
Ps
n
in der FitUsigkeit
imDampf
0
0
1
1
0
0
01
0.726
0920
1.65
10
50-5
0-2
1.029
0.868
1.90
20
65.0
0-8
1182
0.830
201
30
717
0.4
1289
0792
2.08
40
76-4
0-5
1.895
0742
2.14
60
780
0-6
1.521
0667
219
60
80.0
0.7
1-673
0557
223
60
823
08
1856
0406
226
80
85-6
09
2.065
0216
2-28
90
914
1.0
2291
0
229
100
100
94. Die VerdampftingBw&rme. Aus einer grossen Menge des Gre-
misches, dessen Zusammensetzung durch den Molenbruch x gegeben iBt,
lassen wir Dampf sich entwickeln, bis N^ Mole des ersten and N, Mole
des zweiten Bestandteils in Dampf iibergegangen sind. Ist die Fldssig-
keitsmenge gross genug, so wird ibre Zusammensetzung sich nicht andern,
und die Verdampfung wird, wenn die Temperatur konstant gleich T ist,
auch bei konstanten Teildrucken pj und p, und daher auch bei kon-
stantem Gesamtdruck if=Pi-f-Pi vor sich gehen. Daher werden wir
auch eine Verdampfungsgleichung aufstellen konnen, welche der einer
einheitlichen Fliissigkeit ganz ahnlich ist Ist fur eine solche L die
Verdampfungswarme eincs Mols, so gilt (S. 350):
Chemische Oleichgewichte zweiter Ordnang. 645
dp/dT = L/vT, .
Oder, falls die Qasgesetze als giiltig angenommen werden,
dp/dT = pL/RT«
Nun setzt sicb in diesem Falle die Yerdampfungswarme aus zwei
Gliedem znsammen: den Verdampfungswarmen Lj und L^ der beiden
einzelnen Bestandteile aus einer unendlich grossen Menge der Losung.
Jede dieser Verdampfungen erfolgt unter dem entsprechenden Teildrucke
Pi und p^, und somit haben wir:
dpJdT = PiLi/RT« und dp,/dT = p,L,/RT«,
Oder addiert, da p^ -|~ Pt = J^^
di7/dT = ^\+^Pl.
Da nun das Verhaltnis der Teildrucke zum Gesamtdruck gleioh
dem entsprechenden Molenbruch im Dampfe ist, also
Pl = _J?1 und P«=— ^?— ,
n % 4" "« ^ "i 4" "a '
80 konnen wir die Gleichung in der Form schreiben:
dI7/dT = LZ7/RT^
wodurch sie vollstandig mit der einfachen iibereinstimmt. Darin hat
L den Wert:
L ist also die Yerdampfungswarme eines Mols der Losung, d. h. einer
solchen Menge, die in Dampfform denselben Raum einnimmt, wie ein
Mol eines einheitlichen Stoffes unter gleichen Umstanden.
Um die Beziehung der Yerdampfungswarme aus der Mischung mit
der der reinen Stoffe aufzustellen, beachten wir, dass im ersten Falle
die Fliissigkeit entmischt werden muss. Es ist also der Yerdampfungs-
warme der reinen Stoffe die Warme zuzufiigen, welche bei der Mischung
ausgetreten war. Besteht die Fliissigkeit aus Nj + N, Molen der beiden
Bestandteile, welche bei der Yermischung die Warmemenge W aufge-
nommen haben, so ist die Entmischungswarme fiir ein Mol des ersten
Bestandteils gleich — dW/dNj und fur ein Mol des zweiten — dW/dN,.
Zieht man diese von der Yerdampfungswarme aus der Losung ab, so
folgt die der reinen Fliissigkeit D^, bez. Dj. Wir haben demnach
Di==Li +dW/dNi und D, =Lj + dW/dN,. Andererseits gelten fiir
die reinen Flussigkeiten die Formeln Dj ==RT*.dlnPi/dT und Dj =
BT*. dlnPg/dT, so dass wir schliesslich haben
646 II. Ghemisclie Dynamik.
L, + dW/dNi = RT«. dPjdT
und L, + dW/dN, = RT«.dlnP,/dT.
Hier sind die Teildrucke aus dem Gemische durch die Dampfdrucke
der reinen Flussigkeiten ersetzt.
Die einzelnen Verdampfungswarmen L^ und L^ stehen ferner mit
den Teildrucken in einfachen Beziehungen. Aus Pi -f- Pf = /7 und
1*1 Pi + L, Pj = LI7 folgt:
Pi _ Pi _ ^^ — ^» . Pa _ "i _ %_Ji:il.
n »! + "i Lj — L, * n «! + Pj Lj — L,
Die Ausdriicke fiir die Verdampfungswarmen lassen sich in dei
Form schreiben:
woraus folgt:
Lj d In pi L, d In p,
RT~TSY' RT"""dkT'
Pi Li — Lj,
("PiN Pi
^P2>' P«
dT\p,/ p^ RT=
Die Anderung der Teildrucke, und somit die Zusammensetzung dee
Dampfes mit der Temperatur wird ihrem Zeichen und Werte nach
durch den Unterschied ihrer Verdampfungswarmen aus der Losung be-
stimmt. , I p
Vergleicht man diese Ausdriicke mit denen fiir _ , so folgt:
1 bW ^ d p, p, 1 6W
^/"Pl^ — — Pi ^
iTVP,/ ?/ RT*
dTVP,/ Pi RT» 6Ni dTP, P, RT« bN,
Hiernach kann man die Teildrucke der Losung aus den Einzel-
drucken bezeichnen, wenn ausserdem die Mischungswarme W in ihrer
Abhangigkeit vom Molenbruche und der Temperatur gegeben ist*).
Nennen wir die Mischungswarme w eines Gesamtmols der Losung
N N
(gleich ;j^ — p-j^ Mole der ersten plus ^ — *-rj- derzweitenFliissigkeit),
so ist W = (Ni +N,)w, und bei Einfuhrung von x^ =^ il v" fo^8^-
dW , ^^ .dw
dN: = ^ + ^^-^)dx
dW dw
und -jT^r^^^^ — ^"1 — '
dNg dx
Fiir die linken Seiten sind die Werte oben gegeben worden; fiihrt
man sie ein, so folgt:
^) Vgl. R. Luther, Zeitschr. f. phys. Cbemie 26, 317. 1898.
Chemische Gleichgewichte zveiter Ordnung.
647
woraus sich alsbald ergiebt:
w = RT«
dT
nnd
di="^ dT
^ Pi Pf/
^ Pi Pi''
Die erste Gleichung giebt eine Beziehang zwischen der Mischungs-
warme und den Teildrucken and ist bereits von Nernst^) aufgestellt
worden; die zweite stellt die Veranderlichkeit der Mischungswarme mit
dem Molenbruche dar.
Gemass den am Anfange dieses Abschnittes gegebenen Formeln
bat Margules aus Messungen von Winkelmann ^) und Dupr^') iiber die
Mischungswarme von Athyl-, bez. Methylalkobol mit Scbwefelkohlenstoff
und Wasser Interpolationsformeln berechnet, aus denen die Differential-
quotienten abgeleitet werden konnten. Die Dampfdrucke und deren
Temperaturkoeffizienten entnahm er den Messungen von Reguault, und
berechnete hiermit die Verdampfungswarmen dor Bestandteile aus den
verschiedenen Losungen. Die nachstebende Tabelle ergiebt die gefun-
denen Zahlen.
Alkohol-Wasser
Methylalkohol-
Alkohol-Schwefelr
0«
30*
1
Wasser bei IS^"
kohlenstoff bei 0*
T
Li
U
Li
L.
Li
L.
Lx
L.
S^
RT
Rt
RT
RT
RT
RT
RT
Rt
0-0
23-88
19-52
20-21
1740
18-67
18-23
17-25
1248
0^1
22-92
1955
19-49
17-42
17-84
1798
17-37
12-46
02
20-88
1969
18-10
17-51
16-76
1786
17-60
12-40
03
19.10
19-92
17-09
17-64
15-98
17-89
17-78
12-30
04
18-19
2010
1667
1773
15-64
1795
17-88
1222
05
17-98
2017
16-55
17-76
15-57
1801
1793
12-14
06
iao3
20-14
16-55
1776
15-49
18-16
17-99
1202
07
18-09
20-10
16-62
1771
1549
18-40
18-04
1185
0-8
18-10
20-09
16-67
17-66
15-63
18-68
18-09
1169
a9
18-10
20-09
16-67
17-65
15-90
18-83
18.10
11-58
1^
18-10
2009
et. Chemie
1667
, S. 104.
17-67
16-16
18-96
1810
11-48
3
0 Theor
!
■) Pogg.
Ann. 150,
286. 1878.
1
») Fogg.
Ann. 148,
692. 1878.
648
II. Ghemische Dynamik.
In der Tabelle sind die molekularen Verdampfungswarmen, divi-
diert durch die absolute Temperatur fur 11 Werte Ton x yerzeicbnet
Wie man sieht, andern sich diese teilweise recht stark, teilweise sehr
20
i9
i8
k'-
i7
ie
X
Fig. 90.
Fig. 91.
wenig. Der Verlauf fur Alkohol-Wasser bei 30^ und Methylalkobol-
Wasser bei 18® ist in Fig. 90 und 91 dargestellt; die weniger ge-
kriimmte Kurve bezieht sich in beiden Fallen auf Wasser.
Kritische Punkte bei Gemengen.
95. Allgemeines. Wenn eine einheitliche Flussigkeit bei steigender
Temperatur mit ihrem Dampfe im Gleicbgewicht gebalten wird, so ist
dazu ein steigender Druck erforderlich. Dabei pflegt das spezifiscbe
Volum der Flussigkeit zu wacbsen, indem die Ausdehnung durch die
Temperatursteigerung die Volumverminderung durch die entsprechende
Drucksteigerung ubertrifft. Umgekehrt verhalt sich der Dampf; sein
spezifisches Volum wird mit steigender Temperatur kleiner. Beide spe-
zifischen Volume nahern sich daher mit steigender Temperatur und
steigendem Druck und werden bei bestimmten Werten dieser beiden
gleich. Diese, nur von der Natur der Fliissigkeiten abhangigen Werte
von Druck, Temperatur und spezifischem Volum heissen die kritischen.
Beim kritischen Punkte werden samtliche Eigenschaften der beiden
Phasen identisch; insbesondere gilt dies fiir das spezifische Volum und
die spezifische Entropie (S. 341), so dass mit der Annaherung an den
kritischen Punkt die Volumanderung und Verdampfungswarme in Null
iibergehen.
GhemiBche Oleichgewichte zweiter Ordnung. 649
Versuchen wir, fur biaare Gemenge die entsprechenden Begriffe
zn bilden ^), so werden wir es uns vor alien Dingen gegenwartig halten,
dass hier eine Freiheit mehr vorhanden ist, und dass der Dampfdruck
eines solchen Gemenges keine eindeutige Zahl mebr ist, sondern von
dem Verhaltnis zwischen fester und fliissiger Phase abhangt, da die
Zasammonsetzung beider im allgemeinen verschieden ist.
Dies macht sich zunachst in den Gestalten der Zustandskurven,
bez. -flachen, z. 6. der Isothermen, geltend. Unterwerfen wir ein 6e-
meDge zweier Dampfe isotherm einem wachsenden Druck, so wird zu-
nachst das Verhalten yon dem eines einfachen Dampfes oder Gases
nicht zu unterscheiden sein: das Volum andert sich umgekehrt pro-
portional dem Druck, und bei erheblicheren Werten des Druckes treten
die bekannten Abweichungen von dem Gasgesetze ein. Auch erscheint
bei einem bestimmten Druck die erste Fliissigkeit. Hier aber beginnt
der Unterschied. Wahrend ein einheitliches Gas nun seinen Druck bei
ireiterer Volumverminderung nicht andert, bis alles in die fliissige Form
iibergegangen ist, erfordert bei einem Gemenge die Fortsetzung der
Verfliissigung einen bestandig zunehmenden Druck, bis die Dampfphase
vollstandig verschwunden ist Eine Ahnlichkeit mit dem Falle des ein-
heitlichen Stoffes ist nur noch darin Torhanden, dass die erforderliche
Drackzunahme klein ist im Verhaltnis zur Volumverminderung, und dass
die Isotherme der heterogenen Zustande sich an die beiden homogenen,
den Dampfzustand einerseits und den flussigen andererseits, mit einem
Knick ansetzt. Ist dann die ganze Masse fliissig geworden, so liegt
wieder Ubereinstimmung mit einem einheitlichen Stoffe vor: das Volum
andert sich fur bedeutende Druckanderungen nur wenig mehr, und die
Isotherme verlauft fast parallel der Druckaze.
Ein Unterschied ist also nur im heterogenen Teile der Isotherme
vorhanden und macht sich darin geltend, dass hier nicht ein einziger
Druck herrscht, sondern dass dieser zwischen zwei Grenzwerten alle
moglichen Zwischenwerte annehmen kann. Der kleinste gehort dem
^) Die hier auftretenden Fragen sind besonders eingehend von J. P. Euenen
tkeoretisch und namentlich auch experimentell auf den von van der Waals (Ztschr.
t phys. Chemie 5, 133. 1890) gegebenen Qrundlagen Btudiert worden, dem wir die
Eenntniase auf diesem Gebiete wesentlich verdanken. Seine Ergebnisse finden sich
nittmmengefasBt in der Zeitschr. f. phys. Chemie 11, 38. 1893 und 24, 667. 1897.
Vgl. auch seine elementare Darstellung in der Zeitschr. fUr komprimierte und
flfissige Gase 1, 153. 1897. Selbst&ndig ist, zum Teil schon frUher, die Theorie
in einem gewissen Umfange von Duhem (Dissol. et melanges III, Trav. et m^m.
de ]a Fac. de Lille Nr. 13, S. 47. 1894) entwickelt worden. Vgl. auch dessen Auf-
tttz iu Journ. of phys. chem. 1, 273. 1897.
650 II- Ghemische Dynamik.
Gemenge an, das sich eben zu verflussigen beginnt, der grosste dem,
welches eben ganz flussig geworden ist. Man kann auch sagen, dass
der kleinste Wert vorhanden ist, wenn das Gemenge wesentlich aus
Dampf, der grosste, wenn es wesentlich aus Fliissigkeit besteht.
Im iibrigen wird der Betrag dieses Unterschiedes von der Natar
der beiden Stoffe und von ihrem Mischungsverhaltnis abhangig sein.
Fugt man zu dem einen Stoffe nur eine geringe Menge eiues anderen,
so wird auch die Abweichung der Isotherme von der des reinen Stoffes
nur gering sein. Hierbei machen sich indessen schon wesentliche Untei-
schiede geltend. Ist der zugesetzte Stoff schwerer zu Terfliissigen, hat
er also einen grosseren Dampfdruck bei gegebener Temperatur (beson-
dere Wechselwirkung zwischen den Bestandteilen soil ausgeschlossen
sein), so wird er sich beim Beginn der Verfltissigung wesentlich in der
Dampfphase ansammeln, und auf den Vorgang zunachst nur geringen
Einfluss haben. In dem Masse, wie der Dampf verflussigt wird, konzen-
triert sich der Zusatz in der Dampfphase, und beeinflusst das Gleich-
gewicht starker und starker. Die Abweichung der Isotherme des 6e-
misches wird also sich namentlich bei kleinen Volumen geltend machen.
Diese Einfltisse nehmen natiirlich zu, wenn der Zusatz des zweiten
Stoffes vermehrt wird, und der Unterschied zwischen dem Druck beim
Beginn und beim Ende der Verflussigung wird grosser. Er wird seinen
grossten Wert in der Nahe des Gemisches haben, das aus gleichen
Molen der beiden Dampfe zusammengesetzt ist (wobei natiirlich die
Natur der beiden Stoffe einen gewissen Einfluss hat); dariiber hinaus
nimmt das Gemisch mehr und mehr die Eigenschaften des zweiten
Bestandteils an.
Besteht das Gemisch wesentlich aus diesem zweiten Stoffe, d«r
leichter fliichtig ist, als der erste, so wird es sich beim Verflussigen
umgekehrt verhalten, wie das erstbeschriebene. Es wird beim Beginn
der Verflussigung zunachst der schwerer flUchtige Zusatz in die flusnge
Phase iibergehen, und die Dampfphase wird reiner in Bezug auf ihn.
Dadurch ist es bei beginnender Verfliissigung wesentlich die fliissige
Phase, welche grosse Anderungen der Zusammensetzung erleidet, and
an dieser Stelle machen sich daher auch die Abweichungen you der
einfachen Isotherme geltend. Nahert sich die Verfliissigung dem Ende,
so erfahren die beiden Phasen in ihrer Zusammensetzung nur rdatiT
geringe Anderungen mehr, und die Isotherme schliesst sich der der
reinen Stoffe an.
Auch bier werden die Unterschiede der beiden Grenzdrucke um
so kleiner, je geringer der Zusatz des zweiten Stoffes ist
Chemische Oleichgewichte zweiter Ordnung.
651
Die beiden typischen Formen der Isotherme eines Gemisches sind
in Fig. 92 und 93 dargestellt. Die Unterschiede werden um so ausge-
pragter sein, je mebr die beiden Bestandteile in ibren Eigenscbaften
L.
Fig. 92.
Fig. 93.
von einander abweicben; je abnlicber sie einander sind, um so mebr
yerteilt sicb die Beeinfiussung iiber das ganze Gebiet der Isotherme,
and um so geringer wird dor Unterscbied zwiscben den beiden Grenz-
fallen.
96. Der kritische Funkt. Lasst man die eben bescbriebenen Vor-
gange bei immer boberen Temperaturen und Drucken erfolgen, so wird
der Unterscbied zwiscben der Fliissigkeit und dem Dampfe immer
kleiner werden. Das Verfliissigungs-
gebiet aber wird immer scbmaler, und
schliesslicb fallen die beiden Punkte
zusammen. Dann bestebt zwiscben
Fliissigkeit und Dampf kein Unter-
achied mebr, und wir baben eine Er-
scbeinung, die man dem kritiscben
Punkte bei einbeitlicben Stoffen ganz
an die Seite stellen kann.
Figur 94 stellt eine derartige
Reibe von Isotbermen dar; sie unter-
scbeidet sicb zunacbst von der fiir
einen einheitlicben Stoff dadurcb, dass
die mittleren Teile der Isotbermen nicbt gerade Linien sind, sondern
gekrilmmte.
Indessen sind ausserdem nocb einige wesentlicbe Unterscbiede vor-
handen, deren Erkenntnis erst der neueren Zeit angehort. Wahrend bei
Fig. 94.
652
II. Ghemische Dynamik.
eiuheitlichen Stoffen der kritische Punkt gleichzeitig die hochste Tern-
peratur und den hochsten Druck darstellt, bei denen man Flussigkeit
nebeu Dampf haben kann, fallen diese drei Punkte bei 6e-
mischen nicbt zusammen. Der kritische Punkt, d. h. der Punkt,
bei welchem Fliissigkeit und Dampf gleiche Dichte haben, ist nicht die
hochste Temperatur, bei welcher zwischen beiden ein verschwindender
Unterschied besteht, und auch nicht der hochste derartige Druck.
97. Die Druok-Temperatorkiirven vom Q^misohen. Die wobl-
bekannte Dampfdruckkurve der einfachen Stoffe, welche mit steigender
Temperatur ansteigt und am kritischen Punkte mit einem endlicben
Werte des Quotienten dp/dt endet, geht im Faile der Gemenge in ein
mehr oder weniger breites Band liber, das im allgemeinen noch die
Fig. 95.
Fig. 96.
Form der Dampfdruckkurve hat. Denn da der Druck nicht mehr eine
Funktion der Temperatur allein, sondern auch eine des Volums oder
der Zusammensetzung ist, gehort zu jeder Temperatur eine ganze Reihe
von Drucken; der kleinste entspricht dem grossten Volum oder dem
Beginn der Verfliissigung, der grosste dem kleinsten Volum oder der
eben voUendeten Verfliissigung. Bei der Annaherung an den kritischen
Punkt werden sich diese beiden Grenzwerte nahern, und im kritischen
Punkte selbst werden sie identisch.
Die Gestalt dieses Bandes wird also wie in Fig. 95 dargestellt sein.
Die Gesamtheit der kleinsten Druc]^werte der beginnenden Verfliissigung
bilden die untere Grenzkurve, die der grossten Druckwerte der be-
endeten Verfliissigung die obere Grenzkurve; beim kritischen Punkte
gehen beide stetig ineinander iiber.
Chemische Oleichgewichte z^eit^ti^^^ssii^''*^'^ 653
Denken wir uns nun die Dampfdruckkurve einer reinen Fliissigkeit
durch I in Fig. 96 dargestellt. Wird etwas einer anderen Fliissigkeit
mit geringerem Dampfdruck und kleineren kritischen Werten dazuge-
setzt, so wird im allgemeinen das entsprechende Druck-Temperatur-Band
eine Gestalt wie a haben. Die Entfernung der beiden Grenzkurven
wird zunachst klein sein, so lange die Menge des fremden zweiten
Stoffes klein ist. Bei grosseren Zusatzen wird das Band breiter werden,
bis es etwa bei gleichen Anteilen der beiden StofiFe seine grosste Breite
annehmen wird, b. Oberwiegt jetzt der zweite Stoff, so wird das Band
wieder schmaler, c, beide Grenzkurven riicken einander wieder naher,
und scbliesslich geht die letzte in die Dampfdrucklinie der einfachen
Fliissigkeit II liber.
Denkt man sich die Bander nicht fiir einzebie Gemische bestimmt,
sondern fiir die stetige Anderung des Verhaltnisses zwischen beiden
Fltissigkeiten, so bildet ihre Gesamtheit eine Fiache, die an zwei Seiten
fon den Dampfdruckkurven der beiden reinen Fliissigkeiten, und an der
dritten Seite Ton einer Kurre begrenzt ist^), welche die kritische Kurve
genannt werden mag. Die kritische Kurve hiillt alle Dampfdruckbander
der samtlichen Gemische ein, und wo die Grenzkurve des zu einer be-
stimmten Mischung gehorigen Bandes die kritische Kurve beriihrt, dort
ist der kritische Punkt des Gemisches, d. h. der Punkt, bei welchem
flussige und gasformige Phase identisch werden.
98. Betrograde Kondensation. Die kritische Kurve kann ver-
schiedene Form und Lage haben; da es scheint, als wenn alle denk-
baren Falle auch vorkommen, so soil auf alle Moglichkeiten Riicksicht
genommen werden.
Sei G, Fig. 97 (S. 654), die Grenzkurve eines bestimmten Gemisches.
Dann giebt es einen hochsten Punkt M, welcher den hochsten Druck dar-
stellt, bei welchem das Gemisch heterogen sein kann. Ebenso giebt es einen
zumeist nach rechts liegenden Punkt R, der die hochste Temperatur
angiebt, bei welcher Heterogenitat vorhanden sein kann. Der kritische
Punlct P kann dann drei verschiedene Lagen haben: links von M, zwischen
M und R und iiber M hinaus, so dass sich die drei Punkte in der
Ordnung PMR, MPR und MRP folgen. Jeder dieser drei Falle zeigt
ein besonderes Verhalten.
') E>6 slnd aach F&lle mdglich, wo ein Toil der Gemische seine Eurven
aosserhalb dieses Gebietes liegen hat. Prinzipiell wird an den hier durchge-
f&hrten Hetrachtungen dadurch nichts ge&ndert, und dieser hesondere Fall wird
welter an ten erOrtert werden.
O s t ^ a I <1 • C'hemie. II, a. 2. Aufl. 42
654
TT. Ohemische Dynamik.
Studieren wir zunachst den am haufigsten vorkommenden FallMPR.
Dann liegt die kritische Kurve wie in Fig. 97 nach rechts abfallend.
Links vom kritischen Punkte ist ausserhalb des Bandes das Gebiet des
fliissigeu Zustandes, rechts von ihm das des gasformigen. Innerbalb
des Bandes ist das Gemisch beterogen, und zwar enthalt es um so mehr
Fliissigkeit, je naher der darstellende Punkt an dem links von P liber
M hinaus gebenden Telle der Grenzkurve liegt, und umgekehrt. Halten
Fig. 97.
wir hieran fest, so konnen wir das Verhalten cines Gemisches bei
beliebigen Anderungen von Druck und Temperatur, insbesondere auch
auf verschiedenen Isothermen und Isobaren ablesen.
Auf der Isotherme ta verlauft alles normal; verfolgt man sie von
unten nach oben in die steigenden Drucke hinauf, so haben wir an-
fangs Dampf, dann Dampf neben Fliissigkeit, und zwar letztcre zunehmend,
und schliesslich Fliissigkeit.
Das Gleiche gilt fiir die Isobare pa. Aus dem fliissigen Zustande
bei niederen Temperaturen gelangt man in das heterogene Gebiet, die
Chemische Qleichgewichte zweiter Ordnung. 655
Dampfmenge nimmt zu, und schliesslich befiodet man sich im Gebiete
des Dampfes alleiu.
Diese normalen Verhaltnisse bleiben bis za der kritischen Iso-
therme tt und der kritischen Isobare pk bestefaen.
Betrachten wir nun aber eine Isotherme tb, welche etwas hoher
liegt, als dem kritischen Punkte P entspricht Wir gehen wieder von
niederen Drucken im reinen Gasgebiete aus, und gelangen bei b in das
heterogene Band, wo sich Fliissigkeit abzuscheiden beginnt. Soweit
ist alles normal. Erhohen wir den Druck noch weiter, so schneiden
wir die Grenzkurve noch einmal in ^y aber nicht an der Seite der
Fliissigkeit, sondern wieder an der des Gases. In /} ist unser
Gemisch also wieder gasformig; die anfangs bei b entstandene Fliissig-
keit muss sich also zuerst vermehrt, spater aber wieder vermindert
haben, bis sie in ^ verschwunden ist. Dieser letzte Teil des Vorganges
steht im Widerspruch mit dem Verhalten einheitlicher Stoffe, bei denen
immer mit steigendem Druck Vermehrung der flUssigen Phase verbunden
ist; er ist Ton Euenen daher retrograde Eondensation genannt worden.
Ganz ahnliche Verhaltnisse ergeben sich bei der Betrachtung der
Isobaren pc. Beginnt man mit der homogenen Fliissigkeit und erwarmt
sie bei konstantem Drucke, so wird sie bei c heterogen, indem sich
Dampf bildet. Bei 7 tritt wieder Homogenitat ein, aber wieder auf
der Seite der Fliissigkeit. Die Dampfmenge hatte sich also zuerst
Fermehrt, spater aber wieder vermindert und ist in ^ voUstandig ver-
schwunden. Wahrend des zweiten Teiles dieses Vorganges ist also durch
Temperaturerhohung Verfliissigung eingetreten, wieder im Gegensatz zu
dem Verhalten der einheitlichen Stoffe. —
Der Fall MRP erfordert eine Lage der kritischen Kurve, wie sie
in Fig. 98 (S. 656) dargestellt ist. Wieder ist das Verhalten bis zu den
kritischen Grossen das gewohnliche, wahrend zwischen diesen und den
Werten M, bez. R die Anomalieen auftreteu. Wir betrachten zunachst
wieder die Isotherme tb. Sie liegt, wie man sieht, Yon vornherein so,
ds88 sie die Grenzkurve nur im fliissigen Gebiete schneiden kann.
Bei b tritt der erste Dampf auf. Bei /9 verlassen wir das heterogene
Gebiet im Fliissigkeitsteile der Grenzkurve; dort ist der Dampf also
wieder verschwunden. Hier haben wir also beim Eintritt b die Ano-
malies dass durch Drucksteigerung die Fliissigkeit Dampf ent-
wickelt; spater verhalt sich das Gemisch normal, denn durch weitere
Dracksteigerung wird der Dampf zum Verschwinden gebracht.
Dies ist gerade das entgegengesetzte Verhalten, wie wir es an der
anomalen Isotherme der Fig. 97 kennen gelernt haben. Dort gingen
42*
656-
II. Chemische Dynamik.
wir mit steigendem Drucke Yom Gase durcb das heterogene Gebiet zum
Gase iiber, bier yon der Fliissigkcit durcb das beterogene Gebiet zur
FlUssigkeit. Kuenen hat den ersten Fall retrograde Kondensation der
ersten Art genannt, r. a I; den zweiten Fall retrograde Kondensation
der zweiten Art, r. c. II.
Untersucben wir in gleicber Art die Isobare pe, so finden wir ge-
nau diesclben Verbaltnisse, wie im Yorigen Falle: die Fliissigkeit ?er-
fliiss^^
Fig. 98.
t
wandelt sicb bei steigender Temperatur teilweise in Dampf, dieser ver-
scbwindet aber bei weiterer Temperaturerbobung und wir kommen
wieder in das Gebiet der bomogenen Fliissigkeit.
Die dritte Moglichkeit PMR fur die Lage der kritiscben KuTve
ist durcb Fig. 99 angegeben; aucb bier sind die anomalen Ersobeinangen
auf das Gebiet zwiscben den drei Punkten bescbrankt. Untersucht man
in der gcwobnten Weise die Isotberme, so ergiebt sicb, da sie die
Grenzkurve beiderseits im Gasgebiete scbneidet, retrograde Kondensation
der ersten Art, also nichts neues. Dagegen zeigt die Isobare pe ein
anderes Verbalten, als in den bisberigen Fallen.
r
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnung.
657
Sie tritt bei b durch den Dampfteil der kritischen Kurve in das
heterogene Gebiet, und yerlasst dieses gleichfalls im Dampfteile. Es wird
somit durch Temperaturerhohung das urspriinglich homogen dampf-
formige Gemisch Fliissigkeit ausscheiden, deren Menge ein Maximum
erreichen und bei weiterer Temperaturerhohung wiederYerschwinden wird.
Dcunvpf
Fig. 99.
Bezeichnen wir sowohl fur die Isothermen wie fur die Isobaren die
Folge Gas : heterogen : Gas mit I, die Folge Fliissigkeit : heterogen :
Fliissigkeit mit II, so haben wir folgende Ubersicht:
Isothermen
Isobaren
Fall PMR
I
I
Fall MPR
I
II
Fall MRP
II
II
Die Symmetrie dieser Beziehungen gestattet ein leichtes Einpragen.
99. jBxperimentelle FriLfting. Auffallende Erscheinungen bei der
Verfliissigung von Gasgemischea waren scbon you Andrews beobachtet
(358 II- Ghemische Dynamik.
wordea; docb sind sie erst uach seiiiem Tode durch Stokes verofieiit-
licht^). Sie kamen darauf hinaus, dass Gemeuge von Luft und Kohlen-
dioxyd bei bestimmten Temperaturen unter steigcndem DiTick erst
Fliissigkeit abschiedcn, und spater sich wieder in Gas Yerwandelteo.
Noch vor der Mitteilung dieser Beobacbtungen wurde etwas ganz abn-
licbes von Cailletet*) berichtet, ebenso von van der Waals').
Die ersten Scbritte fiir eine rationelle Theorie der Erscheinungen
sind dann von Duhem*) und van der Waals^) getban worden. Doch
gelang es nocb nicht, die beobacbteten Erscbeinungen mit den Forde-
rungen der Tbeorie in einen einfacben Einklang zu bringen.
Das Verdienst, die Ursacbe biervon aufgezeigt, und damit den Weg
zur Abbiilfe gefunden zu baben, kommt J. P. Kuenen®) zu, der unter
der Leitung von van der Waals sich der Durcbarbeitung dieser Er-
scbeinungen gewidmet hat. Er wies vor alien Diugen nach, dass die
von den friiheren Beobachtern mitgeteilten Thatsacben sich auf unge-
niigend definierte Zustande bezogen. Die Diffusion, auf welcber allein
bis dahin die Herstellung der Gleicbgewicbtszustande berubt hatte,
wirkt yiel zu langsam; Miscbung durch Konvektion war wegen der
Enge der angewandten Rohren so gut wie voUig ausgescb lessen. Es
war darnach von Zufalligkeiten abbangig gewesen, welche Vorgange
man bei der Zusammendriickung von Gasgemiscben beobachtete.
Euenen vermied diese Unvollkommenheit, indem er in die Robre
einen Riihrer in Gestalt eines Eisenstabchens brachte, der durch einen
von aussen wirkenden Elektromagneten bethatigt wurde. Dadurch wurde
es moglich, ganz iibereinstimmende Ergebnisse zu erlangen.
Es ergab sich, dass am baufigsten der Fall MPR fur die drei
Lagen der drei cbarakteristischen Punkte eintritt. Demgemass gelang es
ihm, retrograde Kondensation der ersten Art bei konstanter Tempe-
ratur und wachsendem Druck leicbt zu beobacbten ^). Als Beispiel sei
eine Reihe^) mit 04 Kohlenozyd und 0*6 Luft bei 105® mitgeteilt.
«) Phil. Trans. 178, 57. 1888.
«) Compt. rend. 90, 210. 1880.
s) KoDtinuit&t, S. 143. Leipzig 1881.
*) Journ. de Physique (2) 7, 158. 1888.
») Zeitschr. f. phys. Chemie 5, 133. 1890.
«) Dissertation, Leiden 1892. Zeitschr. f. phys. Chemie 12, 38. 1893 und 24,
667. 1894; ferner zahlreiche Abhandlangen in den Comm. Lab. Phys. Leiden and
an anderen Stellen.
'') Die entsprechenden Verh<nisse der Isobaren, die oben entwickelt worden
sind, finden sich bei Kuenen nar flftchtig berflhrt.
<*) Zeitschr. f. phys. Chemie 11, 47 1893.
Chemiscbe Gleichgewicbte zweiter Ordnung.
659
Gesamtvolam
Yolum d. Flttssigkeit
Druck
1179
0
78-3 Atm.
99.6
8-9
772
81-2
8*2
81-8
810
8-6
81*8
78.6
7.6
824
77.3
4-8
831
7M
4.7
83-3
75.4
2.8
83-5
74.3
2-5
83*8
74.0
0
83*8
Fig. lOU steilt weiter die Verhaltnisse der Gemische von Kohlen-
dioxyd und Chlormethyl im Druck -Temperatur-Diagramm dar. Man
0<y
V
so
M p
to 20 30 hO SO eO 70 80 00
Fig. 100.
100
110
no
iho
IW
ISO
erkennt rechts die Kurve fur reines Chlormethyl, links die fiir reines
Kohlendioxyd mit den kritischen Punkten C^ and C|, zwiscben denen
die kritiscbe Kurve verlauft. Einige von den Bandern verschiedener
Gemische sind eingezeichnet; insbesoudere sind in der Mitte die beob-
achteten Punkte fur ein Gemisch mit 04 Kohlendioxyd und 0*6 Chlor-
methyl auf der Grenzkurve bemerklich gemacht, und man sieht, wie
stetig sie verlaufen.
Gleichzeitig erkennt man, dass die kritiscbe Eurve erst auf-, dann
absteigend verlauft. An der linken Halfte liegt also der Fall PMR,
ggO II. Chemische Dynamik.
an der recbten MPR vor, und man miisste also bei kohlensaurereicberen
Gemiscben retrograde Eondensation zweiter Art beobachten. Es ist
dies nicbt gelungen. Bei wenig Cblormethyl, wo die Kurve sicb am
starksten bebt, sind die Bander sebr scbmal, und bei mehr Cblor-
methyl, wo die Bander breiter werden, wird die kritische Kurve fast
horizontal. Beides sind Umstande, welcbe die Punkte M und P sehr
uabe aneinander riicken lassen, so dass das Gebiet der retrograden
Erscheinungen iiberaus eng wird. Eleine Verunreinigungen der Gase
mit Luft kamen dazu, um die Beobachtung zu vereiteln.
100. AuBgezeiohnete F&lle. Es kann yielleicbt an dieser Stelle
darauf hingewiesen werden, dass dort, wo die kritische Kurve eine
horizontale Tangente hat, die Punkte M und P zusammenfallen. Daim
herrscbt auch am kritischen Punkt der bochste Druck, bei welchem
Heterogenitat besteben kann, und in dieser einen Beziehung schliesst
sicb das entsprechende Gemenge den einheitlicben Fliissigkeiten an.
Beziiglich der Temperatur bleibt aber der Unterschied besteben.
Hat dagegen die kritische Kurve nicbt die Form Fig. 100, sondern
eine nach unten konvexe mit einer borizontalen Tangente, so fallen
wieder M und P zusammen. Der zugehorige Druck ist der kleinste,
bei welcbem irgend ein Gemenge der beiden Fliissigkeiten die kritischen
Erscheinungen zeigen kann.
Man iibersiebt ferner, dass bei einer anderen Form der Kurve mit
vertikaler Tangente die Punkte P und R zusammenfallen werden; dann
ist die kritische Temperatur gleichzeitig die bochste Heterogenitats-
temperatur. Auch bier liegen zwei Moglichkeiten vor. Die eben
erwahnte tritt ein, wenn die kritische Kurve nach der Druckaxe kon-
kav ist. Sie kann aber auch dahin konvez sein, dann fallt wieder P
mit R zusammen, doch ist die entsprechende Temperatur die niedrigste,
bei welcher die kritischen Erscheinungen eintreten konnen.
Auch bier liegt eine grosse Symmetric der moglichen Beziehungen vor.
Ferner kann darauf hingewiesen werden, dass jedesmal zwei be*
sondere oder ausgezeichnete Falle eintreten: das Zusammenfallen je
zweier Punkte in der Grenzkurve und das Auftreten eines Maximums
oder Minimums einer damit in Beziehung stohenden Grosse, Druck
oder Temperatur. Dies ist eine ganz allgemeine Erscheinung: ausge-
zeichnete Falle in den Veranderlichen bedingen im allgemeinen auch
ausgezeichnete Falle in den davon abhangigen Veranderlichen. Dieser
Satz von der Ko'inzidenz der ausgezeichneten Falle ist eine
iiberaus niitzliche Regel fiir die Beurteilung des Zusammenhanges phy-
sischer Erscheinungen, und wir werden von ihm vielfacb Gebrauch machen.
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnung.
661
Mathematisch kann man diesen Satz wie folgt beweisen, d. h.
erlautern. Es sei u eine Fanktion der Veranderlichen x, und ferner
V eine Funktion ?on u. Dann ist dv/dx = dv/du.du/dx. Tritt
(lann fiir die Funktion u der ausgezeichnete Fall ein, dass u ein Maxi-
mum oder Minimum ist, also du/dx = 0, so ist auch dv/dx bei dem
gleichen Werte der Veranderlichen x gleich Null. £s tritt also fiir u
and Y gleichzeitig der ausgezeichnete Fall ein, q. e. d.
Die Ableitung gilt nicht, wenn dy/du = oo wird, wo du/dx = 0
ist. Dies ist in jedem Falle zu untersuchen.
101. Verwickeltere £%lle. Auf der Suche nach Beispielen fiir
die retograde Kondensation zweiter Art, die ihm zu beobachten noch
iiicht gelungen ist, studierte Euenen ^) Gemische von Athan and Stick-
oxydnl, Athan and Acetylen, Acetylen and Stickoxydul. Die drei Stoffe
haben naheliegende kritische Temperaturen (31 ^ 32^ 35®), aber ziem-
lich Terschiedene kritische Drucke; eine einfache geometrische Cberlegung
zeigt, dass in solchen Fallen die gesuchte Erscheinung erwartet werden kann.
Das thatsachliche Verhalten erwies sich indessen verwickelter, als
erwartet Die kritischen Eurven der Gemische verbiuden nicht in Ge-
stalt ziemlich gestreckter Kurven die beiden kritischen Punkte, sondern
sie bilden alle nach links konvexe Formen, welche teilweise liber
7{y-
t
sty
'tO*-
3t>\
J<>-
TernpaxLtur
h
io
Jo-
Fig. 101.
die DampfdruckkurTe des fliichtigeren reineu Bestandteils
hinausgehen. Fig. 101, 102 und 103 zeigen dies Verhalten.
>) Zeitschr. f. phys. Chemie 24, 676. 1897.
662
II. Ghemische Dynamik.
Bereits erwahnt isi der Umstand, dass in solchem Falle es wegen
der vertikalen Tangente an der kritischen Kurve eine Minimaltempe-
20^
Fig. 102.
30
70
■^
X
u
yti)
:u)
-%-
r .n
10
Tenipc/fttuf
20
Fig. 108.
^
ratur der kritischen Erscheinungen giebt, bei welcher die Pankte P
und R zusammenfallejn. Zugefiigt sei hier noch, dass die kritischen
Temperaturen der Gemische mit einer solohen Kurve zumeiat untor
Ghemische Gleichgewichte z welter Ordnung.
663
denen der fiestandteile liegeu. Fiigt rnan also zu dom StofiFe mil der
niedrigeren kritischen Temperatur, z. B. Athylen, eineii StoflF von hoherer,
z. B. Stickoxydui, so sinkt die kritische Temperatur des Gemiscbcs bis
ZQ einem Minimam bei annahernd gleichen Mengen der Bestandteile.
Ferner aber bedingt der Umstand, dass die kritische Kurve mit
der Dampfdruckkur?e des fluchtigeren Bestandteils zum Scbnitt kommt,
dass ein Teil der Gemische leichter siedet, als der leicbter siedende
Bestandteil. Dies hat zur Folge, dass es ein Gemisch mit maximalem
Dampfdruck und minima-
ler Siedetemperatur giebt,
dessen Dampfdruckkurve
die hochste ist, und die
kritische Kurve in einem
(in den Figuren mit B be-
2eichneten)Punkte beriihrt.
Von einem solchen Gemisch
wissen wir, dass sein Dampf
die gleiche Zusammenset-
zong hat, wie die Fliissig-
keit, und dass es sich so-
mit beim Verdampfen wie
eine einheitliche Fliissig-
keit verhalt. Fiir dies Ge-
misch muss also das von
den Grenzkurven einge-
schlossene Band wieder in
eine Linie ohne Breite zu-
sammengehen, und die den
benachbarten Gemischen zugehorigen Grenzkurven miissen urn so naher
bei einander hegen, je naher sie dem ausgezeichneten Gemische kommen.
Bei dieser Darlegung ist indessen der Einfachheit wegen ange-
nommen worden, dass sich die Zusammensetzung des Maximalgemisches
nicht mit der Temperatur andert. Wenn auch dies in der Nahe des
kritischen Punktes einigermassen zutrefifen wird, so ist es doch von
Belang* sich dariiber Rechenschaft zu geben, welchen Einfluss die Ver-
schiebuDg des Mischungsverhaltnisses des konstant siedenden Gemisches
mit Druck und Temperatur auf die oben geschilderten Verhaltnisse
haben wird.
Fiir jedes Gemisch, das bei irgend einem Drucke unverandert
siedet, muss an dieser Stelle das Band zwischen den Grenzkurven in
Fig. 104.
664
II. Chemische Dynamik.
eine Linie zusammenfallen^ pder die Grenzkurven miissen sich an der
Stelle beriihren. Da sie sich nicht durchschneiden konnen — es wiirde
sonst dem grosseren Volum der grossere Druck eDtsprechen, und um-
gekehrt — so miissen sie die Form Fig. 104 (S. 663) haben.
Gebt man nun von diesem Gemisch zu dem iiber, welches bei der
nachst hoberen Temperatur konstant siedet, so wird dessen Grenzkurre
K
Fig. 106.
eine abnlicbe Gestalt aufweisen, nur dass die Beriibrung aii einer
hoberen Stelle eintritt. So gebt es weiter bis zum kritischen Punkte.
Alle diese Beriihrungspunkte liegen in einer Korre, die don allge-
meinen Verlauf einer Dampfdnickkurve haben wird. Da sie sich aber
anf Gemische von verschiedener Zusammensetzung beziebt, so wird sie
mit der Schar der Grenzkurven Winkel bilden. Da ferner das kon-
stant siedende Gemisch unter alien moglichen bei dem fraglichen
Drucke den bochsten Dampfdruck hat, so miissen alle Beriihrungspaukte
an dem linken Rande der heterogenen Flache liegen. Der geometrische
Ort der Beruhrungspunkte ist also die linke Grenzlinie der heterogenen
Ghemiache Gleichgewichte zweiter Ordnung.
665
Plache. In Fig. 105 habe ich yersucht, von diesen Verhaltnissen eine
schematiscbe Darstellung zu geben.
Ausser dem von Kuenen beobachteten Fall der Figuren 106 bis 108
kann man sich nocb andere denken, bei denen die kritische Kurve so
verlauft, dass die heterogene
Flacbe nicht von der Dampf-
dracklinie des einen reinen Be-
standteils, sondern von dem geo-
metrischen Orte der p-t-Werte
der ausgezeichneten Gemische
begrenzt ist. Zunachst wird man
entsprechend den Verhaltnissen
anterhalb des kritischen Punktes
den Fall zu betrachten haben,
dass ein Gemisch ein Minimum
des Oampfdruckes uud demge-
mass ein Minimum des kritischen
Druckes aufweist. Der Fall
wiirde durch den in Fig. 107
dargestellten Verlauf der kriti-
schen Kurve gegeben sein. Ferner
Fig. 106.
ist 66 denkbar, dass nicht die kritische Kurve, wie bisher angenommen,
Fig. 107. Fig. 108.
links voa der Yerbindungslinie der kritischen Punkte der Bestandteile
belegea ist, sondern rechts. Dies wiirde die beiden Falle Fig. 106
and 108 ergeben.
QQQ II. Chemische Dynamik.
Fiir den Fall Fig. 107 gelten ganz ahnliche Betrachtungen, wie sie
eben angestellt worden sind, nur mit dem Unterschiede, dass sie sich
nicht auf das Gemenge von maximalem Druck beziehen, sondern auf
das mit minimalem. Die beiden weiteren Falle Fig. 106 und 108 geben
zu keinen besondereu Bemerkungen Anlass.
Cber das Vorkommen solcher Falle ist nichts bekannt. Fiir die
Bedingungen, unter denen sie zu erwarten sind, lasseu sicb die Betrach-
tungen von S. 617 bis 619 verwerten.
Fndlich ist es nicbt ausgescfalossen, dass von den in Fig. 106 bis
108 dargestellten Fallen mehrere gleicbzeitig an demselben Sto£fpaare
auftreten konnen^).
Zwei fliissige Phasen.
102. FlUssigkeiten von begrenzter LOsliohkeit. Die bisber fest-
gehaltene Voraussetzung, dass die betracbteten flussigen Stoffe in alien
Verbaltnissen ineinander loslich sind, scbeiut zwar fiir die Nahe des
kritiscben Punktes in weitem Umfange zutreffend zu sein, entspricbt
aber unter gewobnlicben Verbaltnissen nur der Minderzabl der Tor*
kommenden Falle. Vielmebr tritt sebr viel baufiger die Erscbeinung
auf, dass die Loslicbkeit der Flussigkeiten ineinander begrenzt ist,
d. b. dass es nicbt moglicb ist, bomogene fliissige Losungen aus ihnen
in alien. Miscbungsverbaltnissen berzustellen.
Das Verbalten in solcben Fallen ist allgemein das folgende. Setzt
man zu einer bestimmten Menge der Fliissigkeit A eine sebr kleine
Menge der Fliissigkeit B, so entstebt eine bomogene Losung, fiir welche
alle die friiber entwickelten Gesetze der yerdiinnten Losungen gelten.
Bei einem bestimmten Betrage des Zusatzes bort aber diese Fahigkeit
auf und die Fliissigkeit sondert sicb in zwei verschiedene fliissige Phasen.
Ganz ebenso verbalt sicb die Fliissigkeit B gegeniiber kleinen Zu-
satzen von A: zuerst tritt Losung ein, und bei einem bestimmten Ge-
balte beginnt die Trennung in zwei Scbicbten.
Nennt man die Werte des auf a bezogenen Molenbrucbes, bei denen
die Bildung der zweiten flussigen Phase beginnt, Xa, bez. Xb, so besteht
also fiir die Gebiete 0 < x < Xa und Xb > x > 1 eine bomogene fliissige
Pbase; fiir des Gebiet Xa<x<CXb sind dagegen zwei Pbasen vorhanden.
Daraus ergiebt sich alsbald ein wicbtiger Scbluss. Nimmt man als
weitere Pbase den Dampf binzu, so baben wir in den beiden ersten
Fallen ein Gebilde mit zwei Phasen, also mit zwei Freiheiten. Im dritten
'j Ich vcrdanke diese Bemerkung Herrn Dr. Luther.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 667
FaUe hiugegen sind drei Phasen vorhanden, es ist also nur noch eine
Freiheit iibrig. Das heisst, da man ja doch bei irgend einer bestimmten
Temperatur das Mengenverhaltnis der beiden Bestandteile zwischen Xa
und Zb beliebig andern kann, dass eine solche Anderung keinen Einfluss
auf das Gleichgewicht ausiibt.
Dies kommt in solcher Weise zu stande, dass sich ein Gemenge aus
den beiden Bestandteilen innerhalb der angegebenen Grenzen in zwei
fliissige Anteile scheidet, welcbe bei gegebener Temperatur konstante
Zusammensetzung haben; der eine stellt eine gesattigte Losung von B
in A, der andere eine gesattigte Losung Ton A in B dar. Das Mengen-
verhaltnis der Bestandteile hat nur insofern einen Einfluss, als von ihm
die Mengen abhangig sind, in welchen sich die fliissigen Phasen neben
einander bilden. Da aber das Gleichgewicht nur von der Zusammen-
setzung, nicht aber von der Menge der Phasen bestimmt wird, so haben
solche Anderungen keinen Einfluss auf das Gleichgewicht.
Ein derartiges Gebilde wird daher eine ganz bestimmte Temperatur-
dampfdruckkurve besitzen, indem vermoge dor einfachen Freiheit zu
jeder Temperatur ein ganz bestimmter Druck gehort. Sie unterscheidet
sich von diesen nur durch den Umstand, dass die Grossen x^ und Xb
sich mit der Temperatur andern, und dass deshalb die Dampfdrucke
bei verschiedenen Temperaturen zu fliissigen Phasen von wechseinder
Zusammensetzung gehoren. Gleichzeitig andert sich auch die Zusammen-
setzung des Dampfes. Alle diese Grossen stehen aber mit der Tempe-
ratur, bez. dem Drucke in eindeutigem Zusammenhange.
Eine obere Grenze findet diese Dampfdruckkurve im allgemeinen
dadurch, dass mit steigender Temperatur die Fliissigkeiten ineinander
]oslicher werden. Dadurch riicken die beiden Werte Xa und Xb immer
naher aneiuander, sodass schliesslich fiir eine der Phasen das vorbandene
Mengenverhaltnis die Grenze des heterogenen Gebietes erreicht, wobei
die andere Phase ^ verschwinden muss. Alsdann wird die Fliissigkeit
homogen, und es treten wieder zwei Freiheitsgrade ein.
Welche von den beiden Phasen verschwindet, hangt oflFenbar von
denoi Mengenverhaltnis ab, in dem die beiden Fliissigkeiten vorhanden
sind, und man kann, indem man das Verhaltnis in der Nahe von Xa
oder Xb wahlt, beliebig die eine oder die andere Phase zum Verschwin-
den bringen.
Vermehrt man in jedem der beiden Gemenge den in geringerer
Menge vorhandenen Anteil stufenweise, so wird die Temperatur der
vollstandigen Losung immer weiter hinaufriicken, und gleichzeitig werden
sich die beiden Fliissigkeiten immer ahnlicher werden. Man wird schliess-
668
II. Chemische Dynamik.
lich ein Gemisch ermitteln konnen^ Yon dom man nicht sagen kann, ob
die eine oder die andere Phase verschwindet. Die beiden Schichten
werden sicb bei steigender Temperatur zwar immer ahnlicher, sie bleiben
aber stets in annahernd gleicber Menge zugegen, und wenn schliesslich
die Temperatur erreicbt ist, bei welcher unbegrenzte Loslichkeit eintritt,
80 Terscbwiuden beide Anteile gleicbzeitig, indem die Trennungsflache
zwischen ibnen einem stetigen Obergange Platz macbt
Man kann nach dem Vorgange von Alexejew^) diese Zusammen-
hange darstellen, indem man den Molenbruch und die Temperatur als
rechtwinklige Eoordinaten nimmt. Dann giebt es fiir jede Temperatur
ke j» to n 90 90too-aoa»a»HOs3»it9iM
Fhmol-n,9.,tL d.d.d'Phmolat^PhmyktMMmiam,
•f SaUtyisdare, -h,h,b «, e,« -Aiuiut,
BauoaiUirt -cc.c
Fig. 109.
die beiden Werte Xa und Xb, welche die Zusammensetzung der beiden
fliissigen Pbasen darstellen. Mit wachsender Temperatur nicken sich
diese beiden Punkte im allgemeinen naher, und laufen schliesslich in
einen zusammen. Die Gesamtheit aller dieser Werte bildet eine parabel-
ahnliche Kurve, und deren senkrecht zur Temperaturaxe stehende Tan-
gente kennzeichnet einen Punkt, den man den kritischen Punkt der
Losung nennen kann, da er in vielen Beziehungen dem kritischen
Punkte beim t)bergange aus dem flussigen Zustande in den des Dampfes
ahnlich ist (s. w. u.). Denn in diesem Punkte werden die beiden fliis-
sigen Phasen mit einander identisch, und gehen daher stetig in ein-
ander iiber.
Von den von Alexejew gegebenen Loslichkeitskurven sind in Fig. 109
einige mitgeteilt Sie sind von den eben beschriebenen nur inaofern
verschieden, als nicht die Molenbriiche als Ordinaten dienen, sondem
») Wied. Ann. 28, 305. 1886.
Ghemische Gleichgewiclite zweiter Ordnong.
669
die Zusammensetzung nach Gewicht Indessen wird dadurch der geo-
metrische Charakter der Kurven nicht wesentlioh beeinflusst.
103. Verlauf der Ldslichkeitskurven. Es scheint, dass alle teil-
weise mischbaren Fliissigkeiten bei hoberen Temperaturen (die unter
Umstanden erst in der Nahe des kritischen Pnnktes liegen) den parabel-
ahnlichen Abscbluss ihrer Loslichkeitskurve zeigen, also eine kritische
Losungstemperatur besitzen. AUerdings ist fiir viele Paare dieser Punkt
noch nicht bekannt; vergegenwaxtigt man sich aber, dass kein Grund
dagegen spricht, dass oberbalb ihrer kritischen Temperatur (im gewohn-
lichen Sinne) alle Stofife mischbar werden, so lasst sich auch fur alle
eine kritische Losungstemperatur erwarten.
Der hieraus zu ziehende Schluss, dass mit steigender Temperatur
die Fliissigkeiten ineinander zunehmend loslicher werden, gilt indessen
nur fiir die Nahe der kritischen
Losungstemperatur. In einiger
Entfernung von dieser kann sehr
wohl ein anderes Verhalten auf-
treten, und man kann ein solches
sogar mit grosser Wahrschein- o-^
lichkeit erwarten.
Nach dem S. 307 ange-
gebenen Prinzip kann eine mit
steigender Temperatur wachsende
Loslichkeit nur eintreten, wenn
die Losungswarme negativ ist
Nun sind aber zahlreiche Falle
bekannt, in denen Fliissigkeiten
Bich unter Warmeentwicklung losen. Handelt es sich in solchen Fallen
um begrenzte Loslichkeit, so muss ein Abnehmen der Loslichkeit
mit steigender Temperatur notwendig vorhanden sein, und die Eurve
Terlauft der ,,normalen'' gegeniiber im umgekehrten Sinne. Ein solcher
Verlauf bringt dann mit Notwendigkeit das Auftreten eines Minimums
der Loslichkeit mit sich.
Natiirlich ist auch ein mehrmaliger Zeichenwechsel nicht ausge-
schlossen, so dass innerhalb eines grosseren Temperaturgebietes mehrere
Maxima und Minima der Loslichkeit neben einander liegen konnen.
Experimentelle Untersuchnngen liber den Verlauf solober Loslich-
keitskarven sind in systematischer Weise zuerst von W. Alexejew^)
so»
/OO"
rso'
Fig. 110.
Ghlorbenzol aa, SenfOl bb, Anilin cc,
Benzol dd, Toluol ee.
>) Wled. Ann. 28, 806. 1886.
OitwAld, Chemie. 11,2. 2.AQfl.
48
670
II. Chemische Dynamik.
durchgefiihrt worden, dessen Beobachtungen von bleibendem Werte sind,
wenn er aach bei ihrer theoretischen Deutung nicht immer das Richtige
getroffen hat
Den einfachsten Fall der beiderseits mit der Temperatur znnehmen-
den Loslichkeit stellen die Kurren Fig. 109 and 110 (S. 669) dar,
J 00'
/.yO*
1 — I — I — I — r
T — I — I — I — r
Fig. 111.
Sek. Butylftlkohol bb, Isobutylalkohol ii, Amylalkohol
deren Absdssen Temperaturen und deren Ordinaten Prozente der Mi-
schongsbestand telle sind. Fig. 109 bezieht sich auf wasserige Losungen^
Fig. 110 auf Losungen von Schwefel in den genannten Stoffen.
Anders yerhalten sich die mit
Wasser teilweise mischbaren Al-
kohole, von deren Loslichkeita-
verhaltnissen Fig. Ill ein Bild
giebt. Hier machen sich, nament-
lich filr die unteren Telle der
Eurven, die Losungen mit vor-
wiegendem Wasser, Minima der
Loslichkeit geltend. Fig. 112 zeigt
das Yerhalten des sekand&ren
Butylalkohols bei noch niedri-
geren Temperaturen. Statt dass
Kurven zusammengehen, wie ihr
Verlauf bis in die Nahe von 0^ erwarten liess, entfernen sie sich bo
fallender Temperatur wieder von einander.
104. Die kritiBohe Ldsungstemperator. Die beiden Zweige der
Loslichkeitakurve kommen sich, wie erwahnt, bei vielen Stoffen innerhalb
eines erreichbaren Temperaturgebietes immer naher, bis sie achlieeslich
ineinander iibergehen. Zufolge der Bedeutung der Kurven besagt dies^
till''' I I 1 1 L
200
00 SO** '00"
Fig. 112. Sek. Butylalkohol.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnaog. 671
dass die Zusammensetzung der beiden Schichten sich immer mehr nahert,
bis sie identisch wird. Bedienen wir uns der allgemeinen Definition
eines kritischen Punktes als eines solchen, in welchem mehrere Phasen
identiscli werden (S. 341), so liegt bier ein solcher vor.
Die Ahnlichkeit der vorliegenden Erscbeinung mit dem gewobnlichen
kritischen Punkte Flussigkeit : Dampf bat Lebmann^) ausgesprocben; ein-
gehendere Begriindung fiir die Auffassung bat dann Orme Masson') gegeben.
Gegen die gewobnlicbe kritiscbe Erscbeinung bei einem einbeit-
licben Stoffe, und ebenso gegen die soeben (S. 651) bebandelten kriti-
scben Erscbeinungen binaror Gemiscbe liegen indessen bier einige
wesentlicbe Unterscbiede vor, die nicbt iiberseben werden diirfen.
Wabrend bei jenen kritischen Punkten die Gesamtmenge der betrachteten
Flussigkeit, ob sie einheitlicb oder ein Gemisch war, mit der anderen
Phase nur bei einem ganz bestimmten Werte von Druck und Tempe-
ratur identisch wurde, so baben wir bier eine Freiheit mehr. Man kann
entweder die beiden fliissigen Phasen bei Gegenwart ibres Dampfes
untersucben, wie das gewobnlich gescbiebt, und hat dann bei der kri-
tischen Losungstemperatur das Identiscbwerden zweier Phasen von dreien,
da der Dampf eine andere Eonzeutration bat. Oder man kann auf die
Dampfphase verzicbten und die Fliissigkeiten unter irgend einem anderen
Drncke beobacbten: dann ist die kritiscbe Temperatur eine Funktion
dieses Druckes und keine Eonstante mehr.
Es lasst sich leicbt iiberseben, dass bei mehr als zwei Bestandteilen
noch mannigfaltigere Verbaltnisse auftreten konnen. Man thut daher
gut, kritiscbe Punkte verscbiedener Ordnung zu unterscbeiden. Die kri-
tischen Punkte einheitlicher Stoffe und ebenso die der bomogenen Ge-
miscbe sind absolute Werte, die nur von der Natur des Stoffes, bez.
Yon der Zusammebsetzung des Gemiscbes abhangen; sie mogen absolute
kritiscbe Punkte oder solcbe nuUter Ordnung genannt werden. Solche
kritiscbe Punkte, wo noch eine Freiheit vorbanden ist, beissen demge-
mass kritiscbe Punkte erster Ordnung, und bei n Freiheiten n-ter Ordnung.
Demgemass baben wir in unserem Falle, wenn wir die Parallele
mit einem absoluten kritischen Punkte verfolgen, bei zwei Phasen statt
des bestimmten Wertes von Druck und Temperatur willkiirlicSbe Werte
derselben innerhalb gewisser Grenzen; bestimmt man eine von diesen
Grossen, so ist dadurch die andere gegeben. Das Analogon des
kritischen Volnms ist die kritiscbe Eonzeutration, die in unserem Falle
dorch den Molenbrucb, oder wenn das Molekulargewicht nicbt bekannt
^) Molekularphysik II, 208. Leipzig 1888.
*) Ztschr. f. phys. Chemie 7, MX). 1891.
43*
672 n. Chemische Dynamik.
ist, durch das Gewichtsverhaltnis definiert werden kann. Denn auch far
den absoluten kritischen Pankt kann man die dritte Grosse neben Druck
und Temperatur als Eonzentratiou einfiihren, und Gleichheit der Eon-
zentrationen in beiden Phasen definiert den kritischen Pankt ebenso,
wie Gleichheit der Dichten oder der spezifischen Volume. Beim kri-
tischen Losungspaukte wird man auch die kritische Konzentration als
Funktion des Druckes oder der Temperatur aufzufassen haben.
Es lasst sich indessen absehen, dass der Einfluss des Druckes auf
die kritische Losungstemperatur und die kritische Konzentration nur
gering und etwa von derselben Ordnung sein wird, wie der Einfluss des
Druckes auf die Schmelztemperatur. An spaterer Stelle wird das Wenige
zusammengestellt werden, was hieriiber bekannt ist; zunachst dtirfen
wir diesen Einfluss unter den gewohnlichen Verhaltnissen als yerschwin-
dend klein ansehen.
Eine absolute Definition gewinnt der kritische Losungspunkt, wenn
man durch Zulassung einer weiteren Phase iiber einen Freiheitsgrad ver-
fiigt. Als solche Phase empfiehlt sich unmittelbar die Dampfphase. Dann
ist der kritische Druck gleich dem Dampfdruck und die kritische Tem-
peratur ist nur von der Natur der Stoffe abhangig. Dagegen werden
beim kritischen Losungspunkt von den drei vorhandenen Phasen nor
zwei identisch, namlich die beiden fliissigen, was wieder einen wesent-
lichen Unterschied gegen den einfachsten Fall ausmacht. Doch ist za
erwahnen, dass in vielen Fallen beim kritischen Losungspunkte Fldssig-
keit und Dampf gleich zusammengesetzt sein miissen, wenn auch ihre
absoluten Dichten weit von einander abweichen (s. w. u.).
105. Bestimmung des kritischen Punktes. Das Verfahren zur
Ermittlung der Temperatur der voUkommenen Losliohkeit ist von
Alexejew ausgebildet word en. Es besteht darin, dass man die Loslich-
keitskurve bis in den kritischen Punkt verfolgt, und zwar nicht auf
analytischem, sondern auf synthetischem Wege.
Man wagt passende Mengen der zu untersuchenden Stoffe in eine
Glasrohre ab, die von ihnen nahezu ausgefiillt wird*), schmilzt diese
zu und bestimmt unter Umschiitteln die Temperatur, bei welcher der
Inhalt homogen wird. Dadurch, dass man mittels Schiitteln die Fliissig-
') Diese Yorsicht ist nur bei Stoffen von sehr verschiedener Fhleliti|^eit
and in einiger Entfemung vom kritischen Pankte wesentllch, damit dvreh die
abweichende ZusammeDsetzang der Dampfphase kein Irrtum Qber die der flOs-
sigen Phase entsteht. Beim kritischen Punkte von FlQssigkeiten mit nahesteheBdeoi
Dampfdruck sind beide gleich zusammengesetzt, and es ist daher gleichgOltig,
wieviel von der Gesamtmenge sich im Dampfzostande befindet.
Chemische Gleichgewichte zweiter OrdnoDg. 673
keit in kleinste Tropfchen zerteilen» also die Oberflache beliebig ^er-
grossem kaDD» ist die Erreichung der Sattigung leicht gemacht Anderer-
seits haben wir bei den Losungen von Fliissigkeiten in Fliissigkeiten
die merkwiirdige Tbatsache, dass Ubersattigungserscheinungen nur
schwer oder gar nicht vorkommen. Man kann also die zu dem Torhan-
denen Mischungsverhaltnis gehorige Temperatnr mit grosser Sicherheit
bestimmen, wenn man nnter langsamer Abkiihlung der durch Erbitzen
bomogen gemachten Fliissigkeit den Punkt ermittelt, bei welcher die
erste Triibung aufbritt
Die Genanigkeit dieser Methode bangt wesentlich von dem Unter-
schiede der Brechnngskoeffizienten der beiden Fliissigkeiten ab^). Je
grosser dieser ist, um so scharfer lasst sicb sowohl der Punkt der voll-
standigen Auflosang, wie der der ersten Ansscheidnng beobacbten.
Rothmand erhielt bei seinen darauf gerichteten Versuchen in den giin-
stigsten Fallen Unterschiede von der Ordnung 0-2^ in ungHnstigeren
Fallen bis iiber 1^ Yersncbe, welche auf meine Veranlassung yon Herm
Stebntt angestellt worden sind, haben ergeben, dass bei Anwendung
grosserer Stoffmengen und bei Temperaturmessung in der Fliissigkeit
selbst die Unterschiede noch weit geringer sind.
Die auf diese Weise erhaltenen Punkte der Loslichkeitskurve werden
in ein Diagramm Temperatur-Zusammensetzung nach Alexejew einge-
tragen und durch einen stetigen Zug vereinigt. Die von manchen Au-
toren behauptete Unstetigkeit der Losungskurve am kritischen Punkte
ist sicher nicht Torhanden; vielmehr gehen ihre beiden Zweige voU-
kommen stetig in einander liber. Abgesehen von theoretischen Erwa-
guDgen, nach denen Unstetigkeiten der Loslichkeitskurve nur bei un-
stetiger Anderung einer vorhandenen Phase eintreten konnen, zerstreut
der Anblick der Versuchsergebnisse, die weiter unten mitgeteilt werden
sollen, jeden Zweifel in dieser Hinsicht.
Die Bestimmung des kritischen Mischungsverhaltnisses wird da-
durcb erschwert, dass die Kurve am kritischen Punkte eine vertikale
Tangente hat, dass also kleinen Anderungen der Temperatur grosse
Anderungen der Zusammensetzung entsprechen. Die Schwierigkeit wird
auf dieselbe Weise gehoben, wie im einfacheren Falle. Dort ist von
Cailletet und Mathias nachgewiesen worden, dass in dem Diagramm
Dichte- Temperatur von Fliissigkeit und Dampf, welches eine ahnliche
Gestalt hat, wie die Loslichkeitskurve, die Mittelwerte der zu je einer
Temperatur gehorenden beiden Dichten alle in einer Geraden liegen.
>) Bothmnnd, Zeitschr. f. phys. Ghemie 26, 433. 1898.
674
11. Gbemische Dynamik.
10
10
X
^0
so
w
70
Der Durchschnitt dieser Geraden mit der Kurve ist der Punkt, wo die
beiden Dichten znsammenfallen, d.h.
der kritische Pankt, nnd seine
Ordinate giebt die kritische Dichte.
In derselben Weise liegen, wie
schon Alexejew^) angedeutet hat, die
Mittelwerte der zu je einer Tem-
peratur gehorigen beiden Gehalte
meist in einer Geraden. Zwar kom-
men nach den Beobachtungen Yon
Rothmund hier Abweichnngen vor;
aber auch wenn die Mittellinie ge-
kriimmt ist, macht es doch nicht die
genngsten Schwierigkeiten, sie bis
zum Durchschnitt mit der Losongs-
kurve unzweideutig fortzusetzen,
und so die kritische Eonzentration
zu ermittehi. Beispiele hierfur wer-
den in der Folge gegeben werden.
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to
70
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Fig. 118. Phenol und Wasser.
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X
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too
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Fig. 114. Propionitril und Wasser.
Schliesslich bietet sich ein weiteres interessantes VerfahreQ an.
Es wurde schon bemerkt, dass in vielen Fallen beim kritischen Pankte
') Wied. Ann. 28, 321, Anmerkung. 1886.
Chemische Gleichgewichte zwelter Ordnung.
675
die Zusammensetzung der Dampfphase mit der fliissigen identisch wird.
Man brauchte also nur ein kritisches Gemisch in grober Annahemng
, JQ ^ JO 60 70 U
30 U) JO W 70 Mr
Fig. 115. Acetylaceton u. Wasser.
10 to 30 UO
W M
0 to to 30
Fig. 116. Iiobottenftiire a. Wasser.
10
— • — I — ' — t 1
iO M ^
Hg. 117. Hezan u. Methylalkohol. Fig. 118. Schwefelkohlenst a. Methylalk.
herzustellen und bei der kritischen Temperatur einen Tell der Fliissig-
keit abzadestillieren, der auf seine Zusammensetzung untersucht wird.
676
11. Chemische Dynamik.
Notigenfialls wird das Verfahren mit dem gewonnenen Desiillat wieder-
holt. VerBuche Bach dieser Richtang liegen indessen nooh nicht yoe.
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90
10
10
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10
so
90
100 tio
Fig. 119. Furfdrol imd Wasser.
106. Beobaohtungen. Die
auBgedehntesteUntersachiing der
hier vorliegenden Erscheinungen
Terdanken wir V. Rothmund ^)»
dessen Arbeit auch in den Yor-
stehenden Darlegangen mehrfach
benutzt worden ist. Seine Elz^eb-
nisse lassen sich am besten an
den YOD ihm konstrnierten Zeich-
nungen ersehen, die in Fig. 113
bis 121 mitgeteilt sind; die
Stoffe, auf die sie sich beziehen,
sind namhaft gemacht; die Zu*
sammensetzong ist nach 6e-
wichtsprozenten^ bezogen anf die
gesamte Menge, gegeben. Die
wirklich gemessenen Pankte sind
eingezeichnet; ebeneo aind die
Mittelwerte der beiden Gehalte eingetragen, nm eine Priifung des 6e-
-f— f— — I-
^ 50 60 W SO 90 HH) no
Fig. 120. Resorcin and Benzol.
0 Zeitschr. f. pbys. Ghemie 2%j 488. 1898.
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnnng.
677
setzes des „geraden Durchmessers" zu ennoglichen. Die beobachteten
kritischen Daten sind nachstehend zusammengestellt.
100
90
80
to
g|«H
o *
10
-to -to 0 *tO » 30 kO 50 60 lO iO 90 OQ 110 ttO i30 HO t30 l60n0 itO
■^
■ to -to 0*10 w JO to M to V mooioommtjomiiomiiom
Fig. 121. Methyl&thylketon und Wasser.
Eritische Eritische
LOsuogstemperatur Eonzentration
Phenol und Wasser
Propionitril und Wasser
Furfdrol und Wasser
Acetylaceton and Wasser
Isobatters&ure and Wasser
Hexan and Methylalkohol
Schwefelkohlenstoff and Methylalkohol
Besorcin und Benzol
Methyl&thylketoa und Wasser
Succinimid and Wasser
Anilin and Wasser
Isobutylalkohol and Wasser
Die in der letzten Spalte gegebene kritische Eonzentration bezieht
sich auf den zuerst angegebenen Stofif; so ist das Verhaltnis der Be-
standteile bei Phenol und Wasser im kritischen Punkte 36-1 Phenol
anf 63-9 Wasser.
Im einzelnen zeigen sich die Stoffe ziemlich iibereinstimmend in
ihrem Verhalten. Das Gesetz des geraden Durchmessers ist iiberall
erfiillty und die Loslichkeitskurye stellt sich in der bekannten annahernd
684 «
36-1
1131
48.3
122-7
510
87.7
565
24.7
36-3
42.6
68-9
40.5
80.5
109-3
42-2
151.8
44-2
554
510
1650
482
1308
358
678
II. ChemlBche Dynamik.
parabolischen Form dar. Nur im Falle des Methylathylketons in Wasser,
Fig. 121, ist eine Besonderheit zu bemerken: die Loslichkeit des Stoffes
im Wasser geht durch ein Minimum, wahrend die Loslichkeit des
Wassers im Eeton den gewohnlichen absteigenden Verlauf zeigt Bei
der in die gleiche Figar eingetragenen Loslichkeitskurve des Diathyl-
ketons zeigt sich ein ahnlicher Verlauf, doch wurde die kritische Tem-
peratur nicht erreicbt.
107. Untere kritisohe Punkte. Angesichts der Fig. 121 kann man
sich fragen, ob nicht in gewissen Fallen die beiden Zweige der Los-
lichkeitskurve bei fa 11 en der Temperatur sich vereinigen, wie es die
moisten bei steigender thun. Es wurde dann wieder ein kritischer
Punkt entstehen, dessen Eonvexitat aber nicht wie bisher nach der
Seite der hoheren Temperatur gewendet ist, sondem nach der der
niederen.
Ein entsprechendes Fliissigkeitspaar wurde also bei niedrigen Tem-
peraturen sich in alien Verhaltnissen losen, und bei steigender Tem-
peratur in zwei Schichten zerfallen^).
In der Litteratur war bis vor kurzem bei binaren Gemischen nur
ein derartiger Fall verzeichnet. Es ist dies der von Guthrie') unter^
suchte Fall Diathylamin -Wasser. Bei niederen Temperaturen lost sich
dieser Stoff in Wasser in alien Verhaltnissen; bei Temperaturen liber
^) Man wtlrde vermuten dtlrfen, dass in solchem Falle die UslichkeitsknrTe
in zwei getrennte Telle zerfUlt, wie die beistehende Fig. 122 a a andeotet Hier^
Fig. 122.
durch wird eine allgemelnere Auffassung der Abh&ngigkeit der kritischen £*racliei-
nungen vom Drncke im Sinne eines stetigen Zusammenhanges der gew61uilichaii
Ldslichkeitskunren mit dam Typus Fig. 122 nahelegt, doch mag es hier mit dieser
Andentung sein Bewenden haben.
*) Phil. Mag. (5) 18, 500. 1884.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung.
679
121^ tritt dagegen je nach der Zusammensetzung Triibung ein. Guthrie
giebt folgende Tabelle:
Prozent Di&thylamin
Temperatur der TrClbung
12.94
Doch klar bei 180 «
1502
128«
1680
121-8
20-94
121
26*89
123
3780
128
45.42
1345
62-35
154
7576
bei 170« noch klar
Hohere Temperaturen konnten nicht beobachtet werden, da die
Rohren angegriffen wurden und platzten.
Alezejew, der auf die gegensatzliche Beziehung dieser Beobachtung
gegeniiber dem gewohnlichen Verhalten zuerst hingewiesen hat, konnte
keinen weiteren derartigen Fall ermitteln.
too
00
90
60
%60
^♦0
^30
I
to
10 X 30
■
W SO
eo 10 to 80
0
^^^^■^^^^^^^^^^^ • r
I020M¥CSOS0 10 90 30
Fig. 123. Tri&thylamin and Wasser.
Von Rothmund ist (a. a. 0.) gezeigt worden, dass auch der gleich-
falls Yon Guthrie untersuchten Losung von Triathylamin und Wasser
diese Eigenschaft zukommt Guthrie selbst hatte eine falsche Eurve
fur die Loslichkeit dieses Stoffes gegeben; sie ist in Fig. 123, welche die
Loelichkeit nach den Messungen von Rothmund darstellt, punktiert ein-
680 n* ChemiBche Dynamik.
getragen. Thatsachlich handelt es sich um eine nach der Seite der
niedrigen Temperaturen gewendete LoBlichkeitskurve mit einem auf-
fallend breit entwickelten Ende.
Auch ein dritter Fall ist von Rothmund ermittelt worden: j9-Gollidin
in Wasser. Die Loslichkeitskurve ist in Fig. 124 dargestellt
Was diese „unteren kritischen Punkte*^ von den normalen oder
oberen auszeichnet, ist der Umstand, dass for aie das Gesetz des ge-
raden Durchmessers nicht giiltig ist Schon beim Diathylamin ergiebt
Fig. 124. /9-Gollidin und Wasser.
sich dies, und beim /3-Gollidin ist es sehr auf^illig. Wodurch dies Ter-
anlasst wird, lasst sich bei dem sparlichen Material nur yermuten. Die
Thatsache, dass alle Stofife mit unterem kritischen Punkt» die man bisher
kennt, stickstdffhaltig sind, diirfte kaum wesentlich sein. Wohl aber
scheint der folgende Umstand eine Rolle zu spielen.
Diese Stoffe verhalten sich der Zeichnung gemass so, dass sie bei
niederen Temperaturen in alien Verhaltnissen loslich sind; bei der kri-
tischen Temperatur scheidet sich die Losung, und nun nimmt mit stei-
gender Temperatur die gegenseitige Loslichkeit schnell ab.
Hierzu ist nach bekannten Uberlegungen erforderlich, dass die Lo-
sungswarme positiv ist, d. h. dass sich bei der gegenseitigen AuflosQDg
Warme entwickelt, und zwar muss diese Entwicklung ziemlich beiracht-
lich sein, um den starken Temperaturkoeffizienten zu bewirken. Dies
ist aber gleichzeitig ein Zeichen dafur, dass zwischen den beiden Stofien
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 681
betrachtliche WechselwirkuDgen erfolgen, die wahrscheinlich chemischer
Natur 8ind. Andererseits ist zu erwarteo, dass das Gesetz des geraden
Durchmessers sich auf solche Falle beschranken wird, welche normal
▼erlaufen, d. h. bei denen eine gegenseitige Anderung des Molekular-
gewichtes nicht eintritt.
Einige Worte verdient noch das besondere Verhalten des Triathyl-
amins in Wasser, welches von Guthrie (a. a. 0.) eingehend untersucht
worden ist. Da die Loslichkeitskurve am kritischen Punkte ausser-
ordentlich weit fast senkrecht verlauft, so bewirkt eine sehr kleine
Temperaturanderung eine kraftige Scheidung der Losang, und da die
kritische Temperatur gerade bei mittlerer Zimmertemperatur liegt, so
lassen sich diese Erscheinungen besonders bequem hervorrufen. Stellt
man eine Losung von annahernd gleichen Teilen Triathylamin und
Wasser her, und schliesst sie in diinnster Schicht zwischen zwei mog-
lichst diinne Glasplatten ein, so hat man ein ausserst empfindliches
Thermoskop. Ein Strich mit einem erwarmten Korper bewirkt eine
weisse Linie; die aufgelegte Hand zeichuet alsbald ihre Silhouette und
im Spektrum kann man leicht die grossere Warme im roten und ultra-
roten Teil erkonnen. In der That verdient dies einfache und empfind-
liche Hilfsmittel sehr die von Guthrie empfohlene Anwendung als
Thermoskop.
108. Das Gtosetz der thermodynamiBOhen Ubereinstiminung.
Aus der Theorie von van der Waals folgt (I, 303), dass die Zustands-
gleichung durch die Einfiihrung der kritischen Werte als Mass von
Temperatur, Druck und Volum auf eine Form gelangt, in welcher gar
keine spezifische Eonstante mehr vorkommt. Daraus folgt, dass jede
Eigenschaft, welche durch die genannten Verhaltnisse bestimmt ist, far
gleiche ,,reduzierte^' Werte dieser Veranderlichen bei alien Stoffen iiber-
einstimmen muss.
Nun ist allerdings in dieser Entwicklung die Voraussetzung ent-
halieii, dass die Molekulargrosse der betrachteten Stoffe in dem ganzen
Gebiete keine Anderung erfahrt, und es sind daher alle Falle auszu-
schliessen, in denen diese Bedingung nicht erfiillt ist. Doch hat sich
heraasgestellt, dass ausser dieser Storung noch andere vorhanden sein
mfiBsen, wenn man anders die „Theorie der iibereinstimmenden Zustande"
iiberhaupt gelten lassen will. Denn auch bei Stoffen, fiir welche eine
Anderung des Molekulargewichts nicht anzunehmen ist, sind sicher Ab-
weichongen nachgewiesen worden, so dass es sich jedenfalls nicht um
ein dnrchgreifendes Gesetz handeln kann.
682 II* Chemische Dynamik.
Andererseits lasst Bich nicht verkennen, class die Theorie der iiber-
einstimmenden Zustande wenigstens in den Grundziigen eine grosse
Zahl von Erscheinungen darstellt und mit einander verkniipft. £s hat
deshalb anch einen Wert, bei vorhandenen Abweichungen deren Betng
und Art in Bezug auf die Natnr der Sto£Fe festzustellen, und die hier
wahrscheinlich vorhandenen Gesetzmassigkeiten aufzusuchen.
Durch Natanson ist eine Erweiterung der Theorie von van der
Waals, die urspriinglich ja nur fiir homogene Gase und Fliissigkeiten
aufgesteilt war, auf geloste Stoffe vorgenommen worden ^), und es haben
sich vielversprechende Bestatigungen ergeben, die allerdings wegen der
Schwierigkeiten in der Definition des Volums des betrachteten Stoffes
und wegen der Unvollstandigkeit der experimentellen Daten nur ange-
nahert sein konnten. Rothmund (a. a. 0.) hat gleichfalls sein Material
in solchem Sinne verwertet, und zwar auf Grund der folgenden Ober-
legung.
Sei y^ das spezifische Volum der einen Schicht, dessen Gewichts-
einheit aus x^ und j^ Teilen der beiden Stofife besteht; in der zweiten
Schicht seien diese Grossen t^, x,, y^, und beim kritischen Punkte Vki
Xk9 7k* Dann verlangt die Theone, dass Xi/y^:xk/yk = m fiir alle
Stoffe bei gleichen reduzierten Temperaturen gleich ist
Ebenso muss fiir den zweiten Stoff 7i/vi:yk/viE==n unabhang^g von
der Natur der Stoffe sein; dividieren wir beide Gleichungen, so folgt
Xj/Xkry^/jk = m/n und ebenso Xflx^:jflj^ = mln9 oder, da m and
n fiir alle Stoffe gleich sind, Xi/Xk:yi/yk = x,/xk:y,/yk.
Rothmund hat nun fiir eine Reihe reduzierter Temperaturen die
entsprechenden Werte berechnet; die Ergebnisse sind aber wenig be-
friedigend, denn die Quotienten, die nach der Theorie gleich sein soil-
ten, schwanken zwischen 0*78 und 0*57 bei der reduzierten Temperator
0*99, also 3^ bis 4® unter der kritischen Temperatur. Fiir grossere £nt-
fernung wird die tibereinstimmung noch schlechter.
Es sind also bei den untersuchten Fliissigkeitspaaren die Beding-
ungen nicht erfiillt, unter denen wenigstens eine beschrankte Anwendnng
der Beziehung der iibereinstimmenden Zustande moglich ist
109. Einige Nebenersoheinnngen. Ausser den in ihrer Oesamt-
heit iibersehbaren Verhaltnissen, welche sich beim kritischen Loemigs-
punkte darbieten, liegen noch einige andere vor, die der yollstandigen
Aufklarung und der Herstellung eines quantitativen Zusanuaenhanges
mit anderen, besser bekannten noch barren.
^) Zeitschr. f. phys. Chemie 9, 26. 1892.
Chemische Oleichgewichte zweiter Ordnang. 683
Hierher gehort zunachst eine eigentumliche optiscbe Erscheinung,
welche schon vod Guthrie^) beobacbtet worden war, und welche Rotb-
maod (a. a. 0.) folgendermassen bescbreibt: „Bei der Mebrzabl der
untersucbten Fliissigkeitspaare, und zwar am deutlicbsten bei solcben,
deren Untersucbung scbarf und sicher ausfiibrbar war, bei Pbeaol, Iso-
buttersaure, Triatbylamin und Wasser, sowie bei Metbylalkohol und
Scbwefelkoblenstoff, zeigt sicb nacb dem Erbitzen liber die kritiscbe
Losungstemperatur eine deutlicbe blaulicbe Opalescenz der Fliissigkeit.
Dieselbe nimmt bei weiterer Temperatursteigerung ab, lasst sicb aber
oft 10^ und mancbmal nocb hober iiber der kritiscben Temperatur mit
Sicberbeit wabmebmen und verscbwindet bei weiterem Erbitzen ganz
alhnablicb, obne dass es moglicb ist, irgend einen bestimmten Punkt
anzugeben, bei dem dies eintritt Wenn die Losung von einer Tempe-
ratur an, bei der sie nicbt mebr opalisierte, langsam abgekublt wurde,
so beobacbtete icb folgendes: AUmablicb, obne dass man irgend einen
Anfangspunkt angeben konnte, zeigte sicb ein leicbter, blaulicber Scbleier
iiber die Fliissigkeit gebreitet, der beim Abkiiblen immer dicbter und
deutlicber wurde. Doch verier dabei die Losung ibre Durcbsicbtigkeit
nicbt, es konnten z. B. durcb das Robrcben die Teilstricbe des Tber-
mometers mit vollstandiger Scbarfe geseben werden. Bei weiterem Ab-
kiiblen trat dann, und zwar sebr prazis, eine dicke, milcbige Triibung
aafy und gleich darauf trennte sicb die Losung in zwei Scbicbten. Diese
sonderbare Opalescenz zeigte sicb nur dann, wenn die Eonzentration
nicbt weit von der kritiscben entfemt war."
Eine biermit augenscbeinlicb zusammenbangende Beobacbtung, die
ich gel^entlicb einiger Versucbe bei dem kritiscben Loslicbkeitspunkte
macbte, ist der auffallende Wecbsel in der Scbaumbildung an dieser
Stelle. Gebt man von einer durcb Erwarmen bomogen gemacbten Lo-
sung von Isobuttersaure und Wasser (9:16) aus, so scbaumt die Fliis-
sigkeit beim Umscbiitteln wie Seifenwasser, und der Scbaum bait sicb
lange nacb dem Scbtitteln auf der Oberflacbe. Dies wird beim weiteren
Abkiiblen immer starker; beim kritiscben Punkte jedocb, wo die Fliis-
sigkeit beterogen wird, bort die Scbaumbildung plotzlicb auf, und es
ist nicbt mebr moglicb, aucb nur durcb einige Sekunden eine Scbaum-
schicht auf der Oberflacbe zu halten. Beim langsamen Erwarmen kebren
die Erscbeinungen wieder; sowie die Fliissigkeit bomogen geworden
ist^ ist aucb die Scbaumbildung wieder da, die beim weiteren Erwarmen
langsam geringer wird.
1) Phil. Mag. (5) 18, 504. 1884.
684 ^^' Chemische Dynamik.
Gleichzeitig mit dieser Anderung geht eine sehr bedeatende iLnde-
rung der inneren Reibung mit der Temperatur vor sich. Eine Versachs-
reihe, die Herr Stebutt auf meine Veranlassung gemacht hat, ergab,
dass man in der Nahe des kritischen Losungspunktes Temperaturkoeffi-
zienten der inneren Reibang beobachtet, die drei- bis ftinfmal grosser
Bind, als sie bei ahnlichen Flussigkeiten, und in grosserer Entfemung
yon der kritischen Temperatur vorkommen.
Diese Eigentiimlichkeiten sind nicht auf die genannte Losung be-
schrankt; yielmehr habe ich sie bei alien Losungen wiedergefunden,
welche sich in der Nahe ihrer kritischen Losungstemperatur befanden,
und bei binaren Gemischen ebenso wie bei ternaren.
Einen Schliissel zur Aufklarung der beschriebenen Erscheinungen
wird Yoraussichtlich die Betrachtung der Oberflacbenenergie in
diesem Falle ergeben. Ganz entsprechend den Verhaltnissen am kriti-
schen Punkte Fliissigkeit-Dampf wird die Oberflachenspannung an der
gemeins^men Grenzflache der beiden Phasen bei der Annaherung an
den kritischen Punkt immer kleiner, und der trennende Meniskus immer
flacher und undeutlicher. Am kritischen Punkte werden beide Phasen
identisch, und es kann zwischen ihnen keine Oberflachenspannung mehr
geben; die Oberflacbenenergie ist NuU.
Nun kann man sich aber eine Art Oberflacbenenergie denken, die
das entgegengesetzte Zeichen hat, wie die gewohnliche, d. h. bei welcher
die Energie mit zunehmender Oberflache nicht wachst, sondem abnimmt.
Eine mit dieser Art Oberfl9.chenspannung ausgestattete Oberflache wird
daher nicht die Tendenz haben, sich zu verkleinern, wie das Oberflachen
mit gewohnlicher Spannung thun, sondem sich zu vergrossem. Ober-
flachen mit solcher negativer Spannung liegen zwischen Flussigkeiten
und festen Korpern, die von ihnen benetzt werden, Tor; wir haben hier
solche zu erwarten, wenn wir beim Durchschreiten des kritischen Punktes
durch den Wert Null der Oberflacbenenergie gehen.
Was wird der Erfolg der Bethatigung einer solchen Spannung eein?
Die maximale Vergrosserung der Beriihrungsflache tritt ein, wenn sich
beide Phasen voUkommen yermischen. Wir erhalten auf diese Weise
eine neue Definition des kritischen Punktes: es ist dies der Punkt, an
welchem die positive Oberflachenspannung an der Beriihrungsflache zweier
Phasen durch Null in das Negative iiberzugehen beginnt Bei dem be-
kannten Zusammenhange zwischen Verdampfungswarme und Oberflachen^
spannung (vgl. I, 538) wird diese Definition immer mit der zoaammen*
fallen, dass die spezifische Entropie der beiden Phasen gleich oder ihre
Umwandlungswarme Null wird.
ChemischeGleichgewichte zweiter Ordnung. 685
Man wird nun firagen konnen, ob die Vermisdiung nach dem Zeichen*
wechsel der Oberflachenspannung der Bildung einer unendlich grosBeu
Oberflache entspricht, wie es den Anschein hat, oder ob man diese als
begrenzt betrachten muss. Da in der Natur fiir uns nirgend das Unendliche
yerwirklicht ist, so ist die Frage im zweiten Sinne zu beantworten.
Man wird aber ferner hinzufugen konnen, dass die Grosse der Miscbungs-
flache, um diesen kurzen Ausdruck anzuwenden, wahrscheinlich eine
Funktion der Entfernung Tom kritischen Punkte sein wird. Zunachst
diesem ist die Mischungswarme fast Null, die gesamte Oberflacben-
energie also gleichfalls, und es erscbeint sachgemass, anzunehmen, dass
an dieser Kleinbeit nicbt nur der kleineWert der Oberflachenspannung
Oder der Intensitatsgrosse, sondern auch der Oberflache selbst, der
Kapazitatsgrosse, beteiligt sei.
Eine Folge dieser letzten Annahme ware aber, dass noch eine
merkliche Heterogenitat in der anscheinend homogen gewordenen Fliis*
sigkeit nnmittelbar oberhalb der kritischen Temperatur iibrig bleibt.
Auf diese ware das oben beschriebene Opalisieren zuriickzufiibren, ebenso
die grosse innere Reibung und ihr grosser Temperaturkoeffizient. Dass
auch die Erscheinung mit der Schaumbildung auf denselben Grund
zuriickzufuhren ist, erscbeint mir ziemlich wahrscheinlich. Docb fehlt
es noch zu sebr an Eenntnissen dariiber, woTon die Dauer eines Fliis-
sigkeitshautchens abhangig ist, als dass man dies mit Sicherheit be-
haupten konnte^).
110. Praktisohe Anwendungen. Die kritische LSsungstemperatur
yerschiedener Stoffe in einem und demselben Losungsmittel ist fiir die
Stoffe ebenso charakteristisch, wie es der kritische Dampfpunkt fiir
reine Stoffe ist. Es verspricht daher der Gedanke, diese Temperatur
zur Kennzeichnung von Stoffen zu verwerten, welche sich sonst schwer
unterscheiden lassen, einen giinstigen Erfolg, und L. Crismer') hat
nacbgewiesen , dass in der That eine solche Verwendung leicht und
genau moglich ist. Zu diesem Zwecke wurde die zu untersuchende
Substanz (es wurden vorwiegend natiirliche Fette und ahnliche Stoffe
benutzt) mit ungefahr dem gleichen Volum Alkohol vom speziflschen
Gewicht 0-8195 bei Ibb^ (9% Wasser) in ein Rohrchen von 5 — 6 mm
<) Dass bei FlQsaigkeiten, die in alien Yerb<nisseA mischbar . aind, negative
Oberfl&cbenspaDnang angenommen werdea darf, findet sicb scbon von W. Thomson
(Lord Kelvin) ausgesprocben. Ygi. Popul&re Reden and Yortr&ge, deutscbe Aus-
gabe, S. 15. Berlin 1891. Docb feblt die Beziebung auf die kritiscben Erscbei-
nnngen.
*) Bull. Ac. Roy. de Belgique 30, 97. 1895.
Ostwald, Chemie. 11,2. 2.Aufl. 44
686 ^I- Ghemische Dyoamik.
Weite und 9 cm Lange gebracht und im Schwefelsaurebade erwarmt.
Nahert man sich der kritiscben Temperatur, d. h. der Temperator, bei
welcher die Fliissigkeiten in alien Verhaltnissen ineinander loslich
werden, bo flacht Bicb der Meniskus an der Trennungsflacbe ab; man
kehrt dann das Bobrchen um, damit eine Tollstandige Vermiscbung statt-
findet, erwarmt etwa 10^ iiber die Miscbtemperatur and lasst langsam
abkublen. Unmittelbar yor der Triibung in der ganzen Masse siebt man
die kleine an dem oberen Ende des Robres dnrcb Kapillaritat festge-
baltene Fliissigkeitsmenge triibe werden, und kaan diese Erscbeinung
als Ankiindigung der Haupterscbeinung benutzen.
Die Versucbe zeigen, dass ziemlicb unabbangig Ton der Menge der
benntzten Fliissigkeiten sicb die kritiscbe Losungstemperatur innerbalb
eines Grades genau bestimmen lasst. Der Umstand, dass als Losongs-
mittel wassriger Alkobol, also ein nicbteinbeitlicber Stoff benntzt wurde,
Terstarkt allerdings den (kleinen) Einfluss der relativen Menge, doch
blieb dieser innerbalb der Feblergrenze. Bei besonderen Yersucben
iiber diesen Einfluss ergab sicb, dass die Abweicbungen etwa z?ri8cben
20 und 60 ^/o gelosten Stoffes gering und praktiscb zu yernachlassigen
sind. Die praktiscbe Bedeutung des Verfabrens zeigt sicb darin, dass
es einen scbarfen Unterscbied zwiscben Butter und Margarine zu macben
gestattet, deren kritiscbe Losungstemperaturen um etwa 20^ ausein-
ander liegen.
Weiter wurde die Frage nacb der gegenseitigen Beeinflussung
mebrerer Stoffe gestellt und mit dem Ergebnis beantwortet, dass ange-
nabert die kritiscbe Temperatur eines Gemenges sicb nacb der Mischungs-
regel aus den kritiscben Temperaturen der Bestandteile berecbnen lasse.
Docb findet voraussicbtlicb diese einfacbe Beziebung nur bei chemisch
abnlicben Stoffen statt.
Andert man den Gebalt des Alkobols an Wasser, so andem sich
aucb die kritiscben Losungstemperaturen. Stellt man diese als Funk-
tion des Wassergebaltes zusammen, so ergiebt sicb eine sebr nahe ge-
rade Linie. Untersucbt man ferner yerscbiedene Stoffe in diesen yer-
scbiedenen Alkobolen, so sind die yom Wassergebalt yerursacbten Unter-
scbiede yon der Natur des Stoffes nabezu unabbangig, so dass die zn
yerscbiedenen Stoffen gehorigen Temperatur -Wasser-Kuryen einander
parallel sind. Nur bei boben Temperaturen weichen die Linien ab, in-
dem die Zunabme der Temperatur langsamer erfolgt als die des Wasser-
gebaltes. Indessen bat die bei den boben Temperaturen erfolgende Ver-
anderung der Stoffe (Verseifung der Fette) einen bedeutenden £influss
auf diese Erscbeinuug.
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 687
Schliesdich beschreibt Criamer ein optisches Verfahren znr Be-
stimxnong der kritischen LoBungstemperatur. Man beobachtet den M e-
niskus mit einem Mikroskop und nimmt als Reaktion den Angenblick,
wo die kmmme Trennnngslinie gerade wird. Farbt man den Alkohol
mit etwas Fuchsin, so kann man die Erscheinung noch beqnemer be-
obachten. Diese Temperatur liegt 4 oder 5 Grad unter der eigent-
lichen kritischen Temperatur.
Wenn der Alkohol Isobutyl- oder Isoamylalkohol in merklichen
Mengtti enthalty so gehen die Temperaturen hemnter: fur jedes Prozent
mn etwa zwei Grad. Die Mengen, welche in einem gewohnlichen
reinen Alkohol Yorkommen, sind indessen zn gering, um irgend einen
messbaren Einfluss zu zeigen, wie sich durch Versuche an Alkoholen
Ton Yorschiedener Herkunft ergab.
111. Dampfdrucke teilwelBe mischbarer Flfissigkeiten. Ffir die
Gebiete, in welchen von zwei teilweise mischbaren Fliissigkeiten noch
homogene Losungen gebildet werden, gelten die S. 617u.ff. entwickelten
Beziehungen unyerandert. Es wird also der Dampfdruck des Losungs-
mittels proportional dem Molenbruch yermindert werden » und der
Dampfdruck des gelosten Sto£fes wird je nach der Grosse der Loslich-
keitskonstanten mehr oder weniger schnell proportional seinem Molen-
bruoh wachsen.
Setzt man aber yon dem Stoffe B zum Losungsmittel A mehr, als
sich bei der gegebenen Temperatur zu losen yermag, so bilden sich
zwei Schichten. Mit dem Dampf zusammen macht dies drei Phasen;
es ist also nur noch eine Freiheit iibrig, die yon der Temperatur be-
anspracht wird. Die iLnderung der Zusammensetzung kann unter diesen
Umstanden keinen Einfluss auf den Dampfdruck mehr haben, und dieser
bleibt unyerandert, bis bei weiterem Zusatz yon B die Fliissigkeit wie-
der homogen wird, und eine Losung yon A in iiberwiegendem B dar-
stellt. Hier yerschwindet eine Phase, das Gebilde hat zwei Freiheiten,
und reagiert durch den Dampfdruck wieder auf Anderungen in der
Konsentration.
Man erhalt das gleiche Ergebnis, wenn man sich iiberlegt, dass
wahrend der Periode, wo zwei getrennte Schichten der Fliissigkeit yor-
baiiden sind» die Zusammensetzung jeder Schicht sich mit dem Mengen-
yerhaltnis nicht andert, sondem nur ihre relatiye Menge. Da aber
diese keinen Einfluss auf den Dampfdruck hat, so kann sich dieser
anch nicht andern.
Ferner besteht aber eine wichtige Beziehung, welche zuerst yon
Kanowalow aufgestellt worden ist: die beiden Schichten der Fliissigkeit
44*
ggg II. Ghemische Dynamik.
haben trotz ihrer verschiedenen Zusammensetzung gleichen Dampfdruck,
und zwar nicht nur gleichen Gesamtdruck, sondern auch gleiche Teil-
drucke ihrer Bestandteile.
Konowalow hat dies Ergebnis sowohl experimentell gepriift, wie
auch theoretisch begriindet. In letzterer Beziehung stiitzte er sich anf
eine Schlussweise, die yon W. Thomson (Lord Kelvin) zuerst fiir die
Betrachtung eines anderen Falles angewendet worden war, und die auf
der Unmoglichkeit eines Perpetuum mobile beruht. Eine genauere
Priifung der Schlussweise ergiebt, dass es sich nicht um ein Perpetuum
mobile im damaligen Sinne, oder eines erster Art (II, 474) handelt,
sondern .um eines zweiter Art. Wir ersetzen die Betrachtung durch den
einfELchen und allgemeinen Satz: Was auf eine Art im Gleichgewicht
ist, ist auf alle Art im Gleichgewicht.
Die Zusammensetzung der beiden Schichten, in die sich das 6e-
misoh getrennt hat, kann durch unmittelbaren Austausch in der Be-
riihrungsflache und auch durch Destination geandert werden. Sind
beide Schichten in ersterer Beziehung im Gleichgewicht, so miissen sie
es auch in. letzterer sein, d. h. die beiden Teildrucke der Yorhandenen
Flussigkeiten miissen gleich sein.
Die Eurye der Gesamtdrucke eines teilweise mischbaren Fliissig-
keitspaares wird sich somit aus zwei geneigten Teilen an beiden Ejiden
und einer horizontalen Geraden dazwischen zusammcnsetzen. Es ergiebt
sich alsbald die Frage, wie die beiden geneigten Teile gestaltet sein
werden, insbesondere ob sie aufsteigcn oder absteigen, oder ob beides
an den beiden Enden einer Kurve stattfinden kann.
Der Eiirze wegen sollen in folgendem die beiden ausseren Teile
der Kurve, welche den homogenen Gemischen angehoren und einen mit
der Zusammensetzung veranderlichen Gesamtdruck zeigen, die Enden
der Drucklinie genannt werden; das mittiere Stiick dagegen, welches
horizontal iiber das ganze Gebiet der teilweisen Mischbarkeit oder der
Trennung in zwei Schichten sich erstreckt, das Mitteil der Drucklinie.
Die erste Frage, die sich hier erhebt, ist die nach der Form der Enden
gegenuber dem geradlinigen Mitteile.
Die Erfahrung lehrt, dass zwei Formen vorkommen konnen, die
durch r und s. Fig. 125, angedeutet sind. Entweder besteht im Mitteile
das Maximum des Dampfdruckes, und beide Enden liegen nnterludb
der Geraden, Fig. 125, r. Oder das Mitteil liegt zwiscfaen den Werten.
welche an den Enden vorkommen. Fig. 125, s. Die formal denkbaie
dritte Form, bei welcher das Mitteil der Dampf drucklinie unterhalb
der beiden Enden liegen konnte, ist nicht beobachtet worden. Auch
Cbemische Gleichgewichte zweiter Ordnong.
689
sprechen theoretische Griinde gegen ihre Moglichkeit Konowalow giebt')
folgende UberleguDg daniber, und welter unten werden noch andere
Griinde in gleichem Sinne, doch auf ganz anderer Grundlage beige-
bracht werden.
Zwiscben der Richtung der Kurve des Gesamtdruckes and der
Verschiedenheit zwiscben der Zusammensetzung der Fliissigkeit und de8
Dampfes bestebt die Beziehung»
dass fur aufsteigende Teile der
Kurve die Konzentration im
Dampfe grosser ist, als in der
Fliissigkeit, und umgekebrt
Ware nun die Kurve von der
Gestalt, dass das Mitteil nied-
riger lage, als beide Enden, so'
wiirde dort, wo das erste Ende
in das Mitteil iibergebt, wegen
des Absteigens die Konzentra-
tion im Dampfe kleiner sein
miissen, als in der Fliissigkeit.
/
/
/
/
t
/
Fig. 125.
Dort, wo das zweite Ende an das Mitteil grenzt, wiirde wegen des
Aufsteigens der Kurve die Konzentration im Dampfe grosser sein
miissen, als in der Fliissigkeit. Nun sind aber an beiden Punkten die
Dampfe gleicb zusammengesctzt, und gleicbzeitig ist die Konzentration
der Fliissigkeit in dem zweitgenannten Punkte viel grosser, als im
ersten. £s miisste also der Dampf sowohl verdunnter als die ver-
diinntere, und konzentrierter als die konzentriertere Fliissigkeit sein,
was unmoglicb ist. Daher muss mindestens ein Ende der Gesamtkurve
niedriger liegen, als das Mitteil.
112. Die Teildruckkurven. In den homogenen Gebieten an den
Enden der Miscbungsreihe werden die wiederholt erorterten Verbalt-
nisse fiir die Teildrucke zu erwarten sein. Der in geringer Menge vor-
bandene Anteil wird eine Kurve geben, die von NuU beginnt und
schneller ansteigt, als die Verbindungsgerade zum Dampfdruck der
reinen Fliissigkeit. Am anderen Ende der Mischungsreibe, wo dieser
Stoff vorwiegt, wird dagegen die Teildruckkurve in der Ricbtung dieser
Geraden verlaufen.
An den beiden Stellen, wo die Fliissigkeit sicb trennt, hat der
Teildruck denselben Wert. Zwiscben diesen Punkten ist er unabbangig
1; Wied. Ann. 14, 221. ISSl.j
690
II. Gbemische Dynamik.
Yon der Zusammensetzung, verlauft also als horizontale Gerade. Das
Gesamtbild ist also durch oabp^, Fig. 126, gegeben.
So ist das Verhalten, wodii die Scheidung wirklich bei dem ent-
sprechonden Mengeuverhaltnis eintritt. Nun konnen wir uns aber denken,
dass es moglich ware, Ubersattigung an den Stellen a and b zu be-
wirken. Dann wiirde sich die Teildruckkurve stetig iiber a und b
hinaus verlangern. Wir batten etwas hinter a und etwas vor b zwei
Gemische, yon denen das erste, weniger des ersten Stoffes enthaltende,
in Bezug auf diesen einen grosseren Dampfdruck hatte, als die zweite,
die viel mebr von ibm entbalt.
Denkt man sicb nun weiter, es ware moglich, die ganze Mischungs-
reihe zwischen a und b homogen zu halten, so miisste die Teildrack-
kurve in ihrem ganzen Ver-
laufe stetig sein. Sie konnte
dann im einfachsten Falle
nur die Form acdp^ haben,
die durcb die punktierte Ver-
bindung zwischen a und b
P' angedeutet ist.
Die Analogie zwischen die-
ser Figur und der von J. Thom-
son gegebenen fiir den stetigen
Ubergang zwischen Fliissig-
keit und Dampf fallt in die
Augen^), vgl. I, 297. Auch
lassen sich entsprechende
Schliisse ziehen. Ehe wir auf sie eingehen, soil aber noch gezeigt wer-
den, dass noch andere Giiinde auf die gleiche Vorstellung f&hren.
Bei der Diskussion der moglichen Formen der Teildruckkurven
eines Gemisches (S. 617) sind namlich die Moglichkeiten nicht toU-
standig erschopft worden, indem fiir die Teildruckkunre der Form a
zwar das Auftreten eines Wendepunktes, nicht aber das eines Maxi-
mums beriicksichtigt worden ist Ein Minimum bei der (einfachen)
Form b ist ausgeschlossen, da es negative Dampfdrucke nicht giebi.
Ein solches Maximum wiirde auftreten, weun der Loslichkeitskoeffi*
zient sehr klein ware, und sich daher die Kurve vom Nullpunkie aus
Fig. 126.
^) Diese Analogie ist zuerst von Dahem (Dissolutions et Melanges HI, S. 31-
Lille 1894) und unabhftngig von Margules (Wien. Ak. Ber. 104. Dez. 1895) aos>
gesprochen worden. Ohne meiner Yorg&nger gewahr zu sein, habe ich gie sp&ter
(Wied. Ann. 63, 336. 1897) gleichfalls entwickelt.
Ghemische Gleichgewicbte zweiter Ordnung. 691
sehr steil erheben wurde. Da ihr Ende jedenfalls die Richtung der
Verbindungslinie mit dem NuUpunkte besitzt, so ist die Moglichkeit
eines Maximums sehr naheliegend. Was wird die Folge eines solchen
Verlaufes sein?
Wahrend von o bis c, und ebenso von d bis p^, Fig. 126, der
Teildruck normaler Weise mit der Konzentration zunimmt, miisste zwiscben
c and d bei steigender Konzentration der Teildruck abnebmen. Da nun
weiter der Teildruck das Mass der wirksamen Menge ist, so kommen
wir zu der unmoglichen Forderung, dass die wirksame Menge des
Stoffes abnebmen soil, wahrend seine raumliche Konzentration zunimmt
Ein solcher Zustand ware labil im strengen Sinne des Wortes und da-
her physisch unmoglich. Wenn daher solche Bedingungen sich aus-
bilden, so muss irgend etwas anderes an Stelle des unmoglichen Zu-
standes eintreten. In dem ganz analogen Falle des iiberdriickten
Dampfes (I, 298) ist es der teilweise Ubergaug in den anderen Aggregat-
zustandy d. L das Erscheinen einer neuen Phase. Auch in diesem Falle
erscheint eine neue Phase, die Losung spaltet sich in zwei nicht misch-
bare Schichten.
Wenn man dies Ergebnis in die Gestalt bringt: damit zwei Fliis-
sigkeiten sich nur teilweise losen, muss ihre Loslichkeit klein sein, so
sieht es wie eine Trivialitat aus. Doch entsteht dieser Anschein nur
daraus, dass mit dem Worte Loslichkeit sowohl das Sattigungsverhalt-
nis beider Fliissigkeiten , wie das TeiluDgsverhaltnis zwiscben Losung
and Dampf bezeichnet wird. Thatsachlich erhalten wir die nicht un-
mittelbar einleuchtende Beziehung: damit zwei Stoffe nur teilweise Ids-
lich sind, muss der in geringerer Menge anwesende Stoff relativ reich*
lich in den Dampf ubergehen. Gebt er mit seinem eigenen Dampfdrucke
in den Dampf iiber, so ist er gar nicht loslich.
Andererseits folgt aus den letzten Darlegungen, dass jedenfalls
Trennung in zwei Schichten eintreten muss, wenn die Teildruckkurve
an irgend einer Stelle ibres Verlaufes abnehmende Drucke mit stei-
gender Konzentration aufweist.
Aus dem Umstande, dass eine Teildruckkurve von der Form a bei
der Bildung eines nicht in alien Verhaltnissen mischbaren Fliissigkeits-
paares vorhanden sein muss, folgt notwendig, dass ein Ende der Kurve
des Gesamtdruckes aufsteigend sein muss. Es ist schon erwahnt wor-
den, dass Konowalow das gleiche Ergebnis auf Grund anderer Betrach-
tungea gefunden hatte.
Wie die zweite Teildruckkurve aussehen muss, gebt aus diesen
Betrachtungen gleichfalls hervor, da ja die Benennung des ersten oder
\
692
U. Chemlsche Dynamik.
zweiten Bestandteils willkiitlich ist Dagegen ist die Gestalt der Ge-
samtkurve verscbieden, je nachdem die beiden Teildruckkuryen sehr
verscbiedene Ordinaten besitzen, oder solcbe von gleicber Grossen-
ordnung.
Im ersten Falle geben wir yoq der aussersten Moglichkeit aus,
dass der Dampfdruck des einen Bestandteils von Null Uberbaupt nicht
messbar yerscbieden ist. Dann giebt die Teildruckkurve gleicbzeitig
die Kurve des Gesamtdnickes; setzt man zu dem nicbtfliicbtigen Be-
standteil den fliicbtigen, so nimmt der Druck anfangs linear zu, erreicbt
beim ersten Unstetigkeitspunkte
einen bestimmten Wert, der
bis zum zweiten Unstetigkeits-
punkte konstant bleibt, und
steigt TOn dort ab weiter bis
zum Dampfdruck des fliicbtigen
Bestandteils; der letzte Teil ist
eine Gerade mit der Ricbtung
auf den Anfangspnnkt der Ko-
ordinaten (Fig. 127, a).
Aucb bei endlicben aber
kleinenWerten des einen Dampf*
druckes wird sicb das Bild nicht
Fig. 127.
wesentlicb andem, nur setzt die Eurve nicht im NuIIpunkt an, und der
ansteigende Zweig wird flacher (Eurve b). Werden beide Dampfdrucke
einander gleicber, so gebt das Ansteigen des Zweiges durch die hori-
zontale Lage (Eurve c) in ein Absteigen iiber, und man erhalt die
Gestalt d. Damit sind die Moglichkeiten erscbopft. Das Ergebnis entr
spri.cbt dem S. 691 gefundenen.
113. Die Zasammensetztuig des Dampfes. Die gleicfaen Verhalt-
nisse, welcbe fiir den Dampfdruck Torbanden sind, wiederbolen sich
beziiglicb der Zusammensetzung: sie ist veranderlich an den Enden der
Eurve und konstant im Mitteile.
Da im beterogenen Teile zvirei verscbieden zusammengesetzte Fliis-
sigkeiten mit demselben Dampfe im Gleicbgewicht sind, so kann maa
nicht erwarten, dass die Zusammensetzung des Dampfes mit der einer
der beiden Fliissigkeiten iibereinstimmt Aucb lebrt der Versuch* daaa
das Destillat aus dem beterogenen Gebiete sicb in zwei Scfaichten son*
dert, die aucb nicht bomogen virerden, wenn man sie auf die Siede«*
temperatur des Gemisches erwarmt Es entsteht daber die Frage, von
welchom Umstande die Zusammensetzung des Dampfes abhangig sein wird.
Chexnische Gleichgewichte zweiter Ordnong.
693
Urn zu einer Antwort zu gelangen, betrachten wir die Dampfdruck-
linien eines heterogenen Gemenges bei yerschiedenen Temperaturen, die
wir bis zum kritischeu Losungspunkte aufsteigen lassen. Fassen wir
zunachst den Fall ins Auge, dass im Mitteile ein Maximum des Dampf-
druckes besteht, so erhalten wir Formen wie in Fig. 128; die Enick-
stellen liegen auf der bekannten Loslichkeits-Temperaturkurve (die bier
gegen friiber nm einen rechten Winkel gedrebt erscbeint). Sie treten
sicb demnacb immer naher, und die Zusammensetzung der beiden
Scbicbten wird immer abnlicber. Im kritischen Losungspunkte ist die
Fliissigkeit bomogen und die
DampfdruckkuTYe stetig gewor-
den, und zwar bat sie fiir das
Gemiscb von der kritischen
Konzentration einen Mazimal-
wert. Folglicb ist in diesem
Punkte der Dampf von der-
selben Zusammensetzung, wie
die Fliissigkeit.
Gleicbzeitig baben dieXeil-
dmckkurven ibre Maxima ver-
loren, welcbe in Wendepunkte
mi t horizontaler Doppeltangente
iibergegangen sind. Am Maximalpunkte der Gesamtdrucklinie gilt wie
™™^^ dpi/dx + dp,/dx = 0,
d. h. die beiden Teildruckkurven macben entgegengesetzt gleicbe Winkel
mit der Horizontalen ^).
Verfolgt man nun umgekebrt die Kurven abwarts, indem man vom
kritischen Punkte ausgebt, so wird man vermuten diirfen, dass die
Stelle, der die Zusammensetzung des Dampfes entspricbt, immer nocb
eioen ausgezeicbneten Punkt bezUglicb der Teildruckkurven darstellt.
Die horizontale Tangente des Maximalpunktes gebt in die empiriscbe
Dampfdruckgerade des beterogenen Gebietes iiber, welcbe die tbeore-
tischen Einzeldruckkurven in drei Punkten scbneidet Zwei von diesen
Pankten baben die physiscbe Bedeutung, dass sie die Zusammensetzung
der beiden Fliissigkeiten angeben, bei welcben die Unstetigkeit der
empiriscben Kurve eintritt. Man darf daber vermuten, dass aucb der
>> Ich vermute, dass in diesem Falle die Wendepnnkte der Teildruckkurven
mit dexn Maximalpunkte der Kurve des Gesamtdruckes in einen Punkt zusammen-
falleu werden; doch kann ich hierfdr keinen Beweis beibringen.
694 n. Chemische Dynamik.
dritte Durchschnittspunkt eine pbysische Bedeutung haben wird, und
da bleibt nur die Zusammensetzung des Dampfes hierfiir iibrig.
Hieraus ist zu schliessen, dass die ZusammenBetzung des Dampfes
au8 einem heterogenen Gemenge der betrachteten Art immer zwischen
der Zusammeusetzong der beiden einzelDen gesattigten Losungen liegen
wird, mit denen der Dampf im Gleichgewicht ist.
Doch darf nicbt vergesseu werdeti, dass dieser Schlass nur fur dea
Fall giiltig ist, dass der Dampfdruck im Mitteile der unstetigen Dampf-
drucklinie ein Mazimam ist. Fiir die zweite mogliche Form dieser Linie,
a und b in Fig. 127, S. 692, gelten diese Schlusse nicht, da hier nicht
behauptet werden kann, dass beim kritischen Losungspunkte der Dampf
und die Fliissigkeit gleiche Zusammensetzung haben. Diese Gleichheit
tritt ein, wenn die Dampfdruckkurve ein Maximum oder ein Minimum
hat, nicht aber, wenn sie nur einen Wendepunkt hat. Zwar ist an
einem solchen gleichfalls die Bedingung dp/dz = 0 erfullt. Wahrend
aber in den beiden ersten Fallen bei Abweichungen der Fliissigkeit
von der Zusammensetzung, die dem maximalen, bez. minimalen Dampf-
drucke entspricht, durch den Verdampfungsvorgang selbst die Fliissig-
keit wieder auf die richtige Zusammensetzung zuriickgefiihrt wird, tritt
dies im Falle eines Wendepunktes nicht ein. Vielmehr bedingt eine
noch so kleine Uberschreitung der richtigen Zusammensetzung alsbald
eine weitere Anderung im Sinne einer wachsenden Verschiedenheit
zwischen Fliissigkeit und Dampf, wie man sich leicht durch die An-
wendung der S. 621 gcgebenen Regel iiberzeugt.
114. Verhalten bei der Destillation. Im Gegensatze zu den in
alien Verhaltnissen mischbaren Fliissigkeiten sind die nur teilweise
mischbaren in alien Fallen durch Destillation trennbar. Dies ergiebt
sich aus der Untersuchung der Vorgange, wie sie sich auf Grund der
eben durchgefiihrten Betrachtungen iibersehen lassen.
Zunachst stellen sich die Isobaren oder die Siedepunkte bei kon-
stantem Druck als in der Hauptsache symmetrisch den Isothermen in
ihrer Abhangigkeit von der Zusammensetzung dar. An den beiden
Enden wird sich der Siedepunkt mit der Zusammensetzung andern,
und zwar wird er im Falle d, Fig. 127, S. 692, zunachst mit wacfasen-
dem z abnehmen, bis die Fliissigkeit sich in zwei Schichteu trenDt.
Dann wird der Siedepunkt unabhangig von z sein, bis wieder beim
Vorwalten des anderen Bestandteils eine homogene Ldsung eintritt.
Von da ab bewirkt eine Zunahme yon x eine Zunahme des
punktes, bis der der reinen Fliissigkeit erreicht ist.
Ghemische Glelcbgewichte zweiter Ordnung. 695
Im Falle a ist fiir x = 0 der Siedepunkt sehr hoch, da der hier
Yorhandene Sto£f Yerbaltnismassig unflttchtig im Vergleich mit dem
anderen ist Mit wachsendem x nimmt er ab, and wird yon dem Punkte
aby wo sicb die Fliissigkeit in zwei Scbichten teilt, konstant, bis wieder
die zwei Scbichten in eine bomogene Losung iibergeben. Von bier ab
sinkt er auf den Siedepunkt der leicbter fliicbtigen Fliissigkeit.
Wir haben also wieder zwei yeranderlicbe „Enden" und ein kon-
fitantes „Mitteil^.
Hiernacb lasst sicb die Moglicbkeit einer Trennung durcb Destil-
lation beurteilen, und es ergiebt sicb, dass sie in alien Fallen ausfubr-
bar ist.
Fiir den Fall a und b lasst sicb das obne weiteres iiberseben, da die
Fliicbtigkeit der beiden Bestandteile sebr verscbieden ist. Beginnt man
ein beliebiges Yorgelegtes Gemenge zu destillieren, so gebt, wenn es
beterogen ist, bei konstantem Siedepunkte ein Dampf yon konstanter
Zusammensetzung iiber, der ganz yorwiegend den leicbter flucbtigeD
Bestandteil entbalt. Hat der Rtickstand soyiel yon diesem yerloren, dass
sich eine bomogene Losung bildet, so steigt der Siedepunkt, und es
mengt sicb dem Dampfe mebr yon dem weniger fliicbtigen Bestandteile
bei. Man wecbselt jetzt die Vorlage, um das erste, reinere Destillat
nicht zu yerderben, und kann durcb Wiederbolung der Destination zu
einer yollstandigen Trennung gelangen. Man kann die Trennung be-
acbleunigen, wenn man die beterogenen Anteile yorber trennt und ein-
zeln destilliert, docb ist dies fiir die Moglicbkeit der Trennung nicbt
wesentlicb.
Anders yerbalt sich ein Gemenge mit der Kurye d. Hier muss
man notwendig mit einer mechanischen Trennung beginnen, und die
beiden Anteile einzeln destillieren. Diese yerhalten sich insofern gleich,
als sie einen Dampf aussenden, dessen Zusammensetzung zwiscben der
der beiden bomogenen Losungen liegt; somit yerandert sich jede yon
ibnen so, dass im Riickstande sicb der eine, bez. der andere Bestandteil
rein ansammelt Das Destillat zerfallt in zwei Scbichten, die mecbanisch
getrennt werden, und wieder jede einen der beiden Bestandteile rein
im Riickstande liefert. Auch hier kann man durcb Wiederbolung zu
yoUstandiger Trennung gelangen.
Bemerkenswert ist aber, dass hier die yollstandige Trennung nur
unter der Voraussetzung gelingt, dass man die Destination mit der
mechanischen Scheidung abwechseln lasst.
1 15. l&bersftttigung bei Ldsiingen von Fltisaigkeiten in Flusaig*
keiten- Die S. 349 angestellten Betrachtungen macbten es wiinscbens^
696 II' Chemische Dynamik.
wert, liber die dort vorausgesetzte Moglichkeit, fur den Fall zweier
fliissiger Phasen Ubersattigungserscheinungen hervorzubringen, einige
experimentelle Anschauangen zu gewinnen. In der Litteratur sind bis-
her keine Falle verzeichnet, in welchen derartige Ubersattigongserschei-
nungen beobachtet worden waren. Vielmehr hebt Rothmund^) herror,
dass ihm niemals irgend erhebliche Betrage von tibersattigung bei seinen
Versnchen iiber den kritischen Losungspunkt entgegengetreten waren.
Nun kann dagegen bemerkt werden, dass in der Nahe dea kriti-
schen Punktes iiberhaupt die Breite des metastabilen Gebietes aller
Wahrscheinlichkeit nach sehr gering, und tJbersattigungen daher fast
voUig ausgeschlossen sein mogen. Ich babe deshalb nach Beispielen
gesucht, in welchen man binreichend weit von dieser Grenze entfemt ist
Ein solcher Fall ist Scbwefel und Wasser. Fasst man die bekannte
Reaktion der Thiosulfate mit Saure so auf, wie sie S. 291 geschildert
ist, 80 liegt ein Vorgang der tJbersattigung von Wasser mit gelostem
Scbwefel vor. Da, wie Landolt gezeigt hat, die Zeit bis zur Abschei-
dung der Schwefeltriibung eine ganz gesetzmassige ist, so sind Zufallig-
keiten bei dem Vorgange ausgeschlossen. Man kann nur noch die
Moglichkeit erwagen, dass es sich nicht um die Aufhebuug eines Ober-
sattiguQgszustandes handelt, sondern nur um eine tlberschreitung des
Sattigungspunktes. Doch spricht hiergegen der Umstand, dass man die
eben triibe gewordene Fliissigkeit mit sehr viel Wasser verdannen
kann, ohne dass sie klar wird'). Es liegt also entweder in der That
eine starke f}bersattigung vor, oder der Scbwefel verwandelt deli im
Augenblicke seiner Abscbeidung in Tropfchenform alsbald in eine andere,
in Wasser sehr schwer losliche Modifikation.
Wegen dieser zweiten Moglichkeit suchte ich nach einem anderen Falle,
der diesem Einwande nicht ausgesetzt war, doch ist es mir noch nicht
gelungen, einen solchen zu finden. Ich ezperimentierte hauptsachlich
mit Chloroform in der Gestalt, dass ich eine Losung von Chloral mit
Natronlauge versetzte, wobei sich in kurzer Zeit, wenn auch mctit
augenblicklich, Chloroform bildet, das sich bei geeigneter Verdunniing
der Gesamtfliissigkeit — etwa 10 bis 15 Liter fiir ein Mol — in Ge-
stalt eines deutlichen Nebels ausscheidet. Der Vorgang erfolgt gleich*
massig in der ganzen Fliissigkeit und erinnert lebhaft an die Thio-
sulfatreaktion.
>) Zeitschr. f. phys. Chemie 26, 444. 1898.
*) Ich babe micb eigens biervon dberzeugt; die 50fache Verdannung der
Fliissigkeit, die so verdtinnt gew&blt war, dass sie erst nach einigen Minnten
Scbwefel abscbied, konnte keine El&rung bewirken.
Giemische .Gleichgewichte fweiter Ordnung.
697
Bei den Versuchen erwies es sich als unbedingt notwendig, die
Verdampfung des Chloroforms zu verbindem, welche unter diesen Um-
standen sebr betrachtlich ist and grobe Febler yeranlassen kanD. Des-
halb wurden die Losungen in dem Apparate Fig. 129 yermischt, der
au8 einem Tricbter und einer Kugel mit Hahn bestand, die beide durcb
sine weite Eapillare verbunden waren. Vor dem Versucbe wird das
Gauze mit Quecksilber gefullt^); durcb das
Ablassen des Metalls konnen dann die Losungen
aus dem Tricbter in die Kugel gesogen werden,
obne dass eine Luftblase mitkommt.
Wird einerseits die Zersetzung des Cblorals
in so konzentrierter Losung Yorgenommen, dass
sicb etwas Chloroform ausscheidet, und dieses
durcb Wasserzusatz in Losung gebracbt, so
erfabrt man die Grenze der Loslicbkeit fiir
Chloroform. Nimmt man andererseits von Yorn-
herein immer grossere Wassermengen, bis eben
keine Triibung mebr eintritt, so erfabrt man
die Loslicbkeit des Chloroforms bis zur meta-
stabilen Grenze. Hat das metastabile Gebiet
also eine messbare Breite, so miissen die beiden
Verdiinnungeu yerscbieden sein.
Der Versuch ergab, dass 20ccm ^/jQ-nor-
maler Losung von Chloral mit lOccm normaler
Ealilosung bei 18^ auf ein Gesamtvolum von 33-5 ccm gebracht werden
miissen, um keine Ausscbeidung von Chloroform zu geben. Wurde aber
eine solcbe vorber durch Weglassung eines Toils Wassers bervorgerufen,
so wurde durcb Wasserzusatz bis zu einem Gesamtvolum von 33*6 ccm
bis 33*7 ccm wieder voUstandige Losung bewirkt. Wenn also hier eine
tJbersattigung moglicb ist, so ist deren Betrag ausserordentlicb klein,
denn der beobachtete Unterscbied ist von den Versucbsfehlem nicht
sioher zu trennen.
116. Zwei fl^sslge Fhasen ohne Dampf. Es ist schon erwahnt
worden, dass beim Fortlassen der Dampfpbase das Gebilde aus zwei
fliissigen Phasen eine Freibeit mebr gewinnt; das Gleichgewicht bat
') Das Qaecksilber befand sich in einer Gummibime, wie sie far photogra-
phische YerschlQsse benatzt werden, die darch einen Gnmmischlaach mit der
Kugel verbonden war. Hierdarch hat man sehr beqaeme Arbeit, und das l&stige
Yerspritzen von Quecksilber wird ganz vermieden. Die Einrichtung ist mannig-
facher Anwendungen f&hig.
Fig. 129.
698 II* Ghemische Dymunik.
zwei Freibeiten, und bei bestimmter Temperatur kann durch Anderung
des Druckes eine Verschiebung der Mischungsverbaltnifise bewirkt war-
den, und umgekehrt.
Der Sinn dieser Anderungen wird durch die wiederholt benutzte
Regel bestimmt, dass sie aicb dem ausgeiibten Zwang widersetzen. So
wird durch Temperaturerhohung bei konstantem Druck die gegenseitige
Anderung der Eonzentration stattfinden, welche mit Waimeverbrauch
verbunden ist, und bei konstanter Temperatur wird eine Vermehmng
des Druckes das Gleichgewicht in solchem Sinne yerschieben, dass da-
durch das gesamte Volum yermindert wird.
Man muss sich bei der Anwendung dieser Regel vor dem Irrtom
hiiten, als handele es sich um die Anderungen bei der Herstellung des
Gemisches aus den reinen Bestandteilen. £s handelt sich um die
Warme- und Volumanderungen bei den wirklich eintretenden Ande-
rungen des Gleichgewichts. Dies ist einerseits die Warme, welche bei
der Ubertragung einer solchen Menge des einen Bestandteils aus der
einen Losung in die andere frei wird, dass dadurch die verlangte
Anderung der Konzentration bewirkt wird, andererseits die entsprecheude
Volumanderung. Man kann daher die Grossen auch ak die Unter-
schiede zwischen den Vorgangen bei der KonzentrationsYermehmng der
einen und der entsprechenden Konzentrationsverminderung der anderen
Losung auffassen.
Uber diese Grossen ist thatsachlich so gut wie nichts bekannty als
dass sie jedenfalls sehr klein sind und beim kritischen Punkt yerschwindeiL.
Ezperimentell ist die Frage von Alexejew gestreift worden; er hat
keinen Einfluss des Druckes auf die Loslichkeit nachweisen konneiu
Dagegen hat Kowalski^) einen solchen beobachtet; allerdings nicht bei
binaren Gemischen. Eine Losung aus 9-5 Isobutylalkohol und 90*5 Wa88er»
die bei 18^ klar wird, konnte durch Drucke bis 1000 Atm. bei 15®
nicht klar gemacht werden, ebensowenig Gemische von 10 Ather and
90 Wasser, oder 4 Anilin und 96 Wasser.
Dagegen gelang der Versuch mit einem Gemisch aus Athylalkohol^
Isobutylalkohol und etwas Cyanin in solchem Verhaltnis, dass die Fills*
sigkeit bei 22-7® klar wurde. Durch Zusammendrncken bei 19*5® suif
880 bis 900 Atm. konnte der Meniskus vollstandig zum Verschwindea
gebracht werden.
Bei 19® konnte an derselben Fltissigkeit auch mit Drucken lll>er
1000 Atm. kein Verschwinden des Meniskus erzielt werden. Kowalski
>) Compt rend. 119, 512. 1894.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 599
yennutet daber, class es eine Temperatur unterhalb der Mischungs-
temperatur gebe, bei welcber Mischung durch Druck unmoglicb wird.
Ebenso ist ein Einfluss des Druckes bei Atber und Wasser von
Klobbie^) nacbgewiesen, aber nicht gemessen wordeu.
117. Mehr nnd weniger als swei fl^sige Fhasen. Ahnlich, wie
bei einem einheitlicben Stoffe kein Fall bekannt war, wo zwei fliissige
PhaseUy die sicbt miteinander mischbar waren, vorkamen, so kennen
wir noch keinen Fall eines binareu Gemisches, in welchem mebr ala
zwei fliissige Pbasen auftreten'). Wenn es auch moglich ware, allge-
meine Regeln fur das Verhalten solcber Gebilde aufzustellen, so soil
doch davon abgeseben werden, bis entsprechende Beobacbtungen zur
Entwicklung der Tbeorie Yeraulassung geben.
Dadurch scheiden die Falle www, wwwd, wwww und ewww (ygl.
S. 479) aus der Betracbtung aus.
Was schliesslich den Fall anlangt, dass nur eine fliissige Pbase
Yorhanden ist, so mag die Bemerkung geniigen, dass alle die S. 596 n. ff.
geschilderten Gleichgewichte beim Fortlassen der Dampfphase eine Frei-
heit mehr erlangen. Sie werden alsdann vom Druck abhangig, aber
wegen der im allgemeinen nur geringen Volumanderungen bei den Vor-
gangen in homogener Losung ist dieser Einflnss nur sehr gering. Experi-
mentelle Untersuchungen tiber seinen Betrag, der theoretisch leicht zu
berechnen ist, sind nicht bekannt.
Gleichgewichte fester Stoffe mit Fliissigkeiten.
118. Iidsung fester Stoffe. Als feste Stoffe haben wir fiir nnsere
Untersuchungen solche definiert, welche in Beriihrung mit anderen
Phasen Yon unveranderter Zusammensetzung bleiben. Dadurch wiirden
wir aus den eben behandelten Fallen des Gleichgewichte die hier auf<-
tretenden erhalten, wenn wir untersuchten, was aus jenen Gesetzen
wird, wenn man die Eonzentration der einen fliissigen Phase unTer-
anderlich setzt. Wenn indessen auch ein solches Verfahren fiir die for-
male Behandlung der Sache Yollkommen angemessen ware, so werden
wir es doch zweckmassiger finden, die Gesetze unabhangig von jenen
zu entwickeln. J)urch die erhebliche Vereinfachung, welche jene Be-
1) Zeitschr. f. pbys. Ghemie 24, 617. 1898.
*) IEjS Bcheint sich hier um eine allgemeine Regel za handeln, der zufolge
bei n Bestandteileo die Zahl der fliissigen Phasen nicht ttber n hinausgeht Dem-
gemftss wftre die hOehste Zahl koSxistenter gasfOrmiger Phasen Eins, flQssiger n
nod fester n + 2- Bel Gelegenheit der Gleichgewichte hoherer Ordnung wird
hienuif znr&ckzukommen sein.
700 ^I* Ghemische Dynamik.
dingung einfuhrt, treten so oft EoDStanten an der Stelle von Funktionen
in die Beziehuugen, dass man fiir zahlreiche Falle, in denen die allge-
meineren Verhaltnisse keine einfachen Gesetze ergaben, bier solcbe
finden und atissprecben kann.
Die erste -Frage, die wir zu stellen baben, ist: welcbe Vorgange
finden statt, wenn man einen festen Korper in Beriibrung mit' einer
Fliissigkeit bringt? Die Antwort ist zweifacb: erstens finden an der
Grenzflacbe zwiscben beiden Anderungen der Oberflacbenenergie statt,
und zweitens lost sieb der feste Korper in der Fliissigkeit auf.
Was (fen ersten Punkt anlangt, so baben wir zwei verscbiedene
Erscbeinnngen zu beobacbten: es findet Benetzang statt oder keine.
Im ersteren Falle werden wir scbliessen, dass durcb die Ausbreitung
der Fliissigkeit an der Oberflacbe des festen Korpers unter gleicbzeitiger
Bildnng einer (im Grenzfalle gleicb grossen) Fliissigkeitsoberflacbe
Energie frei wird, d. b. dass die Oberflacbenspannung an der Grenz-
flacbe Fliissigkeit / fester Korper die an der freien Fliissigkeitsoberflacbe
iibertrifft. Im zweiten Falle findet das Umgekebrte statt.
Der erste Fall ist bei weitem der baufigere. Die hierdurcb be-
dingten Energieanderungen sind bei festen Korpern von sicbtbarer
Grosse zu klein, nm fiir die gewobnlicben Verbaltnisse in Betracbt zu
kommen. Docb sind immerbin Tbatsacben bekannt, welcbe ibre Mit-
wirkang experimentell zu erweisen gestatten. Zanacbst werden wir in-
dessen von ibnen abseben, und unter festen Pbasen uus immer feste
Korper von geniigender Grosse (> 0-01 mm) vorstellen.
Was die Frage der Loslicbkeit anlangt, so wird man am beaten
jeden Stoff in jeder Fliissigkeit als loslicb anseben, somit aucb jeden
festen. Jede Erweiterung unserer Hilfsmittel der Messung geringer
Stofi'mengen lasst uns in die Tabelle der loslicben Stoffe bis dabin als
unloslicb angesebene aufnebmen, so dass das Vorbandensein einer ab-
soluten Grenze iiberaus unwabrscbeinlicb wird.
Scbliesslicb ist nocb zu betonen, dass unter festen Stoffen nur
krystallisierte zu versteben sind. Amorpbe Stoffe sind als Fliissig*
keiten anzuseben, die eine sebr grosse innere Reibung besitzen. Es
folgt nicbt darausy dass amorpben Stoffen nicbt eine bestimmte Loslicb-
keit gegeniiber fliissigen Losungsmitteln zukommen konne; besitzen doch
unzweifelbafte Fliissigkeiten eine solcbe. Aber wir werden fiir amorphe
Stoffe aucb umgekebrt allgemein Losefabigkeit fiir andere Stofife, wie
sie den Fliissigkeiten zukommt, zu erwarten baben. Daraus ergiebt
fiicb die bekannte grosse Scbwierigkeit, solcbe Stoffe rein darzusteUen,
da die gewobnlicben Mittel dazu, Krystallisation und Verdampfong.
\
[
Ghemische Gleichgewicbte zweiter OrdouDg. 701
versagen. Erstero ist durch die Definition aasgeschlossen, letztere fehit
meist bei Stoffen, die unter gewohnlichen Umstandeu amorph erscbeinen.
Die natiirlicb vorkommenden oder kiinstlicb bergestellten amorpben
Stoffe Bind daber meist Gemenge oder Losungen verecbiedener Bestand-
teile» und der sicberste Weg, derartige Stoffe rein berzustellen, ist, sie
unter Umstanden entsteben lassen, wo der Zutritt fremder Stoffe iiber-
baupt ausgescblossen ist
119. Begreiuite Iidsliohkeit. In Bertibrung mit einer Fliissigkeit
gebt ein fester Stoff also allgemein in Losung, bis ein Gleicbgewicbt
sicb bergestellt bat. Da wir iiber vier Freibeiten verfiigen, so sind bei
zwei Pbasen nocb zwei Freibeiten iibrig, und das Gleicbgewicbt andert
sicb im allgemeinen mit Druck und Temperatur. Wir konnen durcb
die Einfiibrung der dritten Pbase Dampf nocb iiber eine Veranderlicbe
▼erfugen, und erbalten dann ein univariantes Gebilde, in welcbem zu
jeder Temperatur eine bestimmte Loslicbkeit, d. b. Eonzentration des
festen Bestandteils in der fllissigen Pbase gebort.
Die meisten Loslicbkeitsbestimmungen sind indessen nicbt unter
y dieser Bedingung ausgefubrt worden, sondern unter der des constanten
Atmospbarendruckes. Fiir die quantitativen Ergebnisse bat dies eben-
sowenig einen messbaren Einfluss, wie etwa die Veranderlicbkeit des
Barometerstandes auf die gewobnlicben Scbmelzpunktbestimmungen.
Denn die Veranderlicbkeit der Loslicbkeit mit dem Drucke ist iiberaus
gering, so dass es scbwierig genug gewesen ist, sie iiberbaupt nacbzu-
weisen (I, 1044). Desbalb sind wir yom experimentellen Standpunkte
aus berecbtigt, die unter diesen Umstanden bestimmten Loslicbkeiten
an Stelle der dem dreipbasigen Gebilde zukommendeu zu benutzen.
Die allgemeinen Verbaltnisse dieses Gleicbgewicbtes sind bereits an
friiberer Stelle dargelegt worden (I, 1035), so dass bierauf verwiesen
werden kann. Es sei nur wiederbolt, dass in den meisten Fallen die
geloste Menge mit stoigender Temperatur wacbst. Docb sind Ausnabmen
nicbt selten. Sie bangen wie gleicbfalls erortert worden ist, mit dem
Zeicben der Losungswarme zusammen, indem Warmeaufnabme bei der
Losang eine Zunabme der Loslicbkeit mit der Temperatur bedingt, und
umgekebrt.
Der Losungsvorgang bat die grosste Abnlicbkeit mit der Ver-
dampfung; der leere Raum in dem lotzteren Falle wird durcb das reine
Lokmgsmittel dargestellt, und an Stelle des Dampfdruckes tritt der os-
motiscbe. Spricbt man das Dampfdruckgesetz nicbt unter Bezugnabme
auf den Druck, sondern auf die Eonzentration aus (S. 351), so ist sogar
eine unmittelbare Ubertragung moglicb. Die Abnlicbkeit ist natiirlicb,
Ofltwald, Chemle. 11,2. 2.Aufl. 45
702 n. Chemische Dynanuk.
denn es bandelt sich in beiden Fallen am ein univariantes Gebilde, in
welchem demnach eine eindeutige Temperatur-Eonzentrationsfunktion
bestebt. Der Gegensatz beziiglicb der Umwandlangswarme, die ja beim
Ubergang von Fliissigkeit zu Dampf immer positiv (im thermodynamic
schen Sinne) ist, wahrend sic bei Losnngen beide Zeichen baben kann,
ist 80 aufzufassen, dass zwar bei der Verfliissigung des festen Stofifes
immer Warme aufgenommon wird, dass aber die Vermiscbung der
Fliissigkeiten posiUve wie negative Warmotonungen bewirken kann, was
dann unter Umstanden auch zu negativen Werten fiir den Gesamtvor-
gang fiihrt Unter solchen Umstanden wird man berechtigt sein, in
solchen Fallen auf erhebliche Wechselwirkung zwiscben den beteiligten
Stoffen zu scbliessen ^).
Die festen Sto£fe zeigen immer eine begrenzte Loslicbkeit, d. b.
es giebt keinen Fall, wo eine bestimmte Menge einer Fliissigkeit be-
liebige Mengen eines festen Stoffes unterbalb seiner Schmelztemperatnr
in den flussigen Zustand iiberfiihren kann. Je mebr man sich der
Schmelztemperatur nahert, um so mebr lost sich im allgemeinen der
feste Stoff auf; die unbegrenzte Miscbbarkeit tritt aber gegebenen Falls
erst beim Schmelzpunkt selbst ein, d. h. kann nur der fliissigen Form
zukommen. Dieses Verhalten ist eine Folge der Gesetze, welche fiir die
Emiedrigung des Schmelzpunktes fester Stoffe durcb fremde Zasatze
gelten (I, 741), die ihrerseits in der Voraussetzung begriindet sind, dass
sich die Zusammensetung der festen Phase nicht mit der begleitenden
fliissigen oder gasformigen andert.
Der Betrag der begrenzten Loslichkeit ist im allgemeinen sehr yer-
scbieden. Zahllose Stoffe losen sich in bestimmten Fliissigkeiten, wie
Wasser nur in geriuger Menge. Andererseits giebt es grosse Stoffgruppen,
wie die organischen Verbindungen, die fast alle in einander loslich sind.
WoYon diese Verschiedenheiten abhangen, ist nur zu einem geringen
Teile bekannt. Betrachtet man die Frage im Lichte der Erorterungen
uber die begrenzte Loslichkeit der Fliissigkeiten in einander (S. 690),
so wird man das Vorhandensein yon geradlinigen oder nach unten kon-
vezen Teildruckkurven obne Maximalwerte fiir eine wesentliche Be-
') Die Yerh<nisse sind nmgekebrt wie bei flQssigen Ldaungen toq Gasen«
wo darch die YerflUssigang des Gases beim LOsangsTorgang eine W&rmeent wick-
lung gegeben ist, welcbe^ soweit bekannt, etwaige positiYe Vermischangsiir&mieD
stets ilbertrifft, so dass die gesammte W&rmeentwicklung negativ zu sein pfiegu
Darum nimmt die L6slicbkeit auch immer mit steigender Temperatar ab. Der
Yon Bohr (Wied. Ann. 44, 340. 1891) angegebene Fall, dass sich beim Wftsserstoff
eine Ansnabme bei 60^ zeige, erscheint noch etwas unsicher.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 703
dingong ansehen. Erstere treten aber am ehesten bei StofiFen auf, die
einander moglichst ahnlich in ihrer chemischen Zusammensetzung und
ihrer Funktion sind. Auch ist es eine alte Erfahrangsregel, dass sich
ahnliche Stoffe am reichlichsten in einander losen.
Im zweiten Falle der nach unten konvezen Teildruckkurre haben
wir es mit der Erscbeinung zn thun, dass die wirksame Menge der
Flussigkeit kleiner ist, als ihrem Molenbrnch entspricht. Man ist ge-
wohnt, diesen Fall als den Ausdruck einer chemischen Yerwandtschaft
zwischen den Bestandteilen aufznfassen. Auch das Vorhandensein einer
solchen Beziehung wird die Loslichkeit erhohen.
Unmittelbar an diese Art des Einflusses schliesst sich die, wo der
anfgeldste Stoff selbst eine Anderung durch Verbindung mit dem Losungs-
mittel Oder allgemein durch dessen Einfluss erleidet. Dann wird der
umgewandelte Anteil dem Gleichgewicht mit dem festen Stoffe entzogen,
und es miissen sich neue Stoffmengen auflosen, damit sich dieses wieder
herstellt Diese Art des Einflusses ist bereits zu Beginn des Jahrhun-
derts von Berthollet eingesehen worden; in eine der Berechnung zu-
gangliche Gestalt hat sie W. Nernst ^) gebracht. So ist beispielsweise die
Loslichkeit des Jods als J^ in reinem Wasser sehr geriug; wird aber
Jodkalium^ oder allgemein ein Stoff zugesetzt der Jodionen liefem kann,
so bildet sich das neue Ion J3', welcher seinerseits teilweise in J,
and das Ion 3' gespalten ist, und erst, wenn die Konzentration des
ersteren den Betrag erreicht, der der Loslichkeit des Jods in reinem
Wasser entspricht, so kann Gleichgewicht eintreten').
Ein anderer Umstand, welcher auf die Loslichkeit einen grossen
Einflass hat, ist die Lage des Schmelzpunktes. Man wird allgemein
jeder Flussigkeit in Bezug auf jede andere ein bestimmtes, wenn auch
oft kleines Mass an Loslichkeit zuschreiben diirfen. Dasselbe gilt fur
eine Fliissigkeit bei ihrer Erstarrungstemperatur. Ist etwas yon einer
zweiten Fliissigkeit aufgelost, so kann man die Temperatur entsprechend
emiedrigen, bis sich der feste Stoff ausscheidet. Bei dieser Temperatur
ist also eine an dem betrachteten Teile sehr reiche Losung mit der
festen Form im Gleichgewicht, d. h. die Losung ist in Bezug auf ihn
gesattigt. Von dieser Seite aus kounte man also sagen, dass in der
Nabe seines Schmelzpunktes jeder feste Stoff in jeder Flussigkeit sehr
loslich sei. Doch tritt bei weiterem Zusatz der Fliissigkeit im allgemeinen
Scbeidung in zwei flUssige Phasen ein, von denen die zweite ent-
s) Ztscbr. f. phys. Gbemie 4, 872. 1889.
s) Pie genaae Schilderung dieses Falles und &hnlicher wird an sp&terer Stelle
erfolgen-
45*
704 n. Chemische Dynamik.
sprecbend wenig des festen Stoffes gelost enthalt, und die gleichfalls
mit der festen Form im Gleichgewicht ist. Es ist also zwischen diesen
beiden Losungen kein stetiger Ubergang vorhanden. Der Begriff der
reichlichen Loslicbkeit wird gewobnbeitsmassig nur auf stetige f^lle
angewendet, so dass in solcbem engeren Sinne allerdings nicht von einer
allgemeinen reicblichen Loslicbkeit eines festen Sto£fes zunacbst seinem
Scbmelzpunkt in jeder Fliissigkeit gesprocben werden darf.
120. Das Ldsungsgleiohgrewioht. Die Untersucbungen iiber die
Frage, ob es sich bei der Herstellung einer Losung urn ein wirklicbes
Gleicbgewicbt bandelt, das von den relativen and absoluten Mengen der
Pbasen unabbangig ist, sind an einer friiberen Stelle dieses Lebrbucbes
(I, 650) bereits mitgeteilt, und es batte sieb dort ergeben, dass sowohl
die Seite, von der man sicb dem Gleicbgewicbt nabert, wie auch die
Mengenverbaltnisse (so lange nur beide Pbasen zugegen sind) obne Ein-
flass sicb erwiesen baben. Nur voriibergebend wurde diese Erkennt-
niss dadurcb getriibt, dass man aus der kinetiscben Hypotbese einen
Einfluss der relativen Menge ableiten zu miissen glaubte. Es ist weder
damals nocb in der Folge ein experimenteller Nacbweis fur solcbe Ab-
bangigkeit erbracbt worden, so dass spater die Notwendigkeit eintrat,
durcb ad boc erfundene Hilfsbypotbosen, bez. durcb Wendungen, die
auf eine Darstellung im Sinne der Hypotbese ganz verzicbteten, zwiscben
den Tbatsacben und der Hypotbese einen notdiirftigen Frieden herzu*
stellen.
121. '&ber8&ttigung. Wenn man die Gegenwart der festen Phase
ausscbliesst, so kann eine Losung bei gegebener Temperatur und gegebenem
Druck zwiscben Null und einem Grenzwerte jeden beliebigen Gehalt
baben. Die Beriihrung mit dem festen Stoffe bewirkt dann je nadi
dem vorbandenen Gebalte entweder Ausscbeidung oder Auflosung. Tritt
letztere ein, so nennt man die Losung in Bezug auf den festen Stoff
ungesattigt, im anderen Falle iibersattigt
Die Obersattigung von Losungen in Bezug auf einen festen Stoff
gebort zu den meistuntersucbten Uberscbreitungserscbeinungeu. Trots
der sebr zablreicben Arbeiten iiber den Gegenstand bat es docb bisber
an einer zusammenbangenden Darstellung der bier auftretenden Verhalt-
nisse gefeblt, ja die sacbgemasse Auffassung selbst ist nocb aa£Eallesid
wenig verbreitet. Man bezeicbnet fast immer diese Erscbeinungen als
solcbe des labilen Gleicbgewicbts, und iibersiebt dabei, dass sie den Cha-
rakter der Labilitat, d. b. endlicber Zustandsanderung bei unbegrenst
kleinen Einfliissen, gar nicbt zeigen. Man kann eine iibersattigte wie
eine iiberkaltete Fliissigkeit den mannigfaltigsten Einfliissen
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 705
ohne dass sie ihren Zustand plotzlich andert; nar die Gegenwart einer
sehr kleinen Menge der festen Phase bewirkt eine plotzliche Anderang
durch die Ausscheidung einer endlichen Menge des festen Stoffes.
Diese Menge kann sehr klein sein. Es hat deshalb anfanglich
grosse Schwierigkeiten gekostet, nachzaweisen, dass wirklich endliche
Mengen des fraglichen festen Stoffes die Ursache yieler scheinbar frei-
williger Krystallisationen waren. Dieser Nachweis hat sich erbringen
lassen, nnd damit ist eine der Ursachen festgestellt worden.
Daneben giebt es aber auch Falle, wo trotz des Aasschlusses von
MKrystallkeimen^^ Krystallisation eintritt. Dies ist insbesondere der Fall,
wenn die Ubersattigung eine hohe ist. Wir werden daher ebenso wie
bei der Oberkaltung Veranlassung haben, ein metastabiles (S. 349)
Gebiet geringer Obersattigang yon einem labilen Gebiete zu unter-
scheiden, welches bei grosserer Ubersattigung beginnt. Im ersten tritt
freiwillige Krystallisation nicht ein, im zweiten kann sie eintreten. Die
Grenze dieses Gebietes scheint ausser von dem Grade der Cbersattigang
noch in hohem Masse von der Beschaffenheit fremder Stoffe, die mit
der Losung in Beriihrung sind, abzuhangen.
122. Grandlegung durch J. T. Lowits. Als Entdecker der Uber-
sattigungserscheinungen ist Johann Tobias Lowitz anzusehen, der gegen
Ende des vorigen Jahrhunderts als Hofapotheker und Akademiker in
Petersburg thatig war, und eine Anzahl wesentlicher Entdeckungen fiber
Krystallisationserscheinungen gemacht hat. So hat er zuerst das wasser-
haltige Kochsalz, NaCl-|-2H*0 und sein merkwiirdiges Verhalten be-
schrieben; femor verdanken wir ihm Beobachtungen iiber die Uberkal-
tuDgserscheinungen an reiner Essigsaure, die er als einer der ersten in
Handen gehabt hat, und deren noch jetzt gebrauchlicher Name Eisessig
▼on ihm herriihrt. Die hier in Betracht kommende Mitteilung findet
sich in Grells chemischen Annalen von 1785^) untcr dem Titel: Be-
merkungen iiber das Krystallisiren der Salzo und Anzeige
eines sicheren Mittels, regelmassige Erystallen zu erhalten,
und ich lasse sie wortlich folgen.
„1. Die Krystallisirung derSalze ist gewiss eine der merkwiirdigsten
und ndtzlichsten Operationen der Chemie. Sie dient nicht nur zur yoU-
kommensten Reinigung der Salze, sondern auch, die mannigfaltige und
eigentiimliche Bildung ihrer Krystalle kennen zu lernen.
2. Es ist bekannt, dass sich nicht alle Salze mit gleicher Leichtig-
keit zu regelmassigen Krystallen darstellen lassen; indem sie nach ihrer
^) Crells chemiscbe Annalen, 1795. 1, 3.
706 U. Chemische Dynamik.
yerschiedenen Natur, z. B. der grosseren oder geringeren Auflosbarkeit,
Zerfliessbarkeit, der Menge des Erystallisationswassers auch verschiedene
BehaadluDgsarten erfordern.
3. Besonders bei kleinen Salzportionen halt es ofters schwer, alle
zu einer regelmassigea Eryfitallisatdon erforderlichen Umstande genau zu
vereinigen; daher man sichs nicht selten muss gefallen lassen, mit einem
und demselben Saize die Operation zn wiederholen, ehe der Zweck er-
reicht wird.
4. Ich babe gefunden, dass sicb bei alien denon Salzen, die sich
haufiger in warmem als kaltem Wasser auflosen, ein Umstand ereignet,
auf den man bisher keine Riicksicht genommen zu haben scheint, nod
der gleichwohl die Hauptsache der mit ihrer Krystallisation verbundenen
Schwierigkeit ist.
5. Yom Wasser ist es durch Fahrenheit langst bekannt, dass sicb
solches, bei vollkommener Rube und in geschlossonen Gefassen, ohne
zu gefrieren, weit uber seinen Frostpunkt erkalten lasst. Das namliche
findet auch bei den Aufiosungen der eben erwahnten Salzarten statt
6. Man weiss, dass das Wasser bei einer gewissen Temperatur
piinktlich nur eine bestimmte Menge Salz auflost. Man sollte daher
erwarten, dass sich bei der geringsten Verminderung derjenigen Tem-
peratur, mittelst welcher die Auflosung geschah, sogleich eine verhalt-
nismassige Menge Salz wieder absondern miisste: dies geschiebt aber
nicht; ich babe vielmehr gefunden, dass man eine solche gesattigte Auf-
losung nicht nur einer geringeren Temperatur aussetzen, sondem ihr
iiberdem durch Abdampfen noch etwas Wasser entziehen kann, und es
wird sich dennoch keine Ausscheidung von Salzteilen ereignen. Folg-
lich lasst sich das Wasser, wenn nicht unmittelbar, doch mittelbar mit
einem Salze iibersattigen.
7. Diese bei alien durch Abkuhlung krystallisirenden Aufiosungen
stattfindende mittelbare Obersattigung oder Dberkaltung ist nicht bei
alien Salzarten gleich stark, sondern sie scheint von dem yerschiedenen
Grade ihrer Auflosbarkeit abzuhangen, so dass sie bei den leicht auf-
loslicbsten immer am starksten ist. Ich werde jetzt zeigen, inwiefern
dieses Oberkaltungsvermogen einer regelmassigen Krystallisation hinder-
lich sei.
8. Um von einem Salze wohlgebildete Krystallen zu erbalten, wild
erstens yoUkommene Ruhe der Auflosung erfordert, und zweitens muss
die Krystallisation so langsam, wie moglich erfolgen. Die Auflomng
derer Salze nun, welche einer grossen Oberkaltung fahig sind, krystal-
lisiren nicht eher, bevor sie nicht yoUig abgekiiblt und folglicb in den
Gbemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 707
Vbersattigungszustand iibergegangen sind; fangt aber jetzt die Krystal-
lisation an, so erfolgt sie allezeit mit Ungestiim. In der Fliissigkeit
entsteht eine heftige innerliche Bewegung. Die gerade zu dieser Zeit
hochst notwendige Ruhe wird ganzlich verscheucht, und die kleineren
Krystallcn werden auf und nieder und nach alien Seiteu herumgesohleu*
dert; so dass man nach beendigter Krystallisation statt regelmassiger
Krystallen, bloss einen verwirrten unformlichen Salzklumpen erhalt.
Bei vielen Salzen gescbieht es auch, dass ihre Auflosungen, nachdem
sie schon langstens voUig erkaltet sind, plotzlich durch ifar ganzes Volu^
men zu einer gleicbformigen strahligen Salzmasse gerinnen.
9. Hieraus ist leicht zu ersehen, dass es bei dergleichen Salzen,
um regelmassige Erystallen zu orlangen, hauptsachlicb auf ein Mittel an-
komme, wodurch die Uberkaltung der Auflosung abgehalten werde, da-
mit sie gleich von Anfang der allmahligen Abkiihlung zu krystallisiren
anfange. Es gelang mir, indem ich iiber diesen Gegenstand nachdachte,
und auf alle beim Krystallisiren sich zutragenden Erscheinungen auf-
merksam war, hierzu einen hochst einfachen, meinem Wunsche vollig ent*
sprechenden Kunstgriff zu entdecken.
10. Bei denen Salzauflosungen, die wahrend ihrer Abkiihlung fast
in einem Augenblicke durchaus erstarren, war es mir auffallend^ dass
diese totale Gerinnung allezeit bios aus demjenigen Punkte nach alien
Seiten strahlenformig durch die ganze Fliissigkeit sich verbreitet, wo
sich der erste Anfang einer Trennung der Salzteile von der Fliissigkeit
ereiguet. Es kam mir hierbei gleichsam Yor, als wenn sich die samt-
lichen, in der Salzlosung befindlichen Salzteilchen um den Vorrang der
ersten Trennung vom Wasser stritten, und dass dasjenige Salzteilchen,
welchem solches zuerst gelingt, gleich einem Heerfiihrer den iibrigen
das Signal zum Nachfolgen gebe.
11. Indem ich die Sache aus diesem Gesichtspunkte betrachtete,
fiel mir bei, dass vielleicht durch blosses Einwerfen eines Salzkrystalls
in eine ganzlich abgekiihlte und der Krystallisation hartnackig wider-
stohende Auflosung eine ahnliche Anreizung zur Krystallisation erfolgen
mochte, und siehe da, der Erfolg entsprach vollig meiner Erwartung.
Warf ich Salzkrystalle in schon vollig erkaltete Auflosungen, so erfolgte
die Krystallisation sogleich schnell und unregelmassig; that ich dies aber,
BO lange die Auflosung noch warm war, so erfolgte sie zu meinem Ver-
gniigen nur langsam und ich erhielt jedcrzeit die schonsten und regel*
massigsten Krystallen. Erfreut hieriiber ersah ich in der Anwendung
nioht nur bei meinen haufigen Yersuchen im kleinen, sondern auch im
grossen, den herrlichsten Nutzen und die erwUnschteste Erleichterung,
708 II- Ghemische Dynamik.
12. Ich muss erinnerD, dass dieser Handgriff nur boi leicht anflos-
lichen Salzen, deren Anzafal aber auch bei weitem die grosste za sein
scheint, von Nntzen sei. Bei Salzen hingegen, die sich in kaltem and
warmem Wasser, wie z. 6. das Eochsalz in gleicher Menge auflosen,
findet er gar keine Anwendung, weil bei diesen Salzen keine Oberkal-
tung stattfiudet
13. Es gelang mir, durch dieses Mittel selbst solche Salze zu regel-
massigen Krystallen herznstellen, welche^man bisher nur in Gestalt
unformlicher Salzmassen zu erhalten wusste, z. B. kaustisches Mineralkali,
salzsaure'n Braunstein, Vitriolsaure u. dergl. mehr.
14. Hat man von einem zu krystallisirenden aufgelosten Salze nichts
in trookener Gestalt bei der Hand, so darf man nur geschwinde eine
kleine Portion der Auflosung ganzlich eintrocknen, and biervon der
samtlicben Auflosung, wenn sie bis zum Krystallisationspunkte einge-
dampft ist, wabrend der AbkUblung etwas zusetzen.
15. Man hat genau aufzumerken, ob sich in der warm en Solution
die eingeworfene Salzportion anfanglich nicht ganzlich wieder aufliist;
geschieht dieses, so muss aufs neue etwas zugesetzt werden, and dies
so oft, bis sich der letzte Anteil nicht mehr auflost
16. Bei Salzen, die am schonsten wahrend einer gelinde fortzu-
setzenden Abdampfung krystallisiren, wie die salzsaure Schwererde, ist
dieser Handgrifif gleich unter der Evaporation zu beobachten.
17. In einigen Fallen ist es gut, einen Salzkrystall an einem feinen
Faden oder Haare schwebend in die Auflosung hineinzuhangen.
18. Durch fernere Versucbe fand ich, dass die Auflosungen nur ganz
allein durch den Zusatz desselben Salzes, welches die Auflosung entbalt»
keineswegs aber durch ein fremdes zur Krystallisation angereizt werden.
Ja ich sab, dass ungleichartige Salze in diesem Falle vielmehr abstossende
Krafte auf einander bezeigen. Obrigens ist es einerlei, ob man das
gleichartige Salz krystallinisch oder pulverformig zusetzt
19. Am auffallendsten lassen sich diese schonen Phanomeno beim Eis*
essig zeigen, welcher einen sehr hohen Grad von Dberkaltang annimiDt.
Man mag dem iiber seinen Krystallisationspunkt erkalteten Eisessig ein
Salz zusetzen, welches man will, ja selbst Krystallen der Weinstein- oder
Zuckersaure, so wird deunoch keine Krystallisation erfolgen; in dem*
selben Augenblicke aber, da man ihn mit einem kleinen Teilchen festen
Eisessig in Beriihrung bringt, erstarrt er, selbst des Sommers bei kiiblcr
Wittemng, durchaus zu einem festen krystallinischen Eorper.
20. Die Entdeckung dieser anziehenden Kraft zwischen den gleiok«
artigen, und der zuriickstossenden zwischen den ungleichartigen Salxen
Chemische Gleiehgewichte zweiter Ordnung. 709
leitete mich auf ein artiges chemisches Kunststuck: namlich in einer
Auflosung, die zwei verschiedene Salze entfaalt, dasjenige derselben,
welches man yerlieuigt, ganz allein znm Anschiessen zu bringen. Es
kommt hierbei aber, wenn der Versnch nicht fehlschlagen soil, nicU
nur auf das Verhaltniss der zusammen aufzulosenden Salze gegen ein-
ander an, sondern aach auf die Bestimmung der Temperatur, sowohl
derjenigen zur Sattigung des Wassers mit den gemischten Salzen, wie
auch der zur Krystallisirung; welches somit fur eine jede besondere
Salzmischung unumganglich durch Versuche vorher ausfindig gemacht
werden muss. Hier ein fieispiel zu einer Mischung von Salpeter und
Glaubersalz.
Man seize die in einem Zuckerglase gemachte Mischung von zwei
Teilen Salpeter, drei Teilen krystallisirtem Glaubersalz (beide pulveri-
sirt) und fiinf Teilen Wasser unter bestandigem Miscben in ein anderes
Gefass mit Wasser, dessen Temperatur durch ofteres Zugiessen warmen
Wassers bestandig auf 95^ nach Delisle (63® G.) gehalten wird, bis sich
von den Salzen nicht nur nichts mehr aufloset, sondern die Mischung
selbst jene Temperatur angenommen haben wird, und filtrirt sie jetzt
sorgfaltig, damit sich ja keine ungelosten Salzteile mit durchs
Filtrum schleichen. Fiillt man nun mit dieser Auflosung zwei zur
zupfropfende Glaser ganz voll, und setzt solche, nachdem man zuvor in
eines ein kleines Stuckchen Salpeter, in das andere aber etwas Glauber-
salz geworfen hat, bis an den Hals in Wasser mit Eis, so schiesst in
wenigen Minuten in dem ersten Glase ganz allein Salpeter, im letzteren
hingegen blesses Glaubersalz in betrachtlicher Menge zu schonen Krys-
tallen an.
21. Obgleich'dieser Versuch mehr zur Belustigung zu dienen scheint^
so kann doch in manchen Fallen, wo es auf die Scheidung mehrerer in
einer Auflosung befindlichen Salze ankommt, einiger Nutzen daraus
fliessen, nur muss allezeit vorher erforscht werden, welches von den
gemischten Salzen die Vorhand hat, um seiches durch jenen Handgriff
immer zuerst zu Erystallisation anzuroizen.
22. Diese letzto Anwendung findet jedoch nur bei solcheu Auf-
losungen statt, wo die gemischten Salze aufeinander selbst keine Wir-
kuDg haben; so wiirde es z. B. vergebens sein, Salmiak und Sublimat
auf diese Art voneinander scheiden zu wollen. Auch dann ist dieses
Mittel unanwendbar, wenn das eine der gemischten Salze vermoge einer
besonders starken Anziehungskraft zum Wasser und das andere Salz
sein erforderliches Krystallisationswasser nicht annehmen lasst, wie
dieses z. B. bei einer Mischung von Bitter- und Glaubersalz der Fall ist/<
710 I^- Chemische Dynamik.
Wie man aus diesen Darleguogen sieht, fasst Lowitz voUkommcn
sachgemass die Ubersattigung als eine allgemcine, nur bei verscluedenen
Stoffen in yerschiedenem Grade ausgebildete Erscheinung auf. Ein
zweiter entscheidender Punkt ist der, dass die Ubersattigung durch
einen, wenn aiich noch so kleinen Teil des fraglichen Salzes im festen
Zustande sicher aufgehoben wird, dass aber fremde Salze and feste
Korper iiberhaupt ohne solche Wirkung sind. Ebenso ist ihm die weit-
gehende Analogie zwischen iiberkalteten und iibersattigten Fliissigkeiten
gelaufig.
Die spatere Forschung ist nur langsam iiber diesen beim ersten
Aulauf erreichten Standpunkt hinausgekommen.
123. Theoretisohe Versuohe. Lowitz hat keinerlei Hypo these oder
Theorie der von ihm beobachteten Erscheinungen versucht, sondern
sich mit der Feststellung des Thatbestandes, dcr Tragweite und prak-
tischen Anwendung begniigt.
Eine erste Theorie der Oberkaltungs- und Ubersattigungszustande
hat C. L. Berthollet auf Grund seiner mechanistisch-molekularen Vor-
stellungen gegeben ^). Er schreibt die Erscheinungen einer Tragheit der
kleinsten Teilchen zu, und nachdem er bemerkt hat, dass Uberkaltung
nicht nur beim Wasser, sondern auch beim Quecksilber, und nach
Cavendish in sehr hohem Grade bei Salpetersaure zu beobachten ist,
sagt er:
„Diese Art der Tragheit, welche auch alien Salzlosungen in der
Nahe ihres Krystallisationspunktes zukommt, und welche entweder von
einer Schwierigkeit in der Lagenanderung der Molekeln, oder eincr
Schwierigkeit im Cbergange des Warmesto£fs aus einer Verbindung in
die andere herriihrt, falls sie nur durch eine sehr schwache Kraft be-
thatigt werden, macht sich bei sehr vielen Erscheinungen gelteud, wenn
die chemische Wirkung geringe Energie besitzt/*
Dieser mechanische Gesichtspunkt ist, der allgemeinen Denkweise
in der ersten Halfte unsers Jahrhunderts entsprechend, sehr lange in
Geltung geblieben, und findet sich fast ausnahmslos bei den folgeuden
Forschern in mehr oder weniger entwickelter Form wieder.
124. Ansichten und Versuohe yon Gfray-Lussac. Wie in vielen
anderen Fallen, haben die franzosischon Autoren, die lange Zeit hin-
durch in der Naturwissenschaft den litterarischen Markt beherrscht und
die Kurse festgestellt haben, als ersten Forscher in dem Gebiete nicht
den thatsachlich ersten, sondern don ersten Franzosen, der sich damit
') Statique chimique 1, 32. 1803.
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 711
befasste, bezeichnet. So ist Gay-Lussac zu seinen vielen wirklicben
Verdiensten das ihm nicbt zukommende zugescbrieben worden, der
Entdecker der Ubersattigungserscheinangon zu sein, da er nar den be-
reits bekannten Yersucben einige neue, in seiner Art genau und 8org-
faltig bescbriebene zagefiigt hat.
Gay-Lussac bat sich zuerst^) mit der Frage der Ubersattigung in
einer Arbeit bescbaftigt, die sich auf den vermeintlicben Einfluss des
Druckes auf die Loslichkeit der Salze bezog, und in der er diesen
Einfluss als (fur die experimentellen Mittel jener Zeit) nicbt vorbanden
erwies. Er scbloss eine in der Hitze gesattigte Losung von Glaubersalz
in ausgezogene Rohren ein, die er unter dem Sieden zuscbmolz, und
stellte fest, dass in keiner der Rohren nach dem Erkalten eine Krys-
tallisation eintrat, obwohl er sie baufig bewegte. Beim Abbrechen der
Spitze krystallisierte der Inhalt der meisten Rohren, doch beobacbtete
er auch einige Falle, in denen dies nicbt geschah. Daduroh war er-
wiesen, dass das Ausbleiben der Krystallisation nicbt von der Vermin-
derung dcs Druckes in den zugescbmolzenen Rohren herriibrte. Solche
Losungen krystallisierten nach dem Einfuhren eines kleinen Krystalls
Ton Glaubersabs, oder auch nach dem Umscbiitteln.
Wurde die warme gesattigte Aufiosung in Barometerrohren ge-
bracht, die bis auf einige Centimeter mit Quecksilber gefiillt waren,
und dieso iiber Quecksilber umgekehrt, so krystallisierte die Losung
beim Aufsteigen. Dies geschah aber nicbt, wenn das Quecksilber in
den Rohren ausgekocht gewesen war. In solcben Rohren konnte durch
Zuleitung irgend eines Gases (Luft, Wasserstoff, Eohlensaure, Stickoxyd)
alsbald oder nach einigem Schlitteln Krystallisation hervorgerufen werden.
Durch heftige Stosse beim plotzlicben Senken der Rohren in der
Quecksilberwanne konnten einige so yorbereitete Rohren zum Krystalli^
sieren gebracht werden, doch keineswegs alle. In den kleinen zuge-
Bchmolzenen Rohren mit iibersattigter Losung konnte niemals durch
Erscbiitterungen Krystallisation bewirkt werden. Auch blieb die Losung
libersattigt, wenn die Rohren in einen Schraubstock gespannt und durch
Anstreichen mit einem Bogen in tonende Schwingungen versetzt wurden.
Die Krystallisation bleibt gleichfalls aus, wenn man, statt die Lo-
sung im leeren Raume erkalten zu lassen, sie einfach mit Terpentinol
uberscbichtet und an der Luft erkalten lasst. Das gleicbe Mittel dient,
um Wasser unter Null iiberkalten zu lassen. Bewegen bringt die Krys-
>) Ann. de chimie 87, 225. 1813 nach M6m. d*Arcueil, III. — Schweigg.
Journ. 9, 70. 1813.
712 II- Ghemische Dynamik.
tallisation nicht sicher hervor, ebensowenig das Durcbleiten eines elek-
trischen Stromes und die entsprechende Gasentwicklung. Eingefahrte
Erystalle, Stabe aus Glas oder Eisen, sowie iiberhaupt fremde Eorper
bewirken dagegen in solchen Losungen gleichfalls Krystallisation.
Vermehrung des Druckes um zwei Atniospharen ist ohne Wirkung.
Gay-Lussac bielt es far moglich, dass die Luft dadurch wirkt,
dass sie sich in der Glaubersalzlosung auflost und das Salz yerdrangt,
wie ein Salz das andere aus der Losung verdrangen kann. Indessen
ergab sich die Loslichkeit der Luft in der Salzlosung so gering, dass
diese Annahme sebr unwahrscheinlich wurde. Gay-Lussac bemerkt
dazu, dass immerhin die Vermutung nicht ganz zu verwerfen sei. Denn
wenn nur die kleinste Menge festen Salzes durch diesen Umstand aus-
geschieden wird, so muss alsbald die ganze Menge erstarren, da dies
die Wirkung vorhandener Krystalle ist.
Die Ursache der Erscheinung sucht er in der Natur des Glauber-
salzes, und zwar in „der Gestalt oder der Anordnung seiner Molekeki,
welche derart sein mogen, dass sie sich kraftig einer Zustandsandening
widersetzen*^ Indem er, wie vorher Lowitz, die Analogic dieser Er-
scheinungen mit dem t]berkalten des Wassers unter seinen Gefrier-
punkt hervorhebt und betont^ dass auch bei anderen Salzen sich seiche
Ubersattigungen beobachten lassen, bemerkt er: „Nimmt man an, dass
die Gestalt der Molekeln die wesentliche Ursache der beschriebenen
Erscheinungen ist, so ist es nicht minder schwierig zu begreifen, wie
die Gegenwart der Luft dahin wirken kann, ihr Gleichgewicht zu atoren,
und die Verbindung hervorzurufen."
Von anderen Stoffen, die iibersattigt bleiben konnen, nennt er
Natriumphosphat, Soda, Alaun. Salpeter, Baryt und Strontian lieaseu
sich dagegen nicht merklich iibersattigen, ebensowenig Ozalsaure, Koch*
salz, Salmiak, Bleinitrat und Kaliumsulfat.
So gut die eben beschriebenen Thatsachen beobachtet sind, so un-
fruchtbar sind Gay-Lussacs Spekulationen uber deren mogliche Ab-
hangigkeit von der unbekannten und unbestimmbaren „Ge8talt dar
Molekeln".
125. Bemerkungen yon Schweigger. Im Anschlusse an die Ober-
setzung von Gay-Lussacs erster Abhandlung in seiner Zeitschrift be-
richtet Schweigger ^) iiber einige altere, unyeroffentlicht gebliebene Ver-
suche, die er iiber den gleichen Gegenstand, libersattigte Glaubersals-
losung, angostellt hatte. Er citiert Ausscrungen von Th. Thomson aus
*) Schweigg. Journ. 9, 79. 1813.
Ghemische Oloichgewichte zweiter Ordnung. 713
dessen System der Ghemie (deutscbe Ausgabe yon Wolff 3, 1, S. 255),
welcher eine ganz unkaltbare Theorie gegeben bat, die auf die Zuriick-
haltung der Warme in dem gescblossenen und deren Entweicben aus
dem offenen Gefass, in dem die Losung erkaltet, binanskommt, und
beschaftigt sich mit ibrer Widerlegung. Ferner giebt er an, dass es
unnotig sei, das Gefass mit der warmen Losung fest zu verscbliessen,
um die Erystallisation zu verbindern; eine leichte Bedeckung mit Papier
geniigt bereits. Die Erystallisation wird durch hineinfallende feste
Korper bewirkt, und Scbweigger scbreibt insbesondere solcbeu eine
Wirksamkeit zu, welche die Feucbtigkeit anzieben. Vergeblicb bat er
versucht, ob der magnetische Zustand eines Eisendrabtes einen Einfluss
iibt: „eine unmagnetiscbe Nadel wirkte in diesen Yersucben niobt anders,
als eine magnetiscbe, und der Nordpol nicbt anders, als der Siidpol".
Ein Messingdrabt, der in die beisse Losung gebracbt worden war,
und mit ihr erkaltete, brachte keine Krystallisation bervor, aucb wenn
er beftig bewegt wurde. Scbweigger erklart, dass die Hervorrufung der
Krystallisation durcb den Stoss ibm in keinem Falle einwurfsfrei nacb-
gewiesen scheine.
Aucb den Versucb, galvanische Zersetzung in der Hberkalteten
Fliissigkeit hervorzurufen, hat er mit dem gleichen negativen Erfolge
beziiglich der Erystallisation angestellt
Sebr bemerkenswert ist der folgende Yersucb. „Es kann zuweilen
gelingen, den ersten krystalliniscben Stern, der sich an einer Draht-
spitze, mit welcher die Auflosung beriihrt wurde, angesetzt hat, zugleich
mit dieser vollstandig berauszubeben aus der Salzlauge, und dadurch
die fortschreitende Krystallbildung aufzubalten*' ^). Dieser Yersucb be-
weist mit grosster Anschaulichkeit, dass die Krystallbildung an die
G^enwart des gleicbartigen Krystalls gebunden ist. Freilich legt
Scbweigger kein besonderes Gewicbt auf seine wichtige Beobacbtung,
sondem hebt ibre Wirkung voUig auf durch die Mitteilung, dass „nicht
iminer streng sich ein Krystall an den anderen reiht, sondem bisweilen
in einiger Entfemung sprungweise (wie durch elektriscbe Yerteilung
hervorgerufen) ein krystalliniscber Stern hervortritt, der sich anreihet
an die friiheren Gebilde^). SoUte sich diese Beobacbtung auch an den
*) Ich babe diesen Yersucb mit Natriumthiosulfat etwa im Jahre 1874 als
Student angestellt, obne von Scbweiggers Mitteilung Eenntnis zu baben, and bin
ent jetzt (Jannar 1897) dabinter gekommen, dass die Erfindung desselben nicbt,
wie icb bisber angenommen batte, mir gebOrt.
*) Scbweigger bat sicb bier wabrscbeinlicb durcb den Umstand t&uschen
laiseii, dass durcb die mit der Erystallisation verbundene £rw&nnung die Ober-
714 n. Ghemische Dynamik.
Wahrnehmungen anderer Physiker bestatigen, woran ich kaum zweifle,
da well ich die Erscheinung ofters so deutlich gewahr wurde, dass ich
wohl schwerlich mich tauschen konnte, so mochte hier die krystall-
elektrische Theorie eine neue Bestatigung finden'^
In diesen letzten Worten ist das Ratsel gelost, warum Schweigger
die Wichtigkeit seiner Beobachtung nicht erkannt hatte: er wiinschte
eine vorgefasste Theorie zu bestatigen, und sah deshalb nur das deatr
lioh, was fiir sie za sprechen schien.
126. Gay-IiU8sao8 zweite Arbeit. Bei Gelegenheit seiner grund-
legenden Arbeit tiber die Loslichkeit der Salze ist Gay-Lussac auf die
Frage der Ubersattigung zuriickgekommen ^). Seine an dieser Stelle
geausserten Ansichten sind zum Teil weniger richtig, als die in der
ersten Veroffentlichung. Sie haben aber eine sehr grosse Verbreitung
gewonnen, und obwohl mehrere Irrtiimer inzwischen wiederholt aufge-
deckt und widerlegt worden sind, so haben sie sich doch mit grosser
Zahigkeit erhalten und sind vielfach noch jetzt wirksam. Hierher ge-
hort insbesondere seine Annahme, dass die Auslosung der Krystallisation
in den iibersattigten Losungen ein wesentlich mechanischer Yorgang
sei, und durch heftige Bewegung oder Eratzen und Reiben mit rauhen
Gegenstanden bewirkt wiirde. £s soil schon an dieser Stelle hervoi^-
hoben werden, dass Bewegen, Kratzen und Reiben wesentlich dann
wirksam sind, wenn bereits sich kleine Erystallchen in der Fltissigkeii
befinden, die dadurch zertriimmert werden, und die ZaU der KrystaUi-
sationspunkte entsprechend vermehren. Man kann sich leicht unter dem
Mikroskop davon iiberzeugen, dass eine Glasspitze auch beim kraftigsten
Reiben der Unterlago in vielen iibersattigten Losungen unwirksam ist
Sowie aber ein fertiger Erystall, sei es auch ganz leise, fiber die Unterlage
bewegt wird, schiessen auf seinem Wege unzahlige neue Krystallchen auf.
Die Ansichten Gay-Lussacs sind in den nachstehenden Stellen der
erwahnten Abhandlung am klarsten ausgesprochen:
„Wenn eine Fiiissigkeit fest oder auch gasformig werden soil, so
erfolgt diese Anderung nicht immer bei der Temperatur, bei der aie
eintreten soUte. Das Wasser mit dem Erstarrungspunkt 0^ kann bei-
spielsweise unter geeigneten Verbal tnissen bis 10^ und 12^ unter KuU
fliissig bleiben; und das Sieden, das in einem Metallgefass bei 100* er-
folgt, wird durch ein Glasgefass merklich hintangehalten. Auch kann
fl&chenspannung der Ldsung in der N&he der Krystalle sich Termindert; dadurch
wird die Flttssigkeit voo dieser Stelle aos gewaltsam anseioandergesogen, und es
kCnnen mikroskopische Erystallkeime ziemlich welt fortgeftlhrt werden.
^) Ann. chim. phys. 11, 296. 1819.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnong. 715
Wasser eine grossere Menge Eohlensaure gelost entbalten, als der Druck
mit sich briDgt Derartige Erscheinungen sind sehr zahlreich; ihre In-
tenaitat soUte bei gegebenen Umstanden konstant sein. Da sie aber
nor von der Tragheit der Molekeln abbangig zu seiu scbeinen, die im
allgemeinen eine sebr schwacbe Kraft ist, die der geringsten Einwirkung
nachgiebt, so ist man niemals sicher, auf den Punkt zu gelangen, wo
deren Starke ein Maximum ist. So bat man in gewissen Versucben
beobachtet, dass das Wasser seine Fliissigkeit bei 10^ unter Null be-
wahrt hat; nichts beweist aber, dass es nicht bei noch yiel grosserer
Kalte iliissig bleiben kann. Unter der Tragheit der Molekehi, was
natiirlicb ein etwas unbestimmter Ausdruck ist, muss man einen Wider-
stand gegen die Anderung des Zustandes oder des Gleicbgewichts ver-
stehen, die durch verscbiedene Ursachen hervorgebracht werden kann.
Unter diesen sind zu nennen: die Schwierigkeit der Anderung der
Lage der Molekeln in einem vollkommen homogenen Mittel; die Zahig-
keit des Losungsmittels; die Warmeleitfahigkeit, welcbe der Entwick-
lung oder Absorption des Warmestoffes einen Widerstand entgegensetzt
und dadurch das Gleicbgewicht der Molekeln aufrecht erhalt; schliess-
lich moglicherweise eine elektrische Wirkung.
„Sicber ist, dass durch Ursachen, die der Affinitat fern liegen, die
erwahnten Wirkungen verbindert oder aufgehoben werden konnen. So
gefriert das Wasser immer bei 0^ es siedet auch in Glasgefassen sebr
nabe bei 100^ es nimmt keinen Uberschuss von Kohlensaure auf oder
giebt einen solchen ab, wenn man Sorge tragt, es zu bewegen. AUer-
dings bestimmt ein Stiick Eis, das man in iiberkaltetes Wasser ein-
tragt, sehr sicher seine Krystallisation, wegen der gegenseitigen Ver-
wandtschaft der Wassermolekeln, die im festen Zustande grosser ist,
als im fliissigen. Doch ist dies nur ein Mittel unter vielen, die Trag-
heit zu iiberwinden, und oft bringen indifferente Stoffe, namentlicb
wcnn sie raub sind, die gleiche Wirkung hervor.
^Die ubersattigten Salzlosungen haben offenbar die nachste Ver-
wandtschaft mit dem unter Null erkalteten Wasser, und alles, was iiber
diese gesagt worden ist, findet bier seine Anwendung. Man kann solche
Losnngen durch vorsicbtiges Verdampfen eines Teils des Losungsmittels
erhalten; besser ist es indessen, die gesattigten Losungen langsam er-
kalten zu lassen. Bei einigen Salzen, wie Natriumcarbonat und Na-
triamsnlfat, kann die Erkaltung bedeutend sein, bevor die Krystalli*
sation eintritt; im allgemeinen kann sie indessen nur sehr gering wer-
den. Da die allgemeine Ursache, welcbe die Ubersattigung bestimmt,
offenbar fiir alle Salze die gleiche ist, so geniigt es, die Wirkungen in
716 II' Chemische Dynamik.
solchen zu beobachten, in denen sie sich am starksten zeigen. Ich
nehme als Beispiel die Soda.
,,Eine iibersattigte Losung dieses Salzes krystallisiert wie Wasser,
das unterhalb seines Gefrierpunktes fliissig geblieben ist, durch Um-
riihren, durch Beriihren mit einem Sodakiystall oder einem fremden
Korper. Ebensowenig wie beim Wasser kann man einen Pankt angeben,
bei dem die Ubersattigung aufhort, denn dieser ist bei jedem Versuch
voUkommen zufallig. Er hangt von der Natur des Gefasses, seiner
Oberflachenbeschaffenheit, seiner Leitfahigkeit, der Bewegung der Luft
ab. Da man nun die Krystallisation in einer iibersattigten Sodalosung
durch eine leichte Bewegung der Luft hervorrufen kann, so kann die
Ubersattigung nicht von der Affinitat abhangen, sondern nur von einer
rein mechanischen Kraft Denn die Bewegung kann als solche nicht
chemische Wirkungen hervorrufen."
Zum Schlusse dieser Betrachtungen setzt Gay-Lussac auseinander,
dasB die Obersattigung eine sehr allgemeine Erscheinung ist. Wenn
sie auch bei sehr vielen Salzen sich nur schwer unmittelbar nachweisen
lasst, so sind doch die Erscheinungen der langsamen Krystallisation
der Arty dass sie auf das Vorhandensein einer Ubersattigung in der
Mutterlauge schliessen lassen. Denn wenn eine Losung mit einzelnen
verstreuten Krystallen weiter verdunstet, so bilden sich nicht iiberall
neue Krystalle, sondern die Torhandenen wachsen. Die VerduDstong
ihrerseits erfolgt allein an der Oberflache; es muss dort also eine iiber-
sattigte Losung entstehen, die in diesem Zustande bis zu den Krystallen
geht, und diese durch den Absatz ihres Uberschusses vergrossert Ahn-
liche Betrachtungen sind auch in neuerer Zeit wieder vorgebracht
worden, und konnen in der That als iiberzeugende Beweise des f rag-
lichen Satzes angesehen werden.
Vergleicht man diese Darstellung Gay-Lussacs mit seiner frliheren^
so findet man, dass sie sich in der unsachgemassen Hervorhebong
mechanischer Ursachen fiir die Aufhebung der Cbersattigung weiter
von der richtigen Auffassung entfernt hat. Die Ursache davon ist
offenbar das zunehmende Vertrauen in die Richtigkeit der mechanischen
Auffassung chemischer Erscheinungen. Dieser zu Liebe tretea sogar
ganz falsche, und mit eigenen friiheren Beobachtungen im Widerspruch
stehende Behauptungen auf, wie namentlich die beziiglich des Einflusaes
von Rauhigkeiten und mechanischen Bewegungen. In wohlthuendem
Gegensatz hierzu steht die Feinheit der letzten Bemerkung, welche die
allgemeine Verbreitung der Ubersattigungserscheinungen an einer all-
gemein bekannten, aber nicht weiter bedachten Thatsache aufweist.
Chemische Glelchgewichte swelter Ordnang. 717
127. Die mehreren Formen des NatriumBalfAts. Zls. Eine ein-
gehendere Untersuchuog liber das Verhalten des Glaubersalzes, das
dauernd den bevorzugten Gegenstand der Untersuchungen iiber die
Cbersattigungsfrage bildet, liegt in einer unvollstandigen Veroffent-
lichung einer Arbeit von Ziz in Mainz vom Jahre 1815^) vor. Die
Abhandlnng war an den Herausgeber des Journals fur Ghemie and
Physik, Schweigger, zur Veroffentlichung gesandt worden; dieser hat
sie aber nur toilweise bei Gelegenheit von Bemerkungen zu der eben
erwahnten ersten Arbeit Gay-Lussacs zum Druck gebracht.
Ziz beweist zunachst, dass die Annahme des letzteren, die Krys-
tallisation werde dnrch Bewegung hervorgebracht, irrig ist; gut ver-
schlossene uberkaltete Glaubersalzlosungen lassen sich beliebig schiitteln,
ohne dass Krystallisation eintritt; auch die Gegenwart barter oder
ranher Eorper in der Fliissigkeit ist ohne Einfluss. Feste fremde Korper
bewirken die Krystallisation nur so lange, als sie trocken sind, und
yerlieren diese Eigenschaft voUstandig durch Benetzung. Ebenso kann
man sie durch Erwarmen unwirksam machen. ^Diesen Grad der Er-
warmung kann ich nicht ganz genau angeben; er liegt nach mehreren
Versuchen hoher, als die Temperatur der iibersattigten Auflosung, und
ist ungefahr der namliche, welchen die Auflosung annimmt, wenn sie
schnell erstarrt/* Diese Bemerkung ist von grosser Wichtigkeit.
Bei „freiwiUig*S d. L durch die Beruhrung mit der offenen Luft
erstarrten Losungen ging die Krystallisation immer von der Oberflache
aus, meist von einem Punkte der Grenzlinie zwischen Fliissigkeit und
Gefasswand; niemals wurde der Ausgangspunkt in der Mitte der er-
starrten Losung Oder in der Gegend des Bodens gefunden. Folglich
wirkt die Ursache von aussen auf die Fliissigkeit ein.
Die blosse trockene Luft ist an sich nicht wirksam. Ziz beschreibt
als wiederholt ausgefiihrt den Versuch, dass er eine iibersattigte Losung
in einen Raum brachte, der durch ausgegliihte Pottasche trocken ge-
halten wurde. Es bildeten sich zwar im Laufe der Zeit Krystalle am
Halse des Glases; diese aber verursachten kein Erstarren, wenn sie bis
zum Hineinfallen gebracht wurden, sondern losten sich im Gegenteil
auf. „Es waren dies also nicht die gewohnlichen Krystalle des Glauber-
salzes, deun diese batten in der iibersattigten Auflosung auf der Stelle
ganzliche Erstarrung hervorbringen miissen.*'
Diese letzte Beobachtung hat nun Ziz zu der Entdeckung der
zweiten Art von Natriumsulfatkrystallen gebracht, die sich in den Lo-
^) Schweigg. Joura. 15, 160. 1815.
Oitwald, Ghemie. 11,3. a.Aafl. 46
718 1'- Chemische Dynamik.
■ •
sungen bild&n kopnen. Uber derea Zusammensetzung ist er zu der An-
sioht gekommen^ dass sie weniger Krystallwasser enthalten mnssen, als
das gewohnliche Glaubersalz; doch hat er die genaue Zusammensetzung
nicht festgostellt. Er nennt sie bis auf weiteres die Krystalle x, und
giebt als Bedingung far ibre Eutstehung an, dass sie sehr konzentrierte
Losungen und verbaltnismassig niedrige Temperaturen erfordern. y^Eine
Auflosung von zwei Teilen Salz in einem Teil Wasser giebt diese Krys*
tallisation bei 4~ ^ ^^^^ ^^i ^^ seinem Krystallwasser geschmolzenes
Salz giebt dieselben schou bei -f* l^^* Schwachc Auflosungen geben
diese gar nicht; ihr Gefrierpunkt liegt hoher als ihr Erystallisations-
punkt — Tritt in sehr iibersattigten Auflosungen die Erystallisation x
ein, so erstarrt keineswegs die ganze Fliissigkeit) . . . sondem die Kiys-
taUe nehmen sehr langsam und regelmassig zu, und bei der geringsten
Temperaturerhohung lost sich ein Teil derselben wieder auf. Die fiber
den Krystallen stebende FlUssigkeit bleibt jederzeit noch so mit Salz
beladen, dass sie, sobald ... die gewohnliche Krystallisation hervorge-
bracht wird, zu einer. Masse erstarrt. Die Erstarrung macht die Krystalle
X, sobald sie bis an dieselben gelangt ist, undurchsichtig, wie gekochtes
Eiweiss, sie verlieren dabei aber nicht ihre aussere Gestalf Versuche,
die Krystalle zu isolieren, ohne sie zu andern, erwiesen sich als nicht aus-
fiihrbar. „In einem Cylinderglase lagen schone Krystalle dieser Art am
Boden; ich vermischte die liberstehende Fliis^igkeit, um Erstarrung zu
vermeiden, mit warmem Wasser und goss solche schnell von den Krys-
tallen ab. Diese waren noch durchsichtig; als ich sie aber mit einem
holzernen Stabchen herausnehmen woUte, ward der damit beriibrte
Punkt undurchsichtig, und es gingen von diesem, wie bei der Erstarrung,
Strahlen nach alien Seiten aus, der Krystallklumpen erwarmte sich,
war bald allenthalben undurchsichtig, und auswendig und inwendig ganz
trocken. . . . Mir ist es wahrscheinlich, dass diese Krystalle x sich
wahrend des Undurchsichtigwerdens auf die Art verandern, dass ein
Teil derselben alles in ihnen vorhandene Krystallwasser und alles zur
Auflosung des Salzes dienende Wasser, welches in der an ihnen hangen-
den und zwischen ihnen mechanisch eingeschlosseuen FlUssigkeit be-
findlich ist, an sich reisst, und damit gewohnliches Glaubersalz bildet,
wahrend der andere Teil des Salzes in Krystalle ohne Krystallisations-
wasser verandert wird."
„Die Krystalle ohne Krystallisationswasser, wdche unfahig sind, in
schwach iibersattigten Auflosungen Krystallisation hervorzabringen,
bringen diese in sehr stark iibersattigten Auflosungen hervor; es ist
dieses aber alsdann die Krystallisation x."
Chemische Gleiehgewichte zweiter Ordnuog. 719
„In yerschlossenen Gefassen, in welohen schon die Krystallisation
X ihren Anfang genommen hat, erstarrt oft die ganze Fliissigkeit. Diese
Erstarrung halte ich von der gewohnlichen Krystallisation des Glauber-
salzes fur nicht verschieden. Sie nimmt von den am Boden liegenden
Krystallen x, wie es ihre Strahlen deutlich zeigen, ihren Anfang/'
Diese Beobachtungen sind alle richtig, und liefern ein reichliches
ezperimentelles Material, in welchem viel von dem vorausgenommen ist,
was spatere Forscher als ihr Eigentum yero£fentlicht haben. Wir haben
daher in Ziz einen der unabhangigsten und besten Beobachter auf
diesem Gebiete zu sehen, und nur die ungewohnliche Art der Ver-
offientlichung seiner Arbeit scheint verhindert zu haben, dass ihm die
geschichtliche Gerechtigkeit geschehen ist, die er verdient hat.
128. Arbeiten von Ldwel. Glaubersalz. Wir wenden uns nun
zu den Arbeiten von H. Lowel in Miinster, dessen sorgfaltige und lang
fortgesetzte Bemiihungen das Thatsaehenmaterial bezuglich der Uber^
sattigungserscheinungen zwar nicht unerheblich vermehrt, die Erkennt-
nis der Ursache der plotzlichen Krystallisation solcher Losungen aber
nicht gebracht haben.
Die erste Abhandlung ^) bezieht sich auf das Verhalten des Glauber-
salzes und bringt gegeniiber don Beobachtungen von Ziz zunachst
wenig neues. Sie behandelt zuerst die Entstehung des von Ziz x ge-
nannten wasserarmeren Salzes. Als neu kann die Beobachtung bezeich-
net werden, dass bei der niedrigen Temperatur, welche durch eine
Mischung von Eis und Kochsalz hervorgebracht wird ( — 16® bis — 20^),
haufig Glaubersalz freiwillig krystallisiert, was bei etwas hoheren Tern-
peraturen nie geschieht.
Den Krystallen x schrieb Lowel zuerst die Zusammensetzung
Na*S0* + 8H*0 zu, welchen Fehler er in einem Nachtrage verbesserte,
indem er die richtige Zusammensetzung mit 7H*0 ermittelte. Wert-
Toll ist eine genaue Loslichkeitstabelle des wasserarmeren Salzes, die
ich folgen lasse.
Hundert Teile Wasser losen, auf wasserfreies Salz berechnet:
Temperatur
Na«SO* + lOH'O
Na«S0* + 7H»0
o*
5.02
1962
10
93
3049
13
112
3427
16
14-3
38-73
17
156
39-99
0 Ann. chim. phys. (3) 29, 62. 1850.
46'
720 II* ChemlBche Dynamik.
Temperatur Na«SO* + 10H«0 Na'SO* + 7H*0
IS^" 16-8 41-63
19 181 43-35
20 19-5 44-73
Man sieht, wie ausserordentlich viel loslicher das wasserarmere
Salz ist, als das gewohnliche Glaubersalz.
Sehr aufklarend ist die Darlegung Lowels, dass auch in Bezug
auf dies zweite Salz Obersattigung ointreten kann, wenn auch nicht in
so hohem Grade, wie mit dem Glaubersalz. Denn eine Losung, die fur
jenes bei 18^ gesattigt ist, scheidet beim Abkiihlen erst bei 9® oder
8® Erystalle des Salzes mit 7H'0 ab; eine bei 8^ gesattigte erst bei 0^
Im iibrigen enthalt die Abhandlung wesentlich dieselben That-
sachen, die Ziz gefunden hatte, wenn auch naturlich in anderer ez-
perimenteUer Anordnung, da sie unabhangig von jener Arbeit scheint;
nur ist sie von jener durch genaue messende Bestimmungen yerschieden.
So wurde ermittelt, dass bei freier Beriihrung mit der Luft das durch
Schmelzen des Salzes in dem Krystallwasser erhaltene Gemisch von
gesattigter Losung und wasserfreiem Salz bei 32^ zu krystallisieren
beginnt. Eine etwas hohere Temperatur, 36® bis 40^ geniigt, um feste
Gegenstande, die im gewohnlichen Zustande alsbald Krystallisation be-
wirken, unwirksam zu machen.
Aus der Gesamtheit seiner Versuche schliesst Lowel, dass die Her-
Yorrufung der Krystallisation als eine „der geheimnisvollen Kontakt-
wirkungen anzusehen ist, welche von Berzelius katalytische genannt
worden sind, und fur welche die Wissenschaft bisher keine genugende
Erklarung hat geben konnen*^.
Zur naheren Bestimmung der Natur dieser Kontaktwirkung stellte.
Lowel folgende weiteren Versuche an.
Glasstabe, die in die iiberkaltete Losung gebracht wurden, yerur-
sachten im allgemeinen unmittclbar Erstarrung. Wurde ein Glasstab
mit Hilfe eines Korks in einer Flasche oberhalb der ubersattigten Lo-
sung befestigt und 24 Stunden in dieser Stellung gelassen, so hatte er
seine Wirksamkeit nicht verloren, denn beim Hineinschieben in die
Losung brachte er sofort Krystallisation hervor. Auch nach einem
Monate war die Wirksamkeit unverandert dieselbe; sie ging aber yer-
loren, wenn auf den Staben sich Wassertropfen verdichtet batten.
Wurden deshalb die Stabe iiber die heisse Losung gebracht, so dass
sie sicb mit einem dichten Tau von yerfliissigtem Wasserdampf be*
deckten, so verloren sie ihre Wirksamkeit und konnten nach dem £r-
kalten in die Losung geschoben werden, ohne dass diese erstarrte.
Gbemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 721
Selbst wenn dieser Yersuch mit eisernen Staben ausgefiihrt wurde, die
sich dabei oxydierten und rauh wurden, fand keine Erstarrung statt.
Werden die Stabe auf 150^ bis 200^ erwarmt, so sind sic unwirk-
sam. liasst man sie in verschlossenen Glasflaschen erkalten, so bleiben
sie lange Zeit (4 Wochen wurden beobachtet) unwirksam; sie werden
aber schnell wieder wirksam, wenn man sie an der offenen Luft liegen
lasst Die dazu erforderliche Zeit ist kurz; nach etwa einer Yiertelstunde
sind einige, nach einer Stunde sind fast alle wii'ksam.
Dnrch Abwaschen mit kaltem Wassor geht gleichfalls die Wirk-
samkeit verloren; sie tritt beim Trocknen an offener Luft wieder ein,
dagegen nicht» wenn man das Trocknen in geschlossenem Ranme, z. B.
iiber der iiberkalteten Fliissigkeit selbst erfolgen lasst
Alkohol Yon gewohnlicher Temperatur bewirkt in iibersattigten
Losnngen fast angenblicklich die Krystallisation des gewohnlichen Glauber-
salzes. Wendet man ihn aber bei einer Temperatur von 36® bis 40®
an, so lasst sich die Losung mit Alkohol ohne Krystallisation iiber-
schichten, und beim Erkalten krystallisiert in der Ruhe das Salz mit
TWasser aus.
Aktiye Glasstabe wurden mit einer nicht ganz gesattigten Losung
von Glaubersalz benetzt und mit dem daran hangenden Tropfen iiber
eine iibersattigte Losung gebracht. Nach einigen Tagen war der Tropfen
Terdunstet und hatte sich in einen Krystall von Glaubersalz verwandelt,
der beim Einsenken in die Losung diese sofort zum Erstarren brachte.
Wurden die Glasstabe aber vorher durch Erhitzen unwirksam gemacht»
so konzentrierte sich zwar der Tropfen, krystallisierte aber meist nicht,
und der Stab konnte mit dem klein gewordenen Tropfen in die Fliissig-
keit gesenkt werden, ohne dass Krystallisation eintrat.
Wurden solche Flaschen einer niedrigen Temperatur ausgesetzt, so
erschienen die Krystalle mit 7Wasser. Wahrend aber die Glaubersalz-
krystalle beim Einfuhren wirksamer Glasstabe ausschliesslich yon diesen
aus durch die Fliissigkeit gingen, trat das andere Salz immer am Boden
der Flasche auf, und nie am Stabe.
Die zweite Abhandlung Lowels ^) bringt die Schilderung der Ver-
baltnisse an den Losungen des Natriumcarbonates, die im wesentlichen
mit denen am Glaubersalz iibereinkommen. Nur sind sie insofem etwas
▼erwickelter, als neben dem bekannten Salz mit 10 Atomen Wasser
zwei yerscbiedene Salze bei niederer Temperatur erhalten werden
konnen, die* beide 7 Atome Wasser enthalten, aber verschiedene Krystall-
') Aon. chim. phys. (3) 38, 334. 1851.
722 n. Chemische Dyaamik.
formen und Terschiodene Loslichkeit haben. Das Ton Lowei a genannte
Salz krystallisiert in Rhomboedern, das andere Salz b in Tafeln, und
die Losliclikeiten der beiden neben der der gewohnlichen Soda ergeben
sich aus der folgenden Tabelle.
Temp.
Na«C08 + 10H«0
Na*C0» + 7H«0b
Na«C0» + 7
0«
6-97
2039
31-93
10
1206
26-33
3785
16
1620
2958
41-55
20
21-71
38-55
4579
25
28-50
3807
30
3724
43-45
38
5167
Die Zahlen bedeuten alle wasserfreies Natriumcarbonat auf hundert
Teile Wasser.
In seiner dritten Abhandlung versuchte LoweP) die Bedingungen
genauer zu ermitteln, unter denen die Krystallisation erfolgte oder aus-
blieb. Zu diesem Zwecke saugte er mittels eines Aspirators gemessene
Mengen Luft durch seine iibersattigten Losungen von Glaubersalz, und
bestimmte ausserdem die Zeit des Durchsaugens. Indessen ergab sich,
dass der Charakter der Erscheinung diese gesteigerte Genauigkeit nicht
rechtfertigte; die Erstarrung trat friiher oder spater ein, wenn auch
die ausseren Bedingungen scheinbar gauz dieselben waren.
Wurde die Luft, bevor sie in die ubersattigte Losung trat, durch
einige Waschflaschen mit Wasser geleitet, um sich mit Feuchtigkeit zu
sattigen, so trat eine merklicbe Verminderuug der Wirksainkeit ein,
und es vergingen oft mehrere Stun den, bevor die Krystallisation her-
vorgerufen wurde. Die gleiche Verminderung trat aber auf, als umge-
kehrt die Luft mittels Schwefelsaure oder Atzkali getrocknet wurde; ja
selbst wenn nur k^re Flaschen eingeschaltet wurden, durch welche die
Luft treten musste, bevor sie zu der Losung gelangte, so wurde sie
gleichfalls des grossten Teils ihrer Wirksamkeit beraubt. Noch besser
wirkte eine mit Watte gefiillte Rohre.
Lowel schliesst diese Abhandlung mit Ausserungen, welche zeigen,
wie ratios er den Erscheinungen gegeniiberstand. „Die atmospharische
Luft hat ihren natiirlichen Feuchtigkeitsgrad bewahrt, weloher er audi
war, und hat dennoch immer einen erheblichen Teil ihrer katalytiachen
Wirkung verloren, indem sie durch die leeren Flaschen und Rohrea
des Apparats gegangen ist. Hat sie sich durch Reibung gegen die
^) Ann. chim. phys. (3) 37, 155. 1855.
Chemische Glelchgewichte zweiter Ordnung. 723
inneren Wande dieser Flaschen und Rohren elektrisiert? Wie dem auch
sei, die Thatsache ist sicher festgestellt. Darnach i8t es ziomlich sicher,
dass aach durch eine ahnliche Ursache die Luft ihre katalytische Kraft
ganz Oder fast ganz verloren hat, well sie darch die Apparate gegangen
ist, und nicht einfacb, weil sie getrocknet oder mit Fenchtigkeit ge-
sattigt wurde. Ihre Reibung gegen die Wande der Apparate, gegen die
Sehwefelsanre, das Atzkali und vor alien Dingen gegen das Wasser
scheint die wesentlichste Ursache dieses Yerlustes zu sein."
129. Ansioht bezuglioh der t)1>er8&ttigung. Bei dieser Gelegen-
heit sei noch die Ansicht erwahnt, die sich Lowel fiber die Ursache
der Ubersattigung selbst gebildet batte. Sie ging kurz dahin, dass sich
in den iibersattigten Losungen das Natriumsulfat in einem anderen Zu-
stande befindet, als im Glaubersalz, und sich durch die Erystallisations-
ursacben in dieses verwandelt.
y^Nach den Thatsacheo, die ich beobachtet und in meinen Abhand-
lungeu beschrieben babe, befindet sich das Natriumsulfat in diesen
iibersattigten Losungen in gescblossenen Gefassen nicht im gewohnlichen
Zustande, in welchem es mit 10 Atomen Wasser krystallisiert; seine
Molekeln sind mit be3onderen dauernden Eigenschaften ausgestattet,
vernioge deren sie sich in einer anderen Weise anordnen, wenn sie in
den festen Zustand iibergehen, und Krystalle von anderer Form und
einem Gehalt von nur 7 Atomen Wasser entstehen lassen. Wirkt die
trockene Luft nur wasserentziehend auf diese Losungen, so entsteht
immer nur das Salz mit 7H'0, das sich absetzt Damit die Losung
zu dem gewohnlichen Salze mit lOH'O gesteht (das viel v^eniger Ids-
lich ist, als das mit 7H^0), ist erforderlich, dass die geheimnisvolle
Kraft, v^elche die Salzmolekeln in dem erwahnten anormalen Zustande
halt, neutralisirt oder zerstort wird/*
Diese Ansicht, nach der die Ursache des Nichtkiystallisierens der
iibersattigten Losungen in einem besonderen Zustande des gelosten
Sto£fe8 gesucht wird (statt, wie es richtig ist, in der Beschaffenheit des
mit der Losung im Gleichgewicht stebenden festen Stoffes), und deren
Qiiellen wohl auf Gay-Lussac zurackzufiihren sind, hat die Wissenschaft
sehr lange in die Irre gefiihrt, und ist noch jetzt nicht ganz aus den
Lehrbiichern verschwunden.
130. Iidwels letste Arbeiten. Die weiteren Abhandluugen Lowels
sind von goringerem Interesse. Die vierte^) enthalt Untersuchungen
iiber Magnesiumsulfat und Kalialaun, welche cin ganz ahnlichcs Bild
^) Ann. chim. phys. (3) 48, 405. 1855.
724 n. Chemische Dynamik.
ergabeoy wie die friiher besprochenen Salze. Yom MagnesiamBolfiEtt
warden drei Formen beobachtet: neben dem gewobnlichen Sake mit
7 Atomen Wasser noch ein anderes in (pseado)-rhomboedri8chen For-
men, das gleicbfalls 7H*0 enthalt, and aasserdem das Salz mit 6H'0,
das man gewobnlich nar durch Krystallisieren bei Temperatoren dber
30^ erhalt. Beide entstanden freiwillig aas stark iibersattigten Losangen
bei Zimmertemperatar and sind viel leicbter loslich, als das gewohn-
liche Bittersalz. Die nachstehende kleine TabeUe giebt einen t}berblick
iiber diese Verbal tnisse; die Zahlen bedeaten wasserfreies Salz auf
100 Teile Wasser.
Temp. Mg80* + 7H«Oa Mg80*+7H«Ob MgS0*+6H*0
0* 26-0 84-67 40-76
10 30-9 3871 42-23
20 35-6 42-84 43-87
Auch beim Alaan warden zwei andere Formen beobachtet: die eine
in blumenkoblartigen Krystallen and eine in sehr leicht loslicheny
darchsicbtigen Tafeln; beide enthalten vermatlich mehr Erystaliwasser,
als der oktaedrische Alaan, doch sind keine Analysen aasgefuhrt worden.
Noch weniger Interesse von nnserem Gesichtspankte bat die nun
folgende Abhandlang iiber den Cbromalaan ^), die wesentlich die Urn-
wandlang der violetten Form in die griine zam Gegenstande hat.
In seiner letzten Abhandlang') endlich kommt Lowel aaf das
Glaabersalz zariick and verbessert einige Ansicbten, die er friiher aojs-
gesprochen hatte; aach stellt er sich die Frage, ob die von Gay-Lussac
bemerkte Loslichkeitsanomalie, nach welcher die Loslichkeitskurve dea
Glaabersalzes bei 33^ einen Knick hat, nicht mit den verschiedeuen
Formen des Salzes zasammenhaugt.
Zanachst ergab sich, dass, wenn man Glaabersalz in seinem Krys-
tallwasser schmilzt and die Losang bis zum Sieden erwarmt, wie be-
kannt eine gewisse Menge wasserfreien Salzes sich in kleinen Krystallen
ausscheidet. Lasst man diese Fliissigkeit gegen die Luft geschiitst er-
kalten, so zeigt sich, dass bei abnehmender Temperatar sich mehr und
mehr von dem wasserfreien Salze aaflost; bei 18® bort diese Erschet-
uang aaf, weil sich da das Salz mit 7 Wasser abscheidet, in welches
das wasserfreie langsam iibergeht Man hat es somit zwischen 18® and
100® mit der Loslichkeit des wasserfreien Natriamsalfats za than, die
ebenso bestimmte Werte hat, wie die irgend eines anderen Salzee, nor
>) Ann. chim. phys. (3) 44, 313. 1865.
*) Ann. chim. phys. (3) 49, 32. 1857.
Ghemische Gleicbgewicbte zweiter Ordnang. 725
class sie mit steigender Temperatur abnimmt. Die Werte sind in der
nachsteheDden Tabelle verzeicbnet, von denen der erste Teil Yon Gay-
Lussac herriihrt
Temperatur Gehalt
10317 • 4265
84-42 42-96
70-61 44*85
59-79 45-42
50-40 46-82
4504 4781
40-15 48-78
3600 49-27
34-00 49-53
33-00 49-71
30-00 50-37
26-00 51-31
25-00 51-53
20-00 52-76
18-00 53-25
Bei 34^ schmelzen die Krystalle des Glaubersalzes in ibrem Erystall-
wasser, xind geben, solange nocb eine grossere Menge unzersetzten
Glaubersakes zugegen ist, eine Losung, die bis zu 55 Teile Salz ent-
halten konnen. Halt man die Temperatur konstant, so wird die Lfosung
armer, indem sich wasserfreies Salz ansscheidet, and scbliesslich bleibt
der Gebalt bei 49*53 stehen. Ahnliches kann man bis zu 40^ hinauf
beobachten, nnr gebt die Umwandlung in wasserfreies Salz entsprechend
Bchneller vor sich. Scbliesslich findet man immer die Loslichkeit des
wasserfreien Salzes. Das Schmelzprodukt des Glaubersalzes ist also in
Bezug auf das wasserfreie Salz iibersattigt.
Arbeitet man mit dem wasserfreien Salze, das man durch Yer*
wittem dee Glaubersalzes und Erhitzen erhalt, so gesteht dieses unter
33® in Beriihrung mit Wasser zu einer harten Masse, die die Loslich-
keit des Glaubersalzes zeigt Oberhalb 33® zerfalit plotzlich diese
Mas^e, and zeigt die Loslichkeit des wasserfreien Salzes. Lowel halt
diese Masse fiir eine amorphe Zwischenform, indessen gebt aus dem
bescbriebenen Verhalten hervor, dass sie aus wasserfreiem Salze be-
steht, das durch das gebildete Glaubersalz yerkittet ist. Bei 33® zer-
falit das Glaubersalzy und die Masse verliert dadurch plotzlich ihr
Bindemittel. Da beide Formen zugegen sind, kann immer nur die Los-
lichkeit der stabileren Form, d. h. der mit der geringeren Loslichkeit
zur Geltung kommen.
726 II« Ghemische Dpiamik.
Gegenwartig deuten wir uns die geschilderten Yerbaltnisse in ein-
fachster Weise dahin, dass wir es mit zwei unabhaQgigen Loslichkeits-
karven zu thua haben, von denen die eine dem Glaubersalz und die
andere dem wasserfreien Natriumsulfat angebort, und die sicb zum Teil
krcuzen koiinen, dergestalt, dass man von der Glaubersalzkurve nur ein
kleines Stiick, und auch dieses nur uusicber bis in hobere Temperaturen
verfolgen kann, wabrend die des wasserfreien Salzcs sicb weit iiber den
Kreuzungspunkt, der bei 33^ liegt, nacb der Seite der niederen Tem-
peraturen verfolgen lasst. Zu der ganzen Einfacbbeit dieser Auffassung
bat sicb Lowel indessen nicbt durcbgefunden, denn er nabm immer
nocb an, dass in den Losungen verscbiedene molekulare Zustande des
Salzes vorbanden seien, und dass der geloste Stoff sicb andern miisse,
urn mit der anderen Erystallform anzuscbiessen. „So lange sicb das
Natriumsulfat im molekularen Zustande des Salzes mit lOH^O befindet,
nimmt seine Loslicbkeit von 0^ bis 34^ mit steigender Temperatur zu.
Oberbalb 34® kann dies Saiz mit lOH^O nicbt mebr besteben, und es
verwandelt sicb dann in krystallisiertes wasserfreies Salz, das sicb von
jenem durcb seine molekulare Konstitution und seine Loslicbkeit unter-
schoidet. Die Loslicbkeit dieses wasserfreien Salzes verlauft umge-
kebrt wie die des Salzes mit lOH'O; sie nimmt mit steigender Tem-
peratur ab."
Zu diesen beiden Loslicbkeitskurven kommt nocb die des Salzes mit
7 Wasser. Soweit ist alles klar. Aber nun entstebt fiir Lowel die Frage,
in welcbem Zustande sicb das Salz in den Losungen befindet, die je nacb
Umstanden eine der drei Formen abscbeiden kann. Aus der Tbatsache,
dass sicb aucb das Salz mit 7 Wasser nicbt abscbeidet, wenn die Lo-
sung dafiir gesattigt ist, sondern erst bei erbeblicb niederen Temperar
turen, scbliesst Lowel, dass auch diese in den iibers&ttigten Losungen
nicbt als solcbes vorbanden sei. Seine etwas widersprecbenden An-
sicbten fasst er scbliesslicb in folgenden Satzen zusammen:
„In alien Losungen von beliebigem Gebalt, die nicbt in Beriihrung
mit Krystallen mit 10 oder 7 Wasser sind, bleibon die gelosten Mole-
keln des Salzes im Zustande des wasserfreien Salzes, unabhangig von
den Temperaturanderungen, wenn sie nur gegen diese geheimnisvolle
Kontaktwirkung geschiitzt sind, welcbe die Luft und fremde Korper aaf
sie ausiiben, indem sie sie bestimmen, Krystalle mit lOHH) zu bilden,
vorausgesetzt, dass die Temperatur nicbt so niedrig ist, dass die finei-
willige Bildung des Salzes mit 7H'0 eintritt.
„Erfolgt die Erystallisation der einen oder anderen Art, so gehen
die gelosten Salzmolekeln nicbt einfacb aus dem flUssigen Zustande in
Chemische Gleichgewichte zwelter Ordnang. 727
den festen uber, sonderu sie erfahren in ihrer molekalarcn Eonstitation
eine Anderung, durch welche sie neue chemische Eigenscbaften, insbe*
sondere eine verschiedene Loslichkeit annehmen.
,,Es erscheint mir fast uberfiiissig, zu hemerken, dass die Losungen,
die ich bisher iibersattigt genannt babe, es thatsachlich gar nicht sind;
denn das Salz, das sie enthalten, ist nicht das gewohnliche Salz mit
lOH^y sondern ein anderes, das eine yiel grossere Loslichkeit bei der
gewohnlichen Zimmertemperatur besitzt, und welche vom Losungsmittel
nicht durch die schwache Kraft der Tragheit, sondern vermoge einer
wabren chemischen Verwandtschaft zuriickgehalten wird."
Gleich bei der Yeroffentlichung der ersten Arbeiten Lowels machten
sich polemische Erorterungon und (unbegriindete) Prioritatsanspriiche
geltend. Diese brachten nichts von Belang, so dass es geniigen wird,
die Citate anzugeben^).
Durch die letzten Abfaandlungen Lowels war das Interesse ganz
wesentlich auf die Erklarung der ,,frciwilligen" Erystallisation der iiber-
sattigten Losungen gewendet worden. Die mechanischen Ansichten Gay-
Lussacs batten sich als uuzulanglich erwiesen, da sie mit den That-
sachen iiberall im Widerspruch standen, neue Gesichtspunkte waren aber
nicht ermittelt worden.
13 L Die „katalyti8che'' Wirkung des Staubes. Das von Lowel
in Ermangelung einer wirklichen Erklarung hingeworfene Wort, dass
die Ursache der freiwilligen Krystallisation eine „kata]y tische'* sei, wurde
etwas spater in demselben Sinne eingehender zu deuten versucht, in
welchem damals allgemein die katalytisch genanuten Ersoheinungen ge-
deutet wurden: durch die Anuahme einer abwechselnden Zersetzung und
Wiederbildung der beteiligten Stoffe. In einem spatereii Kapitel wird
die Entwicklungsgeschichte dieses Gedankens eingehender mitgeteilt
werden; hier begniigeu wir uns mit dem Hinweise, dass auch in diesem
entlegenen Gebiete die gleiche Schlussweise Geltung gesucht hat. Einen
wirklichen kausalen Fortschritt bedeutet sie hier allerdings ebensowenig
wie dort.
Der fragliche Gedanke findet sich in einer Arbeit von Lieben*)
entwickelt. Es werden hier zunachst einige ganz richtig beobachtete
Thatsachen Uber den Einfluss des Staubes bei der plotzlichen Krystalli-
aation libersattigter Glaubersalzlosungen beschrieben^ z. B. dass erhitzt
>) Goskynski, C. r. 32, 717. 1851. — Selmi, Mem. Ace. di Torino (2) 11,
325. 1851. — D^rs., C. r. 32, 909. 1851. — L^wel, C. r. 33, 10. 1851 und 34,
642. 1852.
») Wien. Akad. Ber. 12, 771. 1854.
728 I'* Chemische Dynamik.
gewesener Staub unwirksam ist, seine Wirksamkeit aber bei Beriihrong
unit frischem Staube wiedergewinnt. Doch geht der Erklarungsversach
einen durch die Beobachtungen selbst nicht gerechtfertigten Weg, indem
angenommen wird, dass der Staub die Losnng an seiner Oberflache
verdichtet, wodurch eine gegenseitige Annaberang der Molekeln und
demgemass eine Krystallisation bewirkt wird. Dabei wird nicht ange-
geben, warum der erhitzt gewesene Staub diese Wirkung nicht aus-
iiben soil.
Schliesslich wird die katalytische Hin- und Wieder-Hypothese ent-
wickelt, nach welcher die iibersattigten Losungen Gemische Yon Ld-
sungen sind, die zum Teil aus dem Salze mit 10, zum Teil aus dem
mit 7 Wasser bestehen. ^ringt man nun eines der bekannten . . .
Mittel in Beruhrung mit der . . . Fiiissigkeity so wird, indem die Teil-
chen einander genahert werden, (10) anschiessen, das dadorch frei
werdende Wasser, welches friiher zur Losung dieses (10) gedient hatte,
wird, anstatt den (10)-Kr7stall wieder aufzulosen, etwas Yon der
(7)-Losung in (lO)-Losung iiberfuhren; diese wird sogleich dazu Yer-
wendet, die entstandenen (10)-Kr78talie zu Yergrossem, dadurch wird
wieder etwas Wasser frei, und so wird, indem partienweise Wasser frei
wird, und dadurch die (7)- in (lO)-Ldsung und (10)-Er78tall iiber-
geht, sehr rasch die Fliissigkeit sich in Krystalle des Salzes (10) Yer-
wandeln, so dass zuletzt nur eine bei gewohnlicher Temperatur gesattigte
(10)-Lo8ung iibersteht. Das Wasser, welches hier bald Yerbindongen
eingeht, bald wieder austritt, und alles Yermittelt, spielt fast eine ahn-
liche Bolle, wie die Schwefelsaure bei der Atherbiidung."
Die Grundlage dieser Darstellung ist somit die Annahme, dass das
bei der ersten Krystallisation freiwerdende Wasser nicht den Erystall
auflosen soil, sondern die geschilderte Hin- und Herbewegung beginnt
Warum Yon den beiden Moglichkeiten diese eintritt, bleibt unerklart
In dieser Beziehung geht die Erklarung dieses Falles genau den gleidien
Weg, den seit einem Jahrhundert die „Erklarung^ der katalytischen
Reaktionen geht Dadurch, dass man eine Reihe Yon formeil denkbaren
Vorgangen zusammenstellt, durch deren Folge und Wiederholung der
thatsachliche Vorgang eintreten wiirde, wenn sie so stattfanden, glaubt
man sich unwillkiirlich der Notwendigkeit iiberhoben, nachzuweiaen,
dass die einzelnen vorausgesetzten Vorgange wirklich eintreten. Dena
man kann in dem Yorliegenden Falle mit demselben Rechte die Not-
wendigkeit ableiten, dass die Fliissigkeit einen hineingebrachten Krystall
(10) auflosen muss. Es braucht nur ein Teil der Losung tod (10)
Wasser abzugeben und in Losung Yon (7) iiberzugehen, damit das so
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnnng. 729
freigewordene Wasser den Erystall auflosen kann; damit ist die ent-
gegengesetzte Wirkung ebenso plausibel gemacht
Wie au8 dem oben betonten Zusammenhange hervorgeht, ist die
Unzulanglichkeit der Sohlussweise nicht dem einzelnen Autor vorza-
werfen, der sie bier anwendet; vielmehr handelt es sich urn dine ganz
allgemein verbreitete Unzalanglichkeit des chemischen Denkens, die bis
&uf den heatigen Tag nicht vollig iiberwanden ist, und gerade in den
letzten Jahrzehnten yon neuem ihre schadlichen Wirkungen gezeigt bat.
132. Neues Stadium: Analogie mit den organisohen Eeimen.
Die Frage nach der Krystallisation libersattigter Losungen durch Be-
riihrung mit Luft kam gegen Ende der fonfziger Jahre unter einen
neuen Gesichtspunkt darch die damals wieder lebhaft aufgenommenen
Erorterungen liber die Generatio aequiyoca oder spontanea, die Erzeu-
gong yon Lebewesen durch nichtbelebte organiscbe oder anorganische
Materie. Wabrend friiher eine derartige Entstehung obne weiteres an-
genommen wurde, yerbreitete sich nach den entscheidenden Versuchen
yon Redi and Spallanzani mehr und mehr die Ansicht, dass iiberall,
wo Lebendiges entsteht, Eeime oder Eier yorhanden gewesen sein
miissen. Die ezperimentelle Begriindung dieser Ansicht beruhte wesent-
lich darauf, dass, wenn der Zutritt solcher Keime durch Gewebe oder
ahnliches yerhindert and die yorhandenen durch Hitze zerstort waren,
die Entstehung lebender Wesen mehr oder weniger yoUkommen yer-
hindert werden konnte. In unmittelbarem Anschlusse an den yorhin
erwahnten Versuch Lowels, der mittelst Filtrierens durch Watte die
Laft inaktiy machen konnte, haben H. Schroder und yon Dusch^) und
spater Schroder allein*) sich iiberzeugt, dass auch die Bildung kleiner
Organismen durch Filtrieren der iiber Fleischbriihe, Ham oder ahnliche
Fliissigkeiten geleiteten Luft wirksam yerhindert werden kann. Beziig-
lich der Erystallisationserscheinungen erwahnt Schroder, dass sich die
unter Aasschloss der Luft angestellten Yersuche mit ganz gleichem
Erfolg wiederholen lassen, wenn man die Gefasse nur mit Pfropfen yon
Baamwolle yerschliesst.
Schroder bemerkt, dass dieser Umstand dafiir spricht, dass in der
Luft schwebende feste Korper die Ursache der Krystallisation seien,
wie denn schon dem yon der Luft zugefuhrten Staube die ganze Wir-
kung zugeschrieben worden sei. Doch erklart er sich gegen eine solche
AufEassung, da sie zu dem Schlusse fiihrt, „dass die Luft zu jeder der
>) L.ieb. Ann. 89, 282. 1853.
9) Lieb. Ann. 109, 35. 1859.
730 II* Chemische Dynamik.
mannigfaltigen Krystallisationen, die aus unzahligen iibersattigten Lo-
sungen herausfallen , irgend eincn isomorphen kleinen Krystall herbei-
fubre, mit welchem die Substanz wie mit ihrem eigenen Krystalle zu-
sammenwachst. Aber selbst wenn man diese unwabrscheinlicbe Annabme
machen wollte, so mnsste noch die weit unwahrscheinlichere Annahme
dazukommen, dass alle diese mannigfaltigen in der Luft schwebenden
Krystallisationen bei einer 100- noch nicht einmal erreichenden Tem-
peratnr voUstandig zerstort werden. Ich sebe desbalb vorerst nicht ab,
wie die krystallerregende Wirkung der frischeD Luft auf kleine in ihr
schwebende feste Korpercben sicb soil zuriickfiibren lassen'S
Wenige Jahre spater erscbien jene herTorragende Arbeit Pasteurs^),
in welcber die Frage, soweit sie die Urzeugung anlangt, in widersprucbs-
freier Weise dahin golost wurde, dass in der That keine solche in
nachweisbarer Weise stattfindet. Die in diesen bahnbrecbenden Ver-
suchen ausgebildete Technik, uud die entsprechende Gewobnheit, aucb
Korper yon sebr kleinen Dimensionen in Beriicksichtigung zu Ziehen,
hat unmittelbar einen entscheidenden Einfluss auf den Fortschritt der
Sache geiibt, denn die zwei Forscber, welche unabhangig voneinander
den Nachweis des Vorhandenseins von Glaubersalzkeimen in der Luft,
die die Krystallisation in iibersattigten Losungen herTorruft, erbrachten,
namlich Violette und Gernez, haben sich nicht nur ahnlicher Mittel,
wie Pasteur bedient, sondern sie betonen auch beide, dass sie za ihren
Versuchen unmittelbar durch dessen Arbeit angeregt worden seien.
133. Versuohe von Violette. Der erste, welcher dementsprechend
voUige Klarheit iiber die Aufhebung der Ubersattigung allein durch
Krystalle des betreffenden Stoffes gehabt hat, scheint Ch. Violette*) ge-
wesen zu sein, der seit 1860 den Gegenstand bearbeitet batte und im
April 1865 der Pariser Akademie eine (spater von ihm zuriickgezogene) Ab*
handlung vorlegte, deren Hauptinhalt er folgendermassen zusammenfasste.
„Die Cbersattigung der Glaubersalzlosungen hort (freiwillig) unter-
halb — 8^ auf.
„Oberhalb dicser Temperatur und im leeren Raume giebt es nor
einen einzigen Korper, welcher unmittelbar die Cbersattigung der
Glaubersalzlosnngen aufhebt, und dies ist das Natriumsulfat mit zehn
Aquivalenten Wasser.
„Die Korper, welche durch ihr Verweilen an der Luft wahrend
kiirzerer oder langerer Zeit die Eigenscbaft annehmen, die ObersattigoDg
1) Ann. chim. phys. (3) 44, 5. 1862. ~ Klassiker Kr. 48. Leipiig 18d2.
») C. r. «0, aSl. 1865.
Chemische Gleichgewlchte sweiter Ordnang. 731
der Glaubersalzlosungen aufzuheben, verlieren diese durch die Beriihrung
noit Waseer odei durch ein hinreichend langes Yerweilen im trockenen
leeren Raume zwischen 33*5^ und 34 ^
„Da das GlaubQrsalz in Wasser loslich ist, und gegen 34^ in
wasserfreies Salz iibergeht, so scbeint der Sohluss unyermeidlicli, dass
die Ursache der. Erystallisation der iibersattigten Glaubersalzlosungen
nichts ist, als Natriumsulfat mit zehn Aquivalenten Krystallwasser.
„Magnesium8ul£at bat Erscheinungen gezeigt, welche viele Ahnlich-
keit mit denen beim Glaubersalz haben, nur mit dem Unterschiede,
dass es hier das wasserhaltige krystallisierte Magnesiumsulfat ist, wel-
ches die Obersattigung der Losungen dieses Salzes aufhebt.
^Sind die yorstebenden Schliisse richtig, so wird bald die Wissen-
schaft eine neue analytischo Methode von ausserordentlicher, die Spek-
tralanalyse iibertreffender Empfindlicbkeit besitzen, um solche organische
Stoffe, wie Glaubersalz und Magnesiumsulfat, und wahrscheinlich noch
andere in der Luft zu entdecken, indem man sich als Reagens iiber-
sattigter Losungen von Glaubersalz, Magnesiumsulfat u. s. w. bedient.^
Die ausfiihrliche Abhandlung Violettes erscbien 1866^) mit einer
Vorbemerkung Pasteurs, der die Prioritat dieser Untersuchungen denen
von Gernez gegeniiber zugleich mit der Unabhangigkeit des letzteren
feststellt.
Die Abhandlung beginnt mit einer ziemlich unTollstandigen Ge-
schichte des Gegenstandes und mit einer (unrichtigen) Darlegung, durch
welche der Autor eincn wesentlichen Unterschied zwischen der Ober-
sattigung und der Oberkaltung feststellen will. Er fiihrt einige Ver-
auche mit iiberkaltetem Wasser an, denen zufolge die Erstarrung in
einem zugeschmolzenen Gefasse zwar nicht durch Icichte Bewegungen,
wohl aber sicher durch das Anstossen oines geschlossenen Glasstabes
hervorgebracht wird. Ubersattigte Salzlosungen lassen sich dagegen
beliebig erschiittern, ohne dass Erystallisation eint^itt (siehe weiter
an ten).
Eine irrtiimliche Mitteilung von Terrell beziiglich des Erkaltungs-
ganges von Glaubersalzlosungen hat ferner Violette zu entsprechenden
Versuchen veranlasst, die einen weiteren Toil seiner Abhandlung ein-
nehmen; sie konnen hier iibergangen werden. Erst im vierten Eapitel
seiner Arbeit kommt er auf die Hauptfrage,
Zunachst zeigt er gegen Gay-Lussac (S. 711), dass die Erystalli-
sation einer iibersattigten Glaubersahslosung nicht durch das Einleiten
*) Ann. scientif. de I'^cole norm. sup. 3^ 205. 1866.
732 n. Cbemisch« DjrDainik.
irgend welcber (remder Qaae herTorgerufen wird. Waaserstoff, Eohlen-
dioxyd, Sticlcozyd und Schwefelwftaserstoff, kalt entwickelt, wurdeo mit
dem gleicheii negativen Ergebnis Teraucbt. EbensoweDig wirkten beiss
entwickelte Gase, wie Sauerstoff, Sticksto^ MetbaD, Atbylen, Leucbtgaa.
Endlich waren auch leicht loslicbe Gase, wie Ammoniak und Cblor-
wasserstoff ohne Wirkung. Einige dieser Gase wirkten auf VernDreini-
gUDgeo, die in den GlanbersalzloBungen eatfaalten waren, and bracbteo
aDgegebene Entstebung dea Salzes mit 7 WasBer beobachtet.
Waren die Fliissigkeiten nacb dem Erbitzen dor Luft ausgesetzt
geblieben, so bracbten aie oft die ErBtarrung herror. Ausnabmen bUden
nur das Wasser und wasserige Flussigkeitea aller Art Aucb das Ver-
fahren, eiue ubersattigte Losung dadurch gegen Krystallisatioo zn
schutzen, dass man sie mit Otirenol ubergiesst, ist keineswegs sicber;
in offenen Gefassen pflegen so gesohiitztel Losungen in 24 Stunden xu
erstarren.
Zu seinen Versncben tiber deo Einfluas fester Korper bediente aich
Violette, um volltg sicbere Ergebnisse zn erlangen, eines Apparatea. der
bier wiedergegeben werden soil, um ein Bild toq der Sorgfalt zu gebm,
mit der die Untersuchung ausgefiihrt worden ist. A ist eine Rohre ana
Platin, die im Gasofen C gliibend gebalten werden kann. Danof folgt
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 733
ein U-Rohr von 1 m Lange, gleichfalls aus Platioy das mit Bimstein
gefiillt ist; je nachdem man mit feuchter oder trockener Luft arbeiten
will, ist der Bimstein mit Wasser oder Schwefelsaure benetzt. R ist
ein T-Stiick mit drei Hahnen, das einerseits zur Luftpumpe W fdbrty
andererseits zu einem kleinen U-Rohr, Y, das durch einen Gammi>-
schlauch mit dem U-Rohr I verbunden ist; dieses liegt in einem
Bade, durcb welches man es auf jede beliebige Temperatur bringen
kann, und dient zur Aufnahme des Korpers, mit dem ezperimentiert
werden soli.
Der Kolben X mit der iibersattigten Losung ist mit einem Yier-
wegrohr K aus Metall verbunden, dessen drei oberen Arme einerseits
mit I, andererseits mit einem ahnlichen U-Rohr P und drittens mit
einem am Endo verscblossenen Gummischlauch ST vereinigt sind.
P dient dazu, eine KontroUprobe des festen Korpers aufzunebmen. Der
weite Gummischlauch ST nimmt die abgebrochenen Stiicke von den
ausgezogenen Halsen der Kolben X auf, dehn die Versuche sind derart
angeordnet, dass der Probekolben X in zugeschmolzenem Zustande mit
den iibrigen Apparaten verbunden, und erst unmittelbar yor dem Ver-
suche durch Abbrechen der Spitze geoffiiet wird.
Die Versuche werden ausgefiihrt, indem der Apparat nach sorg-
faltigem Waschen und Erhitzen zusammengesetzt wird; die zu unter-
suchenden Proben kommen in kurze Stiicke Glasrohr und diese in das
U-Rohr I. Dort unterwirft man sie den beabsichtigten Einfliissen, wo-
bei man die etwa abzuleitende Luft in A ausgliihen kann. Dann wird
die Spitze des Kolbens X abgebrochen, und der KontroUkorper aus P
hineingebracht, wozu die abgebrochene Spitze erst nach ST befordert
werden muss; ist der Versuch gelungen, so darf keine Erstarrung ein-
treten. Schliesslich bringt man den zu untersuchenden Korper aus I
in den Kolben und beobachtet den Erfolg.
Es ergab sich, dass kein einziger Korper ?on den 35 untersuchten,
die von verschiedenst^r Art waren, nach dem Erhitzen auf 100® die
Krystallisation hervorrief. Dazu bemerkt der Autor: „So minutiose
Vorsichtsmassregeln sind nicht immer notwendig; doch habe ich erst,
seit ich sie anwendete, iibereinstimmende Ergebnisse erhalten." So
werden Falle beschrieben, wo in ganz aus Glas geblaseuen Apparaten
doch Krystallisation eintrat, die sich aber auf einen fast mikroskopischen
Spalt im Glase zurtickfuhren liessen, durch welchen die Krystallisation
von aussen eingedrungen war. Ebenso sind Korkstopfen triigerisch, da
dnrch ihre Poren zwar langsam, aber doch fast regelmassig sich die
Krystallisation fortpflanzt.
Ofltwald, Chemie. 11,2. 2.Aiifl. 47
734
II. Chemische Dynamik.
Um andererseits zu beweisen, doss wirklich das Salz mit lOAtomen
Krystallwasser, und nicht irgend ein Stoff, den er aus der Luft aufge-
nommen haben konnte, die Krystallisation bewirkt, diente die Erfahmng,
dass bei einer Temperatur unter — 8^ dies Salz in einer iibersattigten
Losung freiwillig entsteht. Die Losung wurde deshalb in den Kolben B
(Fig. 131) gebracht, dessen Hals nach unten gebogen war, and nacb
dem Sieden zugeschmolzen wurde. Durch Neigen wurde etwas von der
Losung nach AE befordert und dort durch eine Kaltemischung zum
Erstarren gebracht, wahrend die Biegung bei G erhitzt wurde» um das
Fig. 131.
Fortschreiten der Krystallisation zu verhindern. Nachdem alles Zimmer-
temperatur angenommen hatte, blieb der Zustand unverandert, bis man
durch Umlegen des Kolbens seinen Inhalt mit den Krystallen bei E in
Beriihrung brachte: dann fand sofort Erstarrung statt. Da die Kry-
stalle seit ihrer Entstehung nur mit ihrer Mutterlauge in Benihrung
gewesen waren, ist der Beweis erbracht, dass nur die Substanz des
Glaubersalzes, und nicht irgend ein fremder Sto£f die Krystallisation
bewirkt hat.
Die weiteren Versuche, durch welche Violette beweist, dass kein
physikalisches, chemisches oder physiologisches Agens mit Ausnahme
Yon festem Glaubersalz (und einer Temperatur unter — 8®) die Kry-
stallisation bewirkt, brauchen nicht im einzelnen dargelegt zu werden«
Wichtiger sind seine Versuche dariiber, dass die Luft nicht immer die
Eigenschaft besitzt, die Erstarrung hervorzubringen. Insbesondere ist
die von Lowel (S. 723) angenommene Reibung nicht notig, um die
Luft steril zu machen. Es geniigt, dass die Luft, die mit der iiber-
sattigten Losung in Beriihrung kommt, Yorher etwa 24 Stunden in
Ruhe gewesen ist, und auch durch den Versuch nicht erheblich in Be-
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnang. 735
wegnng gesetzt wird. Ferner ist die Lnft auf dem Lande meist steril;
werden Kolben mit der iiberkalteten Losung im Freien geoffnet, so
bleiben sie oft unyerandert Dabei sind allerdings Yorsichtsmassregeln
erforderlicb. Auf dem Lande angekommen, versenkte der Beobachter
zonachst die Eolben in grosse Gefasse mit Wasser, nachdem die Spitze
mit einem befeuchteten Glasmesser eingeritzt war. Dann wechselte er
die Kleider, begab sich mit dem nassen Kolben und einer Zange znm
Abbrechen, die bis zum Augenblicke des Versucbes unter Wasser lag,
an einen freien Ort, hielt den Eolben iiber Kopfhohe vom Winde ab-
gewendet und brach die Spitze ab; die Offnung wurde dann mit Kleb-
wachs verschlossen, das gleichfalls unter Wasser aufbewabrt worden
war. Auf diese Weise warden yon 287 geoffneten Eolben 132 erhalten,
die nicht unmittelbar krystallisierten , und yon denen die MehrzahP)
aucb nach Jahren noch unyerandert geblieben war.
Geht aus diesen Versucben schon mit Wahrscheinlichkeit heryor,
dass der Staub der Luft die Ursache der Erystallisation ist, so wurde
doch unmittelbar bewiesen, dass der in einem Asbestpfropf aufgefangene
Staub in der That die Wirkung besitzt. Dem Asbest kann die Wirkung,
die er im gewohnlichen Zustande meist bat, leicht durch Erbitzen ge-
nommen werden. Wurde gegliihte Luft durch den Pfropfen geleitet, so
wurde dieser nicht wirksam.
£in mit wirksamem Staub beladener Pfropfen wurde durch Ghlor
Oder Bromdampfe nicht unwirksam gemacht, auch andere Gase waren
ohne Einfluss. Von fliissigen Stoffen machte Wasser den Staub un-
irirksam, dagegen liess Athyl- und Amylalkohol, sowie Ather ihn un-
yerandert. Eine Temperatur bis 33*5^ liess ihn gleichfalls unyerandert,
bei 34® yerlor er aber seine Wirksamkeit.
Es geht hieraus heryor, dass es sich um einen festen, in Wasser
loslichen, in Alkohol und Ather unloslichen Stoff handelt, der sich bei
34® verandert. Dies sind alles Eigenschaften, die dem Natriumsulfat
zukommen.
Ein Zufall im Zusammentreffen dieser Eennzeichen ist dadurch
ausgeschlossen, dass die gleichfalls, uur sparlicher, in der Luft yorhan-
dene Ursache, welche iibersattigte Magnesiumsulfatlosungen zum Er-
starren bringt, die entsprechenden, dem krystallisierten Magnesiumsulfat
zukommenden Eigenschaften besitzt. Insbesondere wird er nicht durch
eine niedrige Temperatur zerstort, sondern er bedarf dazu, ebenso wie
das Salz, einer Temperatur yon 108®.
>) Die mit Elebwachs verschlossenen Kolben wurden bald daraaf im Labo-
ratorium loftdicbt zugeschmolzen.
47*
736 ^' Chemische Dynamik.
Zum Schlusse yersaumt Violette nicbt, wieder auf die Anwendbarkeit
der iibersattigten Losungen als analytische Kennzeicbea von einer Fein-
heity welche die der Spektralanalyse iibertreffe, aufmerksam zu macheD.
Dieser Hinweis ist sehr wobl begriindet, und ist auch von alien spateren
Autoren iiber den Gegenstand wiederholt worden; indessen hat ihn
keiner ins Praktische zu iibersetzen yersucht.
134. Arbeiten von Gemea. Infolge eines Zusammentreffens, wie
solcbe in der Wissenscbaft nicbt selten sind, legte in derselben Sitzang
der Pariser Akademie D. Gernez^) eine Abbandlung vor, die zu genau
den gleicben Schliissen kam. Es warden folgende Tbatsacben bewiesen:
1. Die Krystallisation iibersattigter Glaubersalzlosungen
wird durcb das Hineinfallen eines festen Korpers bewirkt.
Denn die Krystallisation erfolgt um so schneller, je breiter der Quer-
schnitt der nacb oben freien Flache der Losung ist; in offenen Schalen
tritt die Krystallisation friiher ein, als in Kolben, und in diesen um
so spater, je enger der Kolbenhals ist Stellt man den Kolben schrag,
Oder bedient man sich einer Retorte mit abwarts gerichtetem Halse,
so tritt keine Krystallisation ein. Alle Hilfsmittel, welche Pasteur*)
angegeben hatte, um den Zutritt von organischen Keimen zu faulnis-
j^igen Fliissigkeiten zu verhindern, erweisen sich auch wirksam, um
die Krystallisation des Glaubersalzes auszuschliessen.
2. Der die Krystallisation hervorrufende Stoff ist in
Wasser loslicb. Nach sorgfaltigem Waschen mit Wasser konnten
1500 Liter Luft durch die iibersattigte Losung geleitet werden, ohne
dass sie krjstallisierte. Ebenso konnte eine Losung, die vorsichtig mit
Wasser iiberschichtet war, nicbt durch sonst aktive feste Korper zum
Erstarren gebracht werden, wenn diese zuerst durch die Wasserschicht
gefuhrt wurden. Ein kleiner hineingeworfener Krystall von Glaubersalz
loste sich zuerst beim Falle durch die Wasserschicht etwas auf; gelangte
aber noch ein Teil in die Losung, so bewirkte dieser gleichfalls sofoit
Krystallisation.
3. Die aktiven Korper yerlieren diese Eigenschaft durch
Erwarmen. Die Tbatsache ist bereits von Ziz festgestellt und yon
Lowel bestatigt worden.
4. Die Luft, welche Krystallisation bewirkt, enthalt Na-
triumsulfat. Dies wurde an dem Waschwasser aus dem Versuch 2
festgestellt, welches die Reaktionen auf Natrium und auf Schwefelsaure
^) Compt rend. 60, 833. 1865. Die ausfahrliche Abbandlung fiudet sich
gleicbzeitig mit der von Violette in den Ann. sc. de T^cole norm. sup. Z% 167, 1866.
«) Ann. cbim. pbys. (3) 44, 5. 1862. — Klassikcr Nr. 48.
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 737
gab; ebenso verhielt sich der wasserige Auszug von Staub, auch wenn
dieser ausserbalb des Laboratoriums gesammelt worden war.
Gernez hat dann 220 yerschiedene StofiEe darauf untersucht, ob sie
Glaubersalzlosungen zum Erstarren briDgen, und bat unter ihnen 39
wirksam gefiinden. Yon diesen waren 18 unloslich; diese verloren ihre
Eigenschaft beim Waschen mit Wasser und Trocknen unter Ausschluss
▼on Staub. Auch reagierte das Waschwasser auf Natrium und Schwefel-
saure. Die iibrigen loslicben Stoffe wurden umkrystallisiert und ver-
loren dadurch gleichfalls ihre Fabigkeit. Dies legt den Schluss nahe,
dasB sie alle geringe Mengen Glaubersalz enthalten batten, das durob
die Behandlung entfemt wurde.
Gernez zeigt dann, dass die Gegenwart des Glaubersalzes in der
gewohnlichen Luft nicbt unwahrscbeinlich ist, da das Natrium ungemein
verbreitet ist, und durch die Verbrennung der Steinkohle in den Stadteii
bestandig schweflige Saure gebildet wird, die in der Luft in Schwefel^
saure ubergeht So geniigt auch von der Laboratoriumsluft gewohnlich ein
Bruchteil eines Liters, um die Erystallisation zu bewirken, wenn man sie
in Blasen durch die Losung leitet; auf dem Lande dagegen konnen oft
60 bis 80 Liter durehgeleitet werden, bevor sich eine Wirkung zeigt.
Dies Ergebnis hat Gernez^) spater auch dadurch erhartet, dass
er aus dem Staub der Stadte durch Ausziehen mit Wasser Natrium-
sulfat in Krystallen herstellte. Durch die ausschliessliche Auwendung
▼on Geraten aus Platin hat er die in dem Nat^iumsulfatgehalt mancher
Glassorten liegende Fehlerquelle ausgeschlossen.
Auch Gernez verfehlt nicbt, zum Schluss auf die analytische Au-
wendung der Erscheinung zur Entdeckung geringster Stofimengen hin-
znweisen und erwahnt, dass er zu seinen Versuchen durch Pasteurs
Studien uber die sogenannte Generatio spontanea angeregt worden sei,
dessen Assistent hierbei er gewesen ist.
In einer zweiten Mitteilung*) beschreibt Gernez weitere Versuche,
zunachst solche mit Natriumacetat, das gleichfalls sehr leicht iiber-
sattigte Losungen bildet, aber im Gegensatz zum Glaubersalz nur scbwer
an der Luft krystallisiert. Auch erwies sich Staub, der an verschie-
denen Orten ausserbalb des Laboratoriums gesammelt worden war, un-
wirksam. Dagegen ist Ammoniumnitrat ungemein verbreitet, wohl noch
▼erbreiteter, als Glaubersalz.
Die Fabigkeit, iibersattigte Losungen zu geben, fand Gernez sehr
haufig; ausser den bekannten Salzen erwahnt er noch Natriumphosphat^
>) Compt rend. 61, 289. 1865.
*) Compt. rend. 60, 1027. 1865.
738 II* Ghemische Dynamik.
-borat, -hyposulfit, Kaliumarseniat, Ammoniumacetat, -nitrat, -ozalat
und -phosphat, ferner die Sulfate des Eisens, Ziuks, Kupfers uiid ihre
Doppelsalze mit Kaliumsulfat, Berylliumsulfat, Urannitraty Kupferchlorid,
Citronensaure und Kalium-Natriumtartat. Mehrere von ihnen wurden
in gleicher Weise wie Glaubersalz auf die Wirkung fremder Salze
untersucht, immer aber ergab sich, dass nur die eigenen Krystalle
wirksam waren, und wenn andere Salze sich wirksam zeigten, dies an
einer Verunreinigung mit dem entsprecbenden Salze lag.
135. Folemik. Die yon Violette, Gernez und ubereinstimmend auch
bald darauf von Lecocq de Boisbaudran (s. w. u.) entwickelte Anschau-
ung fiber die Erystallisation der iibersattigten LoBungen ist nicht ohne
Widerspruch geblieben. Auf einige Einwurfe antwortete Gernez^), in-
dem er die erforderlichen Vorsichtsmassregeln entwickelte, die man
beobachten muss, um Krystallstaubchen zu vermeiden. Sie haften, wenn
man mit dem Salze gearbeitet hat, an den Handen, in den Eleidem
und an allem Gerat, und verbreiten sich bei der geringsten Bewegnng.
Ist das Salz schwer in kaltem Wasser loslich, so wird es von den
Oberflachen, an denen es sich befindet, durch einfaches Abwaschen mit
Wasser nicht entfernt; ein Stab yon Eupfer oder Eisen, an dem Alaun
krystallisiert war, musste mit siedendem Wasser gewaschen werden,
oder einige Stunden in kaltem Wasser yerweilen, um inaktiy zu werden').
Ferner enthalten Stoffe, wie Alkohol und Ol immer Staub, und in
diesem auch oft Glaubersalz. Ist dies der Fall, so bringen sie eine
iibersattigte Losung zum Erstarren. Dem Ol, das diese Eigenschaft hat,
kann man sie durch Ausschiitteln mit Wasser nehmen.
Es ist daher nicht notig, auf die Einwande der Gegner naher
einzugehen, da sie sich zum Teil schon aus dem Friiheren erledigen,
zum Teil unmittelbar unrichtig sind. Die untenstehenden Nachweise
werden es dem Leser erleichtern, erforderlichenfalls jene Erorterungen
im einzelnen zu verfolgen^).
*) Compt rend. 61, 71. 1865.
*) Aus eigener Erfahmng, die ich machte, be?or ich diese Bemerkung kannte,
kann ich dies best&tigen. Eine Reibschale aus Achat, die sum Reiben eines Qe-
miaches von Qnarzpalver und Alaun gedient hatte, war hemach mehrmals dorcb
AusspUlen mit reinem Wasser und Trocknen mit Filtrierpapier gereinigt worden;
trotzdem teilte sie alien darin ?erriebenen Stoffen die Eigenschaft mit, eine dber-
s&ttigte AlaunlOsung zum Erystallisieren zu bringen, und verier sie erst nmck
wiederholter energischer Reinigung.
') Terrell, Compt. rend. 51, 506. 1860. — Gernez, Compt. rend. 61, 847.
1861. — Jeannel, Compt. rend. 61, 412. 1865 und 62, 37. 1866. — DubninfiaQt,
Compt. rend. 68, 916 und 1218. 1869. — Lecocq de Boisbaudran, Compt rend.
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 739
Insbesondere hat Tomlinson gegen die Theorie, dass die ELrystalli-
sation der ubersattigten Losungen nur durch Keime des gleichen oder
eines isomorphen Stoffes (S. 741) bowirkt wird, eine andere des luhaltes
aufgeetellt, dass ,,UDreine^' Oberflacben, insbesondere diinne Fettschichten,
dieee Wirkung baben, und hat sie in unzahligen Abhandlungen ^) immer
wieder verteidigt. Von verschiedenen Autoren wurde diese Ansicht als
irrig erwiesen, am ausfiihrlichsten von A. Liversidge '). Obwohl selbst
seine anfanglicben Gesinnungsgenossen, z. B. Mensbrugghe, sich von der
Unhaltbarkeit dieser ^Nucleus'*- Theorie iiberzeugen liessen, war dies
bei ihm selbst nie der Fall. Wegen der Breite, mit welcher diese An-
gelegenheit seinerzeit erortert worden ist, musste sie hier wenigstens
in einigeii Worten erwahnt werden. Eine ahnliche Arbeit, wie die von
Liversidge wurde etwas spater von J. G. GreenfelP) veroffentlicht. Die
Ergebnisse waren dieselben, so dass die Erwahnung geniigt.
136. Die Sohlussarbeit von Gemez. Einigermassen den Abschluss
seiner Arbeiten iiber iibersattigte Losungen bringt eine Mitteilung vou
Gernez^) aus dem Jabre 1875. Er spricht darin wiederholt den Unter-
schied zwischen den ubersattigteu Losungen, die freiwillig nicht er-
starren, sondern nur auf Beriihrung mit einem gleicbartigen Erjstall,
und denen aus, in denen auch eine Krystallisation durch Reiben, Er-
schiittem und dergleicben hervorgerufen werden kann. Und zwar schreibt
er diese Verscbiedenheit nicht etwa einem verschiedenen Ubersattigungs-
grade zu, sondern sieht sie als mit der Natur der gelosten Substanz
verkniipft an. Zur ersten Klasse rechnet er das Sulfat, Acetat und
Thiosulfat des Natriums, die Alaune, Calciumnitrat, Bleiacetat. „Die
anderen, wie salpetersaures und phosphorsaures Ammoniak, saures Ka-.
liumacetat, Ghlor- und Bromcalcium, Chlormagnesium, Chloralhydrat u. a.,
deren Losungen sich wie uberkaltete Schmelzen verhalten, krjstallisieren,
wenn man eingefuhrte harte Korper gegen einander reibf
Ferner wird hervorgehoben, dass die Uberkaltung solcher Losungen,
die in der Hitze gesattigt sind, nicht unter eine gewisse, von der Natur
e^ 1052 und 1329. 1869. — Margueritte, Compt. rend. 68, 1110 and 1329. 1869.
— Tomlinson and van der Mensbragghe, Compt rend. ^75, 254. 1872; aasf. Phil.
Mag. (4) 44, 223. 1872; Compt rend. 76, 45 and 874.' 1873. — Gemez, Compt
rend. 75, 1705. 1872; 76, 566. 1873. — Violette, Compt rend. 76, 171 und 713.
1873. — L. G. de Coppet, Compt rend. 76, 434. 1873.
*) Zusammengefasat Phil. Trans. 158 und 161.
«) Phil. Mag. 45, 67. 1873.
*) Proa Roy. Soc. 25, 124. 1876.
«) L'lnstitat 228. 1875.
740 11. ChemiBche Dynamik.
des Stoffes bestimmte Temperatur gelingt; doch hangt diese von dem
Grade der Obersattigung ab, was mil der obigen Einteilung einiger-
massen in Widerspruch steht.
Die Moglichkeit, dbersattigte Losungen herzustellen, ist sehr Ter-
breitet. Gernez zahlt 27 Salze auf, yon denen diese schon friiher be-
kannt war, und vergrossert die Liste auf liber 100 Stoffe. Da das Ver-
zeicbnis fur mancbe Zwecke niitzlicb sein kann, soil es bier wieder-
gegeben werden. Es sind Stoffe, von denen man leicht iibersattigte
Losungen herstellen kann.
Acetat von Ammonium, Baryum, Eadmium, Kobalt, Magnesium, Mangan,
Blei, Natrium, Strontium, Zink, saures Kaliumacetat.
Nitrat von Ammonium, Silber, Calcium, Kobalt, Kupfer, Mangan, Stron-
tium, Uran, Zink.
Nitrit von Blei, Kalium.
Arseniat von Kalium, Natrium.
Benzoat von Kalium, Ammonium.
Borat von Ammonium, Natrium.
Garbonat von Natrium.
Ghlorat von Silber, Baryum, Natrium, Strontium.
Chlorid von Antimon, Baryum, Kadmium, Kupfer, Magnesium, Mangan,
Eisen.
Nitrat von Ammonium, Kalium, Natrium.
Ghromat von Natrium; Kaliumbichromat
Formiat von Natrium, Strontium.
Hydrat von Baryum, Strontium, Chloral.
Tbiosulfat von Ammonium, Calcium, Natrium.
Hyposulfat von Natrium.
Molybdat von Ammonium.
Oxalat von Ammonium.
Phosphat von Ammonium, Natrium- Ammonium, Natrium; Natrium-
pyropbosphat.
Phosphit von Natrium.
Seleniat von Natrium.
Sulfat von Kobalt, Kupfer, Eisen, Beryllium, Magnesium, Nickel, Na-
trium, Zink; Ammonium-Eisen, Ammonium-Magnesium, KaIium*Nickel,
Zink-Magnesium; Kaliumbisulfat, Kalium-, Ammonium-, Thallium- und
Natrium-Alaun von Aluminium, Chrom und Eisen.
Sulfit von Natrium; Ammoniumbisulfit.
Sulfhydrid von Kalium, Natrium.
Sulfantimoniat von Natrium.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnang. 741
Tartrat von Ammonium, Natrium, Antimon-Kalium, Antimon-Ammonium,
Natrium-Ammonium, Natrium-Kalium, Natrium-Thallium.
Citronensaure, Paraweinsaure.
Mannit, Milchzucker, Rohrzucker.
AIs An wen dung der beobachteten Erscheinungen empfiehlt Gernez
die zur Hervorrufung von Krystallisation in syrupformigen Mutterlaugen
Oder „Schmieren^ Sind fertige Erystalle nicht vorhanden, so erhalt
man baufig welche, wenn man einen kleineu Teil der Masse auf mog-
Hcbst niedrige Temperatur abkiihlt. In anderen Fallen kann man sich
durcb isomorphe Krystalle helfen; so bracbte er das als unkrystallisier-
bar angesehene Magnesiumacetat durcb Einsaen von Baryumacetat zum
Krystallisieren.
137. Arbeiten von Leoooq de Boisbaudran. Zu ganz gleichen
allgemeinen Resultaten, wie die genannten beiden Forscher gelangte
etwas spater Lecocq de Boisbaudran ^), der einige neue und interessante
Tbatsachen den bekannten hinzufiigte. Insbesondere ermittelte er, dass
nicht nur Erystalle des gelosten Salzes die Cbersattigung aufbeben
konnen, sonderu auch isomorphe Krystalle. Indessen ist dazu unter
Umstanden ein hoherer Grad der Cbersattigung erforderlich, der ausser-
dem mit der Natur des isomorphen Erystalls verauderlich ist. So krys-
tallisierte eine iibersattigte Losung von Nickelsulfat bei der Beriihrung
mit Zinksulfat, nicht aber mit Ferrosulfat; als die Losung durcb Ver-
dunsten starker gemacht wurde, bracbte auch das letztere Salz die
Ausscheidung von Erystallen hervor. Auch ergab sich, dass aus der
iibersattigten Losung je nach der Form des beriihrenden Erystalls
verschiedene Formen des Nickelsulfats anschossen; so gab Eupfersulfat
(das triklin mit 5 Wasser krystallisiert) kurze, dicke Erystalle von
Nickelsulfat, wahrend Magnesiumsulfat oder gewohnliches Nickelsulfat
lange, feiue Nadeln gab').
Ferner wurde festgestellt^ dass nicht nur durch Erkalten heiss-
gesattigter Losungen sich iibersattigte Losungen erhalten lassen, sondern
auch durch andere Vorgange, wie das Zusammenbringen der Eompo-
iienten, aus denen sich der fragliche Stoff erst bildet, sowie durch
Verdunstenlassen ungesattigter Losungen unter Schutz gegen hinein-
>) Gompt. rend. 63, 95. 1866; aosftthrlich Ann. chim. phys. (4) 9, 173. 1866.
*) Gernez (Gompt. rend. 63, 843. 1866) fand gleichzeitig, dass eine fiber-
8&ttigte LOsuDg ?on traubensaurem Natriumammoniak beim Berdhren mit einem
Blrystall des recbtaweinsauren Salzes nur recbtes Salz aaskrystallisieren l&sst, and
Ehnlich beim Eins&en eines linken Erystalls; das recbte Salz ist nnwirksam gegen
eine nbers&ttigte LOsung dos linken, und umgekehrt.
742 n. Chemische Dynamik.
fallende Krystallisationskeime. Letztere Thatsache war indessen damals
nicht mehr neu, denn sie ist schon yon Lowel (S. 721) vielfach beob-
achtet worden. Allgemein wird man sagen konnen, dass alle Mittel,
welche zur Erzengang yon Losungen oder zur Vermehrung ihrer Kon-
zentration fuhren, auch iibersattigte Losungen ergeben, wenn man
Krystallkeime ausschliesst.
Wichtig ist eine Unterscheidung, welche hier klar auftritt £s
giebt iibersattigte Losungen, welche auch ohne das Hinzu-
treten yon Keimen freiwillig krystallisieren, und andere,
welche dies nur bei Gegenwart und unter dem Einflusse yon
Keimen thun. Und zwar sind die ersteren immer die starker iiber-
sattigten, so dass man aus Losungen, die freiwillig nie krjstallisieren,
sowohl durch Abkiihlen, wie durch Verdunsten solche erhalten kann,
die das thun. Der Grad der dauernden Ubersattigung ist demnach be-
grenzt, und diese Grenze ist je nach der Natur des gelosten Stoffes
sehr yerschieden.
In Berichtigung yerbreiteter Irrtiimer stellt Lecocq de Boisbaudran
ferner fest, dass die Fahigkeit, iibersattigte Losungen zu bilden» eine
allgemeine Eigenschaft der Salze (und aller loslichen Stoffe) ist, und
keineswegs, wie gelegentlich behauptet worden war, auf solche Salze
beschrankt, welche wasserhaltig krystallisieren.
Fiir die Bildung iibersattigter Losungen auf chemischem Wege
giebt Lecocq de Boisbaudran einige hiibsche Beispiele. So brachte er
im geschlossenen Raume Losungen yon Natron und Schwefelsaure zu-
sammen und erhielt iibersattigte Glaubersalzlosungen; ebenso stellte er
Alaunlosungen durch Zusammenbringen von Aluminiumsulfat- und Ka-
liumsulfatlosungen her. Wenn er sorgfaltig Krystallkeime ausgeschlossen
hatte, krystallisierten diese Losungen niemals, dagegen sofort, wenn ein
fertiger Krystall eingesat wurde.
138. Isomorphe Salze. Die oben angedeuteten Yerhaltnisse bei
isomorphen Salzen sind in der Folge^) yon Lecocq de Boisbaudran
sehr eingehend studiert worden, und haben zu interessanten Ergebnisaen
gefuhrt.
Die Thatsache, dass der Ubersattigungszustand einer Salslosimg
nicht nur durch Keime des yorhandenen Salzes, sondem auch durch
solche eines isomorphen Salzes aufgehoben werden kann, ist wohl
schon friiher yon Gernez erwahnt worden, doch yerdanken wir erst
Lecocq de Boisbaudran den Nachweis der grossen Mannigfaltigkeit der
*) Ann. chim. phys. (4) 18, 246. 1869.
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 743
bier auftretenden Verbaltnisse, and eine entsprechende Belehrung iiber
die relative Bestandigkeit und die gegenseitigen Umwaudlungen der
▼erschiedenen moglichen Formen.
Die UntersuchuDgen bezogen sicb auf die Salzgruppe, die man
unter dem Gattungsnamen der Yitriole zusammenfasst. Diese Sulfate
der zweiwertigen Scbwennetalle, denen sicb nocb Magnesiumsulfat an-
scbliesst, konnen je nacb Umstanden in fiinf yerscbiedenen Formen
krystallisieren, die sicb durcb ibr Krystallsystem and teilweise durcb
ibren Wassergebalt unterscbeiden. Und zwar giebt es folgende Formen:
1. Trikline mit 5 Wasser =s T5. Typus Kupfervitriol.
2. Monokline mit 6 Wasser = M 6. Typus Kobaltvitriol bei 50^.
3. Quadratiscbe mit 6 Wasser = Q6. Typus Nickelvitriol.
4. Monokline mit 7 Wasser = M 7. Typus Eisenvitriol.
5. Rbombiscbe mit 7 Wasser = R 7. Typus Zinkvitriol.
Der Kiirze wegen soUen in der Folge die yerscbiedenen Formen
mit den angegebenen Abkiirzungen T 5, M 6 u. s. w. bezeicbnet werden.
Die allgemeine Erscbeinung, die sicb berausstellte, ist die, dass
eine iibersattigte Losung eines der Yitriole im allgemeinen im stande
i8t» in jeder der genannten Formen zu krystallisieren, wenn man einen
beliebigen Krystall dieser Form einsat. Die yerscbiedenen Formen sind
aber yon verscbiedener Loslicbkeit, und demgemass yon yerscbiedener
Bestandigkeit. Die unbestandigste Form ist gleicbzeitig die loslicbste,
was in der Natur der Sacbe liegt Eine gegebene iibersattigte Losung
kann daber in Bezug auf eine oder einige der weniger loslicben Formen
ubersattigt sein, in Bezug auf andere loslicbere dagegen ungesattigt.
Dies zeigt sicb darin, dass die den ersteren entsprecbenden isomorpben
Krystalle beim Einsaen wacbsen, wabrend die anderen sicb auflosen.
Es tri£Ft im allgemeinen nicbt zu, dass man alle funf Formen an
einem und demselben Salz berstellen kann. Die Grenze ist dadurcb
gegeben, dass die Konzentrationen, fiir welcbe die Losung in Bezug
auf eine leicbtloslicbe Form gesattigt oder iibersattigt ware, bereits im
labilen Gebiete fiir ein weniger loslicbes Salz (das keineswegs das
schwerloslicbste zu sein braucbt) liegeu, so dass sicb deren Krystalle
freiwillig bilden, bevor die erforderlicbe Konzentration fur jene er-
reicbt wird.
Hat man in einer Losung Krystalle yon gewisser Form erzeugt,
und lasst solcbe yon grosserer Bestandigkeit oder geringerer Loslicbkeit
in derselben Losung entsteben, so zeigt sicb diese zunacbst in Be-
zag auf diese zweite Form iibersattigt und scbeidet gleicbgeformte
Krystalle aus. Dann aber werden aucb die yorbandenen Krystalle der
744 n. Chemische Dynamik.
loslicheren Form angegriffen und gehen in solche der bestandigeren,
gewohnlich unter Trubwerden, zuweilen unter Zerfallen, iiber. Auf solche
Weise kann man folgeweise eine Krystallart Ton der anderen auf-
zehren lassen, bis schliesslich die schwerstlosliche und bestandigste Tor-
handen ist.
Was die einzelnen Ergebnisse anlangt, so wurden zunacfast beim
Kupferyitriol die Formen Q6, M7 und T5 der Reihe nach erhalten,
indem Q6 die loslichste und unbestandigste, T5 die wenigstloslichste
und bestandigste Form ist; die letztere ist ja die, in der Kupfervitriol
fast allein bekannj; ist. Es ist bemerkenswert, dass die Reihenfolge der
Bestandigkeit keineswegs mit der Reihenfolge der Wassergehalte zu-
sammentrifft. Bei den mannigfaltigen Kreuzungen, die sich fiir die Los-
lichkeitskurven als Funktionen der Temperatur voraussehen lassen, ist
aber in der That eine Ubereinstimmung beider Reihen nicht zu er-
warten, da, wenn sie bei einer Temperatur vorhanden ist, sie bei anderen
nicht bestehen bleiben kann. Die Formen M6 und R7 waren nicht
zu erhalten.
Auf die eingehcnde Schilderung der Darstellung, des Verhaltens
und der Analyse der verschiedenen Formen, die mancherlei Interessantes
enthalt, kann hier nur verwiesen werden; nur mag die Angabe Erwah-
nung finden, dass eine freiwillige Umwandlung eines bestandigen Salzes
am sichersten dadurch vermieden werden kann, dass man es mit einer
Fltissigkeit in Beriihrung lasst, die es, wenn auch nur in gauz geringem
Masse, lost Man kann also die Mutterlauge abgiessen, wenn man an-
mittelbar nach dem Auskrystallisieren etwas Wasser zusetzt, und den
Rest durch verdiinnten Weingeist von allmahlich zunehmendem Gehalt
verdrangen.
Vom Eisenvitriol wurden die Formen T5, R7, M6, M7 in der
angegebenen Reihenfolge erhalten, wahrend Q6 nicht gewonnen werden
konnte. Kobaltvitriol gab R 7, M 6, M 7, Magnesiumsulfat Q 6, M 6, M 7,
R7, Zinksulfat dieselbe Reihe, Nickelvitriol M7, M6, Q6, R7. Wie
man sieht, folgen die verschiedenen Typen keineswegs immer in der-
selben Reihenfolge, so dass man nicht von bestandigeren oder weniger
bestandigeren Krystallformen der Yitriole im allgemeinen sprechen darf.
Dies lasst sich auch wegen des verschiedenen Einflusses der Temperatur
auf die Loslichkeit einsehen.
Wie Lecocq de Boisbaudran bemerkt, ist die Geschwindigkeit, mit
welcher verschiedene Formen aus derselben iibersattigten Losung aus-
krystallisieren, keineswegs parallel mit der Ordnung ihrer Bestandigkeit^
indem oft gerade das unbestandigere Salz schneller auskrystallisiert.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 745
Ebenso sind die Saize, die sich unter gegebenen Umstanden freiwillig
bilden, nicht immer die unter diesen Verhaltnissen bestandigsteu ^).
139. Gtomisohe zweier Vitriole. Wahrend es bei den reinen Sul-
faten in keinem Falle gelungen war, alle sieben Formen zu erhalten,
war dies bei Gemiscben zweier Sulfate allerdings moglich, indem ak
weitere Veranderliche das gegenseitige Verhaltnis der beiden Bestand-
teile dazukommt, welche die Umstande giinstig zu gestaiten gestattet.
Hat man zwei Salze, deren bestandigste Formen gleich sind, so
brauchen doch die weniger bestandigen nicht die gleiche Reihenfolge
zu haben. So haben Nickel- und Zinksulfat beide als bestandigste
Form bei Zimmertemperatur R7; darauf folgt aber beim Nickel Q6,
beim Zink M7. Fiir die Gemische beider Salze lasst sich daher er-
warten, dass sie gleichfalls als bestandigste Form R7 haben werden,
und dass die nachstbestandige fiir Erystalle mit vorwiegendem Nickel-
sulfat Q6, mit vorwiegendem Zinksulfat M7 sein wird, und dass es
ein zwischenliegendes Gemisch geben wird, bei dem beide Formen
gleichbestandig sind. Alle diese Schlusse konnten durch den Versuch
bestatigt werden; insbesondere war eine Losung, die auf einen Teil
Nickelsulfat 2-5 Teile Zinksulfat enthielt, von der Beschaffenheit, dass
sie gleich leicht M 7 und Q 6 gab, und dass die eine Form die andere
nicht umwandelte. Hier bemerkte der Autor indessen den Einfluss der
Temperatur auf das Gleichgewicht, indem durch eine geringe Anderung
derselben die relative Bestandigkeit beider Formen umgekehrt wurde.
Die gleiche Losung bedingt auch gleichzeitig fiir die Form M6
neben den beiden genannten eine nahezu gleiche Bestandigkeit, die
sich mit der Temperatur andert. Es scheint hier einen interessanten
Punkt zu geben, in welchem drei Loslichkeiten gleichzeitig identisch
werden.
Bei 13« bis 15« ist die Reihe M6, M7, Q6, R7 fiir dieselbe
Losung.
Ist die Reihenfolge der Formen die gleiche bei zwei reinen Salzen,
wie das fiir Zink- und Magnesiumsulfat zutrifift, so zeigen auch alle
Gemische dieselbe Reihenfolge.
Neue Verhaltnisse treten auf, wenn die bestandigen Formen zweier
Vitriole nicht die gleichen sind. Es lasst sich zunachst erwarten, dass
bei sehr unglelchen Verhaltnissen der beiden Bestandteile in den Ge-
mischen der iiberwiegende dem anderen seine Form „aufzwingen'* wird,
^) Dies geht bereits aus den von Ziz und sp&ter von LOwel beobachteten
I Thatsachen beim Natriamsulfat (S. 717) hervor.
746 n. Chemische Dynamik.
wie das auch stattfindet; die Bestaadigkeit der ubrigen Formen zeigt
aber sehr mannigfaltige Verhaltnisse.
Eupfer- and Eisenvitriolgemische, die weniger als ^/s des letzteren
enthalten, liefern leichter den Typus T5, als M7; beim Verhaltnis 5:2
werden beide Formen fast gleich leicht erhalten, und 2:1 ergiebt bei
16® voUiges Gleichgewicht. Bei 7:5 ist schon M7 bestandiger gewor-
den, and die Losong giebt iiberhaupt nur die beiden Formen M 7 and
Tby ist also formenarmer, als die zasammensetzenden reinen Sulfate.
Yon dem Verhaltnis 1 : 1 ab wird M 7 vorherrschend and bildet sich
freiwillig.
Es wird also durch yerhaltnismassig wenig Easenvitriol dessen Form
im Oemisch hervorgebracht, wahrend Tom Eapferyitriol erst ein grosser
Uberscbuss dessen Form erzwingt. Dies hangt damit zasammen, dass sich
M7 beim Eupfervitriol yerhaltnismassig leicht erzeugen lasst, wahrend
T5 beim Eisenvitriol sehr unbestandig ist
Umgekehrt ist in einem Gemische von Eupfer- and Zinksulfat das
erstere, welches im wesentlichen die Form bestimmt, da nar bei sehr
grossen Uberschiissen des Zinksulfats dessen Typus R7 sich bildet.
Ein Oemisch yon Eupfer- und Zinksulfat im Verhaltnis 7:5 giebt die
Formen R 7, Q 6, M 7, T 5 yon zunehmender Bestandigkeit; ebenso yer-
halt sich ein Gemisch aus gleichen Teilen, nur dass die Leichtigkeit in
der Bildung der yerschiededen Formen sich etwas yerschiebt. Die abge-
schiedenen Erystalle enthalten einen grossen Uberschuss an Eupfersalfat.
Ganz ahnlich yerhalten sich Gemische yon Eupfer- und Nickel-
sulfat; auch hier wirkt wesentlich das Eupfer formbestimmend. Ein
Teil Eupfer- auf 9 Teile Nickelsalz giebt die Reihe M6, M7, Q6, R7.
Das Verhaltnis 3 : 1 lasst samtliche sechs Formen in der Reihe M 6»
Q 6, T 5, M 7, R 7 gewinnen. Es ist dies auffallig, da keines der reinen
Sulfate (wenigstens bei Zimmertemperatur) die yollstandige Reihe giebt.
Dabei ist es sehr bemerkenswert, dass der unbestandigste Typus
M6 in sehr konzentrierten Losungen freiwillig entsteht; auch
T 5 entsteht freiwillig. M 7 und R 7 besitzen nahezu die gleiche Be-
standigkeit.
Wird die Eupfermenge in der Losung yermehrt, so dass das Ver*
haltnis Nickel : Eupfer = 2:1 wird, so kann man wieder alle funf For-
men erhalten, nur ist die Ordnung der Bestandigkeit der beiden letsten
Formen umgekehrt. Ausserdcm ist der Grad der Bestandigkeit der
yerschiedenen Formen fast derselbe geworden, und auf ihre Reihenfolge
hat nicht nur die Temperatur, sondern auch die absolute Eonzentration
der Losung einen erheblichen Einfluss.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnang. 747
Wird das Kupfersulfat im Oemische vorwiegend, so treten dessen
Formen in der ihnen zakommenden Ordnung auf.
Nickel- und Eisensulfat im Yerhaltnis 7*3:1 gaben.die Reihe M7,
M6, Q6, R7; im Yerhaltnis 7.0:29 Q6, M7, M7, R7. Bei etwas
weniger Nickel (3:2) ist die Ordnung der beiden letzten umgekehrt^
und yon 5:9 ab verhalten sich die Gemische wie reiner Eisenvitriol,
nur dass die Leicbtigkeit, die verschiedenen Formen zu erbalten, etwas
verscbieden ist
In seinen Schlussbemerkungen kommt Lecocq de Boisbaudran auf
die freiwillige Bildung einiger Formen zurUck, und betont, dass die
Neigung dazu namentlich den weniger symmetriscben Formen T5, M6'
und M7 zukommt, wahrend die quadratische Form Q6 und die rbom-
biscbe R7 diese Eigenscbaft nur undeutlicb oder garnicht zeigen; die
Natur des Salzes scbeint bier binter den krystallograpbiscben Eigen-
tiimlichkeiten zuriickzutreten. Ebenso lasst sicb allgemein aussprecben,
dass die Bestandigkeit der verscbiedenen Formen bei steigender Tem-
peratur in der folgenden Reibe wacbst, wesentlich unabbangig von der
chemiscben Natur des Sulfats: M6 und T5, Q6, R7, M7.
Beziiglicb des Umstandes, dass einige Gemiscbe die vollstandige
Formenreibe geben, wabrend diese .bei keinem reinen Salze beobacbtet
worden ist, wird bemerkt, dass die Bedingung, dass ein Gemiscb diese
Eigenscbaft zeigt, die ist, dass in seinen beiden Bestandteilen samtlicbe
Formen als moglicb vertreten sein miissen. Es findet ein fast additives
Zusammenwirken der beiderseitigen Formeigenscbaften statt, so dass man
mit einiger Sicberbeit aus den Eigenscbaften der Bestandteile und ibren
Gewicbtsverbaltnisscn die der Gemiscbe voraussagen kann. So sind die
Verhaltnisse beim Kupfer-Nickelvitriol das Ergebnis folgender Form*
eigentiimlicbkeiten der Bestandteile:
Eupferritriol
Typus
Nikelvitriol
Sehr kraftig
T5
Null
Ziemlich stark
M7
Ziemlich schwach
Ziemlich schwach
Q6
Ziemlich stark
Null
R7
Stark
Null
M6
Mittelstark
Eine Bestatigung der Ergebnisse von Lecocq de Boisbaudran wurde
durch die Versucbe von J. M. Thomson*) erbracbt. Indem dieser unter
besonderen Vorsicbtsmassregeln iibersattige Losungen von Magnesium-
sulfat mit krystailisierten Salzen zusammenbrachte, konnte er feststellen,
») Zeitschr. f. Kryst. 6, 94. 1881.
748 ^I- Chemische Dynamik.
dass nur die im strengen Sinne mit einer aus der Losung moglichen
Form isomorphen Stofife Ausscheidung bewirken. So ergab mit einer
iibersattigten Losung von Magnesiumsulfat Zink- und Nickelsulfat mit
7H»0 sofort Ausscheidung, CoSO*, 7H«0; FeSO*, 7H»0 und NiS0*,6H«0
bewirkten die Ausscheidung nach einiger Zeit, wafarend Kalium-Magne-
siumsulfat, Glaubersalz, Natriumthiosulfat und Eochsalz ohne Wir-
kung waren.
Ahnlich verhielt sich Natriumsulfat- und Alaunlosung; insbesondere
waren die regularen Krystalle des Cfalornatriums und des Magneteisen-
steins ohne Wirkung, so dass die krystallographische Ubereinstimmung
der Form nicht geniigt, urn die Auf losung zu bewirken; vielmehr ge-
hort dazu wirkliche Isomorphic, d. h. die Fahigkeit, Mischkrystaile und
regelmassige Uberwachsungen zu bilden.
Ameisensaures und valeriansaures Natron, die mit IH'O krystalli-
sieren, waren auf eine iibersattigte Losung des Natriumacetats (das mit
3H'0 krystallisiert) ohne Wirkung. Wenn also cine mit den erstge-
nannten Salzen isomorphe Form des Natriumacetats mit IH'O besteht,
so ist sie so loslich, dass die in Bozug auf das gewohnliche Salz iiber-
sattigten Losungen in Bezug auf dieses noch weit von der Sattigung
entfernt sind.
140. Weiteres uber das Verhalten isomorpher Salae. Beziiglich
des Yerhaltens einer Losung zu einem isomorphen Salze schilderte
Lecocq de Boisbaudran ^) einige auffallende Erscheinungen, die noch
der Nachpriifung und Deutung bediirfen. Es wurde ein Oktaeder Yon
Chromalaun mit einer Schicht von Aluminium- Ammoniakalaun iiberzogen
und in eine Losung des letzteren gebracht, die schwach alkalisch ge*
macht worden war, um Wiirfel an Stelle der Oktaeder zu geben. Durch
geringe Zusatze von Wasser oder Temperaturerhohung liess man eine
schwache losende Wirkung erfolgen; dadurch loste sich der Oberzug in
Wiirfelflachen auf, und das Chromalaunoktaeder wurde langsam ent-
blosst. Dieses loste sich nun aber nicht auf, sondern behielt seine
Flachen glanzend bei.
AIs umgekehrt wieder ein Wachstum des Ammoniakalauns bowirkt
wurde, wuchsen nur die stehengebliebenen Reste desselben Alauns weiter,
und die Flachen des Chromalauns blieben ohne Anderung.
Der Versuch gelingt nicht, wenn man eine gewohnliche, sauer rea-
gicrende Losung von Ammoniakalaun anwendet; in diescr lost sich der
Chromalaun auf, auch wenn sie in bezug auf den Ammoniakalaun Uber-
silttigt ist.
') Compt. rend. 80, 888. 1875.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 749
Als grosse Flachen des Chromalauns freigelegt waren, so wuchs
allerdings spater Ammoniakalaun darauf, aber nicht wie auf einem iso-
morphen Erystall, sondem wie auf einem fremden Eorper.
In einer bald darauf erfolgenden Mitteilung^) erganzt Gernez
seine Beobachtungen dahin, dass auch die yerschiedenen Flachen eines
und desselben Krystalles yon verschiedener Loslicbkeit sein konnen. Ein
Krystall von Ammoniakalaun, der keine Wiirfelflachen trug, wurde in
eine basische, sehr schwach iibersattigte Losung desselben Salzes ge«-
bracht. Es zeigte sich, dass er allerdings wuchs, aber nur durch Ab-
lagerung an den Oktaederflachen; seine Dicke nach den Wiirfelflachen
blieb genau dieselbe, wahrend deren Ausdehnung bedeutend zugenommen
batte. Somit war die Losung bezuglich der Oktaederflachen iibersattigt,
beziiglich der Wiirfelflachen nicht.
Dies erklart auch die Ausheilung verletzter Krystalle: den kiinst-
lichen Bruchflachen gegeniiber ist eine Losung stark iibersattigt, die es
kaum Oder garnicht den gewohnlichen Flachen gegeniiber ist. Alsdann
heilt der Krystall aus, ohne dass sich Substanz an den unverletzten
Flachen anlagert.
Gernez versucht, dies Verhalten auf ein allgemeines Prinzip zuriick-
zufiihren, indem er ausspricht, dass jeder Krystall die Gestalt annimmti
fur welche die Substanzmenge, die einer Veranderung unterliegt, ein
Minimum ist. Indessen handelt es sich hier nicht um die Stoffmenge,
sondem um die Grosse der Oberflache, und der Krystall nimmt die
Gestalt an, fiir welche bei gegebener Stofi&nenge die Oberflachenenergie
ein Minimum ist (vgl. I, 939). Nimmt man indessen die Thatsache
hinzu, dass diese Oberflachenenergie eine Funktion sowohl der Natur
der krystallographischen Flache, wie der Beschaffenheit der Losung ist,
so kann auch der Satz bestehen bleiben, dass eine gegebene Losung fur
gewisse Flachen iibersattigt sein kann, wahrend sie fiir andere es nicht
ist; erstere sind notwendig die Flachen mit grosserer Oberflachenenergie.
Denn die Tendenz der letzteren, sich unter Yergrosserung der anderen
za verkleinem, erfordert notwendig eine solche Beziehung.
Ist die Losung sehr stark iibersattigt^ so andem sich die Verhalt-
nisse; es entstehen beim Einsaen auch aus der basischen Losung klare
oktaedrische Krystalle. Verdiinnt man nun dieselbe Losung, bis sie nur
schwach iibersattigt ist, so wachsen dieselben Oktaeder dergestalt weiter,
dass sich die Wiirfelflachen entwickeln.
Den Darlegungen von Gernez gegeniiber machte Pfaundler') die
damals im Schwange stehenden kinetischen Betrachtungen geltend, nach
*) Compt. rend. 80, 1007. 1875. ») Wien. Ak. Ber. 72, 61. 1875.
Ostwald, Chemie. 11,2. 2.Aufl. 48
750 ^* Chemiflcho Dynamik.
denen zwischen den Molekeln des Krysialls und denen der Losung ein
stetiger Austausch angenommen wird» and Gleichgewicht eintritt, wenn
die Zahl der ausfahrenden Molekeln der Zabl der haftenbleibenden
gleich geworden ist. Die relative Bestandigkeit der Flachen wird daraaf
eariickgefuhrt, ob sie fur den Stoss der Molekeln giinstig beschaffen sind,
Oder nicht Wodurch dies bedingt ist, oder woran diese giinstige Be*-
schaffenheit sonst erkannt werden soil, als eben an der Thatsache ihrer
Bildung oder ihres Wachsens, bleibt ungesagt» und so zeigt sich auch
in diesem Falle die kinetiscbe y^Erklarung"' als eine Scheinerklarung,
welche die Kausalkette um kein haltbares Glied verlangert.
Gernez^) seinerseits fand die Auffassung Pfaundlers deshalb un-
geniigend, weil sie nicht mit den yon ihm beobacbteten Thatsachen in
Ubereinstimmung stebt. Aus diesen gebt hervor, dass eine Krystall-
flache bei messbaren Unterschieden der Konzentration unyerandert
bleiben kann, wahrend nach der Tbeorie des bestandigen Austauscbee
dies nicht moglich sein soUte.
Ferner macht Gernez geltend, dass ein isomorpber Krystall anf
eine scbwach iibersattigte Lojsung obne Wirkung bleiben kann (S. 748),
wahrend sie fQr einen Krystall des eigenen Salzes sich iibersattigt zeigt.
Fande der angenommene Austausoh statt, so miisste sich die Oberflache
des isomorphen Krystalls bald in das Salz der Losung yerwandeln, und
dann miisste er wachsen, als wenn er ganz aus diesem Salze bestande*
Die Erystallflachen zeigen eine Art Tragheit gegen kleine ilnde-
rungen der Konzentration, die der Tbeorie des Austausches widerspriohi;
verletzte Krystalle beilen sich nicht auf Kosten ihrer eigenen Subatans
aus, wie es nach Pfaundler sein miisste, sondem den Versuchen gemass
auf Kosten der Losung.
Hiergegen fuhrte Pfaundler') einige Yersuche an, welche seigea,
dass allerdings Krystalle an iibersattigte Losungen isomorpber Salie
Stoff abgeben, also sich darin losen. Die yon Lecocq de Boisbaudraa
angegebene Tragheit der Krystallflachen gegen geringe Anderungen der
Konzentration glaubt er gleichfalls mit der kinetischen Hypothese ver^
einigen zu konnen. Auch fuhrt er fiir seine Hypothese die Thatsache an,
dass ein feines Krystallpulver unter seiner gesattigten Losung bald in
ein Haufwerk groberer Krystalle yerwandelt, und giebt eine Re<diniiDg
dazu, nach welcher dies nicht aus etwaigen Temperaturscbwankiuigeii
zu erklaren ist.
») Compt. rend. 80, 1450. 1875.
«) Wien. Ak. Ber. 72, 707. 1876.
Ghemische Qleichgewichte zweiter Ordnung. 751
Die gauze Diskussion blieb wenig fruchtbar, weil der richtige Gte-
sichtspunkt zur Sache, die RoIIe der Oberfiachenenergie, nicht gefunden
wnrde. Auch zeigte sich wieder, dass die kinetische ADSchaaung
zwar in einer gewissen groben Weise sich mit den Thatsachen in
Ubereinstimmung bringen lasst, jedes tiefere Eindringen aber 9,wegen
nnserer Unkenntnis fiber das Wirkungsgesetz der Molekularkrafte^ ver-
hindert.
141. Freiwillige Krystallisatlon in tlbersftttigten Ldsungen. Die
Yon den friiheren Forschem nur gestreifte Frage nach der unteren
Grenze der Ubersattigung, d. h. nach dem Eintritt des Zustandes, bei
welchem der feste Eorper freiwillig auskrystallisiert, ist von de Coppet^)
etwas eingehender studiert worden, wenn auch die Ergebnisse nicht die
hier auftretenden Fragen erledigen konnen. Es warden Losungen ver-
schiedenen Oehaltes von Olaubersalz in Rohren eingeschlossen und lang-
sam erniedrigten Temperataren ausgesetzt, wobei fiir das erste Auftreten
Ton Erjrstallen die Temperatnr des Bades aufgezeichnet wurde. Die Er-
gebnisse sind folgende.
In Losungen, die 35 Teile wasserfreien Salzes auf 100 Teile Wasser
enthielten, fand stets eine Erystallisation des Salzes mit 7 Wasser bei
Temperataren zwischen 0^ and + 14® statt; eine einzige Rohre blieb
bei 0® klar, doch war ihr Inhalt bei einem friiheren Versuche bei
4- 0*95® erstarrt. Der Gehalt entspricht einer Sattigung mit dem Salze
Na»S0 + 7H«0 bei 133^
Eine Rohre mit 30 ^/^ Salz, entsprechend einer Sattigung bei 10^
krystallisierte bei — 4-35 •.
In Losungen yon 25 ^/^ erschienen dieselben Kiystalle bei — 6*5
bis — 9.8^ von 20«/o bei —104 bis — 11-50.
Das allgemeine Ergebnis ist demnach, dass die freiwillige Aus-
scheidung des Salzes bei um so niedrigeren Temperaturen eintritt, je
Terdiinnter die Losung ist. In grober Annaherung ist der Temperatnr-
onterschied zwischen der Sattigung und der freiwilligen Erystallisation
konstant und betragt etwa 12^; in einzelnen Fallen ist er indessen auf
7* heruntergegangen. Da selbst bei einer und derselben Probe 'bei
wiederholten Versuchen Unterschiede von mehreren Graden beziiglich
des Erscheinens der ersten Erystalle auftreten, so ist es nicht moglich,
die Frage zu entscheiden, ob es sich hier um eine bestimmte Beziehung
Oder nur eine Annaherung handelt. Ein anderer storender Einfluss ist
verschiedene Grosse der Versuchsrohren; es hat sich allgemein ge-
') BaU. Soc. Chim. 17, 146. 1872.
48*
752 n* Chemische Dynamik.
zeigt, dass in grosseren Rohren der Fliissigkeit eher krystaUisiert, ah
in engeren^).
Bezuglich der Erystallisation des gewohnlichen Glaubersalzes fand
de Coppety dass im Gegensatz zu den Angaben alterer Forscher eine
Temperatur von — 8® nicht erforderlich ist, um die Krystallisation
hervorzurufen. Vielmehr tritt diese unter noch unbekannten Umstanden
auch beim Ausschluss von ausserhalb kommender Keime bei viel hoheren
Temperaturen ein. Es ergaben sich Erystallisationstemperaturen zwischen
-{-6^ und — 13^, bei etwas yerdiinnteren Losungen (25 bis 35 Teile
wasserfreies Salz auf 100 Wasser) konnte bis — 16® herabgegangen
werden. Die Gegenwart des Heptahydrats hat auf die freiwillige Krys-
tallisation des Dekabydrats keinen merklichen Einfluss. Dagegen schien
die Erystallisation in konzentrierteren Losungen um so leichter einzu-
treten, je schneller die Abkiihlung ausgefuhrt wurde.
In einer spateren Abhandlung') hat de Coppet die Erscheinungen
der freiwilligen Erystallisation im Sinne der damals allgemein ange-
nommenen kinetischcn Hypothese gedoutet, indem er den Satz aufstellte,
dass zur Bildung des fasten Salzes ein giinstiges Zusammentreffen der
erforderlichen Molekeln notig sei, und dass dieses Zusammentreffen am
80 eher eintrete, je weiter der Stoff vom Sattigungspunkt sich im Sinne
einer Oberschreitung entfernt hat. Daraus folge insbesondere, dass «ine
gegebene Losung bei bestimmter Temperatur um so schneller er-
starren wird, je grosser ihre Menge ist, denn die Moglichkeit der
giinstigen Zusammenstosse nehme proportional der Menge zu.
Dieser letztere Satz fand sich sowohl an den Versuchen mit Natrium-
sulfaty sowie an anderen mit Natriumbromid bestatigt, von dem er bei
30® gesattigte Losungen in Gefasse von verschiedener Grosse einschloss
und bei Temperaturen zwischen 7® und 13® beobachtete. Warden die
Zeiten, wahrend welcher die verschiedenen Losungen sich iibersattigt
hielten, fiir die grossen und die kleinen Mengen gesondert zusammen-
gerechnet, so ergab sich durchschnittlich fiir jedes Gramm Losung eine
Lebensdauer von 461 Tagen in den kleinen Gefassen, und yon 421 Tagen
in den grossen. Eine andere Anordnung der Rechnung ergab die noch
naher stehenden Zahlen 271 und 274, denen allerdings die anderen
1557 und 913 gegeniiberstehen. De Coppet meint selbst, dass seine
Versuche nicht zahlreich genug seien, um die erwartete Beziehung mit
^) Die Bemerkung, dass grosse Mengen (Ibers&ttigter L6sung leichter krystalli*
sieren, als kleine, ist schon yon Frankenheim gemacht wordeo.
«) Ann. Chim. Phys. (5) 6, 275. 1875.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnang. 753
Sicberheit nachzuweisen; indessen sei doch die kiirzere Dauer der
grosseren Mengen gegeniiber den kleiDeren anverkennbar.
So geniigeiid diese Auffassung auf den ersten Blick aussiebt (und
aucb von mir in den fruberen Auflagen dieses Bucbes angesebon worden
ist), so bat sie docb einen bedenklicben Punkt. Nacb ibr diirften dauernd
iibersattigte Losnngen (oder dauernd iiberkaltete Scbmelzen), iiberbanpt
nicbt moglicb sein, da niemals die Moglicbkeit eines giinstigen Zu-
sammentreffens der erforderlicben Molekeln ausgescblossen werden kann.
Dies widerstreitet aber der Erfabrung, soweit sie gegangen ist, denn
Violette giebt an, dass er solcbe Losnngen iiber eine Reibe von Jabren
anfbewabrt bat, obne dass sie krystallisierten.
Nun kann man freilicb einwenden, dass ein solches Zusammentreffen
unter den gegebenen Umstanden eben so unwabrscbeinlicb geworden ist,
dass es aucb in Jabren nicbt stattzufinden braucbt; aucb deutet de Goppet
in der Tbat eine derartige Auffassung an. Es ist aber die Haufigkeit
der Zusammenstosse eine Funktion einerseits der raumlicben Dicbte der
Molekeb, andererseits der Gescbwindigkeit ibrer Bewegungen. Man
kann eine Losung nun durcb sebr geringe Anderungen der Temperatur
und Eonzentration aus Umstanden, unter denen sie sebr bald freiwillig
krystallisiert, in solcbe bringen, unter denen die freiwillige Krystalli-
sation in absebbarer Zeit iiberbanpt nicbt stattfindet, wabrend die aus
den genannten Orossen abzuleitende Wabrscbeinlicbkeit der Zusammen-
stosse sicb nur um einen kleinen Bmcbteil geandert bat.
Ein fernerer Widersprucb liegt in der sebr eigensinnigen Bescbaffen-
beit der Erscbeinungen beziiglicb der individuellen Natur der Stoffe.
Man findet sebr abnlicbe, von denen der eine sebr leicbt, der andere
sebr scbwer iibersattigte Losnngen bildet. So soUte man erwarten, dass
die Kaliumyerbindungen mit ibrem grosseren Molekulargewicbt und ent-
sprecbend der kinetiscben Hypotbese langsameren Bewegungen sicb
leicbter soUten iibersattigen lassen, als die Natriumsalze mit ibrem
kleineren Molekulargewicht und demnacb scbnelleren Bewegungen. Da-
gegen ist allgemein bekannt, dass das Oegenteil stattfindet. Scbwer-
loslicbe Salze, in deren Losnngen viel seltener ein ,,Zusammenstossen^
der Molekeln anzunebmen ist, sollten viel leicbter iibersattigte Losungen
geben, als leicbtloslicbe mit grosser Konzentration der Molekeln. Aucb
in dieser Beziebung ist bekannt, dass oft genug das Oegenteil statt-
findet, indem die Obersattigungserscbeinungen gerade bei leicbtloslicben
Salzen liberaus baufig sind, und viele scbwerloslicbe sicb erbeblicberen
Cbersattigungen widersetzen. Will man diesen Einwiirfen dadurcb ent^
gehen, dass man auf die besondere Natur der Stoffe, die aucb ein ganz
754 ^' Chemische Dynamik.
beeonderes Zusammentreffen der Molekeln erforderot hinweisti so gesteht
man damit eben zu, dass die beigebrachte MErklarung*' eben das nicht
leisten kann, wozu sie aufgestellt ist, sondern die EageDtumlichkeiten
der ErscheiDungen doch wieder auf unbekannte Ursachen zuriickgeschoben
werden miissen.
Was die aus der kinetiscben Hypothese abgeleitete grossere Wahr-
scheinlichkeit des Erstarrens grosserer LosungsmeDgen anlangt, die an
der Erfahnmg eine Bestatigung gefunden hat, so lehrt eine naheliegeode
tJberleguDg, dass es zu einem solchen Scblusse der kinetiscben Hypo-
these nicht bedarf. Erfahrungsmassig geht die Erstarrung immer yon
einem einzigen Punkte aus, und welches auch die Ursachen seien, durch
welche die Erstarrung bewirkt wird, so wird man sie zunehmend mit
der Menge der Fliissigkeit setzen konnen; denn macht sie sich in irgend
einem Teile einer zusammenhangenden Fliissigkeit geltend, so teilt sie
sich der gesamten Fliissigkeit mit, wahrend sie, wenn die gleiche Menge
in getrennte Gefasse verteilt gewesen ware, sich auf das GelEass be-
schrankt hatte, in welchem der erste Eeim entstanden war.
142. Die untere Grenze der Eeime. Wahrend die Beobachtungen
Ton Yiolette und Gernez zwar unzweifelhaft gemacht batten, dass iiber-
aus geringe Mengen des festen Stoffes Keimwirkung auf iibersattigte
Losungen auszuuben vermogen, hatte keiner Ton diesen und den nach-
folgenden Forschern versucht, die Grosse dieser Eeime zu bestimmen.
Im Anschlusse an die entsprechende Aufgabe im Falle der iiberkalteten
Schmelzen (S. 383) hat W. Ostwald ^) ahnliche Bestimmungen fiir iiber-
sattigte Losungen ausgefiihrt, und ist dabei zu ganz entsprechenden
Ergebnissen gelangt.
Die moisten Versuche wurden mit Natriumchlorat angestellt
Die in der Siedehitze gesattigte Natriumchloratlosnng ist bei ge-
wohnlicher Temperatur bereits im labilen Zustande, denn sie setzt aach
im zugeschmolzenen Rohre eine Erystallisation des wasserfreien Salzes
ab. Eine Losung aus 107 Ghlorat auf 100 Wasser halt sich dagegen
bei Zimmertemperatur beliebig lange, und kann gut zu den Versuchen
dienen. Mit dieser ergab sich, dass beim Verdiinnen mit Quarz (TergL
S. 385) die Wirksamkeit sich zwischen den Verreibungen D5 und D6
yerlor. Das durchschnittliche Gewicht eines Chloratteilchens in den
Verreibungen betrug daher 10'^ g oder ein Milliontel Milligramm, da
die zu einer Probe genommene Menge zwischen 0*1 und 1 mg schwankie.
Ebenso gross ist daher auch die auf diesem Wege noch erkennbare Menge.
^) Zeitschr. f. phys. Chemie 22, 289. .1897.
Ghemische Oleichgewichte zweiter Ordnang. 755
Da, wie bemerkt, beim Abdampfen einer beliebig yerdlinnten Losung
von Natriumchlorat notwendig ein labiler Zustand in Bezug auf das
feste Salz erreicht wird, dieses sich also jedenfalls ausscheiden wird^
wenn es unter den vorhandenen Umstanden in fester Gestalt bestehen
kann, so war ein anderer, bequemerer Weg moglich, die nntere Grenze
hierfur kennen zu lernen. Man brauchte nur von einer Losung des
Salzes kleine Mengen zu verdampfen nnd den Rtickstand zu priifen, nm
bei stofenweiser Verdiinnung der Losung zu der gesuchten Grenze zu
gelangen.
Die Versuche wurden zuerst so angestellt, dass ein schmaler Platin-
spatel, der durch Breithammern eines an einer Glasrohre angescbmol-
zenen Platindrahtes erhalten worden war, mit der fraglicben Losung
benetzt, vorsichtig in der Nahe einer Flamme getrocknet und dann in
den unter dem Mikroskop liegenden Tropfen der iibersattigten Losung
gebracht wurde. War festes Salz am Spatel, so liess sich bald das
Weiterwachsen der an sich nicht erkennbaren Erystalle beobachten.
Eine noch empfindlichere Reaktion ist die Entstehung unzahliger kleiner
Krystalle beim Reiben des Spatels auf der Glasflache des Objekttragers,
doch verlangt diese Methode grosse Vorsicht.
Auf diese Weise fand sich, dass eine Losung, die 0*001 Natrium-
chlorat enthielt, noch voUig sicher bei jedem einzelnen Yersuch wirkte,
eine zehnmal so verdiinnte, mit 0*0001 Chlorat bei vielen Yersuchen
Krystallisation ergab, eine viermal verdiinntere aber keine Reaktion
mehr erkennen liess. Der Spatel war bei diesen Yersuchen blank po-
liert» und das Gewicht einer Benetzung betrug 0*06 mg. Daraus folgt,
dass unter den beschriebenen Umstanden eine Menge von etwas weniger
als lO^^g Natriumchlorat erkennbar war.
Diese Menge kann indessen noch merklich verkleinert werden.
Um das Trocknen vorsichtiger ausfuhren, und zu diesem Zweck das
Verschwinden der Fliissigkeit auf der Oberflache des Spatels besser
erkennen zu konnen, wurde dieser platiniert und ausgegliiht, wodurch
er eine mattgraue Farbe erhielt. Die unerwartete Folge dieser Ande-
rang war, dass die Empfindlichkeit der Reaktion bedeutend erhoht
wurde; die zweifelhafte Losung von 0*0001 reagierte nun iiberaus deut-
lich, and schliesslich fand sich in der Yerdunnung von 0*000001 die
Grenze, welche den Spatel gleich oft steril liess und wirksam machte.
Die auf diese Weise zu beobachtende kleinste Menge von Natrium-
chlorat betragt somit etwa lO^^^g oder ein Zehnmilliontel Milligramm.
Dies triiSt recht nahe mit der durch Yerreiben mit Quarz gefundenen
Grenze von 10""* zusammen.
756 II* Chemische Dynamik.
143. Die yyKultarmethode**. Die Unsicherheit, welche bei den
mikroskopischen Versachen darin Itig, dass der Tropfen an der freien
Luft sowobl einer bestandigen Verdonstung, wie aucb der Infektion
durch Staubkeime aosgesetzt war, gab Veranlassung zu der AoBbildung
eines anderen Verfahrens. Hierfiir bot sich in Nachahmong der bak-
teriologischen Technik ein makroskopiscbes „KalturYerfabren^' dar, wel-
ches Sicberheit mit Bequemlicbkeit in hohem Masse vereinigt
Das Verfahren besteht darin, dass man die iibersattigte Losung
in kleine Proberobrchen bringt, die, mit Gummistopfen yerschlossen,
beliebig lange anfbewahrt bleiben konnen, das zu priifende Objekt
bineinbringt und nach einiger Zeit, die nach der Beschafifenheit des
gelosten Stoffes von einigen Minuten sich bis zu Stunden ausdehnt, das
Yorhandensein oder die Abwesenheit von ausgeschiedenen Krystallen
feststellt Man ermittelt auf diese Weise nicht nur das Yorhandensein
der Eeime, sondern erlaugt auch eine annabernde Scbatzung ihrer
Anzahl.
Die Einzelheiten des Yerfabrens sind folgende. Durch einige vor-
laufige Yersuche ermittelt man die Konzentration, in welcber die Losung
bei gewobnlicher Temperatur zwar iibersattigt, aber noch nicht labil
ist; sie wird in der Folge bei den untersuchten Salzen immer ange-
geben werden. Die heisse Losung wird mittels einer Pipette in die
Proberobrchen iibertragen, wobei man eine Benetzung des oberen Kandes
sorgsam vermeiden muss. Dies geschieht leichter, wenn man das untere
Rohr der Pipette ziemlich schmal nimmt, und es nahe an der Miindung
mit drei oder yier Olastropfen versieht, die warzenformig yorstehen
und die Spitze yon der Wand des Proberohrchens fernhalten. Da beim
Einfullen wegen der Yerdunstung der warmen Losung sebr oft Krystalle
auftreten, bringt man die gefullten, offenen Rohrchen mit Hilfe eines
metallenen Tragers in ein Bad mit siedendem Wasser, um alle ent-
standenen Krystalle in Losung zu bringen und die Fliissigkeit so zu
„sterilisieren*'. Dazu dienen Trager, die die gleichzeitige Bebandlung
einer grosseren Anzabl Rohrchen gestatten. Die aus dem Wasserbade
genommenen Rohrchen werden alsbald mit dem Gummipfropfen yer-
scblossen und sind nach dem Abkiihlen, das man erforderlichen Fallas
durch Einsetzen des Tragers in kaltes Wasser beschleunigen kann, ge-
brauchsfertig.
Zum Arbeiten dient ein Brettchen, das mit Lochern yon der Weite
der Proberobrchen yersehen, und in schrager Lage unter 45^ gegen
den Horizont aufgestellt ist In solcher Lage kann man die Rohroheo
tagelang oSen stehen lasscn, ohne Infektion befiirchten zu musseot da
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 757
der hineinfallende Staub in der Nahe der Miindang liegen bleibt
Freilich muss man bei der Benutzung eines solchen Rohrcbens Sorge
tragen, dass von diesem Telle keine Infektion ausgeht; sie macbt sicb
dadurch kenntlich, dass die Krystalle an der Oberflache entsteben, nnd
nicht von den eingebrachten Proben aus.
Um die Probe hineinzubringen, o£Eh6t man das Rohrchen, wahrend
man es schrag halt, and lasst die mit einem sterilisierten Platinspatel-
chen geschopfte Probe unter momentanem Aufrichten unmittelbar in
die Losung fallen. Dann wird das Rohrchen yerschlossen und in fast
wagerechter Lage schnell bin and her gedreht, um die Probe zu ver-
teilen; schliessiich wird es ruhig hingelegt
Nach einigen Minuten bis za mehreren Tagen — die Zeit kann beliebig
ausgedehnt werden — beobachtet man das Rohrchen wieder, und kann
meist ohne Schwierigkeit erkennen, ob Krystalle aufgetreten sind oder
nicht, und im ersten Falle auch die Erystallisationsmittelpunkte und
damit die der vorhanden gewesenen Keime annahemd zahlen. Letzteres
ist natiirlich nur moglich, wenn nur wenige Keime vorhanden sind;
handelt es sich um mehr als zehn oder zwanzig, so erhalt man meist
zusammenhangende Drusen, und kann schon sehr bald nach dem Ein-
saen das Eintreten reichlicher Erystallisation beobachten.
Sind die Keime sehr wenig zahlreich und gleichzeitig sehr klein,
so kann es oft ziemlich lange dauern, bis eine deutliche Krystallisation
vorhanden ist Ein sehr kleines Krystallfragment wachst immer viel
langsamer als ein grosseres, und erst, wenn es eine gewisse Ausdehnung
erreicht hat, wird es schnell grosser.
Auf Grund von Uberlegungen, welche den S. 584 entwickelten
ahnlich sind, muss man schliessen, dass die Lioslichkeit eines festen
Korpers unter gegebenen Umstanden von seiner Verteilung abhangt, so
dass eine Losung in Bezug auf makroskopische Krystalle iibersattigt
sein kann, in Bezug auf sehr kleine dagegen untersattigt. Demnach
wiirde die Orenze der Kleinheit eines Krystalls, wenn sie nach der
Methode der iibersattigten Losung bestimmt wird, von dem Betrage
der Obersattigung abhangen miissen, und es soUte Krystallstiickchen
geben, welche in einer weniger iibersattigten Losung sich als unwirk-
sam, weil loslich erweisen, wahrend sie in einer mehr iibersattigten
Losung sich vergrossern. Versuche hieriiber liegen nicht vor; die mit-
zuteilenden Resultate haben daber nur fiir die eingehaltenen Versuchs-
lUDStande Geltung.
144. Brgebnisse. Mit Hilfe der „Kulturmethode'* wurden dieVer-
euche fiber die aus einer Losung von Natriumchlorat abzuscheidende
758 ^' Chemische Dynamik.
Menge festen Salzes weiter gefiihrt Dazu dienten diiniie Platindrahte
von 5 cm Lange, die in Glasrohren befestigt und am Ende an einer
Schleife aufgewickelt waren. Alle Schleifen wurden doppelt fiber einen
und denselben Glasstab Yon 1 mm Dorchmesser gewickelt und dann
platiniert. Der Tropfen Losung in einer solchen Schleife wog 0-39 mg.
Es wurde mit einer Schleife, nachdem sie sterilisiert war, ein Tropfen
Losung aufgenommen und verdampft, indem der Draht etwa 2 cm von
der Schleife entfernt erhitzt wurde. Man kann das Verschwinden der
Flussigkeit in der Ose sehr deuUich beobachten, und nimmt gleichzeitig
den Draht von der Flamme fort, lasst ihn einige Augenblicke abkiihlen
und bringt ihn dann in das geoffnete, schrag gehaltene Glaschen, das
in gleicher Stellung in seinen Trager gestellt wird. Je nachdem man
das Ergebnis sofort kennen lernen ¥rill oder nicht, verfahrt man etwas
yerschieden. Im ersten Falle bewegt man die Platinose unter gelinder
Reibung im unteren, kegelfdrmigen Teile des Rohrchens hin und her,
und erzielt auf diese Weise, wenn ein Eeim vorhauden war, alsbald
die Ausscheidung einer Wolke von kleinen Krystallchen, indem durch
Zertriimmem der ersten Anschiisse schnell unzahlige Keime entstehen.
Da hierbei eher die Gefahr einer unbeabsichtigten Infektion droht, die
durch das Verfahren selbst schwer erkennbar gemacht wird, so ist es
bei entscheidenden Versuchen besser, die Drahtose ruhig in der Losung
liegen zu lassen, und sie erst nach einiger Zeit auf das Yorhandensein
Yon Krystallen, die sich inzwischen aus den Keimen gebildet haben, za
untersuchen.
Die Grenze, bis zu welcher nach diesem Verfahren Krystallisation
beobachtet werden konnte, lag bei der Verdiinnung 8 x 10'"'^, was bei
dem Tropfengewicht von 0-4 mg 3-2 x 10""^^ g flir das Gewicht des
noch nachweisbaren Natriumchlorats ausmacht Die Zahl ist etwas
grosser, als die nach der Spatelmethode unter dem Mikroskop gefundene,
die 0*6 X 10-10 betrug. Der Grund davon kann in der grosseren
Oberflache der Drahtose gegeniiber dem Spatel zu suchen sein, duich
welche ein grosserer Anteil des Natriumchlorats in den adsorbierten
und daher unwirksamen Zustand gebracht wird, doch mochte ich noch
zogem, den Unterschied als reell anzuerkennen, und begniige mich mit
dem Hinweis, dass beide unabhangig ermittelten Werte von der gleichen
Grossenordnung sind, und auch mit der durch Verreibung gefundenen
Grenze besser als zu erwarten iibereinstimmen.
Mit Kalialaun vmrden ganz ahnliche Ergebnisse erhalten. Ver-^
reibungen mit Milchzucker gaben bis D 8 reichliche Krystalle nach der
Kulturmethode im Proberohrchen; bei D 10 war die Wirknng gering.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnang. 759
Doch gelaiig es nicht, wie beim Natriumcblorat, zu einem unzweifel-
haften Ende zu gelangen, da alle weiteren Verreibungen immer einzekie
Krystalle hervorbrachten. Die Ursache davon liegt in der weiten Ver-
breituDg des Alauns im Staube, welche scbon von Gersez bemerkt
worden war, und derzufolge auch frischer Milchzucker, aus der Mitte
einer grosseren Menge genommen, sich in geringem Masse alaunhaltig
erwies, als er nach der Eulturmethode gepriift wurde.
Man wird also fiir Alaun eine ahnliche, yielleicbt um zwei oder
drei Potenzen weitergehende Grenze fiir die mogliche Verdiinnung an-
zunebmen haben, wie die friiher gefundene.
Als die Proben nicbt mit einer iibersattigten Losung von Kalialaun,
sondern mit einer solchen von Ammoniakalaun gemacht warden, ergab
sich ganz das gleiche Verhaltnis. Daraus ist zu scbliessen, dass iso-
morphe Eeime bis zu derselben Grenze wirksam sind, wie identische.
Es ist zweifelhafty ob man dieses Resultat erwarten diirfte. Denn man
wird zugeben miissen, dass sich ein Salz in der Losung eines isomorphen
aaflosen wird, selbst wenn die Losung in Bezug auf dieses gesattigt ist,
da erst bei einer bestimmten Eonzentration in Bezug auf das neue Ion
die Losung fiir das andere Salz wieder gesattigt sein kann. Dass den-
Qoch die Erystallisation eintritt, durfte so zu deuten sein, dass unmittel-
bar bei der Beriibrung des isomorphen Eeims mit der Losung eine
Diffusion des gelosten Salzes in den festen Eeim stattfindet, wodurch
sich etwas von dem gelosten Salze in krystallinischer Form bildet; geht
hemach der Eeim in Losung, so ist doch etwas yon dem gelosten Salze
bereits krystallinisch vorhanden, und der Eeim ist wirksam. Hierbei ist
Ton dem Begriffe der festen Losung Gebrauch gemacht, welcher ja bei
isomorphen Gemischen seine unzweideutigste Anwendung und Besta-
tigong gefunden hat
Es war von Interesse, den gleichen Yersuch mit einem isomorphen
Salze anzustellen, dessen beide Bestandteile verschieden von denen in
der iibersattigten Losung waren. Dazu diente Chromalaun gegen eine
Losung von Ammoniakalaun, wo sowohl die einwertigen Metalle Ealiom
und Ammonium, wie die dreiwertigen Chrom und Aluminium, yerschie-
den waren. Auch hier fanden sich dieselben Verhaltnisse wieder, und
es konnte keine Verminderung der Wirkung bemerkt werden.
Nach der Methode des Eintrocknens der Losungen an der Platin-
ose liess sich der Alaun nicht untersuchen, da die Losung bei der Yer-
dampfung in einer etwas iiber der Zimmertemperatur liegenden Warme
nicht durch einen labilen Zustand geht, sondern dauemd metastabil
bleibt, so dass die Fliissigkeit schliesslich zu undeutlichen Erystallen
760 ^I- Chemische Dynamik.
eines wasserarmeren Alauns eintrocknet. Es geht dies schoo aus den
alteren Versuchen von Lowel (S. 724) hervor und bestatigte sich, als
man versuchte, das beim Natriumchlorat geschilderte Yerfahren auf den
Alaun anzuwenden. Nicht nur yerdunntere Losungen gaben durchaus
keine Reaktion, sondem auch die iibersattigten kann man an der
Drahtose eintrocknen, so dass sichtbare Krystallkrusten entstehen, ohne
dass diese fahig sind, die gewohnte Erystallisation heryorzorufen. Hat
man die ungeheure Empfindlichkeit der Alaunlosungen (ygl. S. 738)
gegen Eeime kennen gelernt, so wirkt dieses Verhalten sehr Ubei^
raschend.
Da krystallisierter Ealialaun noch unter 100^ schmilzt, so lasst
sich erwarten, dass dnrch Erwarmen die wirksamen Verreibungen steri-
lisiert werden konnen. Dies tritt in der That ein; die Verreibung D5
in Milchzucker begann bei 70® an Wirksamkeit zu yerlieren, und war
bei 75® yoUkommen steril.
Dieser Zustand halt sich, wie es scheint, beliebig lange; wenigstens
war die erwahnt gewesene Probe am folgenden Tage noch ebenso on-
wirksam. Als sie aber in der Reibschale nur kurze Zeit gerieben worden
war, hatte sie ihre Wirkung wieder angenommen, auch ohne dass etwas
yon wirksamer Substanz absichtlich hinzugesetzt worden ware. Es lag
dies natiirlich an dem Vorkommen des Alauns im Staube der Labora-
toriumsluft; ein einziger Eeim, der in die Reibschale fallt, geniigt, am
die ganze sterilisierte Alaunmenge wieder zu beleben, d. h. in Krystalle
zu yerwandeln.
Die Temperatur der Sterilisierung ist bei Ealialaun in Substanz
hoher als in der Milchzuckeryerreibung. So wurde bei einer auf 93^
erwarmten Probe, die mit Hilfe eines frisch gezogenen Glasfadens in
die iibersattigte Losung iibertragen wurde, noch Wirkung gefunden.
Bei 100® war sie indessen gleichfalls yoUig yerschwunden.
Eine sehr merkwiirdige Thatsache ist, dass bei yerwitterbaren
wasserhaltigen Salzen das Verwitterungsprodukt die Erystallisation ebenso
bewirkt, wie das krystallisierte Salz selbst, dessen Pseudomorphose es
ist. Dies ist schon friih bemerkt worden; beim Glaubersalz, mit dem
beziiglich der tJbersattigung mehr experimentiert worden ist, als mit
irgend einem anderen Stoff, und bei dem die enorme Verbreitung yon
Glaubersalzkeimen im Staube, namentlich der Stadte, nachgewiesen
worden ist, konnte ja immer der Einwand gegen die Eeimtheorie ge>
macht werden, dass Glaubersalz an der Luft yeririttert, und daher im
Staube das Salz Na'SO^-j- ^^H'O, beziiglich dessen die Losungen uber*
sattigt sind, gar nicht yorhanden ist. Es ergab sich, dass auch das
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnang. 761
▼erwitterte Glaubersalz die Krystallisation bewirkt, aber nur so lange,
als es nicht einer Temperatur von 34^ ausgesetzt gewesen war; dann
wurde es imwirksam. Diese Temperatur ist die» bei welcher das kiys-
tallisierte Glaubersalz in seinem Krystallwasser schmilzt, und daher im
festen Zustande uberhaupt nicht ezistiert
Gleiche Erscheinungen treten auch bei anderen krystallwasser-
haltigen Salzen auf: verwitterter Alaun und Borax wirken ebenso, wie
frischer.
Chromalaun, der an trockener Luft unter Verlust seines halben
Krystallwassers in ein violettgraues Pulver Ubergebt, wurde mit Milch-
zucker yerrieben, um zu seben, ob vielleicht der wirksame Stoff nur in
Spuren vorhanden war; in solchem Falle hatte die Wirksamkeit viel
friiber aufhoren miissen, als bei dem unzersetzten Stoffe. Als Fliissig-
keit zum Einsaen wurde nicht eine iibersattigte Chromalaunlosung be-
nutzt, da diese wegen ihrer dunklen Farbe schlecht zu beobachten ist,
sondem eine Losung yon Ammoniakalaun, nachdem sich ergeben hatte,
dass die Empfindlichkeit einer iibersattigten Losung gegen isomorphe
Keime ganz dieselbe ist, wie gegen die Eeime desselben Salzes, das in
der Losung yorhanden ist Es fand sich, dass der yerwitterte Chrom-
alaun ganz ebenso wirksam war, wie der nicht leicht yerwittemde Kali-
alaun, yon dem aus frischen Krystallen die Yerreibungen bereitet waren.
Kalium-Natriumtartrat oder Seignettesalz gab sehr unzwei-
deutige Erscheinungen. Um alle Infektion auszuschliessen, wurde nur
die fur die erste Verreibung erforderliche Menge yon einem Centi-
gramm des Salzes ins Laboratorium gebracht (die Yerreibungen wurden
ausnahmsweise im Yerhaltnis 1 : 100 hergestellt); die Reibschale wurde
auf eine dicke Glasplatte yon 50 cm Seitenlange, deren Oberflache mit
Glycerin Uberzogen war, gestellt, um alle aus der Reibschale sich
entfemenden Staubchen abzufangen und festzuhalten. Zwischen je
zwei Yerreibungen wurde die Reibschale sorgfaltig ausgewaschen, und
mit frischem Filtrierpapier, das sofort in Wasser geworfen wurde, ge-
trocknet. AUes sonst gebrauchte Gerat wurde entweder fiir jeden Yer-
such neu genommen, oder durch Abwaschen sterilisiert So ergab sich
auch ein ganz unzweideutiges Ergebnis: D8 war deutlich und in jedem
Falle wirksam, DIO und D12, sowie alle weiteren Yerreibungen waren
ausnahmelos unwirksam.
Die geeignete iibersattigte Losung bestand aus 140 Teilen des
Salzes auf 100 Teile Wasser. Sie trocknet bei Zimmertemperatur bei
einigem Schutz zu einer firnissartigen Masse ein, die bei Bertibrung mit
einem Krystall sich nur uberaus langsam .umwandelt
762 n. Chemische Dynamik.
Borax lasst sich sehr leicht iibersattigen. £ine Losang aus 40
Teilen Salz in 100 Teilen Wasser ist sowohl in bezug auf das gewohn-
liehe Salz mit 10 Wasser ubersattigt, als anch bezuglich des okta-
edrischen Borax mit 7 Wasser. Doch ist sie fiir das erste, schwerlos-
liche Salz metastabil, fiir das andere, welt loslichere bereits labil. Es
ist dies ganz dasselbe Verhaltnis, wie bei den beiden Hydraten des
Natriumsulfats. Demgemass scheidet die genannte Losung langsam
Krjstalle von oktaedrischem Borax aus, bleibt aber fiir den gewohn-
lichen stark iibersattigt.
Bei der Herstellung der Verreibimgen ergab sich, dass D 7 noch
wirksam ^ar, die hoheren VeiTeibungen dagegen nicht.
Borax, der anf dem warmen Ofen bei Temperaturen, die sicher
zeitweilig 50^ iiberschritten, verwittert war, erwies sich als wirksam.
E^ wurde nicht ermittelt, bei welcher Temperatur seine Wirksamkeit
anfhort. Dagegen babe ich mich auf eine miindliche Mitteilung yon
J. M. Thomson bin iiberzeugen konnen, dass Natriumacetat iiber Schwefel-
saure bei Zimmertemperatur bis zur Wirkungslosigkeit getrocknet
werden kann.
145. Nachlese. Im Anschlusse an die vorher geschilderten Arbeiten
erschien eioe Reihe weiterer Untersuchungen, die einzelne Punkte be-
statigten und erweiterten, aber nichts erheblich neues brachten. Sie
konnen deshalb kiirzer behandelt werden.
Eine willkommene Bestatigung der „Eeimtheorie^ der Erystallisation
iibersattigter Losnngen bildete eine Untersuchung von E. Lefebvre') fiber
die Losungen des Chlorcalciums. Das mit 6 Wasser krystallisierende
Salz schmilzt bei 28® bis 29® in seinem Erystallwasser; fiigt man ein
Viertel des Gewichtes Wasser hinzu, so hat man bei Zimmertemperatur
eine iibersattigte Losung, die sich auch in offeDen Gefassen sehr lange
halt, weil in dem Staub das zerfliessliche Chlorcalcium nicht in krjs-
tallinischer Gestalt vorkommen kann. Bei 5*8® krystallisiert die Losang
fireiwillig, jedoch in anderer Gestalt, als bei der Zufiigung eines fertigen
Erystalls. Erkaltet man eine Losung mit weniger Wasser, als dem Hexar
hydrat entspricht, so scheidet sich bei etwa 15® ein undurchsichtiges
Salz aus, dessen Zusammensetzung nicht naher festgestellt wurde. Die
Mutterlauge ist wie beim Natriumsulfat in Bezug auf das gewohnliche
Salz iibersattigt.
Fremde Sto£fe bringen keine Krystallisation hervor, mit Ausnahme
des isomorphen Strontiumchlorids und des Baryumchlorids, das in iso-
') Compt. rend. 70, 684. 1870.
Chemische Gleichgewichte sweiter Ordnung. 763
morpher Gestalt nicht bekannt ist. Und zwar wirkt entwassertes Baryum-
chlorid erst nach einigen Augenblicken, krystallisiertes mit 2 Wasser
angenblicklich. Da die Vermutung nahe liegt, dass Chlorbaryum auch
mit 6 Wasser isomorph dem Ghlorcalcium krystallisieren konnte, so
warden Yersucbe angestellt, es in soloher Form darznstelleu; indessen
warde selbst bei — 20^ nnr das gewobniiche Salz mit 2 Wasser er-
halten. Ebenso war auf die mogliche Beimengnng yon Calcium- oder
Strontiumchlorid Riicksicht genoolmen worden. Die Erscheinung bedarf
daher noch der Aufklarung.
Bei der Erstarrung der iibersattigten Losung findet eine betracht-
licbc Raumverminderung statt, welohe bei 7^ 0*0832 des Volums aus-
macht. Natriumsulfat verbalt sich umgekehrt, denn es dehnt sich stark
aus; bei 8^ um 0*024, wenu die Losung aus zwei Teilen Salz and einem
Teil Wasser besteht, und um 0-0365 bei gleichen Teilen beider. Diese
Zahlen sind auf das Volum des entstebenden festen Salzes bezogen, und
die Ausdehnung ist daher um so grosser, je yerdiinnter die Losung ist
Dies ist eine notwendige Folge der wohlbekannten Thatsache, dass sich
die Salzlosungen beim Verdiinnen zusammenziehen.
Von C. S. Reischauer^) sind folgende, ihrer Zeit schwer yerstand-
liche Erscheinungen am essigsauren Natron beschrieben worden. Das
krystallisierte wasserhaltige Salz yerliert neben Scbwefelsaure sein
Wasser, nimmt dies aber an der Luft wieder auf, und bildet das ge-
wobniiche krystallisierte Salz. Hat man aber das Salz nach dem Ent-
wassern geschmolzen, so zerfliesst es an der Luft zu einer Losung, die
in Bezng auf das gewohnliche Salz stark ubersattigt ist, und bei Be-
rtibrang mit einem Krystall dayon zu einer Masse gesteht Auch erhalt
man eine iibersattigte Losung durch Auflosen des entwasserten Salzes
in Wasser. Reischauer schliesst aus diesen Thatsachen, dass die iiber-
sattigten Losungen wasserfreies Salz enthalten.
Die Deutung der Erscheinung ist die, dass das bei niedriger Tem-
peratur yerwitterte Salz noch Spuren yon krystallisiertem Salz enthalt,
ahnlich wie man dies fiir yerwittertes Glaubersalz annehmen muss.
Deshaib kann es beim Wiederanziehen yon Wasser nur das krystalli-
sierte Salz bilden. Werden abor durch Schmelzen (oder nur durch Er-
hitzen auf 100^ wo die Krystalle im Krystallwasser schmelzen) die
Spuren der wasserhaltigen Krystalle zerstort, so ist kein Grund fiir
ihre Bildung mehr yorhanden, und das Salz geht durch Wasseranziehung
ein£ach in Losung iiber, die beziiglich des wasserhaltigen, yiel weniger
loslichen Salzes iibersattigt ist.
>) Lieb. Ann. 115, 116. 1860.
764 II* Chemische Dynamik.
Die Herstellung iibersattigter Losimgen aus wasserfreiem Salz ist
spater von de Coppet^) aucb fiir Natriumsulfat nachgewiesen worden.
Es gelang a. a. bei 13^ etwa dreimal soviel Salz aufzulosen, als der
Sattigung in Bezug auf das Salz NaySO^.lOH^O entspricht.
Bemerkenswert ist die Beobachtung, dass der Versuch nur gelingt,
wenn das wasserfreie Natriumsulfat iiber 33^ erhitzt gewesen ist; bei
niedrigerer Temperatur erhaltenes Salz bringt die Losung immer zum
Erstarren. De Coppet nimmt deshalb an, dass das wasserfreie Salz bei
33^ eine isomorphe Veranderung erleide, und dass dem nicbt erbitzt
gewesenen Salze aucb im wasserfreien Zustande die Fahigkeit zukomme,
die Krystallisation der iibersattigten Losung zu verursaohen.
Hiergegen bemerkt Gernez*), dass er die Thatsache dieses Unter-
schiedes schon friiher mitgeteilt babe. Er berichtet fiber neue Versuche,
in welchen Glaubersalz, das sicb in ausserst diinner Schicht an den
Enden von Glasstaben befand, bis zu neun Monaten iiber konzentrierter
Schwefelsaure auf bewahrt wurde, ohne dass es seine Eeimwirkung ver-
ier, wahrend diese bei 34^ in wenigeu Augenblicken verscbwindet.
Der gleicbe Versuch gelingt aucb, wenn man die Glasstabe yorher
mit dem Salze Na^SO^.TH^O iiberzieht und iiber Schwefelsaure bringt;
solche bringen in Losungen, die bezuglich dieses Salzes iibersattigt sind
(S. 720), die Ausscbeidung der Krystalle mit 7 Wasser allein hervor
und keine von Glaubersalz. Man miisste also bier eine dritte Form des
wasserfreien Salzes annehmen.
Hiergegen erklaren sich die Erscheinungen nach Gemez beeser
durch die eben erwahnte Annahme, dass unwagbare Mengen des or-
sprjinglichen Salzes in dem verwitterten Produkt vorhanden bleiben.
Zwar haben quantitative Versuche ergeben, dass bis auf ein Tausendstel
der beobachtete Wasserverlust dem berechneten aucb bei der Verwitte-
rung in Zimmertemperatur entspricht, doch geniigen ja zur flinleitiuig
der Krystallisation Mengen, welche weit unter der Wagbarkeit liegen.
Ferner beschreibt Gemez hierbei die Erscbeinung, dass das ver-
witterte Heptahydrat in den iibersattigten Losungen nicht augenblick-
lich die Krystallisation bewirkt, sondem erst nach einiger Zeit Er er^
wahnt ferner, dass beim Zusammentreten von Wasserdampf mit erhitxt
gewesenem wasserfreien Natriumsulfat sich immer das Heptahydrat bildet^
und nicht Glaubersalz. Demgemass fiihrt er die langsame Wirkong des
verwitterten Heptahydrates darauf zuriick, dass sich erst das krystalli-
sierte Salz bilden miisse, was in offenbarem Widerspruche mit seiner
^) Compt rend. 73, 1324. 1871.
«) Compt. rend. 78, 283. 1874.
Cbomische Gleichgewichte zweiter Ordnang. 765
Theorie dieser Wirkungen steht, der zufolge dieses bereits vorhanden
ist, wenn auch nur in sehr geringer Menge.
Gegen die Auffassung yon Gemez wandte sich de Coppet^), indem
er darauf hinwies, dass die angenommene Existenz von unverwitterten
Spuren der Hydrate unter Wasserdampfdrucken, welche kleiner sind,
als der Dissociationsdruck des Hydrates, den Gesetzen widerspricht,
welche fiir diesen Vorgang bekannt sind. Seine Annahme yerschiedener
Modifikationen des wasserfreien Salzes sei ezperimentell ebensowenig
beweisbar, wie die yon Gemez, sie scheine ihm aber mehr den bekannten
allgemeinen Verhaltnissen zu entsprechen; fiir voUkommen halte er sie
auch nicht.
146. Borax und Chromalaun. Die Bildung der beiden Formen
des Borax, des gewohnlichen prismatischen mit 10 Wasser und des
oktaedrischen mit 5 Wasser, hangt von ganz gleichcn Umstanden ab,
wie die der beiden Formen des wasserhaltigen Natriumsulfats '). Die
obere Bestandigkeitsgrenze des letzteren Salzes liegt bei etwa 56 <^; eine
Erhitzung Uber diese Temperatur zerstort die entsprechenden Keime,
und beim darauf erfolgenden Abkiihlen, bez. geschutzten Verdampfen
erscheint nur das loslichere oktaedrische Salz. In den Boraxfabnken
sind massenhaft Keime des prismatischen Salzes vorhanden; daher krys-
tallisiert die den oktaedrischen Krystallen anhaftende Mutterlauge, die
beziiglich des prismatischen Salzes iibersattigt ist, alsbald in den ent-'
sprechenden Formen, und das Salz wird undurchsichtig. Lasst man
unter 56® krystallisieren, so bildet sich bei vorhandenen Eeimen nur
das prismatische J^alz.
Klare und unyerletzte Krystalle des oktaedrischen Borax lassen
sich, ohne sich zu losen oder in das wasserreichere Salz iiberzugehen,
bei Zimmertemperatur in Luft aufbewahren, welche mit Wasserdampf
gesattigt ist Diese von Gemez') angegebene Thatsache bildet ein
weiteres Beispiel fur die Unbestimmtheit des Gleichgewichts zweiter
Ordnung aus einer festen und einer gasformigen Phase^) (S.545). Leider
ist das experimentum cmds, die Umwandlung in das andere Hydrat
oder die gesattigte Losung nach Hinzufiigung dieser Phase (unter un-
mittelbarer Beriihrung) nicht ausgefiihrt worden.
>) Compt. rend. 78, 498. 1874. *) Gernas, Compt rend. 78, 68. 1874.
*) Compt rend. 78, 68. 1874.
*) Die S. 545, Anmerkung, erw&hnte Nachricht von Faraday ist mir in-
zwiflchen von Dr. Bredig nachgewiesen worden. Sie befindet sich in der sechsten
Beihe der Experimentaluntersachungen fiber Elektrizit&t, § 656 (Klass. der ex.
Wiss. 87, 88, Anm.).
Ostwftld, Chemle. IT,l. 2. Anil. 49
766 ^^' Ghemische Dynamik.
Etwas verwickelter, als in den anderen Fallen, zeigen sich die Er-
scheiuungen am Chromalaun. Bekanntlich verandern frische Losungen
dieses Salzes ibre Farbe, indem sie griiner werden. Beim Erhitzen bis
zum Sieden werden sie voUig griin, und diese Farbe wird beim Auf-
bewahren bei gewohnlicher Temperatur wieder blaaer. Die Vorgange
riibren daher, dass sicb in der Losung eine gewisse Menge eines giiin
gefarbten Salzes einer komplexen Chromschwefelsaure ^) bildet, welche
mit steigender Temperatur zonimmt; die Umwandlung vor- und riick-
warts beansprucht bei gewohnlicher Temperatur Tage bis Wochen.
Daher kommt es, dass eine frisch erhitzte Losung von GhromaJami
gleich nach dem Abldihlen nicht in Bezug auf krystallisierten Alaun
iibersattigt ist, es aber beim Aufbewahren wird. Das Aufbewahren
muss indessen bei sorgfaltigstem Abschluss der Luft, am besten im za-
geschmolzenen Gefass geschehen, da Alaunkeime in der Luft ausser-
ordentlich verbreitet sind.
Wird die griine Losung bei niedriger Temperatur eingedampft»
ohne dass Alaunkeime dazukommen, so verwandelt sie sich in einen
griinen Firniss, der wohl wesentlich aus dem komplexen Salze besteht.
Lasst man sie dagegen bei Gegenwart eines Keimes eindunsten, so geht
sie Yollstandig in Krystalle des violotten Alauns fiber.
Letztere Erscheinung erklart sich leicht, da durch die Ausschei-
dung des festen Salzes das Gleichgewicht in der Losung in solchem
Sinne verschoben wird, dass sich ein Teil des komplexen Salzes in das
gewohnliche umwandeln muss; dies setzt sich bis zur voUstandigen Um-
wandlung in dem Masse fort, als die Menge der Losung gennger wird.
Die andere Erscheinung ist etwas schwieriger zu yerstehen. E&
scheint sich darum zu handeln, dass bei zunehmender Konzentration
sich das Gleichgewicht zu gunsten des hylotropen Systems yerschieben
muss, welches den kleinsten osmotischen Druck hat, entsprechend dem
allgemeinen Prinzip der Widersetzung. Dies wird aber, wenn die feste
Alaunphase yermieden wird, das komplexe Salz sein.
Die entsprechenden Beobachtungen sind, wenn auch ohne die daxa
gehorige theoretische Aufklarung, yon Lecocq de Boisbaudran und
Gemez*) ermittelt worden.
147. Stoffe yon geringer KrystalliBationsgesohwindigkoit. Ein
wesentlich anderes Verhalten, als es bei den leichtloslichen anorga*
^) Recoura, Ann. chim. phys. (7) 4, 494. 1895; Withney, Zeitschr. f. phyt.
Ghemie 20, 40. 1896.
•) Compt. rend. 79, 802, 912, 1074, 1332. 1874.
Chemische Glaichgewichte zweiter' Ordnaog. 767
nischen Salzen beobachtet worden war, fand de Goppet^) am CSalcium-
mid Zinklactat; am ersteren hatte bereits Wislicenus das Bestehen von
Obersattigungserscbeinungen angegeben. Die in der Hitze gesattigten
Losungen verhielten sich zunachst normal^ indem sie sicb stark iiber-
kalten liesseiiy wobei in solchen, denen feste Substanz zugefiigt wurde,
eine relativ schnelle Krystallisation stattfand. Dagegen blieben die ohne
diesen Zosatz aufbewahrten Losungen nicht iibersattigt, sondern scm*
derten alle Salz ab, wenn auch mit yerschiedener Geschwindigkeit.
Diese wnchs im aligemeinen mit der Eonzentration, war aber auch
dayon abhangig, ob die Losung nur mit einem Stopfen yerscblossen
war, oder sich in einem zugeschmolzenen Rohre befand; im letzteren
Falle krystallisierte sie yiel spater. £ine etwas yerdiinntere Losong war
in einem zugeschmolzenen Rohre auch naeh sechs Monaten nicht erstarrt^
wahrend in einem zweiten Rohre, das dem ersten ganz ahnlich war,
nur dass es zu einer 20 cm langen, 1mm weiten Kapillare ausgezogen
war, die nicht zugeschmolzen wurde, nach etwa drei Monaten zu krys-
tallisieren begann.
Was die Deutung dieser Erscheinungen anlangt, so lassen sie sich
wahrscheinlich so auffassen, dass man dem Calcium- und dem Zink-
lactat eine ziemlich beschrankte Grenze der dauernden Obersattigung
zuschreibt, gleichzeitig aber beriicksichtigt, dass die Geschwindigkeit
des Ausgleiches zwischen der iibersattigten Losung und dem festen Sals
ungewohnlich klein ist Das gleiche gilt fur die damit zusammenhangende
Langsamkeit der freiwilligen Bildung des ersten Krystalls unter den
dasu geeigneten Umstanden.
Fiir die geringe Geschwindigkeit des Ausgleichs hat de Coppet
beim Zinklactat noch einen quantitatiyen Versuch beigebracht Es
wurden gleichzeitig eine iibersattigte und eine ungesattigte Losung bei
Gegenwart yon iiberschtissigem Salz in einen Keller gestellt, und yon
2^it zu Zeit der Gehalt yerglichen. Erst nach 17 Tagen waren beide
Losungen auf gleichen Gehalt gekommen, obwohl sie taglich zweimal
umgeschiittelt wurden.
Ahnlich wie dieses Salz yerhalt sich nach den Beobachtungen yon
Marignac') das Oalciumsulfat Zunachst zeigt es zwei yerschiedene
Loslichkeiten, je nachdem als feste Phase krystallisierter Gips mit
2H2O oder wasserfreies Salz zugegen ist; das letztere ist weit loslicber.
Femer aber werden die Cbersattigungszustande nur sehr langsam yer-
') Ann. cbim. phys. (4) 26, 539. 1872.
•) Ann. chim. phys. (5) 1, 274. 1874.
49*
768 II- Chemische Dynamik.
lassen, auch wenn die feste Phase zugegen ist, in Bezug auf welche die
Losung iibersattigt ist. Dies erklart sich zum Teil aus der geringen
Reaktionsgeschwindigkeit zwiscben beiden Phasen. Zum andem Teil
erklart sie sich aus der sehr geringen Loslichkeit des Salzes selbst,
der zafolge die Dichteunterschiede gesattigter und ubersattigter Losungen
sehr gering sind, und daher die Stoffbewegung durch Eonyektion,
welche ein sehr wirksamer Faktor fur die Auf hebung der Obersattigung
ist, entsprechend unbedeutend wird. Die Ausgleichung der Eonzentra-
tionsunterschiede durch Diffusion allein ist bei der grossen Langsamkeit
dieser Ersoheinung (einige cm in 24 Stunden) yon sehr geringer Wirk-
samkeit.
Bei dieser Gelegenheit sei erwahnt, dass die Loslichkeit des Gipses
in Wasser bei 38® ein Maximum zeigt Die Werte in Teilen Wasser
auf ein Teil Sulfat sind nachstehend angegeben.
Temp.
0»
18°
24 «
32 «»
38*
41 »
53*
720
86*
99»
Wasser
525
488
479
470
466
468
474
495
528
571
Ahnlich sind die Beobachtungen yon Zwing und Hecht') fiber die
apfelsauren Salze des Calciums aufzufassen. Beide Salze, das saure
wie das neutrale, entstehen aus der freien Saure und Calciumhydroxyd
zunachst in Gestalt stark iibersattigter Losungen, welche erst langsam
das Salz in krystallinischer Gestalt absondem. Zwar geben die Autoren
ausdriicklich an, dass die Losungen nicht den Charakter der ubersat-
tigten zeigen, da „ein in die klare Losung geworfener Erystall des
betreffenden Salzes die Ausscheidung nicht besdileunigt". Wohl aber
wird sle durch Reiben an den Gefasswanden, sowie durch Erwarmen
befordert Es handelt sich wahrscheinlich um einen Fall, wo die Aus-
scheidungsgeschwindigkeit der Erystalle sehr gering ist, so dass man
das Wachstum des einzelnen Individuums nicht leicht beobachten kann;
sind dagegen durch Zertriimmerung eines yorhandenen Krystalls beim
Reiben yiele kleine Eeime geschaffen, so lasst sich deren Vergrossemng
ohne Schwierigkeit beobachten.
Im ubrigen zeigt das eine Salz ein Maximum, das anderc ein
Minimum der Loslichkeit, welche mit der Bildung anderer Phasen
(neutrales Salz in der Losung des sauren, und wasserarmere Hydrate
beim neutralen) zusammenhangen. Aus den mitgeteilten Daten lasst
sich kein yoUstandiges Bild der Verhaltnisse entnehmen, und xu ihrer
Aufklarung miissten neue Messungen yorgenommen werden.
') Lieb. Ann. 188, 166. 1886.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnong. 769
Die von Marignac festgestellte Bildnng einer iibersattigten Gipa-
losung bei der Einwirkung des Wassers auf entwassertes Calcimnsulfat
ist von Le Ghatelier^) benutzt worden, um das Erstarren des mit
Wasser angemachten Gipses zu erklaren. Eine blosse Verfilzung der
Krystalle ist dazu nicht ausreichend, denn beim Trocknen des Nieder-
schlages, den man mit Alkohol aus wasserigen Gipslosungen erhalt,
bekommt man zwar einen Filz, aber keine zusammenhangende Masse.
Letztere entsteht vielmehr dadurch. dass in Beriihrung mit dem wasser-
freien Calciumsulfat sich immer neue Losung bildet, die in Bezug aof
die wasserhaltigen Erystalle ubersattigt ist; dadurch wachsen diese
bestandigy und werden durch die neu angesetzten Massen in ihrer
gegenseitigen Lage verkittet.
Der gleiche Umstand trifift auch fur die anderen in der Technik
benatzten erstarrenden Massen und Kitte zu'). So lost sich Gips in
Kaliumsulfiatlosttng zuerst auf, und erst spater scheidet sich das Doppel-
salz aus, das in der iiberschiissigen Kaliumsulfatlosung fast unloslich
ist Ebenso verhalt sich Zinkoxyd zu Zinkchloridlosung. Beide Stoff-
paare haben die Eigenschaft des Erstarrens, und werden deshalb ale
Abgussmasse oder Kitt angewendet.
Auch im Falle des Cements, der durch Brennen von Kalk mit
Thon hergestellt wird, treten die gleichen Verhaltnisse ein. Beim Be-
handeln mit Wasser geht Galciumaluminat in wecbsehiden Verhaltnissen
in Losung, und diese scheidet nach einiger Zeit ein hydratisches Alu-
minat aus, das viel schwerer loslich ist, und die Bindung des Cements
bewirkt.
148. MechaniBche Aasldsnng. Wahrend man anfangs geneigt
war, die „freiwillige** Krystallisation ubersattigter Salzlosungen mecha-
nischen Ursachen zuzuschreiben (weil durch solche vorhandene Keime
leichter mit der Fliissigkeit in Beriihrung kamen), entstand spater
durch den Nachweis der Notwendigkeit von Eeimen unter bestimmten
Bedingungen die Vorstellung, dass mechanische Ursachen gar nicht in
Betracht kommen. Indessen lassen sich inzwischen immer Beobachtungen
yerzeichnen, aus denen die Wirksamkeit mechanischer Ursachen auch
beim Ausschluss Ton Keimen hervorgeht, und von Gemez') ist dann
die Frage etwas eingehender untersucht worden. Da es sich um ein
Gebiet handelt, dessen eingehendere Erforschung sehr wimschenswert
>) Compt rend. 96» 715. 1883.
*) Compt. rend. 9(^ 1066. 1888.
*) Compt rend. 84, 1889. 1877.
770 II- Ghemische Dynamik.
isty sei die Arbeit yon Gernez in ihren wesentlichen Teilen wieder-
gegeben.
Es warden solche Losungen betrachtet, welche in Bezug auf zwei
verschiedene Formen der fasten Phase, z. B. zwei Hydrate, iibersattigt
sind. 1st die Obersattigung nicht bedeutend, so wird sie auch durch sehr
heftige mechanische Einwirkungen, wie Reiben, Stossen u. s. w. nicht
aufgehoben. Bei sehr weitgehender Obersattigung erweist sich bei dem
gleichen Stoffe eine yerhaltnismassig geringe Reibung wirksam. Folgende
Falle konnen eintreten:
1. Es bildet sich das niedere Hydrat. Dies tritt z. B. bei iiber-
sattigten Losungen von Natriumsulfat ein, welche die beiden Formen
mit 7 und 10 Wasser abscheiden konnen; man erhalt darch Reiben
unter 8® eine Krystallisation des Heptahydrats. Ebenso giebt eine
libersattigte Losung von Natriumchromat das Salz mit 4H2O in der
Nahe von 0«.
2. Es bildet sich das hohere Hydrat Dies tritt beim Natriam-
acetat ein. Dnrch Schmelzen des gewohnlichen krystallisierten Salzes
and vorsichtiges Abkuhlen erhalt man eine Fliissigkeit, welche sowohl
in Bezug auf das gewohnliche Salz mit SH^O, wie in Bezug auf ein
wasserarmeres, dem Gernez die Halfte des Erystallwassers zuschreibt,
iibersattigt ist Durch Reibung bewirkt man die Ausscheidung des ge-
wohnlichen Salzes. Umgekehrt entsteht durch schnelle Abkiihlung das
wasserarmere Salz, welches loslicher ist, als das gewohnliche Salz.
3. Man kann je nach der Starke der mechanischen Wirkung das
eine oder andere von zwei Hydraten erhalten. Dies lasst sich bei liber-
sattigten Losungen von Chlorcalcium beobachten. Man schmilzt in einer
Proberohre die gewohnlichen Krystalle des Salzes mit 6 Wasser and lasst
einen Augenblick sieden, um einen t}ber8chu88 von Wasser auszatreiben.
Die Rohre wird verstopft und langsam unter Umschwenken abgekiihlt, am
die freiwillige Bildung von Krystallen des Salzes mit 4 Wasser za Ter-
meiden, welche durch Wasserverdampfung an der Oberflache entstebmi.
Man bringt die Fliissigkeit auf 15^ imd nachdem man sich Uberseugt
hat, dass sie voUkommen klar ist, fiihrt man einen Stab aus hartem
Material ein, z. B. eine lange Stahlnadel. Man reibt diese sehr leise
gegen eine Wand der Rohre, und es erscheinen sofort Krystalle unit
4 Wasser, welche langsam unter Warmeentwicklung wachsen und all-
mahlich die ganze Fliissigkeit mit einem Filz von federartigen Krystallen
erfiillen. Man wartet ab, bis die Masse die Temperatur von 15® wieder
angenommen hat, und reibt nun ein wenig kraftig den Boden der Robre
mit der Nadel. Alsbald entstehen langs der geriebenen Linie Krystalle,
Chemische Gleichgewlchte zweiter Ordnung. 771
welche scbneller wacbsen als die friiheren, eine neue Warmemenge ent-
wickeln, und bald die ganze Flussigkeit in eine feste Masse verwandeln/
Es ist dies das Hydrat mit 6 Wasser, welcbe auf diese Weise erst nacb
dem anderen Hydrat entstebt, wenn die mecbaniscbe Einwirkung sebr
schwach war. Lasst man von vornberein die mecbaniscbe Wirkung
kraftig sein, so kann man den ersten Teil der Erscbeinnng nicht be-
obaebten, denn die Krystalle mit 6 Wasser bilden sicb yiel scbneller,
als die mit 4 Wasser, und iiberdecken die Bildung der letzteren, selbst
wenn zunacbst welcbe von diesen entstanden waren.
Versucbt man aus diesen Beobacbtungen das AUgemeine zu ent-
nebmen, so ergiebt sicb, dass mecbaniscbe Einwirkungen der genannten
Art o£Eenbar die metastabile Grenze enger macben, d.b. die Moglicbkeit
der tJbersattigung auf ein geringeres Mass bescbranken. Wird durcb
mecbaniscbe Wirkung die t}bersattigung anfgeboben, so entstebt im
allgemeinen zunacbst die weniger bestandige Form, gerade wie dies bei
der Aufhebung der tJbersattigung durcb Abkiiblen einzutreten pfiegt.
Dies wird durcb die Beobacbtungen am Glaubersalz und am Cblorcalcium
bestatigt Die Versucbe mit Natriumacetat scbeinen zu widersprecben,
da die wasserarmere Form sicber die weniger bestandige ist. Indessen
diirfte bier vielleicbt derselbe Fall vorliegen, wie beim Cblorcalcium:
durcb scbwacbere Reibung entstebt zuerst die unbestandigere Form,
die indessen nur sebr langsam wacbst, da die Cbersattigung in Bezug
auf sie gering ist. Starkere Reibung ergabe die bestandige Form; ist
der Unterscbied der orforderlicben Wirkungen nicbt gross, so kann er
bei der roben Bemessung derselben der Beobacbtung leicbt entgeben.
Es diirfte nicbt allzu scbwierig sein, diese Vermutung zu priifen.
Was die allgemeine Frage anlangt, warum denn eine mecbaniscbe
Wirkung die Ubersattigung aufbeben kann, so diirften abnlicbe Be-
tracbtungen, wie die von S. 576 zum Ziele fubren. Durcb die Reibung
werden einige Teile der iibersattigten Losung ausgedebnt, andere zu-
sammengedriickt Nun ist die Loslicbkeit und damit die metastabile
Grenze jedenfalls eine Funktion des Druckes, und die letztere wird
durcb positiven oder negativen Druck enger. Welcber von beiden Fallen
eintritt, ist gleicbgiiltig; jedenfalls wird durcb die Reibung die Fliissig-
keit an einigen Stellen in einen Zustand mit engerer metastabiler Grenze
versetzt. Ist die Ubersattigung nicbt gross, so erfolgt keine IJber-
scbreitung der Grenze, und es erfolgt keine Erystallisation; befindet
sicb dagegen die Fliissigkeit in der Nabe der Grenze, so bewirkt die
Druckanderung deren Uberscbreitung, und die freiwiUige Erystallisation
tritt ein.
^72 I^' Chemische Dynamik.
Dass sich im allgemeinen zuerst die unbestandigere Form bildet,
ist im Einklange mit dem S. 444 ausgesprochenen allgemeixien Satze.
Die gelegentlich betonten anscheinenden Abweichungen von diesem
lassen sich wohl meist auf den beim Chlorcalciam beschriebenen Fall
znruckfiihreiL
149. Beobaohtnngen von Booseboom. Bei Gelegenheit seiner
Untersuchungen iiber das Hydrat des Schwefeldioxyds hat B. Roozeboom^)
folgende Beobachtung fiber die hierbei anftretenden Uberkaltungser-
BcheinuDgen gemacht
Zunachst ergab sich wieder die Thatsache, dass die kleinste
Spur des festen Hydrats die Uberkaltung sicher aufhebt. Fremde
krystallinische oder nichtkrystallinische Sto£Ee haben nicht den gering-
sten Einfluss (es wurden 15 verschiedenartige Stoffe gepriift); dagegen
bewirkt Eis jedesmal in der iibersattigten Losung die Ansscheidong des
Hydrats selbst oberhalb 0^ wo das Eis weder fiir sich, noch in Be-
riihrnng mit der Losung bestandig ist. Die hochste Temperatur, bei
welcher durch Eis das Hydrat gebildet werden konnte, war 6*3®. Bei
0® konnte durch Reibuiig von Glas gegen Glas in der Losung die Bil-
dung hervorgerufen werden. Oberhalb 0^ ersohien das Hydrat fireiwiilig
niemals; dagegen bildete es sich um so leichter, je niedriger die Tem-
peratur war, und bei — 15^ erschien es sicher.
Eine bei 0® mit dem festen Hydrat im Gleichgewicht stehende
Losung enthielt 943% SO' und hatte den Gefrierpunkt — 3*1^ Unter-
halb dieser Temperatur war sie also ebenso fiir das feste Hydrat wie
fiir Eis ubersattigt. In der That erschien beim Oberkalten dieser
Fliissigkeit der eine wie der andere feste Eorper; wenn indessen Eis
auftrat (was im allgemeinen seltener gesohah), so bewirkte dieses, wie
angegeben, alsbald die Bildung des Hydrats, wobei wegen der Tempe-
raturerhohung das Eis alsbald wieder schmolz.
Eine an Schwefeldioxyd reichere Losung, die unter Atmospharen-
druck bei 0^^ gesattigt war und 33-6% SO' enthielt, liess sich im all-
gemeinen starker iiber kalten, als die vorige Losung; auch konnte sie
Eis oder Hydrat bilden; im ersteren Falle trat aber augenbUcklich eine
reichliche Abscheidung des Hydrats ein.
Roozeboom giebt ferner an, dass, wenn vorhandene Hydratkrystalle
in einer Fliissigkeit eben durch Erwarmung zum Verschwinden gebracht
worden waren, alsdann meist eine sehr geringe Temperaturemiedrigung
ausgereicht habe, um eine neue Krystallisation zu bewirken. Die toq
') Rec. Pays-Bas 3, 48. 1884.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 773
ihm ausgesprochene Hypothese, dass unmittelbar nach dem Schmelzen
einige fliissige Molekularaggregate vorhanden seien, welche der Wieder-
bildung giinstig sind, diese Eigenscbaft aber bald verlieren, bat den
Nacbteily dass sie uicht leicht gepriift werden kann.
Die spezifische Wirkung des Eises anf die Bildung des Scbweflig-
saarehydrats lasst yermuten, dass beide Eorper isomorph sind, oder dass
das Eis die Fabigkeit bat, eine feste Losang des Hydrats zu bilden,
in welcber das letztere die Eigenscbaften des festen Hydrats besitzt
Das Cblorbydrat ^) verbalt sicb einigermassen ahnlich; es beginnt
bei 7-6^ sicb zu bilden; die niedrigste Temperatur, die beobachtet
wurde, war 4*3^. Die Gegenwart des Eises bedingt nicbt, wie im Falle
der schwefligen Saure, die Bildung des Hydrats. Aucb findet sicb die
Angabe, dass das Hydrat rbombiscb krystallisiert, also jedenfalls mit
dem Eise nicbt isomorpb ist.
Aucb das Bromhydrat zeigt abnlicbe Yerbaltnisse. Die freiwillige
Bildung tritt selten unter 0® ein, wabrend der Zersetzungspunkt, also
die Temperatur, unterbalb deren Obersattigung eintritt, bei 6*2® liegt.
Eis bewirkt nicbt die Bildung des Hydrats, wobl aber wird sie durch
eine Spur festen Cblorbydrats bervorgerufen. Dies deutet auf eine Iso-
morphie beider Yerbindungen und lasst es wabrscbeinlicb werden, dass
die Zusammensetzung einer von ibnen (Roozeboom giebt die Formeln
C1*.8H«0 und Br«.10H«0) falscb bestimmt ist.
Ebenso lasst sicb eine Liosung yon Chlorwasserstofif iiberkalten. In
einer Losung, die bei — 18«3® mit dem Hydrat im Gleicbgewicbt ist,
entstand es freiwillig nicbt iibor — 19•8^ und bei — 2b^ konnte die
Losung drei Stunden lang mit Cblorwasserstofifgas bebandelt werden,
bevor sicb das Hydrat bildete. Reibung mit einem Glasstabe zeigte sicb
als ebenso sicberes Mittel, um den festen Korper bervorzurufen, wie
die Einfiibrung einer Spur desselben; ^der Versucb misslingt niemals'S
150. Die metastabile Grense. Aus den Untersuchungen von Lowel
und seinen Nacbfolgern batte sicb ergeben, dass sicb zweierlei Arten
▼on iibersattigten Losungen unterscbeiden lassen. Die eine bildet nie
freiwillig, d. b. ohne das Dazutreten yon Eeimen, Krystalle aus; die
andere dagegen lasst solcbe erscbeinen. Und zwar unterscbeiden sicb
beide Arten yon Losungen gleicbzeitig dadurcb, dass die der zwoiten
Art immer starker iibersattigt sind, als die der ersten.
Man kann im Zweifel sein, ob man es bier mit einem wesentlicben,
oder nur mit einem Gradunterscbiede zu tbun bat Der Versucb giebt
1) Rooseboom, Kec. Pays- Baa 3, 65. 1885.
774 II- Chemische Dynamik.
bisber nnr geringe AufklaruDg, denn die einzigen systematischen Arbeiten
dariiber, die von de Coppet (S. 751 ), haben nicbts mebr ergeben, als
dass fur das spontaiie Auftreten von Krystallen in der homogenen
Losung keineswegs der (durch Konzentration und Temperatur bestimmte)
Betrag der Ubersattiguug alleiu massgebend ist, sondem dass bier nocb
andere Umstande mitwirken, die man nicht kennt, und daher nicht
messen kann. Es zeigen sich bier die gleicben Verhaltnisse, wie beim
freiwilligen Erstarren iiberkalteter Schmelzen; nocb in jtingster Zeit
haben die hieriiber angestellten Versucbe von Schaum') an iiberkaltetem
Benzophenon die unbeberrschbare Mannigfaltigkeit der bestimmenden
Faktoren gezeigt.
In der That kann man sich leicht davon Rechenschaft geben, dass,
wenn es eine reelle Grenze zwischen den eben gekennzeichneten beiden
Zustanden giebt, die Bestimmung dieser Grenze wegen der Leichtigkeit
ihrer Uberschreitung ausserordentlich schwierig sein muss. Nehmen wir
einmal an, es sei der fragliche Unterschied thatsachlich vorhanden, und
entwickehi die Konsequenzen dieser Annahme.
Um die nacbfolgenden Erorterungen mit grosster Kiirze durchzu-
fiihren, woUen wir entsprecbend den Darlegungen von S. 349 fur den
einfacheren Fall dasjenige Gebiet das metastabile nennen, in welchem
fireiwillige Krystallisation nicht eintritt; das angrenzende Gebiet, in
welchem dies der Fall ist, heisse das labile. Dann werden wir uns
fragen, von welchen Ursacheti moglicherweise die Grenze zwischen diesen
beiden Gebieten, oder die „metastabile Grenze*^ abhangig sein wird.
Es wird zunachst naturlich die Beschaffenheit der beteiligten Stoffe,
die Temperatur, der Druck und die Konzentration zu nennen sein.
Wir nehmen an, dass gar keine anderen Eiaflusse thatig seien,
und stellen uns ein Gebilde in der Nabe der metastabilen Grenze, aber
noch ausserhalb des labilen Gebietes vor. Wenn uberall in aller Strenge
die genannten Grossen konstant blieben, so wiirde das Gebilde unbe-
grenzt lange im fliissigen Zustande verharren. Sowie aber an der
kleinsten Stelle eine Uberschreitung jener kritischen Werte stattgefunden
hat, ist eine Ursache fUr das spontane Auftreten eines Krystalls ge*
geben, durch welches dann die ganze Masse erstarrt.
Solche Uberschreitungen konnen eintreten, ohne dass imsere Meas-
instrumente, welche ja immer eine gewisse Tragheit besitzen, und daher
nur einen (zeitlichen und raumlichen) Mittelwert der gemessenen Eigen-
schaft angeben, uns deren Vorhandensein verraten. In der That haben
^) Zeitschr. f. phys. Ghemie 27, 723. 18d8.
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 775
wir nicht die geringste Kenntnis daruber, welche Temperaturen z. B.
thatsachlich an den verschiedenen Stellen einer Fliissigkeit herrscheoy
welche bewegt wird, und in der sich deshalb Bewegungsenergie in
Warme verwandelt. Das Thermometer giebt nnr einen Mittelwert da-
riiber, von dem die thatsachlich vorhandenen Einzelwerte um unbekannte
Betrage abweichen.
Das Auftreten der spontanea Krystallisation 1st nun aber eine
Erscheinung, welche nicht yon dem Mittelwerte der bestimmenden
Grossen abhangt, sondem yon den aussersten Werten, die liberhaupt
Yorkommen. Und zwar ist diese Reaktion durchaos einseitig; das
Gebilde reagiert nur auf diejenigen Abweichungen, welche es iiber die
metastabile Grenze fiihren, und ist ganz gleichgiiltig gegen Abweichungen
im umgekehrten Sinne. Es verhalt sich^ um ein mechanisches Bild zu
brauchen, wie ein mit einer Sperrklinke versehener beweglicher Teil,
dessen schliessliche Stellung nicht den mittleren Ort seiner Bewegungen,
sondern den weitesten Ausschlag, welchen er wahrend der Beobachtungs-
zeit in einem bestimmten Sinne erfahren hat, angiebt. Die schliesslichen
Erscheinungen sind auch hier nicht das Ergebnis des Mittelwertes der
entscheidenden Grosse, sondem kennzeichnen den aussersten Betrag der
Abweichung in einem bestimmten Sinne, der bei gleichem Mittelwerte
sehr verschiedene Grosse haben kann.
Wir sehen also schon von dieser Seite, dass unter scheinbar ganz
gleichen Umstanden doch die thatsachlicheu entscheidenden Verhaltnisse
geniigend verschieden sein konnen, um wesentlich verschiedene Erfolge
hervorzurufen.
Was fur die unmerklichen Abweichungen von dem mittleren Zu-
fltande gesagt worden ist, gilt um so mehr fiir den Fall, dass merkliche
Abweichungen in irgend einer der bestimmenden Grossen eintreten.
So wird von verschiedenen Beobachtem bemerkt, dass die oberflachliche
Konzentrationsanderung, welche beim schnellen Abkiihlen einer heissen
iibersattigten Liosung eintritt, sehr leicht Krystallisation bewirkt. Ebenso
lasst sich der Einfluss mechanischer Storungen begreifen; denn da der
Druck unzweifelhaft schon infolge seines Einflusses auf den Sattigungs-
grad, daneben aber auch wahrscheinlich in spezifischer Weise^) einen
ftolchen Einfluss ausiibt, so miissen die ortlichen Druckverschiedenheiten,
welche die Folge jeder mechanischen Stomng sind, an entsprechenden
Stellen eine tlberschreitung der metastabilen Grenze bewirken und
Krystallisation auslosen.
*) Baros, Amer. Joam. of 8c. 42, 141. 1891.
776 II- Ghemische Dynamik.
Fiir alio derartigen Einfliisse wird man zu erwarten haben, daas
sie sich um so deutlicher betbatigen, je naber sicb die Lfosong der
metastabilen Grenze befindet Auob hierfiir finden sicb in den yorsteben-
den Bericbten zabkeiche Belege.
Scbliesslicb ist nocb auf einen besonders wicbtigen Umstand Acht
zu geben. Der Zustand einer gegebenen Losung ist inmitten ibrer
Masse nicbt derselbe, wie in irgend einer Grenzflacbe. Im allgemeinen
wird die Eonzentration bier und dort verscbieden sein, wie aus dem
Vorbandensein der Adsorptionserscbeinungen bervorgebt; dazu kommt
nocb, dass je nacb der Bescbaffenbeit des Korpers, gegen den die
Losung grenzty der Einfluss yerscbieden gross soin wird. Daber wird
sicb aucb die metastabile Grenze abbangig von der Bescbaffenbeit
der Eorper zeigen, mit denen die Fliissigkeit in Beriibrung steht^),
und damit ist eine neue und einflussreicbe Quelle von nStorungeo"
gegeben.
Soweit also bisber der Tbatbestand sicb uberseben lasst, sind keine
Widerspriicbe gegen die Annabme einer ^^metastabilen Grenze*^ vor-
banden; vielmebr scbliessen sicb die Tbatsacben ungezwungen einer
solcben an. Docb mocbte icb nicbt unterlassen, auf die Moglichkeit
einer anderen Auffassung binzuweisen, die durcb unsere gegen wartige
unzureicbende Kenntnis des Gebietes nicbt ausgescblossen ist, wenn icb
sie aucb fur weniger wabrscbeinlicb balte, als die eben entwickelte.
Man kann namlicb annebmen, dass ein metastabiler Zustand in
der angenommenen Art iiberbaupt nicbt existiert, und dass der ganze
Unterschied zwiscben den Losungen, die krystallisieren und denen, die
es nicbt tbun, nur ein zeitlicber ist. Darnacb wurde jede libersattigte
Losung friiber oder spater freiwillig krystallisieren, und die verscbieden
iibersattigten Losungen wiirden sicb nur durcb die dazu erforderliche
Zeit unterscbeiden. Es ist ersicbtlicb, dass man auf diesem Wege gleicb«>
falls im stande ist, die Tbatsacben zusammenbangend darzustellen, zu*
mal man in ganz konsequenter Weise die weitere Annabme binzuzo-
^) Yon der Wirklichkeit solcher EinflQsse, die von kleinen fasten KOrpem
aasgehen, habe ich mich bei gelegenilichen Yersachen mit dbers&ttigten LOsimgen
Ton Natriamacetat Qberzeugen k<(nnen. W&hrend es im allgemeinen ganz leicht
ist, stark Hbers&ttigte derartige LOsungen herzastellen, gelang dies bei einer be-
sonderen Probe des Salzes aaf keine Weise; vielmebr krystallisierten alle in der
W&rme hergestellten Scbmelzen nach dem AbkOblen. Da die Lesongen
trabe aussaben, filtrierte ich sie heiss vor dem AbkUhlen; das Ergebnis war,
seitdem sicb die llberkaltete Fliissigkeit liber ein Jabr laag flOssig gebalten haL
Dass die Erystallisationsnrsache sicb durcb Filtrieren bat beseitigen bMsen, ist
ein Beweis dafOr, dass sie von vorbandenen festen KOrpem aosgegaogen war.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 777
fUgen hatte, dass dieselben Ursachen, welche vorher fur das Eintreten
der metastabilen Grenze angefuhrt worden sind, auch fur die Beschleu-
nigung des Beginns der Erystallisation angefiihrt werden konnen.
Eine Entscheidung wird sich am ehesten auf dem Wege gewinnen
lassen, dass man die Zeiterscheinungen bei dem Eintreten der frei-
willigen Krystallisation eingehender untersucht Handelt es sioh um
einen wesentlichen Unterschied der beiden Zustande, so wird man er-
warten konnen, dass unter sonst gleichen Umstanden die bis zum Be-
ginn der Erystallisation erforderliche Zeit beim Durchgang durch die
metastabile Grenze eine plotzliche und unverhaltnismassige Vergrosse-
rung (bez. Verkleinerung) erfahren wird, wahrend anderenfalls eine
stetige Anderung der Ezistenzdauer der iibersattigten Liosung bei ste-
tiger Anderung der Bedingungen zu erwarten ist Die bisherigen Ver-
suche gestatten noch keine eindeutige Entscheidung zwischen diesen
beiden Moglichkeiten; docb scheinen sie mehr fur die erste zu sprechen.
151. Ezperimenteller Naohweis der lOl^ers&ttlgungBgrenze. Wah-
rend die Versuche, durch Beobachtung der freiwilligen Erystallisation
uberkalteter Losungen bei langsam^ Abkiihlung den Moment zu er-
fiassen, in welchem diese stattfindet, zu keinem deutlichen Ergebnisse
gefiihrt haben (S. 751), ist es moglich geworden, die Existenz einer
solchen Grenze aus ganz anderen Erscheinungen abzuleiten. Die erste
Beobachtung dieser iiberraschenden Vorgange riihrt von R. Liesegang^)
her, der sie eingehend beschrieb, wenn ihm auch ihre Deutung fern lag.
Wenn man eine Glasplatte mit einer Schicht Gelatine, welcher
eine geringe Menge Ealiumbichromat zugesetzt worden ist, liberzieht,
und auf die erstarrte Schicht einen Tropfen Silbemitratlosung setzt, so
bildet sich zunachst an der Beriihrungsstelle ein Niederschlag von
schwerloslichem Silberbichromat. Durch Diffusion verbreitet sich dann
das Silbersalz weiter in der Gelatine; statt aber gleichformig den Raum
zu erfiillen, ordnet sich der neu entstehende Niederschlag in Gestalt
Yon scharfgezeichneten Ringen um den Tropfen an. Diese Ringe er-
scheinen anfangs dicht neben einander; in dem Masse aber, wie sich
neue Ringe bilden, treten sie in immer weiteren und weiteren Zwischen-
raumen auf. Will man die Erscheinung sich yollkommen entwickeln
lassen, so muss man die Platte mit dem Tropfen in einen mit Feuch-
tigkeit gesattigten Raum bringen, um das Eintrocknen zu Yerhiiten;
am einfachsten dient dazu ein mit Wasser beschickter Ezsikkator.
Unter diesen Umstilnden kann man den Versuch tagelang fortsetzen
^) Photogr. Archiv 1896. 321. — Ref.: Ztschr. f. phys. Ghemie 2a, W>. 1897.
778 IL Chemisclio Dynamik.
nnd erh< ZeichnungeD, wi« Fig. 132, welche nnmittdlbar nach einef
Yier Tage alten Platte hergestellt worden isi.
Setzt man mehrere Tropfen Silbemitrat neben einander auf die
Platte, BO bildet jeder tod ibnen aeioen Hof von Ringea nm eicii. Wo
Biob zwei Ringsysteme einander naheni, erscheint der ZwiBcbenraum in
einer kleinen Ausdebnang ganz frei tod dem Niederecblage. Fig. 133
zeigt die Eracheioting, welcbe dnrcb zwei neben einander anfgesetile
Tropfen herroi^ernfen wjrd; man kaan den niederBchlagsfreien Zwiscben-
. - ranm zwiecben den bei-
- ..; den Ringsystemen gut
erkenoen. Darch meh>
rere in symmetrischer
\ Anordnung neben eiO'
ander gesetzte Tropfen
kaoD man sehr ragel-
massige GestaltuogeD
TOQ nberrascbend biib-
ecbem Auseehen enei-
gen, doch lebren diese
nicbt wesentlich mehr,
ale die mitgeteilten.
' • DieEntstehungdieser
Ringe lasst aich fol-
gendermassen rerstehen.
' ~ "' 'J.. . -'' .. " Durch die Di&ision dea
Silberaalzes in die cbro-
matbaltige Gelatine bil-
det sich in der Gelatine bald eine Losnug, welcbe in Bezag aaf
Silbercbromat iiberaattigt ist; der Niederschlag erfolgt aber nicbt sofort,
eondern eret, nachdem die metastabile Orenze iiberschritten ist. Dies
gescbiebt natiirlicfa gleichzeitig in einem Kreise, der niit dem Tropfen-
kreise konzentriscb iet. An den entstandenen Niederschlag lagert Bkh
das Silberbicbromat, in bezug auf welchee die Umgebnng des Ringes
iiberBattigt ist und verstarkt ibn; dies dauert so lange, bis das toa-
liche Chromat aus der Nahe entfemt in den Niederschlag gegangea
ist. Alsdann wandert das Silbersalz uber den Ring hinaos, iibersattigt
ein neues, ferner liegendes kreisformiges Gebiet, und der gleiche Vor-
gang wiederbolt sich. Da die Silberlosnng beim Weiterdiffandierw
immer rerdunnter wird, so wird die kritische Konzentration, bei welcher
die Ai)pBcheidung beginnt, immer spater erreicht, nnd der neae Ring
I
Cbemische Gl«ichgeiriehte iweiter Ordnnng. 779
entsteht erst in einem weiteren Abstandet aU der zwischen Beinen Vor^
g&ngern betrng.
Man kann, wie Liesegang in einer Bpateren Mitteilnng gezeigt
bat*}, gam enteprecbende Erscheioungen hervornifen, weon man die
Gelatine, statt aie auf einer Platte attszubrciten, in eine Glasrohre auf-
taugt, nnd diese nach d«m Erstarren des InhalteB in die Silberlosung
taucbt An Stelle der Ringe bilden stcb Scbicbtea des Niederschlages
nu, welche eiaigermasaen
an die Scbicbtung in Geiss- .,-^ !■> 1 ■ — *i.- .;.
lersclien Rohren erinnern, "-. ,
nod deren Abstande gleicb- v\S
ii;
m
{uUb gesetzmassig zaneb-
meo. Die Erklarnng ist WKN ■■
ganz dieselbe. lVi*-V
Die ansserordentlicbe
Scharfe und Regelmassig-
beit der Ringe ist ein Be-
weis dafiir, dass unter den
Torliegenden Umstanden
daa Aafboren des Cber-
sattigungszuatandes roll- 7 '/| -
kommen gesetzmaesig be- '(;'/
stimmt ist. Eine Entschei- y /
dung fiber die oben ange- //
regt« Frage, ob der zwi-
■cheo netastabilen and la-
bilen Znst&nden gemachte
Unteracbied ein wesent-
lioher oder nnr ein zeit- *'
licher ist, bieten diese Versache, wie aasdrncklicb hervoi^hoben werdea
■oil, nicht. Denn anch mit der Annabme, dass das Erscfaeinen des
Niederschlages eine stetige Fanktion der Konzentration und der Zeit
sai, lassen sich die bescbriebeuen Tbatsacben gut in Einklang bringeo.
Ausser darcb Silbernitrai lassen sich die „A-Linien", wie Liesegang
ne genannt bat, in der bichromathaltigeo Schicbt durch Quecksilber-
uad Bleisalze, die gleichfalls mit Bicbromaten Niederschlage geben,
berrorrufen; ebenso geben viele andere Salzpaare, die auf einander
unter Bildong schwerloslicher Niederschlage einwirkcn, die gleiche Ei>
t) Ghonilschs Reoktlonen in Gallerte. Dosseldorf 189S.
780 n* Chemiscbe Dynamik.
scheinuog. Hierbei machen sich auffallende Unterschiede geltend, indem
z. B. die Ringe bei der Anwendung von Bleisalzen auf Bichromat-
schichten uuter sonst gleichen Umstanden viel enger ausfallen, als mit
Silber. Niederscblage, welche in kolloidaler Form erscheinen, geben
iiberhaupt keine A-Linien. Doch kommen auoh Niederschlage yor, die
man gewohnlich als krystallinisch auffasst, und die dennoch keine
A-Linien geben; welches in solchen Fallen die Ursache ifit, hat man
bisher noch nicht ermittelt, wie denn iiberhaupt hier noeh ein weite&
Gebiet interessanter Erscheinungen der Forschung offen steht
Als (Jrsacbe dafUr, dass in diesem Falle die freiwillige EryBtalli-
sation aus dem Zustande der iibersattigten Losung mit solcher Regel-
massigkeit erfolgt, wird man den Umstand anz'usehen haben, dass die
Bildung des Niederschlages freischwebend innerhalb der Gelatine statt-
finden kann. Dadurch werden die yon der Beschaffenheit der Gefass-
wande herriihrenden storenden Einfliisse im wesentlichen beseitigt, und
der rcgelmassige Einfluss der Eonzentration kann zur Geltung kommen.
Man kann auch deutlich an solchen Stellen» wo die Glasplatte Fehler
und Unregelmassigkeiten aufweist, den Einfluss dieser Umstande auf
die Form der Ringe erkennen, wozu die Figuren 132 und 133 an yeiv
schiedenen Stellen Belege bieten.
Diese letzten Betrachtungen zeigen auch den Weg» auf welchem
man die ^metastabile Grenze*' auch unter anderen, willkiirlich herzu-
stellenden Umstanden wird beobachten konnen.
152. ZusammenfaBBung. Aus der grossen Menge beobachteter
Thatsachen, deren allmahliche Erforschung eben gescbildert worden ist,
lassen sich einige allgemeine Satze entnehmen, welche einerseits eine
t)bersicht des Bekannten gestatten» andererseits die Richtung angeben,
in welcher weitere Aufklarung zu suchen ist Icb habe nachstehend
yersucht, sie zusammenzufassen.
a. Zwischen einem festen Stoffe und seiner gesattigten Losung
stellt sich ein Gleichgewicht her, welches yon der Natur der beteiligten
Stoffe, der Temperatur und dem Drucke abhangig ist. Sieht man yon
dem Einflusse des letzteren ab (oder lasst man neben der festen und
der fliissigen Phase eine Dampfphase auftreten), so besteht fiir jede
Temperatur ein bestimmtes Gleichgewicht. Dieses ist durch eine be*
stimmte Konzentration gekennzeichnet, bis zu welcher der feste Stoff
sich auf lost, und ist unabhangig yon den absoluten oder relaiiyen
Mengen der Bestandteile, so lange diese nur zur Bildung der bestimmten
Phasen ausreichen.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 781
b. Die feste Phase bestimmt das Gleichgewicbt nicbt nur yermoge
ihrer chemischen Beschaffenheit, sondern yermoge der besonderen Form-
art» in welcher der feste Stoff yorhanden ist So bestimmen beispiels-
weise yerschiedene poljmorphe Formen desselben Stoffes, oder yer-
schiedene Hydrate desselben Salzes unter sonst gleichen Umstanden
ebenso yiele yerschiedene Gleichgewichte.
Der Satz, dass der neben der gesattigten Losung yorhandene feste
Korper einen massgebenden Einflass anf die Loslichkeit ausiibt, und
eine seiche nur unter eindeutiger Bezeichnung der festen Form definiert
werden kann, fiudet sich in dem 1883 geschriebenen und 1884 ausge-
gebenen ersten Teil der ersten Auflage dieses Lehrbuches ausgesprochen
und zur Kritik yorhandener Beobachtungen benutzt. Seitdem ist er
unzahlige Male angewendet worden, und hat yiel zur richtigeren Auf-
fassung der Verhaltnisse beigetragen«
a Die Loslichkeit yerschiedener fester Stoffe, die mit demselben
LosuDgsmittel ubereinstimmende Losungen ergeben konnen, folgt der
umgekehrten Reihenfolge ihrer Bestandigkeit; die bestandigste Form
giebt also die yerdiinnteste Losung, und die unbestandigste die kon-
zentrierteste.
Dieser Satz folgt experimentell schon aus den Versuchen yon Lowel
und ist durch die spateren Messungen immer bestatigt worden. Er ist
andererseits auch ein Ergebnis der Energetik, und kanu auf dieselbe
Weise bewiesen werden, wie der Satz, dass der bestandigsten Form
eines fliichtigen Stoffes der kleinste Dampfdruck zukommt (S. 437).
Man braucht nur an die Stelle des Dampfdruckes den osmotischen
Dmck des gelosten Stoffes zu setzen, und kann dann leicht beweisen,
dass neben ihrer gesattigten Losung sich eine weniger bestandige Form
in die bestandigere nur dann umwandeln kann, wenn die Eonzentra-
tionen der gesattigten Losungen die angegebene Beziehung haben.
Andenifalls wiirde mit der Umwandlung eine Axbeitsaufnahme statt
einer Axbeitsleistung yerbunden sein, d. h. der Vorgang konnte nicht
freiwillig yerlaufen, was er doch thut.
Als besonderer Fall folgt hieraus, dass beim Gleichgewichts- oder
Obergangspunkt zweier fester Formen ihre Loslichkeit gleich sein muss.
Die Satze gelten fiir alle beliebigen Losungsmittel.
d. Ist eine feste Phase nicht yorhanden, so ist die Konzentration
des gelosten Bestandteils willkiirlich. Als Grenze ist einerseits die Kon-
zentration Null anzusehen, andererseits eine Konzentration, welche schwer
genau zu bestimmen ist, welche aber jedenfalls grosser ist» als die des
Gleichgewichts mit der festen Phase.
Ofltwald, Chemie. 11,2. 2.Aiifl. 50
782 n. ChemiBche Djrnamik.
Losungen, deren KonzeDtration die der Sattiguug mit einer mog-
lichen festen Phase iibertrifft, nennt man iibersattigt in bezug auf diese
Phase. Die Konzentration ist hierbei durch die chemische Zusammen-
setzung der festen Phase zu messen^).
Eine andere Definition einer iibersattigten Losung ist die rein
empirische, als einer Losung, in welcher sich die hineingebrachte feete
Phase vermehrt. Sie stimmt mit der eben gegebenen sachlich iiberein»
wenn man fiir die Definition der Konzentration die erforderliche Vor-
sicht anwendet.
Es ist wesentlich, zu bemerken, dass fiir die Definition der t)ber-
sattigung die Angabe einer bestimmten Form der festen Phase ebenso
erforderlich ist, wie fiir die Definition der Sattigung (und des unge-
sattigten Zustandes).
Diese Relativitat der Ubersattigung ist bereits von Lowel einge-
sehen worden, wenn dieser Forscher aucb noch nicht zu einer geniigen-
den Elarheit iiber die Bedingung der Sattigung selbst gekommen war.
e. Wird auf irgend eine Weise eine Losung hergestellt, in welcher
die Konzentration grosser ist, als der Sattigung mit einer bestimmten
festen Phase entspricht, ohne dass beim Uberschreiten des Sattiguogs-
punktes und weiter die feste Phase zugegen ist, so entsteht zunachst
immer eine iibcrsattigte Losung.
Ubersattigte Losungen lassen sich also auf alie Weisen erhalten,
durch welche der fragliche Stoff in Losung gebracht werden kann.
Der einfachste und am haufigsten beschrittene Weg ist der, durch
passende Anderung der Temperatur eine Losung aus dem festen Stoff
und dom Losungsmittel herzustellen, welche konzentrierter ist, als die
bei der Versuchstemperatur gesattigte Losung. In den meisten Fallen
liegt die dazu erforderliche Temperatur hoher, als die Versuchstempe-
ratur, doch kann sie auch niedriger liegen, wenn der Stoff eine mit
steigender Temperatur abnehmende Loslichkeit hat.
Doch entstehen ebenso gut, oder yielmehr besser (weil Keime der
*) Biese Bemerkung ist von Bedeutang fiir solche F&lle, wo die feste Phase
aus den beiden vorhandeDen Bestandteilen bestdht, wie z. B. bei kryst&llwasaer-
haltigen Salzen. £s giebt hier F&lle, in denen die Matterlauge weniger Waaser
enth<, als die Krystalle, und wo diese daher durch Anskrystallisieren der festen
Phase wasser&rmer wird. Solche Ldsnngen warden sich nicht der oben gegebmien
Hegel gem&88 beziiglich der tJbers&ttigung Terhalten, wenn man die Konsentratioa
auf wasserfreies Salz bezoge. Bezieht man sie aber, wie verlangt, auf die Zu-
sammensetzung der festen Phase, d. h. auf krystallwasserhaltiges Salz, so ersckeint
wasserfreies Salz als Losungsmittel, und die Kegel findet ihre sachgemtese An-
wenduDg.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 783
fasten Phase leichter auszuschliessen sind) iibersattigte Losungen duroh
alle Reaktionen, welche den fragliohen Stoff ergeben, wenn man sie
innerbalb des Losnngsmittels unter solchen Bedingungen ausfiibrt, dass
die Eonzentration den erforderlichen Betrag annimmt.
f. Unter den iibersattigten Losungen giebt es solche, welche sicfa
beim Ansschluss von Eeimen unter bestimmten Bedingungen anscheinend
unbegrenzt lange aufbewahren lassen, ohne jemals freiwillig die feste
Phase zu bilden. Solche Losungen soUen metastabile heissen.
Daneben giebt es iibersattigte Losungen, in denen nach kiirzerer
Zeit auch beim Ansschluss von Keimen die feste Phase freiwillig er-
Bcheint Derartige Losungen heissen labila
Metastabile Losungen zeigen den labilen aus den gleichen Stoffen
gegeniiber immer die kleinere Konzentration. Durch Vermehrung der
Konzentration geht also eine metastabile Losung in den labilen Zustand
iiber. Die Eonzentration, bei welcher der t}bergang erfolgt, heisse die
metastabile Grenze.
Die metastabile Grenze ist in erster Linie yon der Natur der
Stoffe, von der Temperatur und dem Drucke abhangig. Daneben wird
sie durch verschiedene andere Umstande beeinflusst, deren Aufklarung
noch aussteht Es ist deshalb zur Zleit kaum moglich, bestimmteres
iiber den Wert der metastabilen Grenze und die Methode ihrer Be-
stimmung auszusagen.
g. Befindet sich eine iibersattigte Losung in der Nahe der meta-
stabilen Grenze, so scheidet sie leicht freiwillig Erystalle ab, wenn sie
wechselnden Einfliissen, wie Verschiedenheiten des Druckes, der Tempe-
ratur, ortlicher Verdunstung u. dergl. ausgesetzt ist. Denn da jede
Oberschreitung der Grenze, wenn sie auch an einem noch so kleinen
Orte stattfindet, alsbald an dieser Stelle Erystallisation hervorrufen
kann, welche sich dann durch die ganze Masse fortsetzt, so ist fiir die
Bestandigkeit einer solchen Losung nicht der Mittelwert der Zustands-
grossen, wie ihn unsere gewohnlichen Messinstrumente angeben, ent-
scheidend, sondem sie reagiert auf die vorhandenen minimalsten Ab-
weichungen, welche im Sinne der Annaherung an die Grenze liegen.
Ifare Bestandigkeit ist daher von dem Betrage abhangig, welchen dieee
Abweichungen annehmen konnen. Dadurch, und wegen der ausser-
ordentlich geringen Mengen, in welchen Eeime bcreits wirksam sind,
machen sich viele uubekannte und unbeherrschte, daher zufallig ge-
nannte Einfliisse geltend, welche Erystallisation hervorrufeo, meist lange
bevor die metastabile Grenze fiir die vorhandenen Mittelwerte von
Temperatur, Druck u. s. w. erreicht ist.
50*
784 II- Ghemische Dynamik.
h. Eine andere mogliche Auffassung ist die, dass jede Uberschrei-
tung des Sattigungszustandes ein an sich unbestandiges Gebilde ergiebt,
welches nach kiirzerer oder langerer Zeit mit Notwendigkeit die feste
Form ausscheiden muss. Die vorber metastabil genannten Zostande
wiirden sich dann von den labilen nur dadurch unterscheiden, dass die
mittlere Zeit bis zum Eintreten der ersten Ausscheidung bei jenen sehr
gross, nach Monaten oder Jahren zu bemessen ware, wahrend sie sich
bei den anderen auf Tage oder Stunden beschrankt. Es bestande also
zwischen beiden Zustanden kein wesentlicher Unterschied, sondem nur
einer des Grades.
Ein prinzipielles Bedenken gegen eine solche Auffassung liegt nicht
Yor, doch kaun die zuerst ausgesprochene Ansicht als die wahrschein-
lichere bezeichnet werden.
i. Beim freiwilligen Verlassen des tibersattigten Zustandes txitt als
feste Phase nicht die auf, welche unter den vorhandenen Umstanden
die bestandigste ist, sondern die nachstliegende (S. 444). Es macht
keine prinzipiellen Schwierigkeiten, diesen Satz als allgemeingiiltig hin-
zustellen. Denn die vorhandenen Ausnahmen konnen immer als schein-
bare aufgefasst werden, indem die zuerst entstehenden weniger best&n-
digen Formen sich alsbald in bestandigere umwandeln. Es giebt einzelne
Beispiele, in welchen diese Reaktionsstufen nachgewiesen worden sind
(S. 770). Wenn man daher den Satz auch schwerlich irgendwie ex-
perimentell widerlegen kann, so legt doch jeder Ausnahmefall die Auf-
gabe nahe, auf irgend eine Weise (z. B. durch Verlangsamong der
Reaktion, Ausfdhrung in kleinstem Massstabe u. dergl.) die hypoihetisdi
anzunehmenden unstabilen Zwischenzustande wirklich nachzuweisen.
k. Die Cbersattigung kann ausser durch feste Keime des gelosten
Stoffes auch durch feste Keime von Stoffen aufgehoben werden, welche
jenem Stoffe isomorph sind. Hierbei ist wirkliche Isomorphic erforder^
lich; eine blosse Formahnlichkeit geniigt nicht.
Ausser den strong isomorphen Stoffen wirken auch noch andere
auslosend, welche diese Formbeziehung nicht zeigen. Es ist noch za
untersuchen, welche Bedingungen fur das Eintreffen dieser Wirkung
erfiillt sein miissen; vermutlich ist die Mischbarkeit im fasten Zustande
eine von diesen Bedingungen.
1. Die Menge des festen Stoffes, welcher noch Eeim wirkung aua-
liben kann, ist sehr gering, aber nicht unbestimmbar klein. Soweit die
bisherigen Untersuchungen gehen, liegen die kleinsten Mengen, fiir
welche Keimwirkungen nachgewiesen sind, zwischen 10^^ bis 10~^ g
festen Stoffes.
Chemische Gleichgewichte sweiter Ordnung. 785
153. Die LdsliohkeitBlinie. Sehr grosse Konsentrationen. Wird
»m
die XJbersattigung ansgeschlossen, so entspricht in einem aus festem
Korper, Losong und Dampf bestehenden Gebilde jeder Temperatur eine
ganz bestimmte Konzentration des letzteren in der Losuiig, und die
Geeamtheit der zusammengeborigen Werte lasst sich in Gestalt einer
Enrve darstellen, deren Eoordinaten Temperatur und Konzentration
sind. Seit dies zuerst von Gay-Lussac ausgefubrt worden ist (1, 1047),
sind zahlreicbe derartige Loslichkeitslinien bestimmt worden. AUgemeines
liber ihren Verlauf baben diese Forschungen nicbt ergeben, deren Einzel-
heiten an friiherer Stelle mitgeteilt worden sind (I, 1053 u. ff.); viel-
mebr bat sicb die Thatsacbe, dass dieser Verlauf sowobl durob die
Anderungen beeinflusst wird, welcbe der geloste Anteil, wie die, welcbe
die feste Pbase mit der Temperatur erfahrt, eben in der Unmoglichkeit
geltend gemacbt, diese individuellen Mannigfaltigkeiten in eine allge-
meine Formel zu fassen.
Der Fall liegt bier ganz abnlicb, wie der der gegenseitigen Beein-
flussung des Dampfdruckes zweier Fliissigkeiten, die sicb gegenseitig
reicblicb losen, und ebenso wie in jenem Falle werden wir liber die
beiden Enden der Loslicbkeitslinie allgemeine Auskunft baben konnen,
wabrend die Mitte das Gebiet der indiyiduellen Mannigfaltigkeit ist
Am einfacbsten yerbalt sicb das den grossen Eonzentrationen zu-
geborige Ende, und die bier waltenden Gesetze sind bereits (I, 741),
wenn aucb unter ganz anderem Gesicbtspunkte entwickelt worden. Ver-
gegenwartigen wir uns namlicb, dass die Loslicbkeitslinie einer sebr
konzentrierten Losung, d. b. einer solcben, welcbe einen grossen Uber-
scbuss des im festen Zustande anwesenden Stoffes entbalt, nicbts anderes
ist, als dessen Gefrierpunktslinie bei geringem Zusatze eines fremden
Stoffee, des „Losungsmittels*S so kommen wir zu dem Scblusse, dass
unter diesen Umstanden die Loslicbkeit einfacb durcb das Gesetz von
Raoult-van't Hoff gegeben ist. Demnacb ist bei aquimolekularen Mengen
yerscbiedener „Lo8ungsmittel'' die Gleicbgewicbtstemperatur unabbangig
Yon der Natur dieser Zusatze, oder die Loslicbkeit, gemessen durcb
den Molenbrucb in der Losung, ist unabbangig von der Bescbaffenbeit
des Losungsmittels, und andert sicb mit der Temperatur proportional
der Losungswarme ^).
') For die Leser, denen der 1891 erschienene erste Band dieses Lehrbaches
nicht zur Hand ist, lasse ich die dort gegebene Ableitung des Gesetzes anmerkungs-
weise folgen: „Wir denken uns eine grosse Menge der Lflsung, die aus n Molen
des gelOsten Stoffes und N Molen L^^sungsmittel besteht. Die Temperatur T sei die
ErBtarmngstemperatur des reinen LdsungsmitteLs. Wir emiedrigen diese auf T-dT,
786 II- Ghemische Dynamik.
Die fiir diesen Vorgang geltende Formel ist
WO die Mole des festen Stoffes mit N, die des Zusataes oder Losungs-
mittels in dem bier benutzten Sinne mit n bezeicbnet sind; L ist die
molekulare Schmelzwarme des ersten Stoffes, T die absolute Temperatur.
Die Gleichung lehrt, dass die Loslicbkeit unter der Voraussetzimg
grosser Konzentration des festeu Stoffes in der Losong sich mit der
Temperatur in einem Verhaltnis andert, welcbes nur von den Eigen-
schaften dieses Stoffes, und nicbt von denen des Losungsmittels abhangt
Fiir einen bestimmten Wert von JT, d. h. fiir eine bestimmte Tempe-
ratur unterhalb des Schmelzpunktes, ist auch der Wert von n/N ge-
geben, unabhangig von der Natur des Losungsmittels; driickt man also
die Loslicbkeit durch den Molenbruch aus, so kann man sagen, dass
die Loslicbkeit der festen Stoffe in der Nahe ibres Scbmelzpunktes fiir
alle Losungsmittel gleich ist
Diese Beziebung gilt offenbar ganz allgemein fiir alle die Stoffe,
die unter den bier bezeicbneten Bedingungen fliissige Losungen bilden
konnen. Hierfiir ist es aucb gleicbgiiltig, ob die Fabigkeit der gegen-
seitigen Losung im fliissigen Zustande unbegrenzt ist, oder nicbt. Nur
wird in dem Falle der begrenzten Loslicbkeit im fliissigen Zustande die
Erscbeinung dadurcb verwickelter, dass die Linie des Gleicbgewicbts
fest-flussig durcb eine zweite, unabbangige Gleicbgewicbtslinie fliissig-
fliissig gescbnitten wird. Dies ist nicbt der einzige Umstand, der zu
bis sich das L^^sungsmittel im festen Zustande auascheidet, and lassen soviel da-
von erstarren, ah zur LOsung eines Mols des Stoffes diente, also N/n Mole. Die
hierbei auftretende W&rmemenge betr> LN/n, wo L die molekulare Schmeli-
w&rme des Ldsungsmittels ist. Jetzt trennen wir Eis und Lflsung, und enrirmen
beide auf die ursprQngliche Temperatur T, wobei das Eis schmilzt, und die W&rme-
menge LN/n (bis auf ein unendlich Kleines) wieder frei wird. Die so erhaltene
Menge des Losungsmittels lassen wir endlich sich durch eine halbdurchlftssige
Scheidewand mit der LOsung mischen. Ist p deren osmotischer Druck, so ge-
winnen wir hierbei die Arbeit p v, wo v das Volum des Losungsmittels ist, welches
als Eis Yorhanden war.
Nach dem mehrfach benutzten Satze verh< sich dte bei einem umkehrbaren
Krelsprozess zu gewinnende Arbeit zur Gesamtmenge der beteiligteo W&rme, wie
der benutzte Temperaturunterschied zu der Temperatur des Oberganges. Die
Arbeit ist pv, die Gesamtw&rme LN/n; wir haben somlt
pvn/LN==dT/T.
Nun ist pv»RT; die Konstante R hat den gewOhnlichen Wert von 2cal»
Es folgt somit n/N _. /ot«"
Chemische Oleichgewichte zweiter OrdnuDg. 787
einer Unterbrechung der Losungslinie fiihren kann. Auch hylotrope
UmwandluDgen aller Art, mit oder obne Beteiligung des Losungsmittds,
konnen solche Unterbrechungen hervorbriDgen. Da auf alle diese Mog-
lichkeiten spater eingegangen werden soil, so kann ibre Betrachtung
an dieser Stelle unterbleiben, urn so mehr, als die allgemeinen Ver»
haltnisse, zu deren Erorterung zunachst gescbritten werden soil, durcb
sie nicbt wesentlich berilhrt werden.
Die eben gegebene Gieicbung ist unter der Voraussetzung abge-
leitet worden, dass die Konzentration der Losung in Bezug auf den
festen Bestandteil sebr gross ist. Sie gilt also mit anderen Worten fiir
das obere Ende der Losungslinie, und ibre Anwendung wird urn so
nnsicherer, je weiter man sicb von diesem entfernt, und sicb in mitt-
lere Gebiete der Loslicbkeit begiebt.
154. Sehr kleine Konzentrationen. Wir betrachten das andere
Ende der Losungslinie, wo die Menge des aufgelosten festen Stoffes
sehr klein ist Indem wir unter diesen Umstanden die Gesetze des
osmotischen Druokes in der Gestalt der Gasgesetze anwenden konnen,
erhalten wir far die Losung eines festen Stoffes in einer Fliissigkeit
eine Gieicbung, die mit der fiir die Verdampfung eines festen oder
fliissigen Stoffes die grosste Abnlichkeit bat, indem an Stelle des Dampf-
druckes der osmotiscbe Druck tritt.
Ersetzen wir daber in den Betracbtungen von S. 350 das Gebilde
Fliissigkeit- Dampf durcb ein Gebilde fester Stoff- Losung, so konnen
wir die dort vorausgesetzten Vorgange mit Hilfe einer balbdurcblassigen
Scheidewand wiederbolen, und erbalten genau dieselben Gleicbungen
dp/dT == Q/T V und unter Einfubrung der Gasgesetze d In p/dT= Q/RT«,
wo Q die Bedeutung der Losungswarme erbalt. . Indessen ist bierbei
zu beachten, dass entsprecbend der Ableitung die Losungswarme unter
Einbeziehung der ausseren Arbeit, d. b. unter Oberwindung des osmo-
tischen Druckes p zu recbnen ist. Bei der experimentellen Bestimmung
der Losungswarme wird aber diese Bedingung nicbt erfiillt; die Auf-
losung erfolgt durcb das ungesattigte Losungsmittel, ist also der Ver-
dampfung in einen leeren Raum binein zu vergleicben. Fiir diesen
Fall gilt (S. 351) die Beziebung dlnc/dT = q/RT«, wo q die gewobn-
licbe Losungswarme und c die Konzentration ist.
Diese Gieicbung ist unabhangig durcb van'tHoff^) undLeCbatelier')
aafgestellt und von dem ersteren auch an den vorhandenen Daten quan-
') Arch. Neerl. 20, 53. 1896.
*) Gompt. rend. 100, 441. 1885.
788 n. Ghemische Dynamik.
iitatiy gepriifb worden (I, 1059). Wenii auch das Ergebnis der Priifung
unzweifelhaft im allgemeiDen fiir die Giiltigkeit der Gleichung spricht,
80 ware eine genauere, auf den Punkt gerichtete Untersuchong einiger
einfacher Falle, insbesoodere bei nichtdissociierten Stoffen» doch immer
noch sehr zu wunscliea.
Die Gleichung gilt yermoge ihrer Ableitung nur fiir sehr verdiinnto
Losnngen des festen Stoffes, bei denen die Gesetze des osmotischen
Dmckes noch die Gestalt der einfachen Gasgesetze haben. Vergleicbt
man sie indessen mit der S. 786 gegebenen Gleichung fiir sehr grosse
Konzentrationen des festen Stoffes in der Losung, so zeigen sich beide
identisch. Denn da in der obenstehenden Gleichung die Einheit der
Konzentration gleichgiiltig ist» indem dine von dieser Einheit unab-
hangig ist, so kann man in den sehr konzentrierten Losungen dieee
durch den Molenbnich N/(N-f-n) ersetzen. Entwickelt man aber unter
der Voraussetzungy dass N sehr gross gegen n ist, den Logarithmus in
eine Reihe, so ergiebt sich die S. 786 gegebene FormeL
Wir kommen also anscheinend zu dem Ergebnisse, dass fiir die
beiden Enden der Losungslinie die gleiche Formel gilt. Dies ware
aber nur unter der Voraussetzung richtig, dass man fiir die beiden
Enden den gleichen Wert der Losungswarme benutzen kann. Nun hat
q fiir hohe Konzentrationen, also in der Nahe des Schmelzpunktes den
Wert der Schmelzwarme, denn die von der Vermischung der Schmelze
mit dem zugesetzten Stoff herriihrende Warmemenge ist nur ein kleiner
Teil der gesamten Warmetonung des Vorganges, entsprechend der Vor-
aussetzung, dass dieser Zusatz selbst klein ist. Hier wird also die Los-
lichkeit in der That entsprechend den S. 786 gegebenen Betrachtungen
unabhangig yon der Natur des Zusatzes oder des Losungsmittels sein.
Anders aber wird es sich am anderen Ende der Losungslinie ver-
halten. Hier lost sich der feste Stoff in einem Mittel auf, das vorwie-
gend aus dem anderen Bestaudteile besteht; denken wir uns ihn erst
geschmolzen und dann mit der Flussigkeit vermischt, so fiigt sich der
Schmelzwarme noch die positive oder negative Warmetonung hinza» die
von der Wechselwirkung der beiden FlUssigkeiten herriihrt. Diese hat
gerade im vorliegenden Falle ihren hochsten Wert (fiir die Einheit des
gelosten Stoffes) erreicht, und ist von der Natur des Losungsmittels
nicht minder abhangig, als von der des Gelosten. Es wird also an
dieser Stelle die Gestalt der Losungslinie durch einen spezifischen Faktor
beeinflusst, der von der Natur der beiden beteiligten Stoffe herrohrt^
und der erfahrungsmassig den anderen Anteil der Losungswarme, der
von der Verfliissigung des festen Stoffes herriihrt, welt iibertreffen kann.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnuog. 789
Durch diese Betrachtungen wird die voUstandige Analogie dieses
Falles mit einem andereu hergestellt, an den er von vornherein er-
innerte: mit der Lfosimg der Gase und Dampfe in Fliissigkeiten. In
beiden Fallen treten beim Vorwiegen des einen Bestandteils einfache
Gesetze ein. Fines von diesen, namlich das fur den im tlbermasse vor-
handenen Bestandteil geltende, ist allgemein und unabhangig von der
Beschaffenheit des Zusatzes, wenn dieser in aquimolekularen Mengen
yerwendet wird. Das andere dagegen, das sich auf den in geringer
Menge vorhandenen Bestandteil bezieht, enthalt eine spezifische Eon-
stante, welche von der gegenseitigen Beeinflussung der beiden Stoffe
herriihrt, und diese zum Ausdruck bringt.
155. Die einfaohste LOsungslinie. Der Umstand, dass beide
Enden der Losungslinie durch analoge Gesetze beherrscht sind, ergiebt
als den einfachsten der moglichen Falle den, dass fur alle Konzentra-
tionen das gleicbe Gesetz sich anwenden lasst. Und zwar wird man
nach Analogie des Falles der sich nicht gegenseitig beeinflussenden
Fliissigkeiten den Molenbruch N/(N4-n) ^Is das Mass der Eonzentra-
tion Oder wirksamen Menge anzunehmen haben (S. 612). Da femer
die fiiissig gedachten Stofife sich gegenseitig nicht beeinflussen soUen,
so muss ihre Mischungswarme gleich Null sein. Dadurch geht die
Losungswarme q der Gleichung
dlnc/dT = q/RT«
in die Schmelzwarme des festen Stoffes iiber.
t)berlegungen dieser Art sind zuerst von J. Schroder^) angestellt
worden, wenn auch in etwas anderem Zusammenhange. Unter der An-
nahme, dass q von der Temperatur unabhangig ist, dass also die
Warmekapazitat der Losung sich additiv aus denen der Bestandteile
zusammensetzt, integriert er die Gleichung, und erhalt zunachst In c =
q/RT + G. Zur Entfernung der Integrationskonstanten C wendet er die
Gleichung auf die Eonzentration 1, d. h. den reinen festen Stoff an;
dann wird lnc = 0 und C = q/RTo, wo Tq die Schmelztemperatur ist.
Hieraus ergiebt sich die Integralformel
1 ^ M ^
T
welche die Abhangigkeit der Loslichkeit c von der Temperatur dar-
stellt «).
^) Zeitochr. f. phys. Ghemie 11, 449. 1893.
*) In seiner Abhandlung (a. a. 0. S. 452) bemerkt Schr6der, dass die oben-
atebende Gleichung die Beziehung q/Ts^L/To — const, mit sich bringe, wo q
790 II' Chemische DynamiJc.
Diese einfachsten Verfaaltnisse, welche bei der Ableitung der an-
gegebenen Beziehung vorausgesetzt waren, liessen sich am ehesten bei
den Losungen von festen Kohlenwasserstoffeu oder ihren Halogenab-
kommlingen in entsprechenden Flussigkeiten erwarten, well hier der
Grad der gegenseitigen Beeinflussung am geringsten anzunebmen war.
Demgemass bestimmte J. Schroder die Loslichkeit von p-Dibrombenzol
und von Naphtalin in verschiedenen derartigen Losungsmitteln; zum
Vergleicb und * um die Abweichung im Falle komplexer Losungsmitiel
zu zeigen, wurden auch einige Alkohole benutzt.
Die Ergebnisse sind iibersichtlicb in der bcistefaenden Fig. 134 dar-
gestellt. In dieser beziehen sich die mit Kreuzen bezeicbneten Kurven
auf Naphtalin, die mit Puukten auf Dibrombenzol. Die Losongsmittel
8ind mit Buchstaben angegeben^ und zwar bedeutet: a Athylalkohol,
b Propylalkohol, c Isobutylalkohol, d Athylather, f Benzol, g Brom-
benzol. Als Abscisse ist der Molenbruch, als Ordinate die vom Schmelz-
punkt abwarts gezahlte Temperatur benutzt wordon.
Wie man sieht, fallen einerseits die Kurven der Alkohole* anderer-
seits die der Eohlenwasserstoffe und des Athers ziemlich nahe zusammen
und zeigen so, dass wirklich im Grenzfalle die Loslichkeit nur oine
Funktion des Molenbruchs ist. AUe diese sind Losungen von p-Dibrom-
benzol. Die Losungen von Naphtalin in Benzol, Chlorbenzol, Tetra-
chlormethan sind mit h, i und j bezeichnet.
Berechnet man gemass der Formel S. 789 die Schmelzwarme
aus den verschiedenen Kurven, so erhalt man Zahlen, die zwischen
45 K und 50 K schwanken. Sie sind fiir beide geloste Stoffe gleich,
wie sich auch aus dem Zusammenfallen der Loslichkeitslinien entnehmen
die LdsuDgsw&rme bei der Temperatur T und L die Schmelzw&rme ist. Doch ist
dies ein Widerspruch mit der Yoraussetzuog der Integration, wooach q konstant
und unabh&ngig von der Temperatur sein soil. Da aber umgekehrt die Entwick-
lung der Voraussetzung, dass sich die LOsungsw&rme in der angegebenen Weise
mit der Temperatur &ndere, wegen der Obereinstimmung der Funktion mit der
Troutonschen Regel (I, 354) ein gewisses Interesse hat, so soli die Integration der
ursprQoglichen Gleichung auch unter dieser Voraussetzung ausgefOhrt werden.
Ersetzt man q in der Gleichung durch den Wert LT/To, so ist das Integral
lnc>»LlnT/RT-|-const. Wird die Eonstante in derselben Weise eliminlertf wie
L T e ^'^«
oben, so folgt In c =» ^ ^=— In rp- , oder c = T — ^ — . Die LCslichkeit wttrde also
Kio Iq Iq
proportional der absoluten Temperatur wachsen, da alle tlbrigen Werte in dem
Ausdrucke konstant sind. Die von Schrdder beobachteten LOslichkeitskorven weichen
indessen von der Geradeu zu stark ab, als dass man die Beziehung als zutreffend
ansehen kdnnte.
Chemische QMchgawiehte iweiter Ordaimg.
791
laast Die Schmelzwajine des Naphtalins ist duroh AUuard zn 45-3 K
beBtimmt worden, aos der molekulareii Schmelzpunkteemiedriguug be-
reohnet sie sidi zu 454 K. Es besteht also auch in dieser Beziehung
ziemlioh gute UbereiDstimmtiDg.
Fig. 134.
Eioe audere BeBtatiguug wurde dadurch erbracht, dase die Loslich-
keit TOD p-Dibrombenzol in verechiedenea GemeDgeo von Benzol und
Chloroform gemessen wurde; ea ergab sich, dass bei gleicber Gesamt-
zahl der Mole des LosuDgsniittels uod gleicber Temporatur auch gleicbe
Loslicbkeit beobacbtet wurde.
156. Ber Verlauf der Iidsungslinle. Je nacbdem die Losungs-
v&rme als konatant, Oder als der absoluten Temperatnr umgekebrt
proportional angeDommen wird, erhalten wir nnter den im Torigen
Paragraphen gemachten Vorauasetzungen fiir die Loaungalinie entweder
792 II* Ghemische Dynamik.
eine Exponentialkurve oder eine Gerade, wenn wir als Argumente den
Molenbnich und die Temperatur nehmen. Von diesen Normalformeo
weichen die wirklichen Losungslinien in sehr mannigfaltiger Weise ab»
und wir konnen uns einen allgemeinen tJberblick iiber die vorhandenen
Moglichkeiten yerschaffen, wenn wir die typischen Falle aufstellen.
Hierbei ist vorauszuscbicken, dass es im allgemeinen nicbt moglich
ist, voUstandige x-T-Kurven experimentell zu beobachten. Durch eine
Extrapolation, die heutzutage nicbt mehr sehr weit ist, konnen wir die
Behauptung aufstellen, dass bei hinreichend niedriger Temperatur alle
Stoffe in den festen Zustand iibergehen. In der Nahe seines Erstarrungs-
punktes wird also ein jeder Stoff auf boren miissen, als flussiges Losungs-
mittel zu wirken, und die Losungslinie wird sicb unter den Erstarrungs-
punkt nur um ein gewisses Stiick verfolgen lassen. Dieses Stiick besteht
aus einem stabilen Anteile^ der bis zu der Temperatur geht» wo die
gesattigte Losung mit den Erystallen des festen Losungsmittels im
Oleichgewicbt ist. Im Anschluss an den zuerst genauer studierten der-
artigen Fall bei wasserigen Losungen nennt man diesen Punkt den
kryohydratischen (vgl. I, 777). Weiter lasst sich die Losungslinie
riickwarts noch in das dort angrenzende metastabile Oebiet verfolgen.
Die Losung ist dort in bezug auf die feste Form des Losungsmittels
iibersattigt, und hat alle Eigenschaften dieses Zustandes (S. 782). Wo
das freiwillige Auftreten der festen Form nicbt hintangehalten werden
kann, hort die Moglichkeit der Untersuchung der Losungslinie auf; hier
liegt also praktisch ibre untere Grenze.
Die obere Grenze liegt, wie schon dargelegt wurde, beim Schmelz-
punkt des reinen, von Losungsmittel freien festen Stoffes.
Zwischen diesen beiden Grenzen sind weitere Unterbrechungen der
Losungslinie moglich; sie stellen sich ein, wenn die feste Phase des
Gebildes fliissig wird, ohne dabei sich vollstandig aufzulosen. Diese
Erscbeinung des Schmelzens unter dem Losungsmittel tritt bei niedrig
scbmelzenden und wenig loslichen festen Stoffen haufig genug ein. Sie
lasst sich als die Folge einer Durchschneidung der Losungslinie fest-
flussig durch eine andere fliissig-fiussig, die zwischen denselben Stoffen
auftritt, auffassen, und ibre genauere Betrachtung wird spater bei der
allgemeinen Behandlung der Durchschneidungsvorgange univarianter
Linien vorgenommen werden. Durch einen solchen Umstand wird aus
der Losungslinie ein mittleres Stiick herausgeschnitten und der Beob-
achtung entzogen. Wegen der Unmoglichkeit, Cberschreitungen in 6e-
bilden zu erzielen, aus denen sich Fliissigkeiten abscheiden konnen
(S. 696), sind die Gebiete zwischen diesen Durchschnittspunkten beider*
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 793
seits experimentell unzuganglich. Die sich aus der Erfahrung und
theoretisch aus der Phasenregel ergebende Thatsache, dass die beiden
Enden solcher herausgeflchnittener Gebiete bei derselben Temperatur
liegen, and nur durch die Werte der Konzentrationen verscbieden sind,
wird gleichfalls spater erortert werden.
Andere Arten, wie die Ldsungslinie unterbrocben werden kann,
liegen in der Moglicbkeit anderer hylotroper Umwandlungen innerhalb
des Temperaturgebietes der Losung. Von solcben sind insbesondere die
polymorphen Umwandlungen zu erwahnen. Liegt ein Umwandlungs-
punkt innerhalb des untersuchten Temperaturgebietes, so schneiden sich
in diesem Punkte die Losungslinien der beiden Formen, ganz ebenso,
wie sich im Obergangspunkte die beiden Dampfdrucklinien schneiden.
Da hier im allgemeinen Uberschreitungen leicht eintreten, so lassen
sich meist beide Linien iiber ein mehr oder weniger breites gemein-
sames Temperaturgebiet verfolgen. Doch gelangt man notwendig beiderseits
schliesslich in das instabile Oebiet, wo die Umwandlung nicht dauemd ver-
hindert werden kann, und damit an die Enden der Losungslinien. Durch
den Umstand, dass die gegenseitige Umwandlung gerade unter Mitwirkung
eines Losungsmittels besonders leicht erfolgt, ist eine Ursache gegeben,
welche verkiirzend auf die zuganglichen Gebiete der Losungslinie wirkt.
Nach diesen Vorbemerkungen konnen wir an die Obersicht der
Losungslinien geben, von denen die einfachsten Falle in Fig. 135, 136
and 137 dargestellt sind.
157. Versohiedene G^stalten der LdsungBlinie. Ahnlich, wie
S. 617 die moglichen Formen der Dampfdrucklinien untersucht worden
waren, um eine Ubersicht der in Wirklichkeit denkbaren Falle zu ge-
winnen, kann man eine Zusammenstellung der denkbaren Falle der
Losungslinien ausfuhren, die zur Elarung der Beobachtungsergebnisse
in diesem Gebiete von Nutzen sein wird.
AIs Eoordinaten der Ldsungslinie benutzen wir zunachst den
Molenbruch und die Temperatur; ersteren wesentlich deshalb, weil er
ein endliches Diagramm ergiebt Fiir die Untersuchung des Zusammen-
hanges der Ldsungslinie mit der Losungswarme wird es vorteilhafter
sein, statt des Molenbruches seinen Logarithmus zu nehmen, weil er
der Losungswarme proportional ist (S. 787) und dadurch eine einfachere
Deatung der auftretenden Formen ermoglicht; fur den augenblicklichen
Zweck konnen wir indessen auf diesen Vorteil verzichten.
Demnach haben wir zunachst die in Fig. 135 bis 137 dargestellten
dnfachsten Gestalten der Ldsungslinie. Der Auslauf dieser Linie naoh
der Seite der hdchsten Temperaturen muss immer, wie in der Figur
794
II. Chemische Dynamik.
gezeichnet, nach rechts ansteigend sein. Denn da dieses Ende die Er*
niedrigiing des Schmelzpunktes des LosuDgsmittels des festen Stoffes
Fig. 136.
durch geringe Mengen des Losungsmittels darstellt, so muss notwendig
die Eonzentration des ersteren in dem Gefass der Losung mit 9teigen-
der Temperatur zunehmen, bis
der Molenbruch beim Scbmelz-
punkt den hochsten Wert Elins
erreicht. Die Losungswarme geht
bier in die Scbmelzwarme iiber,
und da diese erfabrungsmassig
immer positiv ist, d. h. einer
Warmeaufnabme entspricbt, so
ist dieser Gang fiir das Ende
der Losungslinie allgemein.
Ebenso muss der Beginn der
Fig. 186.
Losungslinie bei tiefen Temperaturen, wie in den Figuren gezeichnet,
nacb recbts (auf- oder absteigend) verlaufen. Denn wir werden spater
Fig. 187.
sehen, dass linkslaufige Losungslinien iiberhaupt nicbt yorkommen
konnen, sondern zum Auftreten neuer Pbasen fubren miissen.
Chemische Gleichgewichte zweiier Ordnung. 795
Wahrend in den Linien 1 bis 3 die KriimmuDg immer in einem
Sinne sich andert, so dass die Linien entweder nach der Temperatur-
achse nur konkav oder nur konvex (mit der Geraden als Mittelfall) ver*
laufon, baben wir in 4 und 5 Falle, in denen die Linien je einen
Wendepunkt baben. Man kann sie als Zasammenstellungen der Linien
1 und 3 anffassen, d. b. die Ursacben, welcbe diese beiden Fonnen er-
geben, sind in 4 und 5 an demselben Stoffpaar tbatig, nur bei ver-
scbiedenen Temperaturen.
Macben sicb diese Ursacben nocb kraftiger geltend, so erscbeint
an Stelle des blossen Wendepunktes eine S-formige Kriimmung. Diese
kann wie in 6 nacb der Acbse des Molenbrucbes, oder wie in 7 nacb
der Acbse der Temperatur entwickelt sein; beide Falle bedingen wesent-
licb verscbiedene Erscbeinungen.
Der einfacbere Fall wird durcb 6 dargestellt. Mit steigender Tem-
peratur nimmt die Loslicbkeit zuerst zu, erreicbt ein Maximum, nimmt
dann wieder bis zu einem Minimum ab, und erbebt sicb von da ab
scbliesslicb mit steigenden Werten bis zum Scbmelzpunkt des festen Stofifes.
Wir baben bier den bemerkenswerten Fall der Abnabme der Los-
licbkeit mit steigender Temperatur. Zwischen den durcb Sterne ge»
kennzeichneten Werten des relati?en Maximums und Minimums der
Eonzentration geboren, wie man aus der Zeicbnung ersiebt, zu jeder
Eonzentration drei verscbiedene Temperaturen, d. b. es kann dieselbe
LoBung bei drei verscbiedenen Temperaturen mit dem festen Stoffe im
Gleichgewicbt sein. 1st aus einem der oben angegebenen Griinde nicbt
die ganze Losungslinie der Beobacbtung zuganglicb, so kann sicb die
Zahl solcher korrespondierenden Temperaturen auf zwei bescbranken.
Aus der durcb 5 gekennzeicbneten Losungslinie entwickelt sich
die Form 7, Fig. 136. Hier ist die S-formige Scbleife anders gelagert^
und man wiirde nacb der Analogic auf die Moglicbkeit von drei ver-
scbiedenen Eonzentrationen scbliessen, die bei derselben Temperatur
mit demselben festen Stoffe im Gleicbgewicbt sind. Docb wiirde ein
solcber Scbluss irrig sein, denn diese drei Zustande lassen sicb nicbt
verwirklicben.
Um die Unmoglicbkeit eines derartigen Yerlaufes einzuseben, ver-
gegenwartige man sicb die Bedeutung der Losungslinie. Sie trennt die
Eonzentrationen der Losung, welcbe dem nichtgesattigten Zustande ent-
sprechen, und die zur recbten Seite der Linie liegen, von den einer
tibersattigung entsprecbenden auf der linken Seite. Die Punkte der
Linie selbst stellen die Eonzentrationen der Losung dar, die bei den ent-
sprecbenden Temperaturen mit dem festen Stoffe im Gleicbgewicbt sind.
796
IL Chemiflche Dynamik.
^H£H^^E^
Fig. 138.
Bei dem durch die Linie 7 angegebenen Verlaufe, der zar besseren
Anschauung in Fig. 138 noch einmal gezeichnet ist, wiirde eine Losong,
die durch den Punkt c dargestellt ist^ ungesattigt sein; sie wiirde also
zugefiigte Mengen des festen Stoffes auflosen, oder man konnte ihr
Losongsmittel bis zu einem gewissen Betrage entziehen, worauf sie den
festen Stoff ausscheiden wiirde. Dies
wiirde, wenn der Vorgang bei konstanter
Temperatur durchgefuhrt wird, einer Be-
wegung des Panktes c nach oben, also
nach d entsprechen. Fiigen wir nan om-
gekehrt Losungsmittel bei konstanter
Temperatur zu, so bewegt sich der Punkt
senkrecht nach unten und gelangt bei e
wieder auf die Sattigungslinie. Die Losang
miisste also durch Zufiigung des Losungs-
mittels, oder, was dasselbe ist, durck
Entziefaung des Gelosten dazu gebracht werden konnen, dass sie den
gelosten Stoff abscheidet. Eine solche Forderung erscheint widersi'nnig,
und deshalb ist eine rucklaufige Losungslinie ausgeschlossen.
Ist sonach eine Linie von der Oestalt 7 nicht in Wirklichkeit faer-
stellbar, so kann man sich doch die Frage stellen, ob dieser Form
nicht eine ebenso theoretische Bedeutung zukommt, wie der ganz ent-
sprechenden „theoreti8chen^^ Druck-Temperaturlinie beim Obergange der
Fliissigkeiten in den Oaszustand (1,297); ein noch naher liegender Fall
von solcher Beschaffenheit liegt in der Teildnicklinie gewisser Fliissig-
keitsgemischo (S. 690) vor. In jenen Fallen wurde die Unmoglichkeit
der theoretischen Eurve stets auf dieselbe Weise umgangen: es trat
eine neue Phase auf, durch welche an der Stelle der S-formigen Linie
eine Gerade erscheint. Durch diese neue Phase bleibt der Druck nicht
mehr eine Funktion des Mischungsverhaltnisses, sondem wird von diesem
unabhangig. Diese RoUe iibernimmt im vorliegenden Falle eine fliissige
Phase, und die Erscheinung besteht darin, dass der feste Stoff unter
dem Losungsmittel schmilzt, bez. sich aus der Schmelze des festen
Stoffes eine Losung mit iiberwiegendem Losungsmittel aussondert.
Werden also bei gegebener Temperatur zu dem Losungsmittel
wachsende Mengen des festen Stoffes gesetzt, so losen sich diese erst
voUstandig auf, bis der entsprechende Punkt der Losungslinie erreicht
ist. Erhoht man die Temperatur, so bieiben die Erscheinungen zunachst
xlieselben, nur dass die Loslichkeit zunimmt. Schliesslich wird aber
eine Temperatur erreicht, wo der feste Stoff unter der Losung schmilst,
Chemische Gleichgewichte z welter Ordnnng. 797
und maD hat an dieser Stelle ein nonvariantes vierphasiges Gebilde,
"v^o neben Losung und Dampf noch der feste Stoff und seine (losungs-
mittelhaltige) Schmelze vorhanden ist. Wird bei dieser Temperatur
weiterer fester Stoff zugefugt, so andert sich auch bei Warmezufuhr
die Temperatur nicbt, denn der feste Stoff verfltissigt sich, und das
Oebilde yerhalt sich wie das nonvariante Oebilde Eis-Wasser- Dampf.
Wird umgekehrt dem festen Stoffe bei seinem Schmelzpunkte etwas
Losungsmittel zugefugt, so muss man die Temperatur zur Elrhaltung
des Gleichgewichts sinken lassen; man bewegt sich auf der oberhalb b
gelegenen Linie abwarts. Bei einer bestimmten Temperatur lost dann
die Schmelze nicht mehr vollstandig das zugefiigte Losungsmittel, son-
dern dieses scheidet sich (gesattigt mit dem festen Stoffe) ab. Wir
faaben in diesem Punkte wieder ein nonvariantes Gleichgewicht aus
dem festen Korper, Dampf, Losung und Schmelze. Wird bei dieser
Temperatur weiteres Losungsmittel zugefugt, so andert sich die Tempe-
ratur auch bei Warmezufuhr nicht, sondera es geht ein entsprechender
Toil des festen Stoffes in gesattigte Losung liber, so lange alle vier
Phasen vertreten bleiben.
Wir haben also, vom anderen Ende der Losungslinie ausgehend,
ein Gleichgewicht erhalten, das aus denselben Phasen besteht, wie das
ersie, und mit diesem in der That in alien Stlicken identisch ist. Denn
da beide Gleichgewichte vierphasig sind, so besteht keine Freiheit mehr,
uod die beiden Gebilde miissen auch beziiglich der Temperatur und
der Zusammensetzung der einzelnen Phasen libereinstimmen. Eine Ande-
rang in der Gesamtzusammensetzung andert nur die relativen Mengen
der Yorhandenen Phasen, was definitionsgemass ohne Einfluss auf das
Gleichgewicht ist.
Diese letzte Bemerkung lasst gleichzeitig erkennen, dass der hier
geforderte Zustand nur dadurch erreicht werden kann, dass zwei Phasen
von veranderlicher Zusammensetzung, d. h. zwei Losungen entstehen.
Dorch das Auftreten einer zweiten festen Phase wiirde sich die For-
derung, dass ein nonvariantes Gebilde bei willkiirlicher Gesamtzusammen-
setzung entstehen soil, nicht erfdllen lassen.
In diesen Erwagungen ist endlich auch der Grand gegeben, aus
welchem die Losungslinie nur nach rechts verlaufen kann.
Eine weitere Mannigfaltigkeit ist endlich durch die in Fig. 137
zuaammengestellten Linien gegeben. Die nach unten konvexe Form kann
namlich so weit gesteigert werden, dass die Loslichkeit bereits beim
I Beginn der Losungslinie mit steigender Temperatur abnimmt Der
' weitere Verlauf kann dann fortdauernd konvex nach unten sein, 8,
I Ostwald, Chemie. 11,3. a.Auil. 51
798 ^^' Chemische Dynamik.
Oder einen Wendepunkt aufweisen, 9, oder endlicb eioe S-formige
Kriimmung cnthalten, 10. Da man 8 als einen oberen Teil von 6 auf*
fassen kann, und auch die anderen Formen keine Eigenschaften ergeben^
die von den bereits besprochenen verscbiedcn sind, so bediirfen sie
keiner neuen Erorterung. Aucb braucbt kaum erwahnt zu werden, dass
aus den gegebenen Elementen sich nocb andere GesamtkurTen zusammen-
stellen lassen. Die dabei entstebenden Mannigfaltigkeiten ergeben aber
nirgends neue Beziehungen.
Als wesentlicber Punkt soil nocb her?orgehoben werden, dass bei
aller Verscbiedenbeit der Losungslinien doch ein stetiger Verlaaf bei
alien vorausgesetzt werden muss. Denn dieser Verlauf ist in seiner
Ricbtung wesentlich durcb den Wert der Losungswarme gegeben; diese
aber kann uur stetige Anderungen erleiden, so iange die Pbasen selbst
sicb stetig andern. Nur in Punkten, wo eine vorbandene Pbase yer-
scbwindet und sicb in eine andere von anderen Eigenschaften Yer-
wandelt, erfabrt die Losungswarme eine sprunghafte Anderung. Diese
fiibrt zu einem Sprung in dem Differentialquotienten dx/dX, und damit
zu einem Knick (niebt einem Sprung, vgl. weiter unten) in derLosangs-
linie. Umgekebrt beweist ein Knick in dieser Linie einen Sprung in
der Losungswarme und damit eine unstetige Zustandsanderung einer
der Pbasen. Diese Unstetigkeit wird sicb notwendig an der festen
Pbase Yorfinden, da in der Dampfpbase solche Unstetigkeiten aosge-
scblossen sind.
An spaterer Stelle wird gezeigt werden, dass solcbe Knicke immer
als Durchscbnitte zweier stetiger Losungslinien aufzufassen sind, die
sicb auf verscbiedene Pbasen neben der Losung bezieben. Die zu den-
selben Pbasen gehorigen Losungslinien sind daher immer stetig. Die
Enickstellen der Losungslinien bezeicbnen die Temperaturen, bei denen
die Umwandlung der neben der Losung anwesenden Phase erfolgt
Auch bier ist die Analogic mit den Dampfen durchgangig Yorhanden
(S. 437).
Oberblickt man die Gesamtbeit der Linien, so zeigt sicb im all-
gemeinen positives Ansteigen der Losungslinien als die Kegel, wahiend
negative Differentialquotienten seltener erscbeinen. Demgemass aind
aucb Maxima oder Minima der Loslicbkeit auf einzelne Falle besehrankt;
letztere treten bei 6, 8, 9 und 10 auf; ein Maximum der Loalichkeit
ist gar nur im Falle 6 vorhanden, und man darf aus zu Tage liegeo-
den Griinden sagen, dass eine vollstandige Losungsliuiey die ein Maad-
mum enthalt, dabinter ein Minimum haben muss, weil zum Schluas die
Linie jedenfalls aufsteigt.
Chemische Gleicbgewichte zweiter Ordnung. 799
Wenn auch in den zusamdliengestellten Fallen nicht alle Moglich*
keiten erschopft sind, so lehrt docb ein Vergleicb mit der Er&hrungy
so weit sie bisher reicbt, dass in der Tbat die eben angedeutete an-
nahernde Statistik aucb beziiglich der wirklicben Erscheinungen zatrifft.
Die mit steigender Temperatur wachsende Loslicbkeit ist bei weitem
der baufigste Fall, und von jeber hat man den umgekebrten Fall aU
einigermassen abnorm angeseben.
158. Die LOsungswajrme. Zwiscben dem Einflusse der Temperatur
auf das Losungsgleicbgewicbt und der dabei erfolgenden Warmetonung
bestebt eine Beziebung, die bereits mebrfacb erwabnt worden ist, und
welcbe die eine der beiden Grossen innerbalb gewisser Grenzen au8
der anderen ableiten lasst.
In ibrer allgemeinsten Gestalt erscbeint diese Beziebung als eine
Differentialgleicbung von der Form dp/dT = dQ/Tdv (vgl. S. 787). wo
p in der Anwendung auf Losungen den osmotiscben Druck, T die ab-
solute Temperatur bedeutet; dv und dQ sind die bei einer isotbermen
unendlicb kleinen Zustandsanderung gleicbzeitig erfolgenden Anderungea
des Volums und des Warmeinbalts, wabrend dp und dT die Zunabme
des osmotiscben Druckes mit der Temperatur bei konstantem Volum,
d. b. obne aussere Arbeit bedeuten.
In dem bier vorliegenden Falle einer Pbase von unveranderlicher
Zusammensetzung konnen die Grossen dQ und dv endlicb genommen
werden, da der Druck p der gesattigten Losung nur eine Funk-
tion der Temperatur, aber keine der relativen Mengen der Bestand-
teile ist, und wir baben dp/dT = Q/Tv; bier wird Q am besten als
die Warmetonung beim Uborgange von einem Mo^ des festen Stoffes
in den Zustand der gesattigten Losung unter Aufnabme der erforder-
licben Menge des Losungsmittels, und v demgemass das Molekularvolum
der gesattigten Losung minus dem des festen Stoffes gerecbnet Dabei
ist vorausgesetzt, dass die Vorgange umkebrbar erfolgen. Zu diesem
Zwecke ist die erforderlicbe Menge des Losungsmittels durch eine
halbdurcblassige Wand so zuzufiibren, dass diese dabei stets eine dem
osmotiscben Drucke der gesattigten Losung entsprecbende Arbeit nach
aussen leistet. Experimentell bewirkt man aber die Auflosung immer
obne die balbdurcblassige Wand, und es wird daber die entsprecbende
Energiemenge nicbt aus dem Gebilde bcrausgenommen, und braucbt
daber aucb nicbt zugefiibrt zu werden. Bei verdiinnten Losungen^
welcbe die Anwendung der Gasgesetze gestatten, betragt diese Arbeit
fiir ein Mol pv = RT = 0*02T£^; bei konzentrierten Losungen ist der
Betrag unbekannt, und man wird nur in erster Annaberung annebmen
51*
800 II* Chemische Dynamik.
diirfen, dass er von etwa gleicher Grosbenordnung ist, wie die Volum-
energie von einem Mol eines Gases.
Ferner moss man beachten, dass die Losungswarme eine FanktioD
der Konzentration ist, und sich unter Umstanden bedeutend mit dieser
andert Entsprechend dem eben geschilderten Vorgange ist fiir q die
Losungswarme in Rechnung zu bringen, welche bei der Bildong der
bei T^ gesattigten Losung aus reinem Wasser und festem Salz yod
gleicher Temperatur bethatigt wird. Auch ist nicht zu vergessen, dass
die Warmetonung im tliermodynamischen Sinne zu rechnen ist» wonach
die aufgenommenen Mengen positiv erscheinen, und nicht die abge-
gebenen, wie letzteres in der Thermochemie iiblich ist. Da die erstere
Rechnungsweise jedenfalls die rationellere ist, so soil sie hier beibe-
faalten werden, und bei der Einfiihrung der thermochemischen Zahlen
in die Gleichang muss daher deren Zeichen umgekehrt werden.
Bezeichnet man mit q die Losungswarme zur gesattigten Losungi
so ist die beim isothermen Losungsvorgange zuzufiihrende Warme gleich
dieser vermehrt um die aussere Arbeit, also Q = q-(-pv zu setzen,
und wir erhalten die Formel dp/dT = (q + pv)/Tv.
Der Ausdi'uck gestattet kaum eine unmittelbare Verwendung, da
die in ihn eintretenden Grossen der Messung nicht alle zuganglich
sind. Weder der osmotische Druck p, noch sein Temperaturkoeffizient
dp/dT kann bei konzentrierteren Losungen mit den jetzt zu Gebote
stehenden Mitteln bestimmt werden, wenn auch die anderen Grossen
allerdings gemessen werden konnen. Es ist deshalb durch Roozeboom^)
folgende Umformung vorgenommen worden.
Man zerlegt die Anderung des osmotischen Druckes mit der Tem-
peratur in einen Antei], der nur von der Temperaturerhohung herriihrt,
und einen anderen, der durch die Anderung der Konzentration bewirkt
wird. Denn es ist, wenn c = — die Konzentration bedeutet,
und daher
dX VdTA^Vdc/T dT
dp _/_dp^
dc At VdT/,
dT fdp
dc
),
^) Zeitschr. f. phjs. Chemie 4, 58. 1889. Vergl. auch van*t Hoff, VarleBongeD
fiber theor. and phys. Chemie, S. 30. 1898.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 801
Wird hierin -^ aus der Gleichung "T^ = qr- = -^f- ersetzt, und
(-^j durch den enstprechenden Wert -7=-, so folgt
dc/c dine Q — Q'
"dT"~~dT~~ j(dp\
\ dc/T
•der, wenn man Q — Q'= q setzt,
d In c Q
VdcA
dT ^
Hierin ist noch die Bedeutung von Q' and demnach von q festzuBtellen.
Man gelangt dazu durch die folgende tlberlegung.
Die Losungswanne Q bezieht sich auf die Bildung einer gesattigten
Losung aus reinem Losungsmittel und fester Substanz, and um den
Vorgang riickgangig zu machen, miissen beide wieder getrennt werden.
Dies kann entweder unmittelbar geschehen, oder in zwei Stufen wie
folgt. Zuerst wird aus einer sehr grossen Menge der gesattigten Losung
durch eine halbdurchlassige Scheidewand das reine Losungsmittel ent-
femty und zwar in solcher Menge, als zur Losung von einem Mol des
festen Stoffes erforderlich war; die Menge der Losung ist dabei als so
gross angenommcn, dass ihre Konzentration durch die Entziehung nicht
merkbar geandert wird. Dann lasst man den festen Korper auskrystal-
lisieren, bis ein Mol Yon ihm sich abgeschieden hat Das Ergebnis
dieser beiden Vorgange ist gleich der Trennung von einem Mol des
festen Stoffes aus seiner gesattigten Losung, und die Warmemengen,
die bei den beiden ersten Vorgangen bethatigt wurden, miissen gleich
der Losungswarme zu gesattigter Losung (mit umgekehrtem Zeichen) sein.
Nun ist die erste dieser Warmemengen die Grosse Q' aus der
Gleichung (-r^j = -m-* da bei dieser die Voraussetzung gemacht
worden war, dass die osmotische Arbeit ohne Anderung der Konzen-
tration bewerkstelligt werden soUte; die Differenz Q — Q' = Q ist also
die Auf losungswarme des Stoffes in seiner gesattigten Losung^). Die
Deutung der Gleichung
') Man erh< eine Vorstellung von dieser GrOsse, wenn man sich die Ldsong
sehr Bchwach abers&ttigt denkt, und nun durch einen Keim des Stoffes die Erys-
taUisation anslOst; die hierbei auftretende Wftrmemenge ist von q um so weniger
Terschieden, je geringer die tTbers&ttigung war. Hierin liegt gleichzeitig ein Yer-
fahren zur experimentellen Bestimmung dieser 6r68se.
802 II- Cbemische Dynamik.
d In c Q
\ dc /t
ist also die, dass die verhaltnismassige Anderung der Konzentration mit
der Temperatur der Warmetonung proportional ist^ welche durch die Auf-
nahme von einem Mol des festen Stofifes durch seine gesattigte Losuog
unter unbegrenzt kleiner Anderung der Konzentration entwickelt wird.
Hierbei kommt noch das Zeichen von (-r— ) in Frage. Nun haben
wir bisher allgemein das Postulat ausgcsprocheu , dass der osmotische
Druck mit der Konzentration gleichzcitig wachsen soil, und es hatte
sich ergeben, dass in alien Fallen, wo ein umgekebrtes Verhalten hatte
Platz greifen miissen, neue Erscheinungen eingetreten sind, durch welche
dies verhindert word en ist. Dadurch darf das Postulat als experimentell
gerechtfertigt angesehen werden, und man kann fordern, dass der os-
motische Druck immer mit der Konzentration gleichzeitig zu- und ab-
nimmt, oder dass (--i -) positiv ist. Uber seinen Wert lasst sich bei
konzentrierten Losungen allerdings nichts aussagen.
Somit fuhrt die Erorterung zu dem Schlusse, dass die Anderung
der Konzentration mit der Temperatur so erfolgt, dass ihr Zeichen mit
dem der dabei eintretenden Warmetonung (der Losungswarme in ge-
sattigter Losung) iibereinstimmt. Man findet somit einen weiteren Fall
des Satzes iiber die zwangsweise Verschiebung des Gleichgewichts (S. 307)
Yor, und hatte das qualitative Ergebnis, auf das wir uns zuuachst be-
schranken miissen, auch durch die sinngemasse Anwendung jenes Satzes
gewinnen konnen^).
Fiir den Fall verdiinnter Losungen, wo sich die einfachen Gesetze
des osmotischen Druckes einfiihren lassen, geht diese Oleichung in die
von van't Hoflf und Le Chatelier gegebene (S. 787) uber. Ihre Inte-
gration unter der Voraussetzung einer konstanten Losungswarme q giebt
c, RVT, T,
in welcher Form sie der Priifung leicht zuganglich ist.
In dieser fiir wenig losliche Stoffe, die verdiinnte Losungen geben,
giiltigen Gestalt kann die Losungswarme q auch als unabhangig vom
^) Eingehende Erdrtenmgen ttber diese Fragen hat B. Rooseboom (Zeitscbr.
f. phys. Chemie 4, 49. 1889 and aasfQhrlicher Rec. PajB-Bas 5, 335. 1886) aage-
stellt, auf welche verwieseii sei. Vgl. auch van Deventer and van de Stadt, Zeitschr.
f. phys. Chemie 9, 43. 1892.
Ghemische Qleichgewichte zweiter Ordnung. 808
SattiguDgsgrade angesefaen werden, und die Notwendigkeit, verschiedene
Losungswarmen zu unterscheiden, fallt weg. Bei leichter loslioheQ Stoffen
dagegen kann die Ldsungswarme sich so sehr mit der Konzentration
andern, dass sie sogar ihr Zeichen wechselt. Experimentell pflegt man
die LosuDgswarme bei geringer KonzentratioD zu messen and erhalt so
eine Grosse, die man die erste Losungswarme nennen konnte; fur die
Formel kommt aber umgekehrt die Liosungswarme in gesattigter Losung,
die letzte Losungswarme in Betracht. Dazwischen liegt die in der
dp/dT-Formel auftretende ganze Losungswarme, welche fur den t}ber-
gang des reinen Losungsmittels in die gesattigte Losung gilt.
Einen Fall, in welchem diese verschiedenen Losungswarmen nicht
nur der Grosse, sondern auch dem Zeichen nach verschiedeu sind»
haben Reicber und Tan Deyenter^) untersucbt
Wabrend namlicb Kupfercblorid (GuGl^-l- 2H2O) sicb mit steigen-
der Temperatur reicblicber in Wasser lost, batte Tbomsen') dafur
eine Warmeentwicklung bei der Auflosung gefunden. Nun batte aber
Tbomsen gleicbzeitig ermittelt, dass bei der Verdunnung der konzen-
trierten Losung eine bedeutende Warmemenge frei wird, und zwar eine
groesere, als bei der Auflosung des festen Salzes zu verdiinnter Losung.
Boim Cbergang von dieser zur gesattigten Losung muss also diese Vor-
dunnuugswarme wieder aufgenommen werden, so dass die Losungswarme
zur gesattigten Losung oder die ganze Losungswarme bereits das rich-
tige Zeichen hat. Um so mebr war zu erwarten, dass die Auflosungs-
warme in der gesattigten Losung oder die letzte Losungswarme positiv
sein wiirde. Durch Umrechnung der von ihnen erganzten Angaben
iiber die Abhangigkeit der Verdiinnungswarme von der Konzentratioa
ergaben sich die nachstehenden Zahlen.
In 198 Mol Wasser losen sich
1 Mol
CuCl, + 2HjO
mit
— 37K
202 „
66
4.15 „
— 105
7-07 „
— 117
9-95 „
117
11
— 91
18-8 „
+ 10
196 „
+ 31
2475 „
+ 198
wobei die Warmeabgabe negativ, die Warmeaufnahme positiv gerechnet ist.
^) Zeitschr. f. phys. Ghemie bj 559. 1890.
') Thermochemische Untersacbangen 8, 202. Leipzig.
g04 U. Ghemiscbe Dynamik.
Hiernaob ist das erwartete Verhalten der Losuogswarme thatsach-
lich YorhandeD. Auch ergab ein Versuchy bei welchem eine schwach
ubersattigte Losung zum Krystallisieren gebracbt wurde, dass dabei
Warme entwickelt wird. Die Auflosuug ist also unter diesen Umstanden
mit Warmeaufnahme verbunden, entsprecbend dem positiven Temperatur-
koeffizienten der Loslichkeit.
159. Diskussion der Iidsungfllliiien. Im Lichte der eben durch-
gefiihrten Betrachtungen lassen sich die S. 794 angegebenen Falle mog-
licber Losungslinien noch weiter deuten, indem man aus dem Verlaufe
auf die Betrage der zugeborigen LosuDgswarmen Schliisse zieben kann.
Jeder aufsteigende Teil der Linieu entspricht einer positiven Losungs-
warme^ d. b. einer Warmeaufnahme bei der Losung, jeder absteigende
einer negativen Losungswarme oder Warmeentwicklnng. Daraus folgt
alsbald, dass dort, wo ein Maximum oder ein Minimum der Konzen-
tration bei stetiger Temperaturanderung vorliegt, die Losungswarme
durcb den Wert Null gehen muss. Ware dagegen ein Maximum oder
Minimum der Temperatur bei stetig geanderter Konzentration moglich,
wie solche in 7 und 10, Fig. 136 und 137, angedeutet sind, so miisste
an solcben Stellen die Losungswarme durch den Wert Unendlich gehen,
und von -|~ oo zu — oo springen, oder umgekehrt. Dieser Schluss kann'
als ein weiteres Argument dafiir angesehen werden, dass ein solcher
Fall sich nicht realisieren lasst^).
Hiemach lasst sich das Verhalten der Losungswarme (und zwar
der „letzten*S S. 803) aus den Figuren 135 bis 137 unmittelbar ab-
lesen. Nr. 1 bis 5 haben lauter positive Losungswarmen, die sich nur
durch ihre Veranderung mit der Temperatur unterscheiden. Die Linie 2
deutet auf eine Zunahme, 3 auf eine Abnahme der Losungswarme bei
steigender Temperatur. Bei 4 folgt auf eine Abnahme eine Zunabme;
5 verhalt sich umgekehrt. Wo die Losungslinie einen Wendepunkt hat,
geht die Losungswarme durch cinen grossten oder kleinsten Wert.
Bei 6 wird der anfanglich positive Wert immer kleiner, geht durch
Null ins Negative iiber, wendet sich dann nach einem kleinsten Werte
(am Wendepunkte der Losungslinie, oder doch in dessen Nahe) und
geht wieder durch Null, um dann positive Werte auzunehmen.
Nr. 7 zeigt ein Maximum und ein Minimum der Temperatur, wiirde
also zu unendlichen Losungswarmen fiihren. Dies wird (S. 796) durch
vorher eintretendes Schmelzen des festen Stoffes vermieden.
^) Wie bald gezeigt werden wird, kann unter der Yoraussetzung, dass iwischwi
den beiden Stoffen chemische Yerbindungen im festen Znatande sich bilden, dieser
„unmOgliche'* Fall doch in gewissem Sinne verwirklicht werden.
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnung.
.805
Die Formen 8 bis 10 bediirfen keiner besonderen Deutung, da ihr
Verhalten durch das Gesagte bestimmt ist.
Damit diese Schliisse voile Geltung haben, muss als Ordinate nicht
der Molenbmcb, sondern der Logaritbmus der Konzentration eingetragen
werden. An dem allgemeinen Charakter der Linien wird dadurch nicht
Tiel geanderty nur werden ihre Teile in yerschiedenem Massstabe gegen
einander yerzerrt.
160. Beispiele. VoUstandige Losungslinien, d. h. 8olche» die yon
den niedrigsten Temperaturen bis zum Schmelzpnnkt des festen Stoffes
20
3
10
20'-
•0'^
80"^
100'
fW
Fig. 139.
1. Buttersanres Baryum. 2. TrimetbylessigBaureB Baryam. 3. Buttersaures Galcinin.
bestimmt worden waren, sind im strengeren Sinne nicht bekannt, da
die meisten benutzten Losungsmittel bereits bei nicht sehr niedrigen
Temperaturen erstarren, so dass durch den kryohydratischen Punkt der
Linie ein friihes unteres Ende bereitet wird. Auch Losungslinien
zwischen dem kryohydratischen Punkte und dem Schmelzpunkte des
festen Stoffes sind verhaltnismassig wenige bekannt. Es liegt dies daran,
dass die nach dieser Richtung am eingehendsten untersuchte Stoff-
gruppe, die Salze, meist besonders hochgelegene Schmelzpunkte aufweist^
so dass sie nicht erreicht werden konnen, bevor das erhitzte Wasser
seine zerstorenden Einwirkungen auf die benutzten Gefasse auszuiiben
beginnt. So ist mir in dieser Gruppe nur das Silbemitrat bekannt,
dessen Loslichkeit bis zu dem bei 180^ belegenen Schmelzpunkte yon
806
U. Ghemische Dynamik.
Tilden und Shenstone^) unteraucht worden ist Die beobachtete Linie
ist von der Form 3, Fig. 136 und 137, sie gebort also zu den gewohn-
licbsten ihrer Art.
Viel leichter lasst sich der obere Endpunkt bei organiachen Ver-
bindungen mit ihren meist niedrig gelegenen Schmelzpunkten erreichen.
Eine Anzahl solcher bis zu ihrem oberen Ende erforschter EurTen ist
in Fig. 134, S. 791 nacb den Messungen von J. Schroder gegeben; sie
zeigen gleichfaJIs die gewohnliche aufsteigende Form.
An unTollstandigen Kurven liegt dagegen bereits eine ziemlich
grosse Mannigfaltigkeit von Gestalten vor. Insbesondere bat A. Lieben
1S-
10-
5 -
Fig. 140.
20° hO'* 60P SOf*
1. Isokapronsaures Baryum. 2. Isokapronsaures Calcium.
8. TrimethyleBsigsaures Calcium.
durcb die Arbeiten seiner Schiller uns die Kenntnis einer ziemlich
grossen Anzahl von Losungslinien der Salze organischer Sauren') vei^
mittelt, welche ein recht mannigfaltiges Bild geben, und in kiirzeren
Stiicken so ziemlich alle Falle zur Anschauung bringen, deren Moglich-
keit friiher entwickelt worden war. In den Figuren 139 bis 144 sind
die Ergebnisse dieser Untersuchungen zusammengestellt. Nur darf die
Bemerkung nicht unterdriickt werden, dass keineswegs in alien Fallen
geniigende Sicherheit dariiber vorhanden ist, dass die Linien in ihrem
ganzen Verlaufe wirklich demselben festen Sto£fe angehoren, mid dass
nicht etwa in einigen Fallen die feste Phase im untersuohten Tempera*
turgebiete durch Anderung der Krystallform oder des Wassergehaltes
zu dem Auftreten einer neuen Liuie Anlass gegeben hat
') Phil. Trans. 1884, 23.
^) Zusammengefasst in Monatsh. f. Chemie 15) 404. 1894.
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnung.
807
Die Thatsache, dass in emein solchen Falle thatsachlich zwei ver-
schiedene Sattigungstemperaturen auftreten, ifit durch einen Versuch
▼on A. Deszathy^) anschaulich gemacbt worden. BeBtimmungen, die
nach der gewohnlichen
Methode in o£fenen
Gefassen ausgefiihrt
worden waren> batten
ergeben, dass dem
buttersaoren Calcium '*^
in der Nahe von 70®
6in Loslicbkeitsmini-
mum zukommt, docb
konnte nacb diesem
Verfabren der aufstei- ^o -
gende Teil der Linie
nur wenig weit yerfolgt
werden. Als nun eine
bei 17® gesattigte Lo-
8ung des Salzes im zu- 20
gescbmolzenen Rohre
erwarmt wurde, scbied
«icb zuerat Salz aus,
entsprechend der Ab*
nabme der Loslicbkeit. -o
Bei woiterem Erwar-
men wurde die Salz-
menge aber geringer,
und bei 118® war wie-
dcr alles gelost. Eine
bei 3® gesattigte Lo-
song wurde bei 127®
wieder klar.
Eine grossere An-
zahl Yon Losungslinien findet sich in einer Abbandlung Ton £tard
(Ann. chim. pbys. (7) 3, 503. 1894; Ausz. Ztschr. f. pb. Cbem. 15, 506).
Endlicb sei als Beispiel einer mannigfaltiger gestalteten Losungs-
liiiie die von Tilden und Sbenstone bis 250® verfolgte Kurre des Gipses
in Fig. 142 mitgeteilt Wie man sieht, ist in diesem Falle sowobl ein
TO^ W** 0(f SfT*
Fig. 141.
Galciamsalze normaler Fetts&aren: 1. AmoiBens&uro.
2. Essigs&ure. 3. Propions&ure. 4. Butters&ore.
5. Valerians&ure. 6. Eaprons&ore. 7. Heptyls&ore.
>) Monatoh. f. Chemie 14, 253. 1893.
808
II. Ghomische Dynamik.
Maximum wie ein Minimum der Linie vorhanden, so dass ein Beispiel
der Form 6, Fig. 135, S. 794 vorliegt
Fasst man die bekannten Losungslinien statistisch ins Auge, so
findet man die Form der nach unten konvexen Linie bei weitem am
▼erbreitetsten, und darf sie daher als den Normalfall ansehen. E^ ist
dies dieselbe Form, welche der Dampfdrucklinie zukommt Daneben ist
bei Salzen die gerade Linie oft
beobachtet worden; Yon £tard^)
ist sogar der Satz ausgesprochen
worden, dass die Gerade all-
gemein sicb ergebe, wenn man
die Loslichkeit nicht wie ge-
wohnlich in Teilen Salz aof
eine konstante Menge Wasser
ausdriickt, sondern auf eine
konstante Menge (etwa hundert
Teile) derGesamtlosung bezieht
Es ist nicht wahrschein-
lich, dass sicb dieserSatz wird
durchfiihren lassen; doch ware
es von Literesse, die vorhan-
denen Losungslinien auf die
Koordinaten: Logarithmus des
Molenbruchs und Temperatur umzurechnen, da diese die ration ellsten
fiir das in Rede stehende Problem sind.
161. Experimen telle PrfLfung der Beziehung zwisohen der
letzten LOsungawftrme und dem Temperaturkodffizienten der Lds-
Uohkeit. Wegen des Auftretens der imbekannten Funktion dc/dp in
der Gleichung fiir die Losungslinie (S. 801) ist eine Priifung der zahlen-
massigen Beziebung zwischen den beiden bestimmenden Grossen fiir
konzentrierte Losungen zur Zeit nicht durchfuhrbar. Aus der Erkennt-
nis aber, dass der DijBferentialquotient des osmotischen Druckes nach
der Eonzentration immer positiv ist, dass sich beide Grossen also immer
in demselben Siune andern, kann man wenigstens schliessen, dass der
Loslichkeitskoeffizient und die Losungswarme immer gleiohzeitig dorch
Null gehen mUssen, und dieser Schluss ist der Priifung zuganglich.
Wie immer im Falle eines Maximums oder Minimums ist der Ort des
Auftretens dieses ausgezeichneten Wertes schlecht zu bestimmen; doch
lOOO
Fig. 142. Gips.
ioo'^
^) Gompt. rend. 98, 998. 1884.
ChemUche Oleiehgewichte sweiter Ordiuuig.
809
70
2
darf das Ergebnis der vorhandenen Beobachtungen allerdings zu gunflten
der Formel gedeutet werden.
Mit der hier Torliegenden Aufgabe hat sich iusbesondere E. yon
Stackelberg ^) wieder- ^o
bolt beschaftigt Wie-
wobl seine Arbeiten
nocb nicbt zu einer
aosgiebigen Priifung
der Formel gefdbrt
haben, soUen die Ma-
ierialien, so weit sie
reichen, doch mitge-
teilt werden.
Zuuachsthandelte ^
es sich darum, beim
Kochsalz, dessen Lo-
sungslinie bekanntlich ^^
fast unabhangig von
der Temperatur ist,
den Wert fiir die
30
,,letzte" Losungswarme
(S. 803) zu ermitteln.
Aus den Messungen
von Winkelmann*) und ^
Staub '), sowie eigenen
geht ein Verlauf der
Losnngswarmen her- io\^
vor, der in der Fig. 145
zum Ausdruck gebracht
ist Dort sind unter I,
r und ir die Losungs-
warmen Jlm gezeichnet^
welche eintreten, wenn
Salz in einer sehr
20°
tf<y»
S<i^
Fig. 143.
Baryumsalze iiormaler FetU&uren: 1. Amelsens&are.
2. EsBigs&ure. 3. Propions&ure. 4. Butters&ure.
5. ValeriaDs&ure. 6. Kaprons&ure. 7. Heptyls&ure.
groBsen Menge einer Losung, die m Prozent Salz enthalt, gelost wird.
Man findet sie, wenn man die Losungswarmen von m — A und m-f- J
Teilen Salz auf 100 Wasser bestimmt, und den Unterschied mit 2 J
*) Zeitschr. f. phys. Ghemie 20, 159. 1896 und 26, 533. 1898.
«) Pogg. Ann. 149, 1. 1878.
') Dissertation. Zurich 1890.
810
II. ChemUche Dynamik.
diyidiert; die Differenz A wird so gross geDommeiiy dass die Genaoig-
keit geniigend ist, und so klein, dass man noch geradlinig interpolieren
kann.
Bestimmt man auf diese Weise ilm als Fnnktion des Gehaltes m
nnd extrapoliert auf den Gehalt s bei der Sattigung, so ergiebt sich
iO°
*a* 6c^ so**
Fig. 144. Calciumsalze von Fettefturen mit verzweigter Kette:
1. CH,.CH(CH,)CO,X
2. CH,.CH,.CH(CH,)COjX
3. CH,.CHiCH,)CH» CO,X
4. CH. . CHa . CH(C,H5) . CO, X
5. CH, . CH, . CHCCH,) . CH, . CO, X
6. CH,.CH,.CH,.CH(CH,).CO,X
7. CH,.CH{CH,).CH,.CH, CO.X
8. CH,.CH,.CH,.CH(C,H,).CO,X.
die Losungswarme q (in der Fig. 145 mit i^ bezeichnet) in gesaUigter
Losung, welche fur den TemperaturkoefGzienten massgebend ist
Die drei Kurven I, V und 11^ Fig. 145, beziehen sich nun aof die
Temperaturen 18^ 0^ und 50^ und man sieht, dass Jl. eine Fnnktioii
der Temperatur ist und zwischen 0® und 18^ durch Null gehen muss.
Daduroh erklart sicb, dass aus den (fUr hohere Temperatur geltendeii)
Angaben yon Winkelmann sich eine positive Losungswarme berechnet,
wahrend Braun bei einem unmittelbaren Versuch (in der Nahe Ton 0*)
umgekehrt eine Warmeentwicklung gefunden hat. Weiter aber moss
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung.
811
geschloBsen werden, class die Losungslinie des Kochsalzes zwischen 0^
and 18^ durcb ein Minimum gehen moss, da sie bei hoherer Tempe-
ratur jedenfalls ansteigt Die vorhandenen Beobachtungen geben hier-
iiber keine Auskunft, da sie sich widersprechen.
Die unter II, ir und 11" gegebenen Kurven geben die oiittleren
Losungswarmen aus reinem Wasser und Salz zum Gebalt von m Prozenten.
i
20% ^. 30%
1 r^- ■ , i
-5
\
•A/^t
•^-.
^%
Fig. 146.
In seiner spateren Arbeit hat v. Stackelberg die (>-Werte bei 18^
fiir eine grossere Zahl yon Salzen bestimmt Nacbstehend seien die
Hauptergebnisse wiedergegeben. In den Tabellen bedeutet'N die Mole
Wasser auf ein Mol Salz, Lk die Losungswarme aus beiden, und q die
letzte Losungswarme in der gesattigten Losung. Die (extrapolierte)
Losungswarme L^ ist demgemass die „er8te'^ Die Zahlen sind ratio-
nolle Kalorien (K=: lOOcal.).
K « (X)
500
260
L -1060K
10336 K
101-81
N - oo
500
260
L - 102-06
100.75
99-26
Kaliamchlorat
126
E 98-40 E
Ealiumbromat
Q — 93-80 E
Q — 91-70 E
812
II. Chemiache Dynunik.
N - OO
L = 70-00
500
68-07
250
6616
Ejdiamjodat
(» — 58-20K
N — oc
L » 128-60
1000
12445
500
119-58
Kaliumperchlorat
p = 11200
N — oo
L »- 10634
1000
100-34
500
97-32
Baryumnitrat
Q — 79-50
Kaliumbichromat
N — oo
L — 18400
1000
174-40
500
168-85
250 167
163-35 16000
Kaliumchlorid
9'
-15000
N — oo
L — 44-00
100
42-91
25
38-24
12-5 _
3510 ^ "
Ammonium chlorid
33-40
N « oo
L — 39-30
100
3923
40
37-99
20 10
37-78 36-72
Natrium chlorid
1
p ^ 34-45
N =- oo
L =- 19-90
100
1704
50
8-79
25 12-5
0 2-05
Natriumnitrat
^« — 280
N — oo
200
100
50 25
12-5
625
2435 ^
» 24-00
L » 53-50
51-64
49-58
34-66 2515
24-30
Kaliumnitrat
N — oo
250
125
62-5 31-25
20
10 5
2-5
L — 9100
8536
82-52
77-53 7432
Q » 59-20
Rohrzucker
65-69
63-01 61-18
69-94
N =-200
100
50
25
L — 11-30
11-77
12-43
13-57
Die rechnerische Verwertung dieser Ergebnisse fiir die Loslichkeits-
formel scheitert an der Unkenntais der Funktion (dp/dc)T; der Versuchf
sie theoretisch za scbatzen, ist so grossen Bedenken unterworfen, dass
hier auf ihn nicht einzagehen ist.
Dagegen liess sicb der Wert (> = 0, der nacb den Loslichkeits*
bestimmungen von Deszatby (S. 805) am Baryumbutyrat in der Nabe
von 40^ zu erwarten war, in der Tbat ermitteln. Fiir Zimmert^npe-
ratur wurde q = — 1-70K gefunden; aus dem Unterschiede der Warme-
kapazitat von Salz -f- Wasser gegen die der Losung liess sicb (»=sO fiir
30^ berecbnen. In Anbetracbt der Scbwierigkeit» die Lage eines Mini*
mums zu bestimmen, darf dies Ergebnis als geniigend beseichnel warden.
i
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 813
162. Zusammengesetzte feste Phasen. Die bisherigen Betraoh-
tungea sind unter der Voraussetzung durchgefiihrt worden, dass die in
den Gieichgewichten auftretende feste Phase als Bestandteil des 6e-
bildes aufgefasst werden kann, und zwar in solchem Sinne, dass die
anderen vorhandenen Phasen als Sum men aus diesem und einem
anderen Bestandtoile erschienen. Nun giebt es aber noch Falle, ii^
denen unter Festhaltung der ersten Voraussetzung, dass die feste
Phase als Bestandteil angesehen wird, die zweite, dass alle anderen
Phasen als Summe dieses und eines anderen Bestandteiles dargestellt
werden konnen, nicht mehr durchfiihrbar ist. Solche Falle kann nan
zwar noch formal so behandeln, dass man negative Mengen des einen
Bestandteils zulasst; doch ist es den gebrauchlichen chemischen An-
schauungen angemessener, alsdann die feste Phase als aus zwei Bestand*
teilen bestehend anzusehen.
Ein solches Verhaltnis liegt beispielsweise vor, wenn als feste
Phase aus einer Salzlosung sich ein Hydrat ausscheidet. In der iiber-
wiegenden Mehrzahl der Falle enthalt allerdings die Losung mehr
Wasser, als das feste Hydrat, und es ist gleichgiiltig, ob man dieses,
Oder das wasserfreie Salz als den einen Bestandteil ansieht Aber es
ist moglich und auch beobachtet, dass sich Losungen mit geringerem
Gehalt an Wasser herstellen lassen, als im Hydrat vorhanden ist; will
man deren Zusammensetzung durch Wasser und Hydrat darstellen, so
muss man negative Wassermengen einfiihren. Als Summe von Salz-
anhydrid und Wasser kann man dagegen die Zusammensetzung immer
ohne negatives Zeichen darstellen.
Der Schmelzpunkt eines solchen zusammengesetzten festen Stoffes
fallt dann nicht, wie es bisher der Schmelzpunkt der festen Phase that,
an den Rand des Diagramms mit der Abscisse x=:l, sondern liegt
innerhalb des Diagramms mit der Abscisse x = m/(m-|-n), wo m und n
die Molenzahlen der Bestandteile sind, die zu dem festen Stoffe zu-
sammentreten. Dadurch entsteht die friiher nicht vorhanden gewesene
Moglichkeit, dass Losungen auftreten konnen, die im Diagramm ober-
halb des Punktes liegen, der die Zusammensetzung des festen Stoffes
darstellt. Man kann mit anderen Worten Losungen haben, die aus dem
festen Stoffe nicht durch Hinzufiigung des zweiten Bestandteils oder
Losungsmittels entstanden sind, sondern durch Entziehung desselben.
Dm alsbald eine konkrete Anschauung hierfur zu haben, denken
wir uns ein Salzhydrat, das sich vollstandig zu einer homogenen Fliis-
fligkeit schmelzen lasst Wenn diese Schmelze Wasser verliert, so braucht
darum noch kein Anhydrid oder niedrigeres Hydrat sich auszuscheiden,
Ostwald, Chemie. n,2. 2.Aiifl. 52
814 11. Chemische Dynamik.
sondem es kann eine wasserarmere Schmelze neben dem festen Hydrat
im Gleichgewicht bestehen bloiben, woduroh uDser Fall hergestellt ist.
Ober das Verhalten eines derartigen festen Stofifes gewinneD wir
eine erste Auskuuft, wenn wir den Fall betrachten, dass die Losung
die gleiche Zusammensetzung hat, wie die feste Phase. Dann wird sich
der Schmelzprozess nicht Yon dem irgend eines einheitlichen Stoffes
unterscheiden, d. h. es wird bei unveranderter Temperatur Gleichge-
wicht zwischen beliebigen Mengen beider Phasen bestehen, denn da
durch die Uberfiihmng der festen Phase in die flussige die Zasammen-
setzung der letzteren nicht geandert wird, so muss auch die Oleich-
gewichtstemperatur unverandert bleiben, bis der letzte Anteil geschmolzen
ist Dabei ist es keineswegs notweudig, dass die fliissige Phase eine
bestimmte chemische Verbindung darstellt; sie kann yielmehr ein be-
liebiges Gemisch sein. Sie muss nur die gleiche Zusammensetzung wie
die feste Phase haben und sich in diese umwandeln kounen.
Ein Beispiel fur ein solches Verhalten ist das Schmelzen des krys-
tallisierten Natriumthiosulfats in der Warme, das bei 48^ zu einer
Losung Ton der gleichen Zusammensetzung schmilzt Diese Losung hat
trotz der stochiometrischen Einfachheit ihrer Zusammensetzung durch-
aus nicht die Eigenschaften einer chemischen Verbindung, denn sie
lasst sich wasserreicher und wasserarmer machen, ohne dass ihre Eigen-
schaften andere als stetige Veranderungen erfahren.
Wie wird sich nun der Schmelzpunkt eines solchen Gebildes gegen-
liber den eben erwahnten stetigen Veranderungen der Zusammensetzung
der Losung verhalten? Dem ausgezeichneten Falle der Gleichheit der
Zusammensetzung der beiden Phasen entsprechend ist auch eine aus-
gezeichnete Gleichgewichtstemperatur, d. h. ein Maximum oder Minimam
derselben zu erwarten. Die Entscheidung zwischen beiden Moglich-
keiten ergiebt sich alsbald daraus, dass der Zusatz eines „fremden<*
Stoffes zur Schmelze die Temperatur immer erniedrigt, falls derselbe
feste Stoff nach wie vor ausgeschieden wird; dies ist hier der FalL
Also wird Wasserzusatz zur Losung die Gleichgewichtstemperatur her-
unterdriicken, oder bei niedrigerer Temperatur ist die gesattigte Losung
verdiinnter. Dies ist ein ganz gewobnliches Verhalten,
Die Entziehung von Wasser andererseits ist gleichwertig der Zu-
fiigung von wasserfreiem Salz zu der Losung, d. h. es findet wieder ein
Zusatz von fremdem Stoff statt. Es muss also die Gleichgewichtstem-
peratur wieder sinken, und die Beziehung zwischen der Zusammen-
setzung der Losung und der Temperatur muss durch eine Linie von
der Qestalt Fig. 146 dargestellt sein.
Chemische Gleichgewichte sweitor Ordnong.
816
d
m.
Diesem Ergebois gegeniiber fallt 6b anf, dass wir hier einen Fall
einer riicklaufigen Losungslinie haben, deren Moglichkeit an fruhoror
Stelle (S. 796) in Abrede gestellt worden ist. Urn diesen scheinbaren
Widerspruch zu heben, ist zuerst der weitere Verlaof der Losungslinie
in dem vorliegenden Falle zu untersuchen.
Bezeichnen wir den als Losungsmittel dienenden Bestandteil (d. h.
den bei niedrigerer Temperatur scbmelzenden) mit L, und den anderen
mit 6, 80 wird also zunachst bei Vermehrung von O gegenuber L die
Temperatur sinken, wahrend die Konzentration in beaug auf G fort-
wahrend zunimmt. Dadurch gelangt man friiher oder spater in die
Temperatur, bei welcher die Losung in bezug auf den Stoff 6 gesattigt
ist, worauf sich der Stoff G in fester Gestalt aus der Losung ab-
scbeiden muss. Dann lasst sich die Losungslinie fur die Sattigung mit
der festen Verbindung nioht
waiter yerfolgen, und es treten
neue Erscheinungen auf.
Das Gleiche ergiebt sich,
wenn nicht der Bestandteil G
selbst, sondem eine feste Ver<-
biodung, die reicher an 6
ist, als die bisher betrachtete,
sich ausscheidet.
Insgesamt wird also un-
sere Losungslinie so yerlaufen,
wie es in Fig. 146 angedeutet
ist; sie wird sich nach dem
Temperaturmaximum nach
nick warts wenden, und in
diesem Verlaufe friiher oder spater durch eine neue Linie b unter-
brochen werden.
Wiederholen wir nun die Betrachtung von S. 796, die uns dort
zu der Unmoglichkeit einer riicklaufigen Losungslinie gefiihrt hatte, so
finden wir hier eine solche Unmoglichkeit nicht Gehen wir yon einem
Pnnkte c, der im ungesattigten Gebiete liegt, nach oben, so treffen wir
entweder auf die andcre Linie b, in welcher eine neue feste Phase auf-
getreten ist, oder wenn der Schmelzpunkt von G unter dieser Tempe-
ratur liegt, so bleiben wir im ungesattigten Gebiet, bis wir die reino
Fliissigkeit G haben. In diesen beiden Moglichkeiten ist kein Wider-
spruch irgend welcher Art enthalten. In dem friiher behandelten Falle
entstand der Widerspruch daraus, dass der letzte Teil der Losungslinie
52*
Fig. 146.
816 IL Ghemische Dynamik.
jedenfalls wieder nach rechts laufen musete. Eine solche Moglichkeit
liegt hier nicht vor, und damit fallt dor Widerspruch ^).
Zwischen zwei GreDztemperaturen, die einerseits durch den Punkt
m, andererseits durch das linke obere Ende der Losungslinie gegeben
sindy konnen also bei jeder Temperatur zwei verscbiedene Losnngen
mit derselben festen Phase im Gleichgewicht sein; die Zusammensetzung
der letzteren liegt notwendig zwischen denen der beiden Losungen.
Es entsteht nun weiter die Frage nach dem Verlaufe der Losungs-
linie durch den ausgezeichneten Punkt. Betrachtet man namlich die
Erniedrigung des Schmelzpunktes in der Nachbarschaft dieses Ponktes
als das Ergebnis des Zusatzes eines Mf^remden'* Stoffes, so liegt der
Scbluss nahe, dass sich in diesem Punkte zwei unabhangige Losungs-
linien schneiden, die dort unter einem bestimmten Winkel zusammen-
stossea So ist die Sache in der That auch von Le Ghatelier aufgefasst
worden, nachdem Roozeboom empirisch bei Gelegenheit seiner Unter-
suchungen iiber Gashydrate solche Erscheinungen kennen gelemt und
die anfanglichen Schwierigkeiten des Verstandnisses so weit iiber-
wunden hatte, dass er den stetigen Verlauf der Linie erkannte *). Doch
braucht man sich nur einerseits klar zu machen, dass Knicke in den
Losungslinicn nur entstehen, wenn die vorhandene feste Phase ihren
Zustand unstetig andert, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass in
diesem Falle keiner auftreten kann. Sowohl die Losung, wie auch der
feste Stoff erleidet hier nur die voUkommen stetigen Anderungen, welche
die Anderung der Temperatur mit sich bringt, und zum Auftreten eines
Knickes fehlt der Grund.
Andererseits muss aber gefragt werden, warum die zuerst heran-
gezogene Analogic mit der gewohnlichen Schmelzpunktsemiedrigung hier
quantitativ nicht anwendbar ist, wahrend sie qualitatiy brauchbare Re-
sultate gab. Die Antwort ist, dass die Zusatze keine fremden Stoffs
sind, sondem solche, die bereits in der Losung vorhanden waren» nam-
lich Wasser und Salz. Beim Zusatz eines wirklich fremden Stoffes
tritt im Zustande dor Losung eine unstetige Anderung ein, beim
Zusatz eines Losungsbestandteils dagegen eine stetige. Demgemass
') Auch wenn man, wie S. 813 angedeutet worden ist, die feste Verbindonf
als einen Bestandteil auffasst, und demgemftss negative Mengen des anderen Be->
standteils zul&sst, gelangt man zu den gleichen Ergebnissen. Der gauze Unter-
schied kommt auf eine Parallelverschiebung der Geraden hinans, welche den
Molenbruch x «- 1 darstellt; die Gestalt der Losungslinie wird nicht gelndert
Die Entwicklung dieser Vorstellung kann daher dem Leser Qberlassen bleiben.
*) Compt. rend. 108, 565, 801, 1013, 1015. 1889.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung.
817
iat im ersten Falle die WirkuDg auch eine unstetige, im zweiten eine
stetige ^).
Die Entdeckung eines Falles, wo eine und dieselbe feste Phase
mit zwei yerschieden konzentrierten Losungen im Gleichgewicht seia
kann und die Loslichkeit durch ein Temperatarmaximnm geht, ist be-
reits im Jahre 1875 durch Pfaundler und Schnegg*) bei Gelegenheit
einer Untersuchung iiber die Verbindungen der Schwefelsaure mit
Wasser gemacht worden. Es wurde hierbei festgestellt, dass das Hydrat
H,S04.2H20 mit Fliissigkeiten im Gleichgewicht sein kann, welche von
74 bis 93 ^/o H^SO^ enthalten, und zwar so, dass beim Schmelzpunkte
des Hydrats, 8*8 IS die Fliissigkeit die gleiche Zusammensetzung hat, wis
-JO'
25^ -20' -IS' -10
-J*
Fig. 147.
dieses, wahrend bei tieferen Temperaturen beide Losungen um so ver-
schiedener zusammengesetzt sind, je weiter die Temperatur unter den
Schmelzpunkt emiedrigt wird. Die beistehende Fig. 147 giebt in der
ausgezogenen Linie die Beobachtungen wieder und zeigt die sehr aus-
gedehnte riicklaufige Losungslinie. Ebenso hat Pfaundler ohne Bedenken
die Linie mit stetiger Kriimmung durch den Schmelzpunkt verlaufend
gezeichnet.
Was die Auffassung dieser Erscheinung anlangt, so wurde ent-
sprechend dem damaligen Stande des Wissens ihre Bedeutung nicht
▼ollstandig gewurdigt, da bei der Diskussion der Schwerpunkt auf die
Frage, welche Hydrate in der Losung anzunehmen seien, gelegt wurde,
uod nicht auf die Thatsache des Gleichgewichts der festen Phase mit
der Losung. Demgemass wird die Thatsache> dass Sauren, deren Zu-
sammensetzung zwischen der des bei 6-79^ schmelzenden Monohydrats
') Ygl. Lorentz, Zeitschr. f. pbys. Chemie 10, 194.
<) Wien. Akad. Sitzungsber. 71, 382. 1875.
818 n. Ghemische Dynamik.
und der des bei 8-81® schmelzenden Bihydrats liegen, erst bei yiel
niedrigeren Temperaturen erstarren, auf eine gegenseitige Losung beider
Hydrate zuriickgefuhrt ^).
Von Pickering*) wurde spater dasselbe mitgeteilt; auch die theo-
retische Auffassung zeigte keinen Fortschritt.
Von Roozeboom warden dann bei Gelegenheit seiner Untersucbungen
liber Gleicbgewichtszustande ahnlicbe Erscbeinungen aufgefunden. Der
erste Fall trat bei den Hydraten des Bromwasserstoffs ') auf. Bei
— 11.3« und 52.5 cm Druck schmilzt das Bihydrat HBr + 2H«0 zu
einer gleichzusammeDgesetzten Fliissigkeit. Erbobt man den Druck
iiber der Gaspbase, so nimmt die Fliissigkeit weiteren Bromwasserstoff
auf, und die Temperatur muss erniedrigt werden, wenn sie mit der
festen Pbase im Gleicbgewicht bleiben soil. Vermindert man den Druck,
so entweicht Bromwasserstoff aus der Losung, und die Temperatur wird
unter Schmelzen des festen Hydrats wieder niedriger. Ebenso verhalt
sich das Monobydrat des Bromwasserstoffs.
Ein weiterer derartiger Fall ergab sicb bei den Verbindungen des
Bromammoniums mit Ammoniak^). Bei 8-7^ und 110 cm Druck bat die
flijssige, aus diesen beiden Stoffen entstebende Losung dieselbe Zu-
sammensetzung, wie die feste Verbindung, namlicb NHBr + 3H*0,
und jede andere Zusammensetzung der Losuug ergab eine niedrigere
Gleichgewicbtstemperatur. Doch wurde auch dieses Beispiel, dessen
Deutung damals nocb schwierig erscbien, nicht genauer untersucht.
Sebr bald fanden sicb weitere Einzelfalle. In einer durch Roozeboom
veranlassten Untersucbuug der Verbindungen des Chlors mit dem Brom
^) Wenn auch die allgemeine Auffassung gegenw&rtig nicht befriedigen kann,
80 finden sich doch einigc damals nicht naheliegende scharfsinnige Schlfisae ans
dem Beobachtangsmaterial gezogen. In der Fig. 147 ist die L^BungBlinie des
Monohydrats, soweit sie fQr wasserreichere LOsungen bestimmt wurde, punktiert
eingetragen, und Pfaundler schliesst aus der Lage beider Linien, dass sich Ge-
mische aus beiden Hydraten bei um so niedrigeren Temperaturen freiwillig ver-
flUssigen mUssen, je n&her ihre Zusammensetzung der darch den Dnrchschnitts-
pankt beider Linien gegebenen kommt. Diese freiwillige gegenseitige YerflUsugang
der Hydrate wurde durch denVersuch best&tigt. Ebenso schliesst er sachgemftss,
dass, obwohl eine LOsung aus dem Gebiete zwischen beiden Linien durch Ab-
scheidung TOn Bihydrat an Monobydrat reicher wird, sie doch niemals dadorch
so weit koDzentriert werden kann, dass dieses abgeschieden wird. Erst beim oder
unter dem Durchschnittspunkt der beiden Linien, der bei — 40* bis — 45* anra*
nehmen ist, kdnnen beide Hydrate nebeneinander erscbeinen.
*) Journ. Chem. Soc. 1890.
») Rec. Pays-Bas 4, 331. 1885.
*) Rec. Pays-Bas 4, 361. 1885.
Chemische Oleichgewichte zweiter Ordnung.
819
wQrden solche Temperaturmaxima an alien YorkommeQden festen Ver-
binduDgen aufgefanden, da es durch passende Regeluog too Temperatur
und Druck moglich ist, fliissige Losungen von Jod in Chlor nach alien
Verhaltnissen herzustellen. Doch ist auch in dieser Arbeit die Deutung
noch nicht ganz vollkommen, und die zugehorigen Losungslinien lassen
nicht erkennen, ob die Maximalstellen als stetig oder geknickt aufge«-
fasst worden sind.
VoUstandige theoretische wie experimentelle Bearbeitung erfuhr
das Problem erst 1889 auf Grund einer von van derWaals angegebenen
Theorie durch Roozeboom in einer Untersuchung iiber die Hydrate des
Chlorcalciums ^). Indem
wegen der allgemeinen
Ergebnisse dieser Arbeit
auf die spatere Darstel-
lung verwiesen wird, sei
hier nur erwahnt, dass
das bekannte Hexahy-
drat bei 30-2^ zu einer
Flussigkeit yon dersel^
ben Zusammensetzung
schmilzt. Setzt man der
Losung Wasser zu, so
sinkt dieGleichgewichts-
temperatur, aber ebenso,
wenn man der Losung
Wasser entzieht. Dieser
zweite Arm der Linie
liess sich indessen nur um einen Grad uber den Maximalpunkt hinaus
yerfolgen, da alsdann eine neue feste Phase (ein Tetrahydrat) auftrat,
deren Entstehung die weitere Verfolgung der Losungslinie verhinderte.
Die Beobachtungen von Roozeboom sind in der Fig. 148 und dor
nachstehenden Tabelle wiedergegeben; N bedeutet Mole Wasser auf ein
Mol Chlorcalcium; die feste Phase ist das Hydrat CaClg.GHsO.
Temp. N Temp. N
— 55<> 14-5 26 • 7-52
— 25 123 285 6-81
— 10 11-2 295 646
0 1037 30-2 600
10 949 29-6 5-70
20 8-28 29-2 541
1) Rec. Pays-BM 8, 1. 1889. ^ Zeitschr. f. phys. Ghemie 4, 81. 1889.
j»tf
J?/
Fig. 148.
2S
30*
820 ^* Chemische Dynamik.
Wie sich aus dem Anblick der Fig. 148 ergiebt, deuten die beob-
achteten Zablen mehr anf den Dnrcbschnitt zweier Terschiedener Linien
in dem Punkte N = 6 und t = 30*2^ ale auf eine stetig durch diesen
Punkt yerlaufende Eurve, und sind auch Yon Le Chatelier (S. 816) in
solcbem Sinne aufgefasst worden. Doch lasst sicb scbon aus der von
Pfaundler und Scbnegg (S. 817) gegebenen Eur^e entnebmen, dass es
sich wirklich um einen stetigen Verlauf handelt Immerbin ware die
genauere messende Durcbarbeitung eines solcben Falles eine dankens-
werte Untemebmung.
Eine im Jabre 1892 Ton B. Roozeboom^) Yorgenommene Unter-
sucbung der Losungen und Hydrate des Fisencblorids bracbte eine An-
zabl veiterer Beispiele fur das Auftreten riicklaufiger Losungslinien.
Zur ezperimentellen Entscbeidung der Frage nacb der Stetigkeit dieser
Linien im Maximalpuukte fiibrten sie allerdings nicbt, da sicb in diesem
Falle die Gleicbgewicbte ausserst langsam einstellen und daber schlecht
zu messen sind; docb konnten einige der nicklaufigen Linien sebr weit
verfolgt werden. Insbesondere ist die fiir das Salz Fe^Cl^.VJBfO^
durch ein Gebiet Yon 28® untersucbt worden. Die zusammengeborigen
Zablen Ton t und N, der Mole Wasser auf ein Mol FegOg in der Lo-
sung, sind in folgender Tabelle gegeben.
LOslicbkeit Ton FesCle-lSH^O
t N t N
--55* 364 37 • 12^
— 41 35-6 36 10.8
— 27 336 33 957
0 24-2 30 892
10 22-0 274 8*23
20 19-6 20 7.80
30 16-9 10 7.57
35 148 8 7.30
36-5 126
Bei 37® ist der Schmelzpunkt des Hydrats, und die Losung entp
halt 12H,0.
Ahnlicbe Verbaltnisse, T^enn auch nicht mit so weiter Ausdebnuug
des riicklaufigen Teils, wurden an den anderen Hydraten des Eisen-
cblorids, deren noch drei weitere isoliert wurden, beobachtet. Diese
Hydrate entbalten auf Fe^Cle 7*5 und 4H^0, und baben alle die Eigen-
M Zeitschr. f. phys. Chemie IO9 477. 1892.
*) Die Terdoppelte Formel des Eisenchlorids ist gew&hlt worden, am Brftche
in der Anzahl der Wassermolekeln bei anderen Hydraten zu Termeiden.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung.
821
schaft, ohne AbBcheidung fester Stofife zu schmelzen, miissen also alia
riicklaufige Teile der Losungslinie haben. In Fig. 149 ist die Gesamt-
keit der beobacfateten Losungsiinien dargestellt, und es treten, wie man
Fe^Cl^SE^O
C
60*
80*
100*
8ieht» iiberall die riicklaufigen Losungsiinien auf. Die mit dem Verlaofe
einiger dieser Linien infolge der Durcbschneidungen verbundenen be-
sonderen Erscbeinungen warden an spaterer Stelle erortert warden.
163. XJnendliohe laOsnngswftrmen. Bei Gelegenbeit dar Erorta-
rung iiber die Moglichkeit riicklaufiger Losungsiinien war die Notwandig-
keit das Auftretans unendlich grosser Losungswarmen als Argument gegen
aine solcbe Moglichkeit benutzt worden, und es fragt sich, wia das that-
sachlicha Auftreten riicklaufiger Linien in dem bier betrachtaten Falla
mit jenan Darlegungen in Einklang zu bringen ist.
Der Schluss auf die unendlich grossen Losungswarmen ergab sich
(S. 804) darau8» dass die Zunahme der Loslichkeit mit der Tempe-
rature dc/dXy an der Stelle des Beginnes der riicklaufigen Linie unend-
lich wirdy wail dort die Linia eine vertikale Tangente hat. Unmittelbar
Yorher ist der Dififerentialkoeffizient positiy sebr gross, unmittelbar dar-
nach nagativ sebr gross; der Wert muss also an der Stelle selbst Yon
-}- oo nach — oo springen. Diesem Differentialquotienten ist die Losungs-
warme proportional und es sieht so aus, als ware ein derartiges Ver-
halten physisch unmoglich.
Indessen treten diese Yon der Tbeorie geforderten ungewohnlichen
Verhaltnisse im Yorliegenden Falle wirkUch ein, wie eine eindringendere
Oberlegung ergiebt; nur muss man die auftretenden Grossen lichtig
deuten.
Bei der Ableitung der Formel iiber die Proportionalitat zwischen
dem Temperaturkoeffizienten der Eonzentration und der Losungswarme
YHirde als Losungswarme die Warmemenge bezeichnet, welcha man dem
822 n. Chemische Dynamik.
auB der festen und der flassigen Phase bestehenden Gebilde isothenn
zufiilireQ musste, bis in der Losung eine Konzentrationsvermehrung ent-
sprechend einem Mol des ersten Bestandteils eingetreten war.
So lange nun der feste Stoff selbst dieser erste Bestandteil des Ge-
bildes ist, braucht man, urn eine solche Anderung hervorzumfen, nar
eben ein Mol desselben aufzulosen. Anders, wenn der feste Stoff eine
Verbindung der beiden Bestandteile ist. Dann wird durch die Auf-
losung des festen Stoffes auch der zweite Bestandteil oder das Losungs-
mittel yermehrt, und die Vermehrung der Eonzentration ist geringer,
als im ersten Falle; es muss mit anderen Worten zur Erzielung der
gleichen Konzentrationszunahme, wie sie durch Auflosen von einem Mol
des reinen Bestandteils bewirkt wurde, mehr von der festen Verbindung
gelost werden, und die dazu erforderliche Losungswarme wachst im
gleichen Verhaltnisse. Hat insbesondere die Losung dieselbe Zusammen-
setzungy wie der feste Stoff, so kann eine Konzentrationsvermehrung
durch Auflosen der festen Verbindung uberhaupt nicht mehr hervor-
gebracbt werden, und enthalt die Losung nur sehr wenig mehr Ton
dem Losungsmittel, so ist eine sehr grosse Menge der festen Verbindung
notig, um eine Yorgeschriebene kieine Konzentrationsvermehrung aus-
zufiihren.
Diese Oberlegung zeigt, dass allerdings die Losungswarme, die for
eine bestimmte sehr kieine Zunahme der Konzentration bethatigt werden
muss, mit der Annaherung der Zusammensetzung der Losung an die der
festen Verbindung schnell zunimmt, und bei der Gleichheit unendlich
gross wird. Damit ist der erste Teil der Behauptung gerechtfertigt
Es bleibt iibrig, nachzuweisen, dass mit dem Durcfagange der Losung
durch den Punkt gleicher Zusammensetzung mit der festen Verbindung
die Losungswarme das Zeichen wechselt und im umgekehrten Sinne un-
endlich wird.
Um eine Anschauung zu haben, betrachten wir die ChlorcalcioiD-
losung, welche etwas weniger Wasser, als das Hydrat enthalt WoUen
wir in dieser Losung die Eonzentration des Chlorcalciums vermehren,
so diirfen wir nicht das Hydrat auflosen, denn dadurch wtirde der
relative Wassergehalt ja zunehmen. Wir miissen umgekehrt Hydrat
auskrystallisieren lassen: dann reichert sich die riickstandige Lo*
sung an Chlorcalcium an. Hierfiir aber ist Warme nicht zu-, sondem
abzufiihren; das Zeichen der die Eonzentrationsvermehrung begleitenden
Warmetonung ist das umgekehrte.
Auch sieht man durch ganz ahnliche Betrachtungen wie die frftheren
ein, dass gleiche Vermehrung der Eonzentration eine um so betrfidit*
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnang. 823
lichere Ausscheidung des Hydrate erfordert, je weniger die Zusammen-
setzuDg der Losung von der des Hydrats abweicht; haben beide gleiche
Zttsammensetzung, so ist auf diese Weise iiberhaupt keine Vermehrung
zu bewirken. Folglich springt wirklich die Losungswarme beim Durch*
gange durch diese ausgezeicbnete Konzentration aus unendlich grossen
positiven Werten in uDendlich grosse negative iiber, wie es die Theorie
Yerlangt.
Gleichzeitig wird aus diesen Darlegungen klar, dass solche Yer-
baltnisse nur auftreten konnen» wenn die feste Pbase eine Verbindung
der Bestandteile ist, oder wenn mit anderen Worten ibre Zusammensetzung
zwischen den aussersten Werten liegt, die an den Losungen vorkommen.
Ist letzteres nicht der Fall, so konnen aucb die eben geschilderten Ver-
haltnisse nicht eintreten.
164. Dampfdruoke gesftttigter Ldsungen* Bisber baben wir unsere
Aufmerksamkeit ausschliesslich der flussigen Phase der Gleichgewichte
gesattigter Losungen fester Stoffe zugewendet. Die feste Phase wird
definitionsgemass als unyeranderlicb (soweit nicht der Einfluss der Tem-
peratur in Betracht kommt) angesehen; somit bleibt nur noch die Dampf-
phase zu betrachten.
Was nun den Dampfdruck der festen Phase anlangt, so werden wir
alsbald den Satz aussprechen diirfen, dass er yon der Anwesenheit der
Losung ganz unabbangig und dem Dampfdrucke des reinen festen Stofifes
allein gleich ist. Dies ergiebt sich aus dem Satze, dass, was auf eine
Weise im Gleichgewicht ist, dies auf alle Weise ist Die Zufiigung
einer mit dem festen Stoffe gesattigten Losung zu einem Gebilde, welches
diesen Stoff im Gleichgewichte mit seinem Dampfe enthalt, kann die
Beziehung zwischen beiden nicht andern, so lange sie nicht eine von
Phasen andert. Bei dem festen Stoffe ist dies ausgeschlossen; bei der
Dampf phase besagt das Henry- Daltonsche Gesetz iiber die gegen-
seitige Unabhangigkeit gemengter Gase, dass eine etwaige Beimischung
yon Dampf des anderen Stoffes auch die Bescbaffenheit von dessen Dampf
oicht andern kann.
Es bleibt demnach nur als von der Losung abhangig der Dampf-
druck des zweiten Bestandteils iibrig. Uber dessen Verlauf lasst sich
folgendes sagen.
Da unser Gebilde nur eine Freiheit besitzt, so wird der Dampf-
druck des Losungsmittels nur eine Funktion der Temperatur sein, wie
der eines einheitlichen Stoffes. Nur der Verlauf wird sich anders zeigen.
Bei niedrigster Temperatur ist der Dampfdruck klein. Geht man
auf warts, so treten zwei entgegengesetzte Einflusse ins Spiel. Erstens
824
II. Ghemische Dynamik.
wachst der Dampfdruck der Fliissigkeit nach dem allgemeinen Gesetze mit
steigender Temperatur. Andererseits hat die Temperatur einen Einfluss
anf die Loslichkeit, und wenn diese steigt, wird der Dampfdrack der
Losung gegen den der reinen Fliissigkeit in steigendem Masse vermindert
Bei niedrigen Temperaturen, wo die Loslichkeit im allgemeinen gering
ist, iiberwiegt der erste Einfluss bei weitem, und der Dampfdruck unseres
Gebildes wird gleichfalls steigen.
Am oberen Ende der Losungslinie, wo die Losung aus dem ge-
schmolzenen festen Stoffe neben Spuren des Losungsmittels besteht, wird
dessen Dampfdruck jedenfalls gegen Null streben. Folglich muss bei
einer YoUstandigen Losungslinie der Dampfdruck des Losungsmitteli
durch einen Mazimalwert gehen, und wird im einfachsten Falle eine der
Formen der unteren Linien in Fig. 150 oder Fig. 151 haben.
Falls namlich die Loslichkeit des festen Stoffes mit der Temperatur
bestandig steigt, so muss sich die Dampfdrucklinie der Losung bestandig
mehr und mehr von der des festen, reinen Losungsmittels entfemen,
und es entsteht eine Beziehung, wie sie in Fig. 150 angedeutet ist, wo
die obere Linie den Dampfdruck des Losungsmittels darstellt
Finden sich dagegen in der Losungslinie Stellen, wo die Loe-
lichkeit mit steigender Temperatur geringer wird, so wird dort die
relative Dampfdruckverminderung mit steigender Temperatur abnehmen,
und die Dampfdrucklinie der gesattigten Losung wird schneller steigen,
als die Linie fiir konstante Eonzentration, die durch proportionate Re-
duktion der Druckordinaten aus der Linie des reinen Losungsmittels
entsteht. Ist die Loslichkeitsabnahme einigermassen bedeutend, so nimmt
die Dampfdrucklinie die in Fig. 151 gezeichnete Gestalt an. Da in-
dessen bei einer vollstandigen Losungslinie die Loslichkeit schlieeslidli
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 825
immer mit steigender Temperatur zunehmen idubs, so muss auch die
Dampfdrucklinie wieder eine flachere Wendung aoDehmen, und am
Schlusse wie die erste bis zum Dnicke Null yerlaufen.
Id Wirklichkeit werden meist nur Stiicke der Dampfdrucklinie zur
Beobachtung kommen konnen» da man auch von den Losungslinien nur
Teile untersuchen kann.
165. Theorie der tfampfdruoklinien ges&ttigter Ldsungen. Die
grundlegenden Ansatze fur die Theorie der Dampfdrncke der Losuogen
yerdanken wir einer bahnbrechenden Arbeit von Eirchhoff^); die nach-
stehenden Betrachtungen beruhen im wesentlichen auf ihnen, wenn sie
auch der in diesem Werke befolgien Methode entsprechend in anderem
Zusammenhange dargestellt sind. Dabei betrachten wir vorlaufig nur
den Fall, dass der geloste Stoff nicht fliichtig ist, und daher nur der
Dampfdruck des Losungsmittels in Frage kommt Die Zusatze, welche
durch die Beriicksichtigung des Dampfdruckes der festen Phase ent-
stehen, konnen spater leicht angefugt werden.
Durch Betrachtungen, die denen auf S. 350 Yollkommen analog
sind, ergiebt sich eine Dampfdruckgleichung von der Gestalt
dp/dT = L/VT.
Hier bedeutet p wieder den Dampfdruck, V das Volum von einem Mol
des Dampfes und L die Verdampfungswarme von einem Mol des Lo-
sungsmittels aus der gesattigten Losung, also unter Abscheidung der
entsprechenden Menge des gelosten Stofifes. Diese Menge betragt, wenn
N und n die Mole des Losungsmittels und des Gelosten sind, n/N, oder
x/(l — x) Mole, ausgedriickt durch den Molenbruch x = n/(n + N).
Bei der Verdampfung geht Losungsmittel in Dampf iiber, und Salz
scheidet sich aus; da bisher die Losungswarme fiir die Aufnahme
des festen Stoffes gerechnet worden ist, so ist der Betrag von der Ver-
dampfungswarme in Abzug zu bringen. Nennen wir letztere fiir ein
Mol W, so ist die gesamte Verdampfungswarme aus der Losung gleich
Yf Q. Die Losungswarme Q ist die S. 799 mit gleichem Buch-
staben bezeichnete Grosse, denn die Losung wird ToUstandig in den
festen Stoff und das reine Losungsmittel (als Dampf) gespalten; es
handelt sich also um die Losungswarme zur gesattigten Losung und
nnter Zurechnung der osmotischen Arbeit. Letztere ist bei yerdiinnten
Losungen gleich pY = RT fiir ein Mol des festen Stoffes, also hier
X
-: RT; bei konzentrierten Losungen kann sie nur kleiner sein, ist
*) Pogg. Ann. 103, 454. 1858. — Klassiker der ex. Wiss. Nr. 101.
826 n. Chemische Dynamik.
aber meist nicfat wohl bestimmbar. Die experimentell bestimmte Lo8UQg9-
warme q zar gesattigten Losong, die ohne osmotische Arbeit erfolgt,
ist also urn eine Grosse j3RT zu yermehreD^ wo fi<l isty and wir
setzen q + /9RT = Q.
Demnach wird die Danipfdrttckgleichung
W ^ Q
dp_ 1— 5__
dT~ VT
Von den in diese Gleichung eingehenden Werten sind alle positi? mit
Ausnahme von Q, welches auch negativ sein kann. Nehmen wir Q (wie
es gewohnlich ist) als positiv an, so wird dp/dT fur die Losang kleiner
sein, als ftir das Losungsmittel bei gleicher Temperatur, denn es ist
der Zahler des Bruches kleiner und im Nenner das V (wegea des ge-
ringeren Druckes) grosser fiir die Losung. Die Kurve der Losung ver-
lanft also flacher, als die des Losungsmittels.
Wenn Q positiv ist, so steigt die Loslichkeit mit steigender Tem-
peratur, und es wacfast daher auch Q und kann den Wert voa
W erreichen. Alsdann wird dp/dT = 0; die Dampfdruckkurve hat
eine horizontale Tangente und wendet sich von diesem Punkte ab, wo
^j Q>W zu werden beginnt, nach unten, um schliesslich, wenn
sich die Loslichkeit bis zum Schmelzpunkte des festen Stoffes yerfolgen
lasst, dort Null zu werden.
Gleichzeitig wird = cx), d, h. die Kurve endet rechtwinklig
1 — X
zur Temperaturachse').
Ist dagegen Q negativ, lost sich der feste Stoff unter Warmeent-
wicklung, so ist die gesamte Verdampfungswarme grosser als die des
reinen Losungsmittels, und die Kurve verlauft relativ steiler, als die
des letzteren. Doch kann nach den friiheren Darlegungen ein negatiYer
Wert der Losungswarme nicht iiber die ganze Loslichkeitslinie bestehen
bleiben; er muss durch ein Minimum gehen und durch Null sich nach
positiven Werten bewegen. Wo Q = 0 ist, hat die Losung dieselbe
dp
Verdampfungswarme, wie die reine Fliissigkeit, und die Werte V-jjt
sind fiir beide gleich.
Nimmt man die Giiltigkeit der Gasgesetze fiir den Dampf an, so
gewinnt die Formel noch an tlbersichtlichkeit, denn wir haben alsdann,
wenn wir die Werte des Losungsmittels mit dem Index 0 bezeichnen,
*) Vgl. van't Hoff, VorleBungen I, 36. 1898.
Chemische Gleiehgewichte swelter Ordnung.
827
dlnp
~d^
W—
1— X
Q
woraus
dlnp/po _
dT ~
und
dlnpo _ W
dT ~ RT«
RT«*
fur Q = 0 auch
9 d. h. die Tangenten der Euryen (in
1— X
Die Gleichung fiihrt zu denselben Ergebnissen; insbesondere iBt
dlnp dlnpo
"dT~~"~dT"
Id p und T) werden fiir diesen besonderen Wert der Temperatur parallel.
Diesen beiden Fallen entsprechen die beiden in Fig. 150 und 151 dar-
gestellten Moglichkeiten des Verlaufes der Dampfdrucklinie. In Fig. 150
yerlauft die Dampfdrucklinie der Losung immer flacher» als die des
LosungsmittelSy in Fig. 151 kommt ein Gebiet vor, wo sie steiler yer-
lauft. Doch kann dieser Verlauf nur in einem Teile der Linie statt-
finden^ da die vollstandige Linie sich jedenfallB wieder abflachen und
durch ein Maximum nach Null gehen muss.
166. Ezperimentelle BoBt&tigung. Was die experimentellen Be-
lege zu der Theorie anlangt, so sind Dampfdrucklinien gesattigter Lo-
020-
«/<* -
«/tf
a/*-
aj3
ow
/9^oo
/ff09
ISO*
Fig. 152.
sungen our in sehr geringem Umfange untersucht worden. Die Mes-
Bungen von Roozeboom ^) an den Losungen der verschiedenen Hydrate
des Chlorcalciums enthalten Beispiele sowohl fiir die Zunahme des
Verhaltnisses p/po^ wie auch fiir seine Abnahme, einer positiven und
negativen Losungswarme Q entsprechend. Am interessantesten ist der
Fall der gesattigten Losungen des Hydrats CaCl,.2H,0, bei welchem
znerst eine Zu- und dann eine Abnahme folgt. Die beistehende Fig. 152
giebt diese Verhaltnisse als Funktion der Temperatur wieder; bei 100^
^) Zeitschr. f. phys. Chemie 4, 31. 1889; ausftthrlich Rec. Pays-Bai 8, 1.
828 II- Chemische Dynamik.
let ein Maximum vorhanden, dort muss also die Losuogswarme gleich
Null sein. Eine nnmittelbare BestimmuDg derselben ist indessen dort
nicht YorgeDommen worden.
Der interessaute Fall eines Mazimalwertes der Dampfdrucklinie
bei steigender Temperatur ist in einem einfachen Falle (namlich wo
der feste Stoff einer der Bestandteile ist) noch nicht nachgewiesen
worden. Dagegen hat Roozeboom^) im Falle des Chlorcalciumhydrates
ein solches Maximum allerdings gefunden; doch gehort dieses Beispiel
streng genommen nicht hierher, da die feste Phase eine Verbindung
beider Bestandteile ist (S. 813). Beispiele fiir jenen einfacheren Fall
liessen sich leicht genug finden, z. B. bei organischen Verbindungen wie
Phenol mit Benzol oder Ather. Auch das bereits bei 205^ schmelzende
Thalliumnitrat mit Wasser ware der Messung zuganglich.
din ^— T=T^
Die allgemeine Formel ^^ = =^=5 ist von Rooze-
d 1 M\L
boom*) in der Weise gepriift worden, dass er aus seinen Messungen
der Loslichkeit des Chlorcalciums und den Bestimmungen der Losungs-
warme von Person und Thomsen Werte auf der rechten Seite berech-
nete, und mit den aus seinen Dampfdruckmessungen abgeleiteten Werten
Yon dlnp/dT verglich. Auch hier liegt kein einfacher Fall Yor, da als
feste Phase wieder Chlorcalciumhexahjdrat vorhanden war; doch soil
in Ermanglung eines solchen die Tabelle wiedergegeben werden. In
dieser ist t die Temperatur, p der Druck, n die Mole Wasser auf ein
Mol Chlorcalcium in der Losung, Q die Losungs warme des Hezahydrats
2u gesattigter Losung. P'tir die Verdampfungswarme des Wassers wurden
W =18 (6065 — 0-00695 t)K gerechnet (11,96). Unter R steht der
Nenner Yon der rechten Seite der Gleichung.
dlnp/dT
t
P
n
Q
R
ber.
beob.
0*
18
1037
690 K
— 94K
0.063
0.056
10
32
9.49
718
— 83
0.055
0^7
20
52
8-28
758
— 75
0*044
0-043
25
62
7.52
790
— 54
0031
0036
27
64
7-13
81.0
— 22
0.012
0.012
28
64*5
693
82.5
17
0.0094
>o
28.5
65
681
834
— 2
00014
+ 0
29
64-5
667
84.4
+ 21
— 0.012
<o
295
64
6-46
8J-5
+ 84
— 0^45
—
30
61
6-00
890
00
00
oc
*) A. a. 0. «) A. a. 0.
Chemische Gleicbgewichte zweiter Ordnung.
829
Wie man aus dem Vergleich der letzten Spalten sieht, stimmen
die berechneten and beobachteten Werte einigermasseo iiberein, wenn
auch ein besserer Anschluss wiinscbenswert ware. Insbesondere geht
nahe bei 28*5^ wo der Dampfdruck ein Maximum hat, die gesamte
Verdampfungswarme R durch Null, indem durch die Ausscheidung des
Salzes beim Verdampfen des Losungsmittels gerade die hierfiir erforder-
liche Warmemenge entwickelt wird.
167. Zuammengesetzte feste Phasen. Ebenso wie die Loslichkeit
in dem Falle besondere Eigentiimlichkeiten zeigt, wo die feste Phase
aus beiden Bestandteilen zusammengesetzt ist (S. 817), machen sich
iLhnliche Besonderheiten fur den Dampfdruck geltend. Sie ergeben sich,
Fig. 153.
^wenn man beispielsweise den oben betrachteten Fall des Chlorcalciumhexa-
hydrats durch den ausgezeichneten Punkt, wo die Losung mit der festen
Phase gleichzusammengesetzt ist, verfolgt.
Da namlich der Dampfdruck mit zunehmendem Gehalt an Ghlor-
calcium bestandig abnehmen muss, wenn die Temperatur konstant bleibt,
so muss er es um so mehr im Falle der gesattigten Losung, welche bei
zunehmendem Gehalt an wasserfreiem Salz das Gleichgewicht bei sinken-
den Temperaturen erreicht. Die Dampfdrucklinie wird demnach, nach-
dem sie bei 28-5® ihr Maximum erreicht hat, sich ab warts wenden, und
muss iiber 30-2^ dem Schmelzpunkte des Hydrats, hinaus riicklaufig
werden, indem sie sich nach unten umbiegt; jede der beiden Losungen,
welche bei einer Temperatur zwischen 29° und 30-2® mit festem Hydrat
im Gleichgewicht sein kann, hat auch ihren eigenen Dampfdruck, und
wir werden insgesamt eine Gestalt wie Fig. 153 haben.
Ostwaldy Chemie. IT, 2. 2.Aafl. 53
830 n* Chemische Dynamik.
Dieser besonderen Gostalt der Dampfdrucklinie entspricht auch ein
besonderer Verlauf der Verdampfungswarme. Bei 30*2 S wo das Hydrat
schmilzt, muss uamlich die Verdampfungswarme von einem Mol Wasser
aus der Losung uegativ unendlicb gross werden, denn in diesem Punkte
wird der auf das Hexahydrat als Bestandteil bezogene Wert un-
endlicb gross, weil z sicb der Eins, und 1 — x der Null nahert; dam it
wird auch das Glied :j Q der Gleichung unendlich. Experimentell
bedeutet das, dass unmittelbar Yor diesem Punkte die Entziebung Yon
einem Mol Wasser nur unter Abscbeidung einer sebr grossen Menge des
krystallisierten Hydrats erfolgen kann, wodurch eine sebr grosse nega-
tive Warmemenge auftritt
X
Uber diesen Punkt binaus wird , wenn es auf das Heza-
1 — X
bydrat als feste Pbase bezogen wird, negativ und zwar zuerst unend-
licb gross, dann endlicb. Die Deutung entspricbt ganz der S. 822 ge-
gebenen: es muss sicb das Hexabydrat auflosen, wenn man der
wasserarmeren Losung Wasser bei konstanter Temperatur enzieht, und
zwar urn so mebr, je naber die Zusammensetzung der Losung der des
Hexahydrats kommt. Demgemass wird der Nenner in der Glei-
cbung positiy; dlnp/dT (und daber aucb dp/dT) gebt an dieser Stelle
aus — oo in 4~ ^ iibcr. Dies entspricbt dem Punkte m der Eurve,
denn diese bat dort eine senkrecbte Tangente, und der Differential-
quotient dp/dT springt Yon — oo nacb -(- oo. Fig. 153 ist nach deii
Messuugen von Roozeboom am Gblorcalciumbydrat gezeicbnet
168. Anderong der fasten Phase. Man kann endlicb fragen,
wie sicb die Dampfdrucklinie Yerbalten wird, wenn der feste Stoff unter der
Losung sicb andert, d.b. in eine allotrope Form iibergebt, oder scbmilzt Die
Antwort ist, dass dort die Dampfdrucklinie einen Knick baben muss. Denn
die Entziebung Yon Wasser fiibrt unmittelbar nacb diesem Punkte nicht
zu dem friiberen festen Stoffe, sondern zu einem neuen, der als der bei
boherer Temperatur bestandige aus dem friiberen durcb Warmeaufnabme
entstanden sein muss. Daraus gebt berYor, dass das Glied -r Q
1 — X
in unserer Gleicbung kleiner geworden sein muss, da die Auf losung der
neuen Form weniger Warme erfordert Der Zabler des Ausdrucks wird
also grosser und die DampfdruckkurYe der entsprecbenden Losung Yer^
lauft steiler. Dies bildet einen interessanten Gegensatz zu dem Yer-
balten eines sicb umwandelnden Stoffes beim Gleicbgewicht erster Ord-
Chemise he Gleichgewichte zweiter Ordnung. 831
imng, wo die neue Dampfdrucklinie immer flacher yerlief, als die vorige.
Der Gegensatz entsteht durch das negative Zeichen, mit welchem die
Zustandsanderung des festen Stofifes in der GleichuDg auftritt.
An spaterer Stelle wird bierauf naher eingegangen werden, da es
8ich um einen Fall der gegcnseitigen Durchschneidung zweier Gleich-
gewichts Union hand el t.
169. Einfluss des Druckes auf die Ldslichkeit. Lasst man aus
dem bisher betrachteten Gebilde, das nebeu festem Korper und Losung
noch eine Dampfphase en thai t, die letztere fort, so gewinnt man eine
Freiheit. Diese macht sicb dabin geltend, dass man den Druck beliebig
andern kann. Die Eonzentration der Losung ist dann nicbt mehr
eine Funktion der Temperatur allein, sondorn auch nocb eine des
Druckes.
Aus der Geringfiigigkeit der Volumanderungen bei dem Ubergange
eines festen Stofifes in die Losung wird man alsbald scbliessen konnen,
dass der Einfluss des Druckes auf die Loslicbkeit gering ist; aucb ist
bereits friiber (I, 1044) mitgeteilt worden, welcbe Scbwierigkeiten zu
iiberwinden waren, um die Tbatsacbe eines solchen Einflusses iiberbaupt
nacbzuweisen, und sein Zeichen zu ermitteln. Durcb Sorby^) ist zuerst
in bewusster Anlehnung an die Tbeorie der Beeinflussung des Scbmelz-
punktes durcb den Druck beim Gleichgewicht erster Ordnung eine ent-
sprecbende Beziebung fiir den vorliegenden Fall aufgesucht und, wenn
auch nicbt mit vollstandiger Elarbeit, so docb in den wesentlicbsten
Punkten richtig aufgestellt worden. „Im Falle der Saize, welcbe iin
gelosten Zustande geringcren Raum einnehmen, als im festen, macht
eine Vermebrung des Druckes wie eine der Temperatur sie loslicber;
bei ibrer Auflosung wird mecbanische Arbeit verbraucht, und so zu sageu
fur die Erzeugung der Losung aufgewendet. Wenn Wasser, das auf
diese Weise mehr Salz entbalt, als sonst bei derselben Temperatur gelost
sein konnte, bei einem gegebenen Drucke gerade gesattigt ist, so stellt
der Betrag des Druckes die Kraft der Krystallpolaritat dar, welcbe das
Salz in krystalliniscber Form auszuscbeiden strebt, und welcbe genau
durcb den Druck im Gleichgewicht gehalten wird."
Durch Benutzung des Kunstgriflfes von Bunsen (I, 1013) wurden ge-
sattigte Salzlosungen neben bekannten Mengen festen Salzes fur langere
Zeit unter Druck gehalten, und die Anderung der Loslicbkeit bestimmt.
Die nachstebende Tabelle giebt Sorbys Resultate wieder.
') Proc. Roy. Soc. 12, 538. 18(>3; Phil. Mag. 27, 145. 18^4.
53*
832 n. Ghemische Dynamik.
JY
P
dc
lOOdc/dP
L
Chlornatrium
1357
97
0407
0-419
157
Kupfersulfat
4*83
60
1-910
3183
7
Ferrocyankaliam
261
86
0-288
0*335
42
Ealiumsulfat
8121
63
1-840
2-914
42
Ferricyankalium
8*90
66
1-640
2466
20
WasBer
8-98
.i-.
0-991
106
Die Bedeutung der einzelnen Spalten ist folgende. Mit JV ist die
VolumandeniDg bei der Bildung des festcn Salzes aus der gesattigten
Losung bezeichnet, das Volum des Salzes selbst gleich 100 gesetzt P
ist der aussere Druck bei der Beobachtung in Atmospharen, dc die
prozentiscfae Vermehrang der Loslicbkeit durch den angewandten Dmck,
100 dc/dP dieselbe auf 100 Atmospfaaren berechnet. Unter L steht die
mechaniscbe Arbeit durch das Auskrystallisieren des Salzes aus einer
LosuDg, die ein Prozent mebr Salz als die gesattigte Losung entbalt
ausgedriickt durch die Z^hl von Metem, um welche das Gewicbt dieses
Salzes gehoben werden konnte.
Dass in solchen Fallen, wo JV negativ ist, die Losung also unter
Ausdehnung erfolgt, auch der Druckeinfluss sein Zeichen wechselt, und
die Druckzunahme die Loslicbkeit yermindern muss, statt sie zu Ter-
mehren, hat Sorby gleichfalls ausgesprochen und an einem Beispiel (Chlor-
ammonium) ezperimentell nachgewiesen.
Durch Braun *), der zuerst eine thermodynamische Theorie der Er-
scheinung gab, wurden diese Resultate bestatigt, indem er Loslichkeits-
yermehrung durch Druck an Kochsalz, und Verminderung am Sahniak
nachwies. Doch war, da die Drucke nicht gemessen worden waren, eine
zahlenmassige Priifung der Theorie nicht moglich.
Wesentlich die gleichen theoretischen Ergebnisse erhielten Planck,
Duhem und yan Laar; insbesondere der letztere brachte dieselbe auf
eine einfache Form*) unter Benutzung des thermodynamisehen Poten-
tials, Experimentelle Untersuchungen zur Priifung der Theorie sind
dan von E. y. Stackelberg ') angestellt worden, auf welche alsbald ein-
zugehen sein wird.
170. Theorie der laOslichkeitsbeeinflussung durch den Druok.
Andert man an einem im Gleichgewicht befindlichen Gebilde aus festem
Stofif und seiner Losung isotherm den Druck, so wird eine Reaktiou
eintreten, die sich der Drucksteigerung widersetzt, d. h. das Volum
') Wied. Ann. 30, 250. 1887; Zeitschr. f. phy8. Chemie 1, 259. 1887.
•) Zeitschr. £. phys. Chemie 15, 466. 1894 und 18, 376. 1895.
») Zeitschr. f. phys. Chemie 20, 337. 1896.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnang. 833
yermindert, und nach dem Prinzip der virtuellen EnergieanderuDgen
wird die hierbei bethatigte aussere Arbeit gleich und entgegengesetzt
der durch die EonzentrationsandeniDg bewirkten Anderung der osmo-
tischen Energie sein.
Bezeicbnet man also die Volumvermiudening bei der isothermen
Auflosung Yon einem Mol Salz in seiner gesattigten Losung mit AV
und den tiberschuss des ausseren Druckes iiber den der Atmosphare
mit dP, 80 ist die aussere Arbeit gleich dP./iV. Die osmotische Energie-
anderung ist, da das Volum der Losung bis auf Unendlichkleines zweiter
Ordnung konstant bleibt, V.dp, oder wenn man die Eonzentration
c = -r^ einfuhrt, — -T^-dc = -~--dlnc. Die Gleichsetzung ergiebt
dP.JV = V-^.dc = -^.dlnc,
do dc
dc 4V , dine JV
und daraus -T^^=-rr-. — r^— oder
dP""Vdp/dc dp dp/dc'
welches die gesuchte Gleichung ist. Sie besagt, dass bei konstanter Tern-
peratur die relative Anderung der Eonzentration dine durch den
ausseren Druck der Volumanderung bei der Losung proportional ist.
Was das Zeichen anlangt, so ist schon friiher (S. 802) dargelegt worden,
dass dp/dc, die Anderung des osmotischen Druckes mit der Eonzen-
tration, immer positiv ist; somit haben aucb dc und J V gleiches Zeichen.
Dies ist der exakte Ausdruck fiir den Satz von Sorby, und die Formel
gilt allgemein, da kein besonderes Gesetz benutzt worden ist.
Fiir Losungen beliebiger Eonzentration ist -^ nicht bekannt; bei
Yordiinnten Losungen indessen kann man das Gesetz pY = RT oder
p = cRT einfiihren. Fiir konstante Temperatur ergiebt sich daraus
dp/dc = RT und die Gleichung nimmt die Gestalt an
dine JV
rn >
dP RT
in welcher samtliche Grossen messbar sind. Sie ist zuerst (auf einem
anderen Wege) Yon M. Planck abgeleitet worden.
Die unbekannte Funktion f-r^j bei Losungen beliebiger Eonzen-
tration lasst sich mit Hilfe der S. 802 gegebenen Gleichung eliminieren.
Aus den beiden Gleichungen
dc\ JV
VdP/T
T V(dp/dc)T
und
834 n. Chemische Dynamik.
/dlnc\ Q . ( ^^\ ^
\~dT^yp~ T(dp/dc)T VdY /p— VT(dp/dc)T
in welcber gleichfalls alio Grossen der Messung zuganglich sind. Diese
Formel ist zuerst von F. Braun (a. a. 0.) auf Grundlage eines Kreis-
prozesses abgeleitet worden.
Was ihre experimentelle Bestatigung anlangt, so hatte Braun niir
eine qualitative beziiglich des Sinnes der auftretenden JLnderungen der
Loslichkeit im Auge, da er die von ihm benutzten grossen Drucke nicht
bcstimmte. Um die genaue quantitative Priifung hat sich insbesondere
£. von Stackelberg ^) bemiiht, der den Druck mittels einer Cailletet-
schen Pumpe erzeugte und an dem zugehorigen Manometer mass. Der
Apparat bestand aus einem innen vernickelten Cylinder aus Messing,
in dessen Hohlraum sich das Gemenge von Salz und Losung befand,
das durch einen elektromagnetisch betriebenen Ruhrer in Bewegung
gesetzt und gleichformig vermischt wurde. Aussen war der Block mit
einem Wasserbade umgeben, das aus einem Thcrmostaten gespeist
wurde, um die Temperatur konstant zu halten. Das Wasser der Druck-
pumpe wirkte auf das Quecksilber in dem unteren Teile des Gailletet-
schen Arbeitsblockes, der den Cylinder trug; ein oben erweitertes Ver-
bindungsrohr, das in das Innere des Cylinders hineinragte, bewirkte,
dass das Quecksilber nicht in diesen trat, sondern in der Rohre verblieb.
Trotz der auf die Versuche verwendeten Sorgfalt ergaben sich die
Bestimmungen ziemlich schwankend, so dass die aus den Yersuchen
gezogenen Mittelwerte einen unerwiinscht grossen wahrscheinlichen
Fehler besassen, der den kleinen Unterschied der Loslichkeiten ohne
und mit Anwendung des Druckes sehr unsicher machte. Dass die be-
obachteten Loslichkeitsunterschiede, die dem Zeichen nach richtig aus-
fielen, sich durchschnittlich kleiner erwiesen, als die berechneten, braucht
daher nicht auf eine Unrichtigkeit in der Formel zu deuten, sondern
mag seine Erklarung in den Versuchsfehlern finden; doch ware immer-
hin eine genauere zahlenmassige Bestatigung der theoretisch vorausge-
seheneu Beziehungen lebhaft zu wiinschen. Dabei wiirden sich vielleicht
andere Losungen, als solche von Salzen in Wasser, als geeigneteres
Versuchsmaterial erweiseu, da gerade bei diesen Losungen die Verhalt-
nisse verwickelter sind, als in irgend einem anderen Falle^).
*) Zeitschrift f. phys. Chemie 20, 337. 1896.
>) Ygl. von Stackclberg, Zeitschr. f. phys. Chemie 26, 533. 1898.
Ghemische Oleichgewichte zweiter Ordnang. 835
171. Die letzten Falle. Die beiden moglichen Gebilde mit einem
Freiheitsgrade, die noch zu behandeln sind, bestehen aus zwei festen
Stoffcii und einem fliissigen, bez. einem fasten und zwei fliissigen und stellen
Falle der „kondensierten Systeme** dar, d. h. solcher, die keine Dampfphase
enthalten, und deren Gleichgewichtszustand deshalb durch den Druck nur
in sehr geringem Grade verschoben wird. Ihre Beschaffenheit ist deshalb
nicht wesentlich von der der vierpbasigen Gebilde verschieden, die aus ihnen
durch Zufugung einer Dampfphase entstehen, und dadurch nonvariant
werden; denn die durch Fortlassung der Dampfphase gewonnene Frei-
heit bringt nur bei sehr grossen Drucken merkliche Zustandsanderungen
zu Wege.
Wir verfahren daher in systematischcr Hinsicht zweckmassiger,
wenn wir diese Falle zusammen mit denen der letztgenannten Gebilde
behandeln. Hierzu ist noch folgendes zu erwagen.
Die nonvarianten Zustande sind, wie schon bei den Gleichgewich-
ten erster Ordnung dargclegt worden ist, sachgemass als Durchschnitts-
punkte mehrerer Zustandsreihen aufzufassen, welche je ein Gebilde mit
einer Freiheit darstellen. Diese univarianten Gebilde entstehen aus den
Donvarianten durch Fortlassung einer Phase, und es schneiden sich da-
her in einem solchen nonvarianten Pankte so viele Zustandslinien, als
univariante Gebilde sich aus den vorhandenen Phasen zusammenstellen
lassen. Im vorliegenden Falle des Gleichgewichtes zweiter Ordnung
sind im nonvarianten Gebilde vier Phasen vorhanden; aus vier Ele-
menten lassen sich aber vier Eombinationen von je dreien bilden, und
somit sind hier die nonvarianten Punkte die Durchschnitte von je vier
Zustandslinien univarianter Gebilde. Da allgemein in einem nonvari-
anten Punkte bei n Bestandteilen n-{- 2 Phasen anwesend sind, und
aus n -|- 2 Elementen sich immer auch n -f- 2 Eombinationen mit n -f- 1
Oliedern bilden lassen, so schneiden sich immer in den nonvarianten
Punkten von Gebilden aus n Bestandteilen n -{- 2 Zustandslinien uni-
w^arianter Gebilde.
Soiche nonvariante Punkte haben ein besonderes Interesse. Sie
stellen absolute Naturkonstanten dar, die nur von der chemischen Be-
schafiEenheit der beteiligtcn Bestandteile und Phasen abhangen, und
daher sich zur unabhangigen Kennzeichnung von Tempcraturen oder
Drucken benutzen lassen. Hiervon ist insbesondere beim Wasser seit
dem Beginn der exakten Thermometrie Gebrauch gemacht worden, und
in neuerer Zeit hat Th. Richards^) den vierfachen Punkt: Glaubersalz,
*) Zeitachr. f. phys. Chemie 26, 690. 1898.
836 n. Ghemische Dynamik.
Anhydrid, Losung, Dampf, der bei 32-379^ des Wasserstofithermometera
liegt, als leicht herzustellende mittlere Temperatur fiir die Kontroll&
Yon Thermometern empfohlen.
Umgekebrt dienen solche Punkte zur Ermittelung der Reinhcit
chemischer Stoffe. Gewohnlich werden nur Gebilde mit einem Bestand-
teil benutzt, und die Anwendung des dreifacben Punktes oder dea
Scbmelzpunktes fiir diesen Zweck ist allgemein in Gebrancb. Doch
konuen unter Umstanden aucb vierfacbe Punkte bei Gleicbgewichten
zweiter Ordnung fiir denselben Zwcck dienen, und in der angefubrteo
Arbeit von Richards ist gezeigt worden, mit welcber Scbarfe yorhandeD&
dritte Bestandteile oder „Verunreinigungen'< ibre Auwesenbeit erkenneo
lassen.
Fiir die Lebre vom cbemiscben Gleicbgewicbte endlicb baben die
nonvarianten Punkte die Bedeutung, dass sie die Grenzen angeben, bis za
welchen die univarianten Zustandslinien stabilen Gebilden entsprechen.
Sie geben nicht die Grenzen an, bis zu denen sie Uberbaupt beobachtet
werden konnen, denn man kann diese Linien meist weiter, zuweilen
betrachtlicb weiter verfolgen. Aber dabinter sind die Zustande nicbt
mebr unbedingt bestandig, denn es beginnt an dieser Stelle zunachst
das metastabile Gebiet und auf dieses folgt das labile, wo die Mog*
licbkeit weiterer Beobacbtung ein Ende nimmt.
An solcben Durcbscbnittspunkten zweier Zustandslinien gelangt
man also, wenn man metastabile und labile Zustande ausscbliesst, bei
stetiger Anderung der Temperatur und des Druckes von einer der-
artigen Linie auf eine andere. Hierbei miissen die beiden Linien immer
zwei von ibren drei Pbasen gemein baben, denn da im Punkte nur
vier Pbasen vorbanden sind, so muss jede mogliche Kombination zu
dreien aus ibnen jedesmal zwei identiscbe Glieder baben. Der Vorgang
bestebt also in der Umwandlung irgend einer, und nur einer der vor-
bandenen Pbasen, wabrend die beiden anderen unverandert bleiben.
Wir werden uns mit diesen Vorgangen im einzelnen besdbaftigen, und
die denkbare Mannigfaltigkcit derselben zu erscbopfen suchen.
172. Allgemeines &ber die Umwandlungen im yier&ohen Punkte.
In einem jeden vierfachen Punkte ist die Zahl der nicht dampfformigen
Pbasen mindestens drei, da nur eino Dampfphase vorbanden sein kann.
Folglich ist von den vier Linien, die sich dort schneiden, mindestens
eine die eines „kondensierten*S d. h. nur aus festen oder fiiissigen
Pbasen bestehenden Gebildes. Diese Linie lauft, wenn wir uns des
Druck-Temperatur-Diagramms bedienen, fast parallel der Dmckaze, also
in unserer gewohnlichen Zcichnung fast senkrecbt nach oben. Da
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnuog. 837
andererseits, wenn eine Dampfphase vorhanden ist, nur eine „konden-
sierte*' Linie vorkommen kann, da die drei aDderen moglichen Zusam-
meDstelluDgen von je drei Phasen die Dampfphase enthalten miissen,
80 liegt in diesem Falle ein Durchschnittspunkt aas einer ^konden-
sierten*' Linie and drei Dampfdrucklinien vor.
Fehlt aber die Dampfphase, so sind alle moglichen Linien kon-
densierte.
Dies sind die beiden moglichea Haoptklasson solcher Durchschnitts-
punkte; von ibnen ist die erste bei weitem die wichtigste und best-
bekannte. Von der zweiten Klasse ist bisher noch kein einziges Boi-
spiel dnrchgearbeitet; es liegt dies daran, dass die kondensierten Linien
alle fast parallel zu einander verlaufen, da sie alle der Druckaze naheza
parallel sind. Wenn sie also nicht von vornherein einander sehr nahe
liegen, so konnen sie erst bei sehr hohen (positiven oder negativen)
Drncken zum DurchschDitt kommen, und sind daher, besondere Ver-
haltnisse ausgenommen, experimentell unznganglich.
Neben der Dampfphase konnen in der ersten Klasse entweder drei
feste, Oder zwei feste neben einer fliissigen, oder endlich zwei fliissige
neben einer festen Phase bestehen. Aus diesen dreien bilden sich je
drei Zustandslinien, die eine Dampfphase enthalten, also nicht konden-
sierten Gebilden entsprechen, und die im vierfachen Punkte sich durch-
schneiden. Damit sind, da drei nicht mischbare fliissige Phasen bei
zwei Bestandteilen nicht vorkommen, alle vorhandenen Moglichkeiten
erschopft
Die sich im vierfachen Punkte schneidenden Linien sind im ersten
Falle drei Dampfdrucklinien, die je einem Paare fester Phasen ange-
horen. Im zweiten Falle schneidet sich eine derartige Dampfdruckr
linie mit zwei Losungslinien, welche die Loslichkeit je eines der beiden
festen Stoffe in der Fliissigkeit darstellen. Im dritten Falle, wo zwei
nicht mischbare Fliissigkeiten neben festem Sto£Fe vorliegen, schneiden
sich in dcm vierfachen Punkte drei Losungslinien, namlich die des
festen Sto£fes mit jeder der beiden Fliissigkeiten, und der beiden Fliissig-
keiten ineinander.
FUr alle diese Moglichkeiten sind Belege bekannt; die Eigentiim-
lichkeiten der einzelnen Falle werden sich daher an Beispielen erortem
lassen.
Vorher ist noch eine allgemeine Bemerkung zu machen. Jede uni-
variante Linie folgt einem Druck-Temperaturgesetz von der Form dp/dT
= L/VT, in welchem L die bei der Umwandlung einer bestimmten
Menge, z. B. eines Mols der beteiligten Stoffe zuzufiihrende Warme und
838 II* Ghemische Dynamik.
V die (label eintretende VolumaDderung ist. An der Durchscbnitts-
stelle zweier solcher Linien, von denen die zweite die Formel dp'/dT
= L7V'T haben mag, bilden diese einen Winkel miteinander, der durch
den Unterschied derbeiden trigonometrischen Tangenten dp/dT — dp'/dT
bestimmt ist. Dieser UDterschied hat don Wert L/VT — L'/V'T. Man
kann somit, wenn die thermischen und volumetrischen Werte flir die
einzelnen Pbaseu bekannt sind, den Winkel, unter welchem sich die
verschiedenen Linien schneiden, vorausberecbnen. Dabei lasst sich
folgendes (ibersehen.
Ist keine Dampfpbase anwesend, so ist V immer sehr klein im
Verhaltnis zu L, d. h. dp/dT nabert sich dem Werte Unendlich, und
die Linie steht nahezu senkrecht auf der Temperaturaxe.
Liegt dagegen ein Obergatig aus dem festen oder fliissigen Zn-
stande in Dampf vor, so hat V einen grossen Wert, dp/dT demgemass
einen kleinen, und die Linie verlauft je nach den gewahlten Einheiten
mehr oder weniger flach. In diesem Falle lasst sich die Glcichung sehr
vereinfachen. Da nur eine Dampfpbase moglich ist, so sind die beideu
Volumanderungen Y und Y einander gleich zu setzen. Denn man kann
die Yolumzunahmo beim tJbergang aus dem festen oder fliissigen Za-
stande in Dampf gleich dem Volum des letzteren setzen, indem man
das des ersteren vernachlassigt. Die Gleichung erlangt dann unter Be-
nutzung der Gasgesetze die einfachere Gestalt:
dln(p/p) _ L — L'
dT "" RT*
Hierin hat L — L' die einfache Bedeutung der Umwandlungswarme fur
das Verschwinden der einen und das Auftreten der anderen Phase im
vierfachen Punkte. Wahrend aber bei Umwandlungen erster Ordnung
diese beiden Grossen einfach auf gleiche Mengen der beiden Phasen
zu beziehen waren, miissen hier verwickeltere Betrachtungen eintreten,
da beim Gleichgewicht zweitcr Ordnuog im allgemeinen die neue
Phase nicht die gleiche Zusammensetzung hat, wie die alte. Tritt
diese Gleichheit ein, so ergiobt sich fiir diese hylotrope Umwandlung
auch eine entsprechende Vereinfachung der Gleichung.
173. Drei feste Phasen neben Dampf. Von den drei festen
Phasen konnen entweder zwei gleicher Zusammensetzung sein, oder sie
haben alio verschiedene. Dass alle drei gleiche Zusammensetzung haben,
ist ausgeschlossen. Denn dann miisste der Dampf auch dieselbe Zu-
sammensetzung haben, da anderenfalls durch Verdampfung die Gleich-
heit wenigstens bei einer der Phasen aufgehoben wiirde. Hat aber der
Dampf dieselbe Zusammensetzung, so yerhalt sich das Gebilde als eines
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 839
der ersten Ordnung, and dann sind nicbt drei feste Pbasen neben Dampf
moglicb, sondem nur zwei.
Wobl aber ist es moglicb, dass zwei von den festen Pbasen gleicbe
Zusammensetzung besitzen, also beteromorpb sind.
Der Fall, dass alle drei Pbasen verscbiedene Zusammensetzung
haben, ist bereits eingebend erortert worden (S. 547), so dass uns nur
der Fall zu betracbten bleibt, wo zwei der festen Pbasen gleicbe Zu-
sammensetzung baben. Aucb dieser Fall bat ezperimentell nocb nicbt
voUstandig studiert werden konnen. Zwar ist von Roozeboom bereits
die wicbtige Tbatsacbe nacbgewiesen worden (S. 543), dass bei dem
Oleicbgewicbt zweier beteromorpber Hydrate mit demselben boberen
Hydrat die Dampfdrucke verscbieden sind, und zwar so, dass das un-
bestandigere Gebilde den boberen Dampfdruck bat. Aber in dem ganzen
Gebiete, das dem Versucbe zuganglicb war, erwies sicb die eine Form
unbestandig, die andere bestandig, so dass der vierfache Punkt mit
dem Gleicbwerden der beiden Dampfdrucke nicbt beobacbtet werden
konnte. Andere Falle derselben Art sind nicbt zur Untersucbung ge-
langt, obwobl man unter den mannigfaltigen Hydraten der „Yitriole*'
Yormutlich leicbt passende Beispiele finden wird.
Gegeniiber dem S. 547 eingebend erorterten Falle der drei ver-
scbiedenen Verbindungen bietet dieser die Besonderbeit, dass im vier-
fachen Punkte nur eine Art der Umwandlung stattfinden kann, namlicb
die der beteromorpben Formen ineinander. Die dritte Verbinduug
bleibt dabei ganz unverandert, und erleidet nicbt einmal eine Ver-
mehning oder Verminderung. Ebenso sind yon den drei Dampfdruck-
linien, die sicb im vierfachen Punkte scbneiden, nur zwei als wirklicbe
Dampfdrncklinien aufzufassen, die sicb unabbangig von den Mengen-
verbaltnissen der Bestandteile (innerbalb gewisser Grenzen) einstellen.
Es sind dies die Linien fur das Gleicbgewicbt je einer der beiden
heteromorpben Formen mit der dritten festen Pbase. Denn nur diesen
Gebilden kommt ein Dampfdruck im eigentlicben Sinnc zu, der (inner-
balb gewisser Grenzen) unverandert bleibt, wenn man die Menge des
Dampfes vermebrt oder vermindert, indem dadurcb die Menge der einen
oder der anderen festen Pbase entsprecbend geandert wird. In einem
Gebilde dagegen, das aus den beiden gleicbzusammengesetzten Formen
neben Dampf von anderer Zusammensetzung bestande, konnte man die
Menge des letzteren iiberbaupt nicbt auf Kosten einer der festen Pbasen
andem, obne dass eine dritte auftrate, die aus einer der vorbandenen
durch Aufnabme, bezw. Abgabe der Bestandteile des Dampfes ent-
Btanden ware.
]
840 n. Ghemische Dynamik.
Es fallt 8omit von den vier univarianteD Linien, welche durch die
vierfachen Punkte gehen, die eine fort, wenn man die Zusatzbedingung
macht, dass zwei von den vorhandenen Phasen gleiche Znsammen-
sammensetzung haben sollen. Eine 8olche Bedingung kann sich aos
naheliegenden Griinden nur auf zwei feste Phasen beziehen.
Man kann die Frage stellen, wie sich denn ein solches Gebilde
aus zwei hylotropen festen Phasen und einem Dampfe von abweicheDder
Zusammensetzung verhalten wiirde, wenn man es wirklich herstellte. Mir
scheint, dass hier ein Verhalten vorliegen miisste, wie wir es in dem Falle
abgeleitet batten, dass nur ein einziger fester Stoff neben Dampf vorliegt
Dann war (S. 543) der Dampfdruck unbestimmt, und konnte in gewissea
Grenzen jeden beliebigen Wert haben, ohne dass der Zustand unmog-
lich wurde, oder ein Yorgang eintrat Ein solcher konnte vielniehr
erst stattfinden, wenn durch eine zweite feste Phase das Gebilde uai-
variant wurde. Wendet man die Analogie auf den vorliegenden Fall
an, so miisste auch hier durch das Erscheinen einer neuen festen Phase
das vorher unbestimmte Gleichgewicht bestimmt werden. Daraus folgt,
dass das Gebilde ausser im vierfachen Punkte immer nichtstabil sein
miisste. Das Gleichgewicht wird erst durch die neu aufgetretene Phase
bestimmt, und somit muss gleichzeitig eine der beiden gleich zusammen-
gesetzten Formen verschwii\den, da ausserhalb dos vierfachen Puuktes
nur zwei feste Phasen neben Dampf vorhanden sein konnen.
174. Zwei feste Phasen und eine fltissige neben Bampf^ Die
Linien, die sich in einem solchen vierfachen Punkte schneiden konnen,
sind ausser der „konden8ierten'' zwei Losungslinien und eine Dampf-
drucklinie zweier fester Phasen. Wir haben also die beiden Falle des
Durchschnittes einer Dampfdruck- mit einer Losungslinie, und zweier
Losungslinien zu betrachten, die beide gleichzeitig an demselben Punkte
eintreten.
Auch hier konnen die beiden festen Phasen von verschiedener,
oder von gleicher Zusammensetzung sein; wir betrachten zunacbst den
orsten, allgemeineren Fall.
Hier giebt es wiedcr mehrere Unterfallo, je nachdem die festen
Phasen Yerbindungen der Bestandteile sind, oder diese in reinem Za-
stande darstellen. Der letzte Fall bietet die einfachsten und bestbe-
kannten Yerhaltnisse.
Was zunacbst die Dampfdrucklinie anlangt, so werden moist, wenn
im festen Zustande keine Verbindung vorliegt, auch die Dampfe unver-
bunden nebeneinander bestehen. Alsdann ist der Dampfdruck iiber dea
beiden festen Phasen, von denen jede aus einem der beiden Bestand-
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnong. 841
teile in reinem Zustande besteht, einfach gleich der Summe der beiden
eigenen Dampfdrucke der festen Stoffe. Findet im Dampfe Verbindung
8tatt, 80 wird diese teilweise dissociiert sein, und za den Teildrackon
der Bestandteile fiigt sich alsdann der Dampfdruck der Verbindung
(bezw. der Verbindungen, wenn mehrere bestehen) hinzu.
Die Dampfdrucklinie wird sich von den tiefisten Temperaturen (da es
keine nntere Grenze des festen Zustandes giebt) bis zu einer gewissen Tem-
peratur hinauf verfolgen lassen, wo eine fliissige Phase auftritt. Wegen
der Schwieri^keit der tJberschreitung aus dem festen Gebiet in das
fliissige ist ihr weiterer Verlauf ezperimentell so gut wie unzuganglich.
Die fliissige Phase wird im allgemeinen aus einem Gemisch der beiden
Bestandteile nebst etwaigen gelosten Verbindungen zwischen ihnen be-
stehen. An den Punkt, wo sie erscheint, setzen sich zwei Losungslinien
an, indem neben der Fliissigkeit sowohl der eine, wie der andere feste
Bestandteil vorhanden sein kann. Diese Temperatur und der ent-
sprechende Dampfdruck gehoren dann dem vierfachen ' Punkte an, in
welchem zwei feste Stoffe, eine Fliissigkeit und Dampf nebeneinander
bestehen.
t}ber die Lage der beiden Losungslinien, die sich im vierfachen
Pankte treffen, lasst sich folgendes aussagen, falls nach der Voraus-
setzung keine chemische Wecbselwirkung eintritt, die zur Bildung neuer
fester Phasen fdhrt. Betrachtet man zunachst das Gleichgewicht der
Fliissigkeit mit dem festen Stoffe A, so liegt die Temperatur, solange
die Menge des zweiten Stoffes B Null ist, beim Schmelzpunkt Ton A.
Durch Zusatz von B sinkt diese Gleichgewichtstemperatur, und zwar
Btetig mit steigender Menge von B.
Das Gebilde aus Losung und festem A ist anfangs stabil in Be-
zug auf festes B. Dann gelangt man mit fallender Temperatur nach
dem vierfachen Punkte, wo die Losung neben festem A und festem B
besteht Sorgt man dafiir, dass das Auftreten von festem B vermieden
wird, so lasst sich die Gleichgewichtslinie mit festem A oft noch weit
fiber den vierfachen Punkt verfolgen, bis mit dem Aufhoren des meta-
stabilen Gebietes festes A freiwillig erscheint.
Fiir die Linie mit festem B gilt ganz dasselbe, wie fiir die erste,
d. h. von reinem B aus wird die Temperatur immer niedriger, je mehr
A zugesetzt wird, bis schliesslich auch von dort aus der vierfache
Punkt erreicht wird, und der tJbergang auf das metastabile und labile
Gebiet stattfindet.
Werden als Koordinaten die Zusammensetzung der fliissigen
Phase (ausgedriickt durch den Molenbruch) und die Temperatur
842
II. Chemische Dynamik.
benutzt, so erhalt man ein Bild, wie es achematisch in Fig. 154 dar-
gestellt ist^).
Als Beispiel hierfdr lasst sich bereits der erete sorgfaltig onter-
suchte Fall gegenseitiger Schmelzpunktserniedrigucg yerwerten. Dio
fraglichen Messungen sind von Schaflfgotsch ') an den Nitraten Ton
Ealium und Natrium ausgefiihrt worden.
Statt der Tabelle (I, 1016) gebe ich
in Fig. 155 die entsprechende Zeich-
nungy aus welcher herYorgeht, dass
bis zu den grossten Eonzentrationen
die Kurven nabezu geradlinig verlaafen.
Die punktierten Linien beziehen sich
auf Gewichtsteile; rechnet man sie aof
Molenbriiche am, so bleibt die Gerad-
linigkeit erhalten, wie sich aus den aus-
gezogenen Linien ergiebt. Die Schwan*
kungen riihren wohl unzweifelhaft Yon
Yersuchsfehlem her; ebenso ist die als
Schmelzpunkt des niedrigst schmelzen-
den Gemisches angegebene Temperatur
von 226^ zu hoch®). Schaffgotsch ist auf diesen Irrtum yerf alien, weil
er von der Annahme ausging, dass der niedrigste Schmelzpunkt bei
dem Gemisch eintreten miisste, in welchem die Bestandteile in stochio-
metrischen Verhaltnissen enthalten sind.
Fig. 154.
j*o»
320*
300'*
2800
2000-
2ttCo
220 «
OZ'O-t
Fig. 165.
175. Die Kryoby-
drate und die entekti-
BoheLegierung. Derebeo
erwahnte Irrtum bezng-
lich derZusammensetzung
der Losung und ihres
Ausscheidungsproduktes
wurde dadurch herYor-
gerufen, dass sich hier
"^ konstanteVerhaltnissebe-
obachten liessen, die man
^) Diese Darlegangen, wie einige sp&tere sind zum Tell schon im ersten
BaDde dieses Lehrbuches (S. 1023) entwickelt worden. Eine teilweise Wiederbolang
erschien indessen zul&ssig, da hier andere Gesichtspunkte massgebend sind, and
inzwischen auch das thats&chliche Material erheblich angewachsen ist
>) Pogg. Ann. 102, 293. 1857.
•) Guthrie hat ihn (Phil. Mag. (5) 17, 462. 1884) auf 215^ bestimmt
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnuog. 843
nur an chemischen Verbindungen zu sehen gewohnt war, und die dcs-
halb als Eennzeichen solcher galten. Die alteren Beobachtungen, ins-
besondere uber die konstanten Erstarrungstemperataren und damit zu-
sammenhangende Erecheinungen sind an friiherer Stelle eingehend
geschildert worden; (I, 1018); ihren Hohepunkt und damit die Not-
wendigkeit ihrer Beseitigang erreichte diese Entwickelung in den
Arbeiten von Guthrie iiber die Kryohydrate.
Diese Arbeiten ^) begannen mit einer Untersuchung liber das Ge-
frieren von Kochsalzlosungen. Bei der Temperatur unter — 3^ scheidet
sich das von Lowitz entdeckte Bihydrat aus einer gesattigten Losung
aus, wenn man die Temperatur erniedrigt. Hat man aber — 22^ er-
reicht, so erscbeinen undurchsichtige krystallinische Massen von anderem
Aussehen, und die Temperatur der Fliissigkeit bleibt bei weiterem Ge-
frieren konstant» bis der letzte Tropfen fest geworden ist Die Unver-
anderlichkeit in der Zusammensetzung des ausgeschiedenen Produktes
ergiebt sich aus den nachstehenden Analysen von secbs nacheinander
gebildeten Ausscheidungen.
Nr.
7o NaCl
1
2372
2
23-66
3
2373
4
28*82
5
2334
6
23-35
Auch die Mutterlauge zeigte den glcichen Gehalt von 23*6 ^/q.
Guthrie entwickelt nun in ganz sacbgemasser Weiso, dass eine Lo*
sung, die mehr Salz enthalt, als dicser Zusammensetzung entspricht^
dieses beim Abkiihlen ausscheiden muss, wahrend eine salzarmere Lo-
sung Eis ausscheidet; schliesslich miissen beide auf die tiefste Tem-
peratur und die gleiche Zusammensetzung kommen. Ebenso legt er
dar, dass die Gleichheit in der Zusammensetzung der Ausscheidung und
der Mutterlauge die we^entlichste Bedingung dafur ist, dass das Er-
starren von Anfang bis zu Ende bei der gleichen Temperatur erfolgt.
Dagegen begeht er den Irrtum, dass er den ausgeschiedenen Stoff
als oine selbstandige chemische Verbindung ansieht. Die Analyse des
Produktes aus Kochsalz fiihrt zu keiner einfachen Formel; 2 NaCl +
21H,0 ist noch der nachste Ausdruck dafiir. Doch halt er die Zu-
sammensetzung NaCl-f- 10H|0 fiir moglich, da sich an der kalten Masse
beim Arbeiten damit Feuchtigkeit aus der Luft verdicbtet haben konnte.
*) Phil. Mag. (4) 49, Iff.; (5) 1, 49; 2, 211 ff. 1875—1876.
844
II. Chemische Dyn&mik.
Die hier auftretenden Verbaltnisse fioden sich bei alien moglichen
Salzlosungen wieder, und so sah sich Guthrie einer unubersehbaren
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Fig. 156.
Anzahl neuer Yerbindungen gegeniiber, welche alle die gemeinsame
EigentUmlichkeit haben, dass sie aus Salzlosungen bei Temperaturen
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnung.
845
unter 0^ entstehen und auch nur dort haltbar sind. Er erwagt aus-
drticklicb die Frage, ob es sich nicht einfach urn Gemische von Salz
und Eis handele; doch scheint ihm die offenbar krystalliniscbe Form
(die indesson aucb diesen Bestandteilen zukommt) ein unwiderleglicher
Beweis ihrer Natur als bestimmter chemischer Verbinduogen zu sein.
Auch die uDgewohnliche Zusammensetzung, die sich fiir einige dieser
„Verbindungen« ergab, wie KC108 + 222H,0 und KjCrgO^ +292H,0,
anderte vodaufig seine Auffassung nicht. Er nannte diese Stoffe
Kryohydrate, und wenn auch seitdem ihre chemische Individualitat
nicht hat aufrecht erhalten werden konnen, so ist doch der Name als
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: K^o.
Fig. 157.
eine kurze Bezeichnung solcher Gemische mit niedrigster Erstarrungs-
temperatur geblieben.
Auf die praktische Bedeutung der Kryohydrate fur die Herstellung
konstanter Temperaturen wird von Guthrie bereits in seiner ersten
Abhandlung hingewiesen.
Die einzelnen Ergebnisse dieser lange fortgesetzten Arbeiten
brauchen nicht aufgezahlt zu werden, da sie nur Beispiele fiir das all-
gemeine Verhalten sind. Sie sind in den Figuren 156 und 157 dar-
gestellty die wegen ihres geschichtlichen Interesses bier nach den Ori-
ginalen wiedergegeben sind. Die Abscissen bedeuten Prozente trockenen
Salzes, die Ordinaten Temperaturen.
Nur einige Punkte von Bedeutung sind zu erwahnen. Zunachst,
dass einige Salze verschiedene Kryohydrate zu geben vermogen, deren
Schmelztomperaturen wcit auseinanderliegen konnen. Die Erscheinung,
die anfangs schwer verstandlich schien, klarte sich dahin auf, dass
Ostwaldi Cbemle. n,2. 2.Aufl.
54
846 n* Chemische Dynamik.
solche Salze je nacb den Umstanden in verschiedener Form, wasser-
frei und wasserfaaltig, oder in verschiedenen Hydratationszustanden im
Eryohydrat auftraten. Jeder derartigen Form cntspricht ein besonderes
Kryohydrat; Guthrie nannte die bei hoherer Temperatur sich bildendea
Subkryohydrate, und das mit niederster Temperatur das eigentliche
Kryohydrat. Derartige Erscheinungen waren besonders aaffallig beim
Jodnatrium aufgetreten.
Eine andere Beobachtung, die Erwahnung verdient, ist die, dass
Losungen von CoUoidstoffen keine Kryohydrate liefern, weil sie keine
Erniedrigung des Gefrierpunktes zeigen. Losungen von arabischem
Gummi, die bis 40 ^/^ festen Stoffes enthielten, bildeten weuige Zehntel-
grade unter Null Eis.
Wie man sieht, hat Guthrie die thatsachlichen Verhaltnisse seiner
Kryohydrate ganz richtig aufgefasst und nur ihre Deutung verfehlt,
obwohl er die Bedingung ihrer Bildung, die gleichzeitige Sattigung der
Losung in Bezug auf die beiden festen Stoffe, klar eingeseheu hatte.
Aus den gleichen Thatsachen und Betrachtungen zog dann Pfaundler^)
den umgekehrten Schluss, dass die Kryohydrate gerade wegen der Art
ihrer Entstehung keine chemischen Verbindungon seien, und Guthrie
hat sich spater dieser Auffassung angeschlossen.
Pfaundler veranlasste seinen Schiiler Offer*) zu einer Priifung der
Verhaltnisse im Hinblick auf die Frage, ob die Kryohydrate Gremenge
oder Verbindungen seien. Zu diesem Zwecke wurde untersucht, ob
ihre Eigenschaften, wie bei chemischen Verbindungen, von dem yerhalt-
nismassigen Mittelwerte der Eigenschaften der Bestandteile verschieden,
oder wie bei mechanischen Gemengen diesem gleich seien. Es ergab
sich das letztere. Dies wurde zunachst dadurch erwiesen, dass die
Losungswarme in liberschiissigem Wasser sich als gleich erwies, wenn
einerseits Kryohydrat, andererseits die entsprechende Menge von Eis
und Salz zum Versuch genommen wurde. So wurde beispielsweise mit
dem Kryohydrat des Kaliumchlorats eine Temperaturemiedrigung von
6«15®, mit Eis und Salz eine von 6-14*^ beobachtet
Ahnlich, wenn auch nicht ganz so iiberzeugend fielen die Yersuche
iiber die Volume aus. In einem grossen Dilatodieter wurde eine ge-
wogene Wassermenge durch Einsetzen in eine Kaltemischung in Eis
^) Auf der MClnchener NaturforscherversammluDg yon 1877, wo Guthrie seine
BeobachtuDgen uod Ansichten persOnlich vortrug (Ber. lOy 2222. 1877). Die aus-
fahrliche Entwickelung findet sich in Pfaundlers Lehrbuch der Physik (7. Anfl. 2, 2)
and ist von 0£fer in seiner gleich zu erwfthnenden Arbeit wiedergegeben worden.
2) Wien. Ak. Sitzungsber. 81, 1058. 1880.
Ghemische Gleichgewichte zweiter OrdnuDg. 847
verwandelt, das gewogene Salz dazugegeben, und der iibrige Raum mit
Petroleam geftillt Nachdem durcb Erwarmen das Eis geschmolzen und
das Sabs aufgolost worden war, Hess man die Losung zum EjTohydrat
erstarron und beobachtete nach der Herstellung der anfanglichen Tern-
peratur wieder den Stand des Petroleums. Auf diese Weise ergab sich
bei einem Versuch mit Kaliumchlorat eine Ausdehnung von 046 ^/q, mit
Kaliumuitrat eine Zusammenziehung von 0*23%. Wenn auch diese Ab-
weichungen wohl auf Versuchsfehler (insbesondere Luftabscheidung)
zuruckzufuhren sind, so ist ihr Betrag doch unerwiinscht gross.
Andere Versuchsanordnungen nach der hydrostatischen Metbode
ergaben indessen ahnlicb scbwankende Zahlen. Der Yergleich der un-
mittelbar gemessenen Dichte der Eryobjdrate mit der aus Eis und Salz
berechneten ist nachstebend gegeben:
Eryohydrat des Kaliumnitrats beob. 0-975, ber. 0*978
„ „ Kaliamchlorats „ 0-932 „ 0-934
„ „ AmmoDiumchlorids „ 0-999 „ 0-996.
Behandelt man ein Erjobydrat, dessen Salz sich nicht in Alkohol
lost, mit diesem, so wird das Eis herausgelost, und es bleibt ein
Schwamm aus Salz nach, der die aussere Form des Kryohydrates be-
wahrt Wird es dagegen in kaltes Wasser gebracht, so wird das Salz
herausgelost, und man findet es nach einiger Zeit in eine durehsichtige
Eismasse verwandelt Auch diese Erscheinungen deuten auf ein mecha-
nisches Gemenge; eine cbemische Verbindung konnte sich nicht so
verhalten.
Was schliesslich das Hauptargument Guthries fiir die Einheit der
Kryohydrate anlangt, ihre krystallinische Beschaffenheit, so betont Offer,
dass er nie ausgebildete Krystalle babe erhalten konnen, sondern immer
nur undurchsichtige Massen. Selbst als er eine kryohydratische Losung
durch eine eingesenkte Kaltemischung ganz langsam an der Aussenseite
eines Probierrohres erstarren liess, setzten sich nur opake Schichten
ohne sichtbare Krystallflachen ab. Auch Guthrie erwahnt wiederholt
als charakteristisch fur seine Kryohydrate ihr opalartiges oder perl-
weisses Auss^en.
In einer Abhandlung aus dem Jahre 1884^) finden wir Guthrie
endlich auf dem richtigen Standpunkte beziiglich der Auffassung der
£rscheinungen. Gleichzeitig hat er sich von der Beschrankung auf die
Salzlosungen freigemacht, und sieht in der Bildung eines niedrigst
schmelzenden Gemisches eine allgemeine Erscheinung, die immer auf-
») Phil. Mag. (5) 17, 462. 1884.
54'
g48 II- Chemische Dynamik.
treten muss, wenn sich die Stoffe im fliissigen Zustande miscben, ohne
chemische Yerbindungen za bilden. Man erbalt solcbe Verhaltnisse ans
jedem beliebigen Gemische, wenn man dieses teilweisc erstarren lasst,
in der letzten Mutterlauge. Denn es muss jedesmal der im Oberschusse
Yorhandene Bestandteil zuerst auskrystallisieren, und im Riickstaode
bleibt das Gemisch Yom niedrigsten Schmelzpunkt. Guthrie schlagt fur
derartige Gemische, die sich auch bei mehr als zwei Bestandteilen
bilden, den Namen der eutektischen Gemische vor. Er weist ihr Auf-
treten bei Legierungen von Metallen und Salzen nach, und bestimmt
fiir eine Anzahl solcher Zusammenstellungen den eutektischen, d. h. non-
varianten Punkt
Indessen waren damit die Vorstellungen uber besondere chemische
Yerbindungen an den ausgezeichneten Punkten noch nicht aus der Welt
geschafft Yon Yignon^) wurden noch 1892 solche angenommen und
aus den Analjsen zu erweisen versucht, obwohl inzwischen (1890) in
dem ersten Bande dieses Lehrbuches die tlbereinstimmung der yor-
handenen alteren Beobachtungen mit der einfachen „phj8ikali8chen^
Theorie nachgewiesen worden war.
An gleicher Stelle findet sich die Darlegung, dass sich die Richtnng
der beiden Losungslinien, die sich im kritischen Punkte schneiden, aus
den Eigenschaften der Bestandteile gemass dem Gesetze vou Raoult-
yan't Hoff vorausberechnen lasst, womit eine angenaherte Bestimmung
der Temperatur und der Zusammensetzuug im Durohschnittspunkte ver-
bunden ist, wenn man die Losungslinien als Gerade ansieht Daza ist
noch die wesentliche Einschrankung zu erwahnen, dass diese Yerhallr
nisse nur eintreten, wenn die beiden Stoffe sich im fliissigen Zustande
nach alien Yerhaltnissen yermischen konnen. Ist die letztere Bedingung
iiicht erfullt, so tritt an die Stelle des kryohydratischen Punktes eine
kryohydratische Linie, in welcher die Temperatur unabhangig von der
Zusammensetzung ist
Die unter diesen Gesichtspunkten ausgeflihrten Arbeiten yon Miolati'),
Roloff') und Dahms^) haben alle die allgemeine Theorie bestatigt, and
gleichzeitig das Yorhandensein relatiy einfacher Yerhaltnisse hierbei er-
kennen lassen. Zunachst seien aus den letztgenannten Arbeiten die
Ergebnisse in der Gestalt der erhaltenen Euryen wiedergegeben, welche
sich auf Gemische yon Athylenbromid (A), Benzol (B), Diphenylamin
>) Bull. Soc. Chim. 7, 387 ff. 1892.
*) Zeitschr. f. phys. Chemie 9, 649. 1892.
») Zeitschr. f. phys. Chemie 17, 326. 1896.
*) Wied. Ann. 64, 486. 1895.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung.
849
(D), Essigsaure (£), Menthol
(M), Nitrobenzol (N), Naph-
talin (Np),- Phenol (P) be-
ziehen. Die Abscissen sind
immer Molenbriiche, und die
Kurven sind mit den Buch*-
staben der Stoffe bezeich-
net, welche die Mischungen
in grosserer Menge enthalten ;
vergl. Fig, 158 bis 163.
Wie man sieht^ ver-
laufen die Linien fast ge-
rade, nur alle ein wenig
konkav gegen die Abscissen-
aze, d. h. die Gleichgewichts-
temperatur wird bei grosseren
Mengen fremder Stoffe
schneller erniedrigt, als pro-
portional dem Molenbruch.
Dies mag zum Teil daher
riihren, dass die Erniedrig-
ungskonstante dem Quadrat
der absoluten Temperatur
umgekehrt proportional ist,
also mit fallender Tempera-
tur wachst.
Eine Ausnahme machen
die Kurven des Menthols,
Fig. 163, welche stark ge-
kriimmtsind. Indessenwaren
hier besondere Yerhaltnisse
aafgetreten,indem sichzuerst
eine allotrope Form dieses
Stoffes ausschied, welche die
eiufachen Erscbeinungen
storte; auch ist die Aus-
scheidungsgeschwindigkeit
nicht gross und daher die
Einstellung der Temperatur
unsicher.
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850
II. Chemische Dynamik.
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Zu den Figuren 159 und 160 ist noch zu bemerken, dass fiir die
erste das einfache Molekulargewicht des Phenols (P) benutzt wurde,
fur Fig. 160 das doppelte (P,). Das Molekulargewicht des Phenols
geht mit steigender Eonzentration vom einfachen auf das zweifache
iiber, so dass eigentlich ein
veranderlicher Wert dessel-
ben fur die Ausrechnung des-
Molenbruchs hatte benutzt
werden miissen. Doch fehlen
zueinersolchen Rechnung die
unabhangigen Unterlagen.
Ahnlicb liegt das Ver-
haltnis bei Essigsaure, nur
dass bier die Verdoppelung
schon bei geringen Konzen-
trationen eintritt. Es ist
dcshalb auch nur die Kurre
fiir das Molekulargewicht
(CjH^O), mitgeteilt worden.
Ganz ahnlich sind die
von Roloff crhaltenen Kur-
vcn: auch dieser betont ihre
grosse Annaherung an ge-
rade Linien.
Wie oben erwahnt, lasst sich der Winkel, unter dem sich die beiden
Losungslinien im eutektischen Punkte schneiden, nach der Formel von
van't Hoff d In c/dT = L/RT*
berechnen. Wendet man sie
auf beide Stoffe im eutek-
tischen Punkte an, so ist
die Temperatur fur beide
gleich und die beiden Glei-
chungen dlnCi/dT=Li/RT«
und dlnc,/dT = L,/RT« er-
geben durch Division, indent
man dlnc = dc/c setzL
dci/dT:dc,/dT = LiCi/L,c„
d. h. die Tangenten der Winkel, unter denen sich beide Linien schneiden,
vorhalten sich wie die Produkte aus den Losungswarmen L der Stoffe
(im eutektischen Gemisch) und den Anteilen c, in welchem sie vor*
- /0»-
20oi
OOO
Fig. 1G2.
00^
jO«'
io^Y
too
O't OS o-o
Fig. .163.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung.
861
handen sind. Diese Gleichung ist auf anderem Wego von Dahms^) und
Le Chatelier'j abgeleitet worden, wobei sich ergab, dass sie fiir beliebig
konzentrierte Losungen gilt
176. Die Sohmelzdraokliziie der Kryohydrate. Bereits Guthrie')
hat die Vermutung ausgesprochen, dass die Zusammensetzung der Kryo-
hydrate Yom Dnick abhangig sein miisse. £r hat hieraus allerdings
nicht gefolgert, dass sie daher keine chemischen Yerbindungen sein
konnen, sondern im Gegenteil, dass die Verbindungsgewichte sich mit
dem Drucke veranderlich zeigen ^^iirden, wenn hinreicbend starke Drucke
zur Anweuduug gelangten. Versuche, einen solchen Einfiuss nachzu-
weisen, hat er nicht angestellt.
Da die Umwandlung im vierfachen Punkt einer gewohnlichen
SchmelzuDg in Bezug auf die Unveranderlichkeit der Temperatur Vollig
entspricht, so wird aach die Formel iiber die Anderung des Schmelz-
punktes mit dem Druck ohne weiteres anzuwenden sein, und die Linie
der Mkondensierten*^ Zustande hat in unmittelbarer Nahe des vierfachen
Punktes den Verlauf, der durch die Volumanderung und die Warme-
tonung vorgeschrieben ist. Da es sich aber um ein Gleichgewicht
zweiter Ordnung handelt, so wird mit dieser Verschiebung auch eine
Verschiebung in der Zusammensetzung der Losung verbunden sein, die
iLa. dadurch bestimmt ist,
dass die wirkliche Zu-
standsanderung durch den
Druck unter alien mog-
lichen die ist, welche die
grosste . Volumverminde-
rung bewirkt.
Untersuchungen in
dieser Beziehung sind zu-
erst von Roloff^) ange-
fitellt worden. Ein Gefass
Ton dor in Fig. 164 dar-
gestellten Form wurde mit
oinem eutektischen Gemisch aus 0-301 Naphtalin und 0-699 Diphenyl-
amin gefiillt, dessen Schmelzpunkt bei 3245® liegt. Zwischen B und
C befindet sich Quecksilber; ebenso ist bei D ein Tropfen davon vor-
M Wied. Ann. 64, 507. 1898.
*) Compt. rend. 130, 1606. 1900.
»} Phil. Mag. (5) 1, 450. 1876.
*) ZeitBchr. f. phys. Chemie 17, 325. 1895.
Fig. 164.
\
852 II- Ghemische Dynamik.
handen, damit die unregelmassige Form der zugescfamolzenen Spitze
keine Schwierigkeit bei der Ablesung macht. Das gefuUte Rohr wurde
wie das Manokryometer von Visser (S. 367) behandelt, indem es auf
verscbiedene, etwas iiber 32-45^ lit^gende Temperaturen gebracht, und
nach Erreichung des Gleichgewichtes aus der Volumverininderung der
zwischeii C und D eingescblosseneu Luft der Druck im Apparate ab-
geleitet wurde. Durch wiederholtes Offneu und die Beobachtung neuer
Einstellungen wurde die Oberzeugung gewonnen, dass es sich urn wirk-
liche Gleichgewichtszustiindo handelte.
Als Mittelwcrt der Versucho, die bis 33-12® und 23-2 Atm. gingen»
wurdo dp/dT = 33-2 Atm. gefundcn, mit Abweichungen von einigen
Prozenten bei den hoheren Druckeii.
Um diese Zahl mit der aus der Formel dT/dp = TV/L zu ver-
gleichen, wo V die Volumzunabme bei der Scbmelzuug und L die
Scbmelzwarme ist, sind diese beiden Grossen experimeutell bestimmt
worden. Aus dem Unterscbiedo dor speziiiscben Gewichte des Kryo-
hydrates im festeu und fliissigen Zustande folgt eino Anderung von
0*098 ccm fiir 1 g des Stoffes. Eiun unmittelbare Bestimmung der Vo-
lumanderung beim Erstarren fiihrte zu dem Werto 0096 und 0-099;
als Mittol wurde 0-098 angenommen.
Die unmittelbare Bestimmung der Scbmelzwarme ergab 23*31 cal
fiir 1 g. Die Bcrechnung aus den bekannten Schmelzwarmen dor Be-
standteilc unter Beriicksicbtigung der Anderung derselben mit der Tern-
peratur fiihrte zu der Zabl 26-87, die nicht unbedeuteud grosser ist
Als massgebend wurde der beobachtete Wert angesehen.
Achtet man noch darauf, dass L durch Multiplizieren mit 41-8 X 10^
auf absolutes Mass, und p durch Dividieren mit 1013000, dem abscw
luten Werte einer Atmosphare, auf diese Einheit umzurechnen ist, so
folgt dp/dT== 32-1 Atm., in ausreichender Obereinstimmung mit dem
ezperimentell bestimmtcn Wcrte. Nimmt man fiir L den aus den
Schmelzwarmen der Bestandteile additiv berechneteu Wert (der viel
weniger sicher ist), so kommt 36-9 Atm.
Ferner kann man auch dp/dT aus den unmittelbar bestimmten
Werten fiir die Bestandteile berechnen, wenn man die Schmelzpankts*
erhohung des Eryohydrates als Summe der Schmelzpunktserhohungen der
reinen Bestandteile auffasst. Nach den von Damion (S. 370) gegebenen
Werten dT/dp, 0-0358 fiir Naphtalin und 0-0242 fiir Diphenylaroin, ergicbt
sich gemass der Zusammensetzung 0*3:0-7 dp/dT = 37-5, etwas zu gross.
Endlich kann man unter Anwendung der Gesetze von Raoult und
van't Hoff den Einfluss des Druckes auf die Schmelztemperatar des
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 853
Kryohydrates wio iolgt bercchnen. Denkt man sich das Kryobydrat
bei Atmospbarendruck mit der Scbmeize im Gleicbgewicbt, und f^rhobt
dann den Druck urn dpAtm., so ist die entsprechende Erbobung dcs
Schmelzpunktes nicbt dieselbe Tdr die beideii Bestandteile. Sie sei dT^
fiir den erston, und dT, fiir den zweiten, so wird weder Gleichgowicht
vorbanden sein, wenn die Temperatur urn dT„ noch wenn sie um dT,
erhobt wird. Vielmehr wird zur £rreicbuug dcs Gleicbgewicbtes erfor-
derlicb sein, dass sicb glcicbzeitig die Konzentration in der Scbmeize
andert, bis der daber riibrende Einfluss die Verscbiedenbeit der ge-
anderten Schmelztemperaturen gerade ausgeglichen bat. Dies gescbieht»
indem die Gleicbgewichtstemperatur des Bestandteils mit der grosscren
Temperaturerhohung durcb Vermcbrung des andcren Bestandteils in der
Scbmeize berabgedriickt wird; der gleicbe Umstand erhobt die Glcicb-
gewicbtstemperatur des anderen Bestandteils, und wenn beide Einfiiisse
auf die gleicbe Temperaturerhobung dT gefiihrt haben, ist das Gleicb-
gewicbt wieder hergestellt.
Nun nehmen wir an, dass die Schmelzdruckkoeffizienten im Kryo-
bydrat dieselben seien, wie fiir die reinen Stoffe. Nennen wir die ent-
sprecbenden Koeffizienten C, und C^, so gilt zunacbst fiir den Druck*
einfluss: dT/=Cidp und dTj'=C,dp.
Ferner werdo angenommen, dass das Gesetz von Raoult-van't Hoff
auch fur die Konzentrationsverraebrung in konzentrierten Losungen
geltc. Dann ist die daher riibrende Temperaturanderung dT" gegeben
durch die Formel:
dlnx L , ,^, RT« K ,
r^ Oder d T =— dx = — dx,
dX" RT» Lx X
wo X der Molenbrucb und L die molekulare Scbmelzwarme ist. So-
mit baben wir:
dT/'=-^dx und dV=-— ^dx.
* X * 1 —x
■
Nach der oben gegebenen Betrachtung muss die Summe der beiden
Temperatureinfliisse auf beide Stoffe gleicb sein; daraus folgt, wenn wir
diese gleiche Summe mit dT bezeicbnen:
dT=C,dp + -^dx = C,dp — — ^*— dx
2\. 1,
Oder:
dx C, — Cjj
x
dp K, _^ K,
X 1 — X
854 II- Chemische Dynamik.
Mittelst der letzteren Gleichung kana man dz aus jeder der vor-
hergehenden eliminiereu, uod erhalt danu aus beiden:
dT _ (I— x)K,C, + xK^^Ct
dp "" (1— x)Ki + xK,
Um die Gleichung auf einen bestimmten Fall anzuwenden» hat man
zunachst die fiir die Schmelztemperatur der reinen Stoffe bekannten
Schmelzwarmen L auf die Schmelztemperatur des Eryohydrates umzu-
rechnen, indem man das Produkt aus dem Unterschiede der Molekular-
warmen im fiiissigen und festen Zustandc in den Temperaturunterschied
Ton jener Schmclzwarme abzieht. Roloff berecbnet fur das oben ei>
wahnte Gemisch von 0-7 Dipbenylamin und 0*3 Naphtalin aus den
Angaben von Batelli^) iiber die Schmelzwarmen und die Warmekapazi-
taten in beiden Zustanden die Grossen L^ und L^ fiir den Schmelz-
punkt 32^ des eutektischen Gemisches zu 4288 cal. fur Naphtalin und
4039 cal. fiir Dipbenylamin. Die beiden Schmelzdruckkoeffizieuteu siud
nach Damien (S. 370) 00358 und 0-0242. Aus dem Mischungsverhalt-
nis 0*3: 0*7 nach Gewicht ergiebt sich mit den Molekulargewichten 128,
bezw. 169 der Molenbruch x = 0-361. Geht man mit diesen Werten
in die Gleichungen, so folgt:
4^ = 0-0293^ Oder ~% = 34-1 Atm.
dp dl
Die Zahl kommt der unmittelbar bestimmten yon 33-2 Atm. (S. 852)
angesichts der angenaherten Voraussetzungen der Rechnung nahe genug.
Die Berechnung yon dx/dp ergiebt, dass durch die Druckzunabme
um eine Atmosphare die Losung 0*02 ^/^ Naphtalin gegon eine gieicbe
Menge Dipbenylamin austauscht
177. ZosamjnengesetEte feste Phase. Wird die Voraussetzung
aufgegeben, dass die beiden festen Phasen aus den reinen Bestandteilai
bestehen, so konuen zwei Falle eiutreten. Entweder ist die Zusammen-
setzung der Losung zwischen denen der festen Phasen, oder sie liegt
ausserhalb. Im ersten Falle treten die beiden festen "Stoffe zusammeu,
um die Losung zu bilden; im zweiten muss umgekehrt die Losung und
einer der festen Stoffe zusammenwirken, damit der andere entsteht. Im
ei'sten Falle muss man von der Losung ausgehen, wenn man aus einer
der Phasen die beiden andoren erhalten will; im zweiten ist einer der
festen Stoffe der einzige Ausgangspunkt dazu.
Der bckunntcre Fall ist der zweite, don wir zunachst betrachten.
Um eine Auschauuug zu haben, deiiken wir uns zwei verschiedene
^ Atti 1st. Veiiet. (3) 3, 35.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 855
Hydrate desselben Salzes, oder auch Anhydrid und Hydrat neben einer
Losung, die weniger Salz enthalt, als das wasserreichere Hydrat. £in
solcher Fall liegt z. B. beim Glaubersalz vor, ^^elches bei 32-5" einen
vierfachen Punkt bat, in dem Anbydrid, Dekahydrat, Losung und Dampf
nebeneinander bestehen. Dieser Punkt kann nicht von der Losung aus
erreicht werden, wie dies z. B. fiir den eutektischen Punkt durcb Ab-
kiihlen eines fliissigen Kryobydrats moglicb ist, sondern nur vom Hydrat
aus, das durcb Erwarmen in die beiden Phasen Losung und Anbydrid
zerfallt Darum tritt auch keine Schmelzung im eigentlichen Sinne beim
▼ierfacben Punkte ein, denn mit der Verfliissigung des Hydrats ist die
Ausscheidung des festen Anbydrids verbunden, so dass ein Brei, aber
keine vollstandig fliissige Sebmelze entstebt. Nur darin zeigt sich eine
Obereinstimmung, dass die Temperatur dieses vierfacben Punktes ebenso
bestimmt ist, wie die irgend eines anderen.
Es ist diese Temperatur bei einer dabin gerichteten Untersucbung
von Ricbards^) sogar (vergl. S. 835) so konstant befunden worden, dass
er sicb zu einem Festpunkte fur tbermometrischo Zwecke eignet, welcher
gestattet, in der Nabe der Zimmertemperatur, d. b. also in dem Gebiete,
wo man am meisten arbeitet, eine genau bekannte Temperatur mit
aller Sicberheit herzustellen und beliebig lange zu erbalten. Es ist fiir
diesen Zweck erforderlicb, reines Salz zu benutzen; dabei sind folgende
Erfahrungen gemacbt wordeu.
Verunreinigungen andern den Gleicbgewicbtspunkt wie einen ge-
wohnlicben Schmelzpunkt; doch lassen sie sicb durcb Umkrystallisieren
leicbt beseitigen.
Aus dem reinen Salz des Handels wurde durcb zweimaliges
Kiystallisieren aus Porzellan ein Produkt erbalten, welches bis auf einen
Tausendstelgrad bei derselben Temperatur „8chmolz'', wie ein sorgfaltig
aus gewascbenem Natriumbikarbonat und reiner Schwefelsaure herge-
stelltes Praparat. In dor Wiederholung der Scbmelzpunktsbestimmung
Bach einer zwiscbengeschaltetcn Krystallisation kann man sich immer
leicbt iiberzeugen, ob die Reinigung vollstandig genug war.
Die Temperatur stellt sich viel besser ein, wenn man das Salz mit
einem Bade von hoberer Temperatur umgiebt, als umgekehrt Im ersten
Falle bestebt der Yorgang in der Verfliissigung des Hydrats unter Ab-
scheidung des Anbydrids; im anderen Falle muss umgekehrt Anhydrid
gelost und Hydrat ausgeschieden werden. Der zweite Vorgang geht
langsamer von statten, als der erste. Als die Aussentempcratur von
*) Zeitscbr. f. phys. Chemie 26, 690. 1898.
/
856 !!• Ghemische Dyoamik.
33® auf 36*^ crhoht wurde, blieb der Schmelzpunkt auf */iooo** tonstant,
wahrend eine Erniedrigung der Au88entemperatur auf 28® ihn um 0-012*
sinken Hess.
Die Anderuug der relativen Mengen der vorhandenen Phasen hat
gleichfalls keinen messbaren Einfluss. Man thut am besten, von yom-
herein etwas wasserfreies Salz in Polyerform zuzufiigen, damit man die
hineinzubringenden Gegenstande vorher mit reinem Wasser abwaschen
und nass in das Bad bringen kann, obne Gefahr zu laufen» dass die
eine feste Phase in ihrer Menge zu sehr vermindert wird.
Die Temperatur dieses Gleichgewichts ist 32*379® nach der Wasser-
stofifskala. Von alien vierfachen Punkten ist dieser zur Zeit der am
genauesteu bestimmte.
Dieser vierfache Punkt ist der Durchschnitt zweier Losungslinien,
von denen sich die eine auf das Hydrat, die andere auf das Anhydrid
bezieht. Obwohl die Grundlagen dieser Auffassung sich bereits dea
Arbeiten Lowels (S. 719) entnehmen lasseo, hat doch die alters Ad-
nahme, die die plotzliche Richtungsanderung in der Kurve der stabilen
Losungen in einem Vorgange suchte, der innerhalb der Losung ver-
laufen soUte, die einfache und richtige Auffassung lange verhindert, und
es ist schon bemerkt worden, dass 1885, als in der ersten Auflage
dieses Werkes auf die bestimmende Rolle des festen Stoffes, der sich
mit der Losung im Gleichgewicht befindet» hingewiesen wurde, diose
Bctrachtung neu war, und erst langsam, namentlich durch die Arbeiten
von Roozeboom und die durch ihn bewirkte Entwicklung der Gibsschen
Phasenlehre (in der sie implicite enthalten ist) zum AUgemeingutc wurde ^).
Man wird aus diesen Verhaltnissen den Schluss ziehen konneo, dass
iiberall, wo eine Unstetigkeit in der Losungslinie in Gestalt eines
Knickes eintritt, die Beschaffenheit der *festen Phase unter der Losung
V Von Roozeboom ist (ZeitBcbr. f. phys. Chemie 5, 200) Demar^ay als der-
jenige geaannt worden, der bereits 1883 (Gompt. rend. 96, 1860) ausgesprochen
habe, dass jedem Hydrate seine eigene LOslichkeit zukomme, „wa8 damals eine
grosse Neuigkeit war". In der That waren die unabb&ngigen LOsungslinien ver-
scbiedener Hydrate lange Yorher von Ldwel nacbgewiesen worden, bo dass in dieser
Beziehung Demargay nichts neues geboten hat. Aber auch in seiner allgemeineu
Auffassung der Erscbeinung steht Demar^ay durchaus auf dem Standpunkte Ldwels»
indem er die verschiedenen Ldslichkeiten dem Vorbandensein verschiedener Hydrate
in der Ldsung zuschreibt, wie aus den nachstohenden Worten anzweifelhaft
hervorgeht (a. a. 0. S. 1861 unten): „Wie unvollst&ndig aach diese ersten Kr*
gebnisse sind, so scheinen sie doch zu zeigen, dass die L6sung der Thorium sal fat*
hydrate bei einer bestimmten Temperatur eine bestimmte Menge jedes einzehien
Hydrates enth<. Das Yerh<nis der verschiedenen Hydrate ist durch ein mit
Cbcmische Gluichgewichte zweiter Ordnung.
857
eine Inderung erfahren haben muss. Umgekehrt muss die Losungs-
linie immer eineu Knick haben, wenn der foste Stoff sicb in einen
anderen umwandelt, und die Umwandluugspunkte der festen Phasen
lassen sicb durcb den gcgenseitigen Darcbschnitt zweier Losungs-
]inien ebenso erkennen, wie durcb den Darcbschnitt zweier Dampf-
drucklinien. Ferner wird man in weiterer Ausdebnung der letzteren
Analogic sagen konnen, dass die Loslichkeit der stabileren Form immer
geringer sein muss, als die der weniger stabilen; daraus ergeben sicb
fiir den gegenseitigen Durcbschnitt solcber Losungslinien folgende Be-
ziebungen.
Steigt die Loslichkeit mit der Temperatur, so werden die Losungs-
linien wie in Fig. 165 a oder b liegen miissen, wo die metastabilen,
bezw. labilen Teile
ponktiert sind. Da-
raus folgt alsbald,
dass die Umwand-
lung der einen Form
in die andere immer
80 erfolgt, dass die
bei hoherer Tempera-
tur entstehende unter
Warmeaufnahme sicb
bildet. Es ist dies
eine Ausdebnung des
entsprecbenden , fur
hylotrope Umwandlungen geltenden Satzes; er ist demnacb aucb fur solcbe
Umwandlungen giiltig, die- unter Teilnabme der fliissigen Phase erfolgen.
Seiche Umwandlungen konuen in der Aufnabme von Stoffen aus der Lo-
X
T
Fig. 165.
der Temperatur bewegliches Gleichgewicht geregelt, und dies gestattet durch die
Annahme eines mit steigender Temperatur sicb mehr und mehr zersetzenden
Hydrats die abnehmende Loslichkeit gewisser Salze zu erkl&ren.^<
Dies ist, wie man sieht, genau der Standpunkt von Ldwel, tknd ist weit von
der Erkenntnis entfernt, dass bezQglich der S&ttigung nur das massgebend ist, was
neb en der LOsung vorhanden ist, und nicht das, was in ihr angenommen werden
kann. Ich muss daber meinen Ansprucb aufrecht erbalten, zuerst diesen allge-
meinen Satz ausgesprochen zu haben, so weit man ihn nicht als eine damals noch
nicht gel&ttfige Eonsequenz der Gibbsschen Pbasenlebre in Ansprucb nebmen will.
Vergl. auch meine Abbandlung Tom Jabre 1880 im Journ. f. pr. Ch. 22, 251. 1880,
wo die entscheidende Bedeutung der festen Phase fUr das Gleichgewicht in dem
Falle der AuflOsnng der verscbiedenen Formen des Galciumoxalats experimentell
nachgewiesen wurde.
858
II. Ghemische Dynamik.
sung bestehen, oder in der Abgabe von Stoffen an die Losung; es kann
sich mit anderen Worten die feste Phase in ihrer ZusammensetzuDg der
Losung nahern, oder von ihr entfemen; der Satz gilt fiir beide A.rten
der Umwandlung, und welche von beiden eintreten wird, ist nur Yom
2ieichen der Umwandlungswarme abhangig.
Ob die zweite Losungslinie, die an die erste mit steigender Tern-
peratur ansetzt, auf- oder absteigend (b) ist, hangt yon der Lage der
ersten Linie und dem Winkel zwischen beiden ab; letzterer ist wieder
durch den Betrag der Umwandlungswarme nach der mehrfach benutzten
Formel bestimmt Die zweite Linie wird absteigen, wenn die letzte
Losungswarme der neuen Form negativ ist, d. h. einer Warmeabgabe
entspricht
Ist bereits die erste Linie absteigend, so muss die zweite es noch
mehr sein, da sie wie in Fig. 165 c liegen muss. Es miissen daher mit
steigender Temperatur die Losungslinien immer im Sinne des Ubrzeigers
gegeneinander gedrebt erscheinen, und bei absteigender Temperatur
umgekehrt
178. Der andere Fall. Wir wenden uns nun zu dem Falle, wo
die Zusammensetzung der Losung zwiscben denen der Bestandteile
liegt Da alsdann notwendig die Losung in Bezug auf einen der Be-
standteile konzentrierter ist, als die Verbindung, so kann ein solcher
Fall nur dort eintreten, wo solche Losungen vorkommen. Die allge-
meinen Bedingungen hierfiir sind bereits (S. 813) erortert worden;
solche Losungen kommen dort zu Stande, wo die betreffenden Verbin*
dungen ohne Abscheidung einer festen
Phase scbmelzen. In der entstandenen
Schmelze lasst sich dann der Gehalt an
dem einen wie dem anderen Bestandteil
um einen grosseren oder geringeren Be-
trag yermehren, wodurch bedingt ist, dass
nach beiden Seiten zu das fragliche
Gleichgewicht moglich ist.
Es sei (Fig. 166) km die Losungs-
linie einer derartigen homogen schmelzen-
Fig. 166. den Verbindung (vergL Fig. 146, S. 815)
und ak die Losungslinie des'^Bestandteils A oder einer an A reicheren
Verbindung, welche die erste bei k schneidet, dann ist durch die Ordi-
nate Xxn von m die Zusammensetzung der erstgenannten Verbindung an-
gegeben, und es ist aus der Figur uumittelbar ersichtlich, dass die Zu-
sammensetzung der Losung in dem ganzen Arme mk zwischen Xm und
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 859
Xa (bezw. x=l) liegen muss. Dieses gilt in gleicher Weise, ob der
Schnittpunkt k oberhalb m liegt, oder unterbalb m. Denn die auf
letzterem 2weige moglicheD Schnittpunkte gehoren zu festen Phasen, die
entweder aus B bestehen oder mehr B entbalten, als die in m schmel-
zende Verbindung, so dass auch hier die Zusammensetzung der Losung
beim Durchschnitt zwischen der der anwesenden festen Phasen liegt.
Der Punkt k hat im iibrigen ganz die Eigenschaften eines eatek-
tischen Punktes, so dass auf S. 842 ff. verwiesen werden kann.
£s ist noch zu betonen, dass diese Art des Durchschnittes zwar
nur an einer Losungslinie des besprochenen Typus auftreten kann, dass
aber ihr Auftreten nicbt notwendig ist. Denn es kann auch eine
Art des Durchschnittes stattfinden, wie sie im vorigen Abschnitt
geschildert worden ist. Es tritt dann ein Verhaltnis auf, wie es in
Fig. 167 dargestellt ist. Die Bedingung hierfiir ist, dass die Zusammenr
setzung der Losung ausserhalb der der
beiden festea Phasen liegt. Es muss
also der feste Stoff, zu welcbem die Lo-
sungslinie ak gehort, eine Zusammen-
setzung haben, welche zwischen denen
der Punkte k und m liegt Der alsdann
aaftretende yierfache Punkt ist in keiner
Weise von dem S. 854 beschriebenen ver-
schieden.
179. Zwel hylotrope feste Phasen.
Wahrend bisher angenommen worden ^^<f- ^^*^'
war, dass beide feste Phasen verschiedene Zusammensetzung haben^
betracbten wir nunmehr den Fall, dass sie gleiche Zusammensetzung
baben und hylotrop sind.
Halten wir hierbei die allgemein gemacbte Voraussetzung fest, dass
die festen Formen nichts vom Losungsmittel aufnehmen, so werden wir
zunachst schliessen miissen, dass der Umwandlungspunkt selbst nicht
durch die Gegenwart des Losungsmittels beeinflusst werden kann, da ja
nach der Voraussetzung die beiden festen Formen durch die Gegenwart
des Losungsmittels ihre Beschaffenheit nicht andern. Der einzige Ein-
flnss, welcher zu erwarten ist, besteht in einer Beschleunigung der
gegenseitigen Umwandlung ausserhalb der Umwandlungstemperatur, die
sich aus der alsbald zu erorternden verschiedenen Loslichkeit der beiden
Formen ergiebt
Von diesen Beziehungen hat Reicher (S. 425) Gebrauch gemacht,
als er den Umwandlungspunkt zwischen monoklinem und rhombischem
860 II. Ghemische Dynamik.
Schwefel zu bcstimmeu unternahm. Docb ist iromerhin festzahalten,
class die UnveraDderlichkeit des Umwandlungspunktes durch das Lo-
sungsmittel nur dann vorhanden ist, wenn thatsachlich kcino der beiden
Formen etwas vom Losungsmittel aufnimmt. Diese Voraussetzang ist
in aller Streiige sicherlicb falsch, denn man wird gegenseitige Loslich-
keit, wenn auch oft in sehr geringem Betrage, zwischen alien StofTea
anzunebmen haben, und der feste Zustand beeinfiusst nur den Betrag,
nicht aber das Vorbandensein der Loslicbkeit Zwar kann dieser Be-
trag untorbalb der Messbarkeit licgen, und ein experimentell richtiger
Wert erhalten werdon; nur bat man von vomberein keine Sicherheit
bieriiber, und die auf solchem Wege erbaltenen Werte m'ossen unter
alien Umstanden mit Vorsicbt aufgenommen werden^).
Eein Einfluss auf den Umwandlungspunkt wurde eintreten, wenn
zwar die beiden festen Formen das Losungsmittel aufnalimen, aber beide
in gleicbem Betrage. Docb ist das Eiutreffen eines solcben Verhalt-
nisses im allgemeinen nicbt als wahrscbeinlicb anzusehen.
Im Umwandlungspunkte selbst musseu beide Formen in alien Lo-
sungsmitteln die gleiche Loslicbkeit baben, da sonat ein Perpetunm
mobile zweiter Art moglich ware'); ausserbalb des Umwandlungspunktes
muss dagegen die Loslicbkeit verschieden sein, und zwar muss die be-
standigere Form immer die kleinere Loslicbkeit besitzen. Dies ei^lebt
sich aus der Betrachtung, dass die Umwandlung aus der unbestandig^en
Form in die bestandige mit einer Arbeitsleistung des Gebildee nach
aussea yerbunden sein muss, da sie von selbst erfolgen kaiw; ee muss
daber der osmotische Druck der entsprecbenden gesattigten Losang bei
einem solcben Obergange abnebmeu und kann nicbt zunebmen.
Man gelangt zu dem gleicben Scblusse auf Grund des Henryschen
Gesetzes. Es ist allgemein beWiesen worden (S. 440), dass der Dampf-
druck der unbestandigeren Form grosser sein muss, als der der be-
standigeren. Denkt man sich das Losungsmittel in Benibrung mit dem
Dampfe, aber nicbt in Beriihrung mit dem festen Stoffe, so wird der
Dampf vom Losungsmittel so lange aufgenommen werden, bis dem
Henryschen Gesetz gemass Sattigung der Losung mit dem Dampfe eio-
getreten ist Dem dicbteren Dampfe der unbestandigen Form entspricht
dann auch eine konzentriertere gesattigte Losung. Das das, was aof
*) Gewisse Beobachtungen an den beiden Formen des Chlorkohlenstoffis, die
ich noch nicht eingehender verfolgt habe, lassen mich schliessen, dass sehr be-
deutende Einfiflsse dieser Art vorkommen k6nnen.
') Dieser Satz ist, soweit mir bekannt, suerst von mir (erste Auflage dieses
Baches, 2, 739. 1886) ausgesprochen worden.
Ghemische Qleichgewichte 2weiter Ordnong. 861
eine Weise im Gleichgewicht ist, auf alle Weise im Gleichgewicht sein
muss, 80 sind die auf solche Weise zu erhaltenden gesattigten Losungen
denen gleich, die bei unmittelbarer Sattigung des Losungsmittels mit
dem festen Stoffe entstehen wUrden.
Daraus folgt zunachst, dass die Losungslinie eines solchen festen
Stofifes, der eine hylotrope Umwandlung erleiden kann, beim Umwand-
Inngspunkte einen Knick haben muss, der so liegt, dass weiterhin die
Losungslinie weniger steil ansteigt.
Experimentell ist ein solcher Knick nooh nicht mit Sicherheit
nachgewiesen worden. Zwar liegt von Schwarz^) ein Versucb vor> die
Erscheinung bei der Losungslinie des tetramorphen Ammoniumnitrats
nachzuweisen, doch sind die Ergebnisse bei der grossen Loslichkeit und
Zersetzlichkeit des Salzes zweifelhaft und wenig deutiich.
Mit der Verschiedenheit in der Loslicbkeit der hylotropen Formen
hangt der bescbleunigende Einfluss zusammen, welchen Losungsmittel
aller Art auf die Umwandlung der unbestandigeren Form in die be-
standige ausiiben. Solche Beschleunigungen sind seit langer Zeit be-
kannt und werden haufig benutzt. Da im allgemeinen bei Reaktionen
aller Art die unbestandigeren Formen zuerst entstehen, so ist die Vor-
schrift in der analjtischen Chemie, die erzeugten Niederschlage nicht
Bofort zu filtrieren, sondern unter der Losung einige Zeit, meist in der
Warlne, stehen zu lassen, nichts als eine praktische Anwendung dieser
Regel. Denn die erst entstandenen, unbestandigeren und daher los-
licheren Formen der Niederschlage wandeln sich uDter der Fliissigkeit,
in der sie etwas loslich sind, you selbst in die bestandigeren, weniger
loslichen Formen um. Diese Umwandlung setzt, um zu beginnen, einen
Keim voraus, und in alien Fallen, wo man die verschiedenen Formen
mit dem Auge unterscheiden kann, sieht man auch die charakteristische
Keimwirkung, namlich das Fortschreiten der Umwandlung von bestimmten
Punkten aus. Die Umwandlung erfolgt, wenn der Keim vorhanden ist,
derart, dass die Losung, welche dem Keim aus der bestandigeren Form
gegenuber iibersattigt ist, diesen zum Wachsen bringt, und dadurch
eine geringere Konzentration annimmt. Dadurch wirkt sie aber losend
auf die unbestandigere Form, sattigt sich in Bezug auf diese und iiber-
sattigt sich in Bezug auf die bestandige Form. Diese muss sich daher
Yermehren, wahrend die unbestandige sich vermindert, bis schliesslich
der Ubergang aus der unbestandigen Form in die bestandige yoU-
standig ist.
') 66ttinger Preisschrift 1892. Vergl. S. 423.
Ostwald, Chemie. U,3. 2.Aufl. 55
862 U* Chemisclie Djnamik.
Am ehesten sind diese Vorgange wahrscheinlich bei der Herstellang
des kunstlichen Zinnobers bekannt geworden. Diese erfolgt, indem man
schwarzes, amorphes Schwefelquecksilber mit einer Losung eines Alkali-
solfids iibergiesst In dieser ist Schwefelquecksilber loslich, uod zwar
die scbwarze Form mehr, als die krystallinische rote (wenn auch noch
keine MessaDgen bieriiber vorliegen). Man siebt dann nacb einiger
Zeit in dor scbwarzen Masse rote Punkte auftreten und sich ver-
grossern, bis alles rot geworden ist Wabrend das scbwarze Scbwefel-
quecksilber fur sicb in messbarer Zeit diese Umwandlung nicbt erfahrt,
erfolgt sie unter der losenden Flussigkeit verbaltnismassig schnell, und
zwar um so scbneller, je bober die Temperatur und je konzentrierter
die umwandelnde Losung ist» d. h. je grosser der absolute Betrag des
Unterscbiedes der Loslicbkeiten ist
180. TheoretiBche Betraohtungen. Schliesslich entstebt die Frage
nacb den Zablenwerten dieser Unterscbiede bei verscbiedenen Losungs-
mitteln. Wendet man die eben durcbgefiibrte Betrachtung mit Hilfe
des Henryschen Gesetzes auf diese Frage an, so ergiebt sicb eine sehr
einfacbe Beziebung. Hat der Dampf aus den beiden bylotropen Formen
die Drucke p^ und p^, so miissen aucb die Konzentrationen c^ und c^
der mit diesem Dampfe gesattigten Losungen in demselben Verbaltnis
steben, unabbangig von der Natur des Losungsmittels, d. b. es muss
allgemein c,/C| = pi/p^ sein. Die Gultigkeit dieser Beziebung, dass das
Verbaltnis der Loslicbkeiten zweier bylotroper Formen von der Natur
des Losungsmittels unabbangig sein muss, gilt in demselben Umfange,
wie das Henryscbe Gesetz, ist insbesondere ^so davon abbangig, dass
das Molekulargewicbt des gelosten Stoffes in den verglicbenen Losungs-
mitteln dasselbe ist. Die Abweichungen, welcbe anderenfalls eintreten,
lassen sicb Ubrigens leicbt angeben^).
Man kann den gleicben Satz ans dem Postulat ableiten, dass die
bei der Umwandlung der einen Form in die andere stattfiudende
Arbeitsleistung unabbangig vom Wege sein muss.
Ist Cs die Konzentration der Losung der stabilen, Ci die der nicht-
stabilen Form bei der Temperatur T, so ergiebt die Oberflibrung voo
einem Mol des gelosten StofiFes aus der konzentrierteren Losung in die
verdlinntere die Arbeit RTlnCi/cB^ Diese ist identiscb mit der bei der
Umwandlung der instabilen Form in die stabile zu gewinnenden Axbeit»
d. b. unabbangig von der Natur des Losungsmittels. Bezeicbnet man
^) Dieses Gesetz ist unabb&ngig und gleichzeitlg von van't Hoff und mir ge-
funden worden. Yergl. Zeitscbr. f. phys. Ghemie 29, 170. 1899 und Tan't Hoff;
Yorlesungen ttber theoretiscbe und pbysikalische Gbemie 2, 129. 1899.
Chemische Gleichgewichte iweiter Ordnaog. 863
/ »t trt
die Eonzentrationen in den yerschiedenen Losungsmitteln mit c , c , c
u. 8. w., 80 folgt:
RT In ci'/c' = RT In ^'\^' = RT In ci"7c»"' = • • •
Oder
Ci Cj c,
/ — — tt — — ttl
!•« C. C.
d.h. das Verhaltnis der Eonzentrationen der Losungen, welche
mit beiden Formen im Gleicbgewicht stehen, ist unabhangig
Yon der Natnr des Losungsmittels.
Die Voraussetzungen bei dieser Ableitung sind, dass erstens der
geloste Stoff in den yerschiedenen Losungsmitteln gleiches Molekular-
gewicht hat. Andem£alls treten die Moleknlarkoeffizienten yor den
Aosdruck RT, und statt der Konzentrationen selbst selbst stehen deren
auf die Potenz des Moleknlarkoeffizienten (woboi am einfachsten der
kleinste als Einheit dient) erhobenen Werte in konstantem Verhaltnis.
Zweitens sind die Gasgesetze fiir die Losungen als giiltig ange-
Donunen worden, und diese miissen daher geniigend yerdunnt sein. Da
man aber in jedem Falle ein Losungsmittel wird finden konnen, welches
den Stoff sparlich lost» so wird man eine einwurfsfreie Messung des
Verhaltnisses Ci/Cg immer machen konnen. Diese ergiebt dann auch fur
mit anderen Losungsmitteln erhaltene konzentrierte Losungen ein Mittel,
wenigstens das Verhaltnis der wirksamen Mengen (S. 359) des ge-
losten Stoffes in seinen beiden gesattigten Losungen zu messen.
Was schliesslich die zahlenmassige Bestimmung des Verhaltnisses
aiilangt, so kann man unmittelbar die Betrachtungen anwenden, welche
fiir den Winkel der Dampfdrucklinien zweier hylotroper Formen gelten,
(S. 438). Man sieht aus der entsprechenden Formel vp/p =^----^
d i Rl'
dass der Logarithmus des Verhaltnisses der Umwandlungswarme U und
der Entfernung dT yom Gleichgewichtspunkte proportional ist.
Diese Betrachtungen gelten naturgemass nur fiir den Fall wirklich
hylotroper Stoffe und sind auf isomere Stoffe nicht einfach anzuwenden.
Doch ist es yon Literesse, dass eine ahnliche Beziehung auch fur ge-
wohnliche Isomere ausgesprochen worden ist'). Garnelley und Thomson
haben die beiden Satze iiber die Loslichkeit yon Isomeren aufgestellt,
dass die Verbindung mit dem tieferen Schmelzpnnkt die grossere Los-
lichkeit haty und dass das Verhaltnis der Loslichkeiten unabhangig yom
Losungsmittel ist^. Dass auch der erste Satz fiir hylotrope Formen
*) Vgl. yan't Hoff, Vorlesungen 2, 180.
«) Journ. Chem. Soc. 1888, 728.
56*
364 II- Chemische Dynamik.
gilt, ergiebt sich aus der Uberlegung, dass die instabile Form mit
dem grosseren Dampfdruck immer den niedrigeren Scbmelzpunkt hab^
muss (S. 437).
Indessen hat eine spatere UntersuchuDg von Walker und Wood an
den drei Oxybenzoesauren ergeben^), dass eine solche Beziehung jeden-
falls nicht allgemein zutrifft. Da die Yoraussetzung ihrer Ableitung
die Hylotropie ist, so wird man schliessen, dass sie in den Fallen zu-
treffen wird, wo eine gegenseitige TJmwandlung der Isomeren in ein-
ander moglich ist. Da nun wieder diese gegenseitige Umwandlung im
weitesten Umfange abgestuft ist, indem gewisse Umwandlungen sehr
schnell erfolgen, andere, wenn sie auch moglich sind, doch nur mit sehr
geringer Geschwindigkeit stattfinden, so ist es eine Frage von bedeuten-
dem wissenschaftlichen Interesse, zu ermitteln, welcher Grad der Hylo-
tropie fur das Bestehen der Beziehung erforderlich ist. Theoretisch
soUte schon der geringste Grad derselben hierfiir geniigen. Moglicher-
weise ist daher das Bestehen der Beziehung ein gutes Reagens auf
thatsachliche Hylotropie, auch wo solche nicht unmittelbar beobachtet
worden ist.
181. Zwel flftsaige Fhasen und eine feste neben Damp£ Da der
S. 699 ausgesprochenen Regel gemass der Fall dreier flassiger Phasen
neben Dampf bei Gleichgewichten zweiter Ordnung noch nicht zur Be-
obachtung gelangt ist, so haben wir in dem in der Oberschrift be-
zeichneten Falle den letzten, der hier zu betrachten ist. Die Erschei-
nungen, die unter ihn zu rechnen sind, treten ein, wenn ein fester Stofi
unter seiner Losung bei einer bestimmten Temperatur schmilzt und
eine von der Losung verschiedene Fliissigkeit bildet.
Schon Gay-Lussac hat sich mit diesem Falle beschafiigt, und zu
seinem Erstaunen gefunden, dass bei dieser Temperatur der feste Stoff
und seine Schmelze gleiche Loslichkeit haben und dass der Vorgang
des Schmelzens anscheinend keinen Einfluss auf die Losungslinie hat*).
Dass ein solcher indessen doch vorhanden ist, und die Loslichkeit der
festen und der fliissigen Form ausser in einem Punkte voneinander ver-
schieden sind, ist zuerst von Walker^) gezeigt worden. Dieser wendete
die Analogic zwischen Losung und Verdampfung auf den Fall an und
zeigte, dass ebenso, wie im Schmelzpunkte sich die beiden Dampfdruck*
linien der festen und fliissigen Form schneiden, bei alien anderen Tern-
peraturen aber verschieden sind, so auch die beiden Loslichkeiten nur
») Journ. Chem. Soc. 1898, 618.
«) Ann. Chim. Phys. 70, 128. 1839.
') Zeitschr. f. phys. Ghemie 5, 192. 1890.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 865
in diesem Schmelzpunkte ubereinstimmen. sonst aber verschieden sind.
Und zwar liegt diese Verschiedenheit in demselben Siune, wie im ersten
Falle, indem die Losungslinie der flussigen Form mehr nach rechts ge-
neigt ist, als die der festen.
Die Analogie lasst sich noch weiter fuhren, indem man die Ab-
hangigkeit des Winkeis, unter welchem sich beido Linien scbneiden,
von der Schmelzwarme in beiden Fallen durch die gleiche Formel aus^
driickeu kann. Im vorliegenden Falle ist bicrfiir ausser der Anwendung
der Losungsgcsetze allerdings nocb die Annabme erforderlich, dass die
Schmelzwarme des festen Stoffes unter der Losung dieselbe ist, wie
ohne dereu Gegenwart. Dies ist nicht genau zutreffend, da die fliissige
Phase in diesem Falle nicht die gleiche Zusammensetzung haben wird
wie die feste, sondern im allgemeinen etwas vom Losungsmittel anf-
nehmen wird. Um den Betrag der Losungswarme des Lqsungsmittels
in der flussigen Phase in dem geschmolzenen Stoffe ist also die ge-
wohnliche Schmelzwarme zu verbessern. Da die Schmelzwarme immer
positiy ist, wahrend die Losungswarme beide Zeichen haben kann, in-
dem das Losungsmittel von der Schmelze unter Warmeaufnahme oder
-entwickeluug angenommen wird, so kann der beobachtete Winkel
zwischen den beiden Losungslinien sowohl kleiner wie grosser sein, als
der unter der vereinfachten Voraussetzimg berechnete. Es lasst sich
somit einerseits die Schmelzwarme aus dem Winkel berechnen, den beide
Losungslinien miteinander bilden, andererseits der Winkel aus der
Schmelzwarme. Walker hat (a. a. 0.) die erste Rechnung folgendcr-
massen gefuhrt.
Die Losungslinie hat die Formel dlnc/dT = L/RT* oder unter der
Voraussetzung integriert, dass L unabhangig von der Temperatur ist,
In c = — 57p + C. Fiir den Schmelzpunkt T^ soil die Konzentration
Jtv 1
Co sein; dadurch eliminiert sich die Integrationskonstante, und es folgt:
Tine — Toluco = — ^.
Diese Beziehuug gelte fur die feste Form; fiir die fliissige gilt eine
ahnliche Gleichung:
Tlnc-TolnCo' = -^.
Zieht man die untere Gleichung von der oberen ab und beachtct,
dass beim Schmelzpunkt T^ auch c^ = e^' ist, so folgt:
666
II. Chemische Dynamik.
wo S = L — L' die molekulare Schmelzwarme ist Misst man S in
rationellen Ealorien, so ist R = 0*0198 und es folgt fiir den Scbmelz-
punkt T(^:
S = 00198To(lnc — Inc).
Tragt man die Werte von 0-0198 Tine und 0-0198 Tine als Ordi-
iiaten gegen T als Abscissen auf, so erhalt man zwei naheza gerade
Linien, die sich im Schmelzpunkte schneiden, und deren Winkeltangente
unmitelbar die Scbmelzwarme ergiebt.
Auf diese Weise fand Walker fiir p-Toluidin in Wasser S = 47-6 K,
wabrend der unmittelbar beobacbtete Wert 42*1 E betragt Ob der
Unterscbied yon 12 % der oben erwabnten Vernachlassigung zuzu-
scbreiben ist^ lasst sich aus Mangel an den erforderlicben Daten nicht
feststellen.
Da fiir die Recbnung die Losungsgesetze zur Anwendung kamen,
so muss die molekulare Scbmelzwarme auf das Molekulargewicbt be-
zogen werden, welcbes dem gelosten Stoffe in dem angewendeten Lo-
sungsmittel wirklicb zukommt. Man kann daber bei bekannter Schmelz-
warme eine Molckulargewichtsbestimmung auf die Messung des frag-
lichen Winkels griinden. Auf diese Weise ergab sich in einem be-
— sonderen Falle» Wasser
in Ather, dass dem ge-
losten Stoff Wasser das
doppelte Molekularge-
wicht H^O^ zugeschrie-
ben werden muss. Dies
Ergebnis stimmt sehr
gut damit iiberein, dass
Wasser in indifferenten
Losungsmitteln gelost,
eine ausgepragte Ten-
denz zur Bildung von
Doppelmolekein zeigt, wie cs denn im reinen Zustande noch starker
polymerisiert erscbeint*).
^) Zwischen diesem ErgebDis und dem S. 596 erw&hnten, auf Siedepunkts-
mesBungen beruheDdeu, besteht ein Gegeusatz, iDdem dort die Polymerisation des
Wassers in Ather bei dessen Siedetemperatur um die H&lfte gerioger gefundeo
wurde. Die Beschaffenheit der beiderseitigen Messungen l&sst keino Entscheidnng
dartlber zu, ob dieser Unterscbied reell ist, uud auf einem grossen Temperatar>
koSffizienten der Dissociation der Molekeln H^Og in AtherKSsung beraht, oder ob
auf der einen oder anderen Seite Fehler der benutzten Messungen an dem Unter-
schiede die Schuld tragen.
Chemische Qleichgewichte zweiter Ordnung.
867
182. Die ToUst&ndige Ldsaxigslinie. Der Durcbschnitt zweier Lo-
eungslinien, von denen sicb die eine auf das Gleichgewicht fest-fliissig,
die andere auf das Gleichgewicht fliissig-flussig neben Dampf beziebt,
tritt somit als ein Scbmelzen eines festen Stoffes unter seiner gesattig-
ten Losung in die Erscbeinung. Will man sicb von dem vollstandigen
Verlauf des Vorganges Recbenscbaft geben, so bat man demnacb zwei
Losungslinien der genannten Art miteinander zum Scbnitt za bringen.
Sei« um zunacbst die einfacbsten Annabmen zu macben, ff die
Losungslinie fest-fliissig, 11 die Linie fliissig-fliissig (vergl. S. 688 ff.) in
den Koordinaten Molenbrucb-Temperatur, so wurde Fig. 168 einen Durcb-
schnitt der beiden typiscben Linien darstellen. Indessen kann man bald
einseben, dass eine solcbe Verbindung der beiden Linien nicbt moglicb
ist Die beiden gegenseitigen Durcbscbnittspunkte a und b sind vier-
fache Punkte, und zwar solcbe, in denen die gleicben Pbasen neben-
einander im Gleichgewicht sind. Daber sind sie nonvariant und miissen
unter anderem die gleiche Temperatur baben. Dies ist aber nacb der
Zeicbnung nicbt der Fall und kann
auch nicbt der Fall sein, wenn die Lo-
sungslinie der festen Phase die ange-
nommene einfache Gestalt bat. Die
Forderung der gleicben Temperatur fiir
die beiden Durcbscbnittspunkte ergiebt ^
yielmebr die Notwendigkeit, dass beide
Durcbscbnittspunkte auf derselben Ordi-
nate liegen, und damit ist die weitere
Notwendigkeit gegeben, dass die Lo-
sungslinie der festen Phase eine S-for-
mige Kriimmung baben muss^ und die
beiden Linien, wie in Fig. 169 angedeutet, miteinander zum Durcb-
schnitt kommen^).
Nun ist bereits friiber (S. 796) dargelegt worden, dass eine solcbe
Losungslinie zu Unmoglichkeiten fiibrt und somit physisch durch eine
neue Erscbeinung abgelost werden muss, gerade wie die unmoglicbe
stetige Linie Flussigkeit- Dampf durch die unstetige der beterogenen
Zustande abgelost wird. Dicse neue Erscbeinung ist eben das Scbmelzen
des Stoffes unter der Losung oder das Auftreten einer neuen fliissigen
Phase. Hierdurch wird die unmoglicbe S-Linie durch eine Gerade er-
betzt, welcbe die beterogenen Zustande ausdrtickt.
T
Fig. 169.
>) Yergl. Rothmund, Zeitschr. f. phys. Ghexnie 26, 469. 1898.
g68 n* Ghemische Dynamik.
Demnach ist die Fig. 169 folgendermassen zu deuten. Gehen wir
von dem reinen festen Stoffe A aus, dessen Schmelzpankt bei f liege,
und setzen den Stoff B dazu, so wird die Linie fabf die Gleichgewichte
zwischen festem A und der Losung, welche steigende Mengen des
zweiten Stoffes B entbalt, darstellen. Dagegen sind 11 die Gleichge-
wichte zwischen zwei Fliissigkeiten, von denen die eine vorwiegend A
neben B, die andere vorwiegend B nebon weniger A enthalt.
Verfolgt man die Linie von f aus, so nimmt der Gehalt der Losung
an B zu, und die Temperatur ab. Bei a erscbeint als neuo Phase die
zweite Fliissigkeit mit vorwiegendem B und wir haben einen vierfachen
Punkt mit festem A^ den beiden Flussigkeiten und Dampf.
Vermehrt man nun B, wahrend alle vier Phasen bestehen bleiben,
80 kann sich weder die Temperatur, noch die Zusammensetzung der
Phasen andern. Die Folge der Vermehrung ist uur, dass die neu auf-
getretene Fliissigkeit ihre Menge vergrossert, wahrend die erste Losung
in gleichem Masse verschwindet. Dadurch andert sich das Verhaltnis
der beiden Fliissigkeiten und damit auch das der Molenbriiche in den
beiden fliissigen Phasen zusammen, und dieser Vorgang wird durch die
Gerade ab dargestellt.
Bei b verschwindet die erste fliissige Phase und es bleibt nur die
zweite neben dem festen Stoffe A iibrig. Die Linie bf ist wieder eine
Losungslinie dieses festen Stoffes, aber in einer LosuDg, die vorwiegend
aus dem Stoffe B besteht. Uber den weiteren Veriauf der Linie wird
spater das Erforderliche bemerkt werden.
An Stelle der nonvarianten Geraden ab kann man auch die Linie
akb einhalten. Zu diesem Zwecke lasst man die feste Phase, deren
Gegenwart langs der Geraden vorausgesetzt war, verschwindeii. Dann
ist akb eine gewohnliche Losungslinie zweier teilweise miscbbarer
Flussigkeiten mit einem kritischen Punkte k.
Uberlegt man, dass im allgemeinen jede Losungslinie derartiger
Fliissigkeiten bei fortgefiihrter Temperaturerniedrigung schlies^lich
zur Ausscheidung der festen Form des vorwiegenden Stoffes fiihren
muss, so sieht man ein, dass der eben behandelte Fall der allgemeine
ist, und dass die friiher (S. 666 ff.) betrachteten Losungslinien zweier
Flussigkeiten an einer Seite wie beschricben durch eine Losungslinie der
festen Phase beendet werden miissen.
Um nun auch eine Anschauung fiir den Veriauf des anderen Endes
dieser Losungslinie zu gewinnen, iiberlegen wir, dass von festem B aus,
dessen Scbmelzpunkt bei g lioge, sich durch Zusatz von A jedenfalls
wieder eine nach niedrigeren Temperaturen abfallende Linie gg' bilden
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnnng.
869
wird. Diese Linie muss mit bf zum Durcbschnitt koromen, da sie
innerhalb der Werte des Molenbrucbs liegt, wo die beiden Stoffe nar
eine homogene Losung und uicbt deren zwei bilden konnen. Der Durcb-
scbnittspunkt r entbalt Debeneinander die Pbasen festes A, Losung,
festes B and Dampf; er ist also nicbts als der eutektische Punkt
der beiden festen Stoffe A und B.
Stellt man demnacb die stabilen Teile dor univarianten Gebilde
zusammen, so erhalt man die vollstandige Losungslinie Fig. 170, in
welcber die Bucbstaben dieselbe Bedeutung baben, wie in Fig. 169.
Was die gegenscitige Lage der verscbiedenen Durcbscbnittspunkte an-
langty 80 miissen a und b auf derselben Ordinate liegen, und r muss
mebr nacb links liegeti, als diese beiden Punkte. Ebenso muss f mebr
nach rechts liegen, als a und b, und g mebr nacb recbts, als r; da-
gegen braucben f und g nicbt wie gezeicb-
net zu liegen, sondern konnen aucb ein um-
gekehrtes Verbaltnis aufweisen.
Da zwiscben den beiden Stoffen A und
B kein Unterschied gemacbt worden ist, so
bedingt die Moglicbkeit, dass der kryobydra-
tische Punkt r zwiscben a und f, statt zwi-*^
schen b und g liegen kann, keinen neueu
Fall.
tiber die metastabilen Teile der 6e-
samtlinie wird spater gebandelt werdeu.
Das Verbalten zweier Stoffe, welcbe im
fltissigen Zustande teilweise Miscbbarkeit
aufweisen, bei konstauter Temperatur und wecbselndem Verbaltnis der
Bestandteile lasst sicb aus der Fig. 169 eutnebmen, wenn man eine
Ordinate verfolgt. Wir woUen die Betracbtung in dem verwickeltsten
Falle aa durcbfubren; die einfacberen Falle ergeben sicb darnach
Ton selbst.
Geben wir von unten aus, so haben wir zunacbst den Stoff A
unterbalb seines Scbmelzpunktes. Werden zunebmende Mengen B zu-
gesetzt, so bildet sicb eine Losung von der Zusammensetzung o^ neben
festem A; die Menge der Losung nimmt bei weiterem Zusatz von B zu,
bis bei a^ das feste A verscbwindet. Die entstandene Fliissigkeit lost
weiteres B, bis die Zusammensetzung a, erreicbt ist; wird diese iiber-
scbritten, so scbeidet sicb die zweite Fliissigkeit von der Zusammen*
setzung as aus, und die Vermehrung von B bedingt dann nur die Ver-
mebrung der zweiten Losung auf Kosten der ersten, ohne die Zu-
870
II. Chemische Dynamik.
sammensetzuug einer derselben zu andern. Ist schliesslich die Gesamt-
zusammensetzung durcfa a^ dargestellt, so verschwiiidet die erste Lo-
sung, UDd es bleibt nur eine homogene Fliissigkeit iibrig, die schliesa-
licb in reines fliissiges B iibergebt.
183. Beisplele. Bei Gelegenheit ftiner Arbeiten iiber die teilweise
loslichen Fliissigkeiten hat aach Alexejew sich Tielfach mit unserem
Falle des Schmelzens nnter der Losung beschaftigt; wird doch bei ge-
niigeDd tiefer Temperatur stets ein Festwerdeo der beteiligten fliissigen
Stoffe eiutreten, wodurch der bier behaudelte Fall gegeben ist Alexe-
jew bat auch mit' solchen Stoffen gearbeitet, welche bei gewohnlicher
Temperatur fest sind, wie Benzoesaure und Salicylsaure, und hat die
-K''2 P
Fig. 171.
verschiedene Loslichkeit, welche sich bei demselben Stoffe neben einer
fliissigen oder einer festen Phase zeigt (wobei in einem der beiden
Falle Ubersattigung vorliegt) beobacbtet. Doch ist er bei der Deatuog
der Erscheinungen so sehr in die Irre gegangen, dass es nicht zweck-
massig ware, ihm hier zu folgen.
Klarheit liber die Beschaffenheit des Falles findet sich saerat bei
B. Roozeboom^); doch bietet der von ihm untersuchte Stoff, das Kalium-
salz des Trinitro-OxTphenylmethylnitramins, Erscheinungen, welche nicht
den einfachst moglichen Fall darbieten. Einen solchen hat erst Schreine-
makers^ bei der Losung des Bernsteinsaurenitrils C,H4(CN)2 in Wasser
mitgeteilt.
Die beistehende Fig. 171, welche den Molenbruch als Ordinaten,
die Temperatur als Abscissen enthalt, lasst in pae^que'S eine Loslich-
keitslinie erkennen, welche voUkommen dem in Fig. 170 gegebenen
Schema entspricht.
») Rec. Pays-Bas 8, 257. 1889.
^) ZeitBchr. f. phys. Chcmie 23, 418. 1897.
Chemische Gleichgewiohte zweiter Ordnang. 871
Iq p haben wir den Schmelzpunkt des einen reinen Bestandteils,
Wasser; durch Zusatz von Nitril sinkt er, bis bei — 1*2^ die eutek-
tische Temperatur erreicht ist, wo die Losung gleichzeitig mil Eis und
mit festem Nitril im Gleichgewicbt ist. Lasst man das Eis Ter-
scbwinden, so scbliesst sich die Loslichkeitslinie des Nitrils an, welcbe
bis 18-5^ lauft Dort scbmilzt das feste Nitril unter Wasser, and bildet
zwei Losungen, deren Zusammensetzung durcb die Punkte e^ and e' ge-
geben sind.
Erwarmt man die beiden nicbt mischbaren Losungen, so andert
sich die Zasammensetzung im entgegengesetzten Sinne; die wasserige
Schicht wird reicber an Nitril and die Nitrilscbicbt reicher an Wasser.
Die beiden Punkte, die der gleicben Temperatar angeboren, kommen
8ich daber immer naher and im kritiscben Losungspunkte q bei 55^
geben sie stetig ineinander iiber.
Lasst man aber bei 18-5^ durcb reicblichen Zusatz von festem
Nitril die wasserige Losung verscbwinden, so stellt sicb zwiscben der
aas vorwiegendem Nitril bestebenden fltissigen Scbicbt and dem festen
Nitril die Linie e's ber, indem der Gleicbgewicbtspunkt mit festem
Nitril immer hober wird, je weniger Wasser die Fliissigkeit entbalt.
Beim Gebalt Null an Wasser endlicb wird in s der Scbmelzpankt des
reinen Nitrils, 54 ^ erreicht.
Links von der Gesamtkurve haben wir beterogene Oebilde, recbts
von ibr bomogene Losungen.
Fiigt man bei konstanter Temperatar b zwiscben — 1*5^ and
-|- iS'b^ Nitril zu Wasser, so wird es sicb anfangs losen, bis der Punkt
c erreicht ist; ein weiterer Zusatz von Nitril bleibt als feste Phase
liegen.
Fiigt man dagegen bei einer Temperatar d zwiscben 18<5^ and
55*5^ Nitril zu Wasser, so wird es sich anfangs losen; bei f^ wird sich
.aber eine fliissige Schicht abacheiden. Diese vermehrt sicb bei weiterem
Zusatz, wabrond die erste Schicht sich vermindert and bei eiuem Ge-
halt, der dem Punkte f entspricht, ist wieder nur eine Schicht vor-
faanden. Diese lost weiteres Nitril auf, bis der Pankt g erreicht ist;
von diesem ab bleibt das zagefiigte Nitril fest
Uber 55-5^ endlicb ist Nitril and Wasser in alien Verhaltnissen
mischbar.
Man kann in Analogic mit den Verhaltnissen bei Fliissigkeiten and
Gaaen aas dem Pankte d nach g gelangen, ohne dass man jemals zwei
nicht mischbare Fliissigkeiten hat, wenn man erst Nitril bis zu einem
Punkte anterhalb f| zufiigt, dann bis iiber die kritische Temperatur
^72
II. GhemUche Dynamik.
nrwN^tf'V wvKiurch man etwa nach h gelangt, dann weiter Nitril bis k
7\}^i}x.r ^ft^ b^ g Auf die Anfangstemperatur abkiihlt. Man befindet
^v'> i^utik VBk der homogenen Losung, die vorwiegend aus Nitril bestebt,
v^-%:)it/uU Qian Torher eine wasserige Losung hatte, und der Obergang
iut ^t^i;k\>iuaien stetig gewesen.
Vianz &hnlicb sind die Beobacbtungen, welche V. Rotbmnnd^) bei
ii>r tabling von Resorcin in Benzol gemacht bat. Fig. 172 zeigt die
l>vH>bacbteten Verbal tnisse, die keiner weiteren Erlauterung bediirfen.
b'ig. 173 endlicb giebt die Beobacbtungen von Alexejew*) an wasserigen
l^o^ungen von Benzoesaure wieder. Bei beiden feblt der eatektische
l^inkt und die zweite Linie fest-fliissig, bo dass sie nicbt vollstandig sind.
184. '&bers&ttignng8er8oheinun-
gen. Entsprecbend den wiederholt
bericbteten Regeln lassen sicb Lo-
sungen in Bezug auf feste Stoffe meist
mebr oder weniger leicbt iibersattigen,
100 110
60 :o so
Fig. 172.
so*
Fig. 173.
fOO*
dagegen nicbt in Bezug auf Fliissigkeiten. Demgemass wird man in det
Fig. 169 eine Verlangerung der Linien fa und rb iiber a, beiw. h
binaus nicbt zu erwarten haben; dagegen werden sicb alle anderen
Linien iiber ibre Durcbscbnittspunkte verlangern lassen.
Was die Verlangerung Uber den eutektiscben Punkt r hinans
anlangt, so ist bieriiber das erforderlicbe bereits gesagt worden; sie ist
beiderseitig moglicb. Im Punkte b kann sicb die Linie IT fiber b
binaus fortsetzen, d. h. es kann Losungen geben, die in Bezug auf die
>) Zeit8chr. f. phys. Chemie 26, 485. 1898.
*) Wied. Ann. 28, 332. 1886.
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 873
zweite fliissige Phase gesattigt and die feste iibersattigt sind; hierfiir
sind zahlreiche Beispiele bekannt.
Derartige Falle sind ^ohl zuerst yod Alezejew festgeBtellt worden
wenn er sie auch falsch gedeutet hat. Er beobachtete, dass heiss be-
reitete Losungen tod Benzoesaure nnd m-Nitrobenzoesaore in Wasser
beim Abkiihlen fliissige Saure ausschieden, und dabei weit grossere
KoDzentrationen aafwiesen, als die bei gleicher Temperatur beziiglich
fester Saure gesattigten Losungen. Durch seine Auffassung solcher Lo-
sungen als isomer, insofern als die einen feste, die anderen fliissige
Sanre gelost enthalten soil ten ^), verschloss er sich den Weg zum rich-
tigen Verstandnis.
Fiir die richtige Auffassung war die oben erwahnte Arbeit von
Walker') tod Belang, in welcher der Nachweis erbracht wurde, dass
die Loslichkeitslinien eines und desselben Stoffes sich beim Schmelz-
punkt uuter der Losung unter einem bestimmten Winkel schneiden.
Die beiden Kurven liegen genau so, wie die Dampfdrucklinien eines
Stoffes im festen und fliissigen Zustande, und deshalb muss die Konzen-
tration gegeniiber der iiberkalteten Fliissigkeit immer grosser sein, als
gegeniiber der festen Form des Stoffes.
Ebenso lassen sich den Arbeiten von B. Roozeboom (vergl. S. 870)
Anhaltspunkte fiir ein solches Verhalten entnehmen.
Eineu anschauHchen Versuch fiir den vorliegenden Fall hat dann
L. Bruner*) beschrieben. Wahrend eine friiherc Versuchsreihe mit
Natriumthiosulfat in wasserigem Alkohol^) nicht einwandsfrei ist, fand
er in der Hjdrozimmtsaure ein bequemes und unzweifelhaftes Material.
Dieser Stoff schmilzt rein bei 47 ^ unter Wasser bei 38^ Die in der
Hitze hergestellte Losung scheidet nur fliissige wasserhaltige Saure ab,
und krystallisiert auch bei langerem Aufbewahren bei gewohnlicher
Temperatur nicht. Filtriert man die bei Zimmertemperatur gesattigte
Loeung ab, so scheidet sie nach dem Einsaen des festen Stoffes ziem-
lich reichlich Erystalle ab. Die Loslichkeit der beiden Formen verhalt
sich nach titrimetrischen Messungen bei 19® wie 1:1*37.
185. Ein besonderer Fall. Durch den Umstand, dass im allge-
meinen die metastabile Phase friiher zur Ausscheidung kommt, als die
') Die mit fester S&nre ohne Erhitzen fiber die Yersuchstemperatur bereiteten
Usangen gestatteten meiat keine Obers&ttiguDg, well sie noch keine Eeime der
festen Sfture enthielten, w&hreDd in den erhitztgewesenen diese zerst^Srt worden waren.
^ Zeitschr. f. phys. Chemie 5, 193. 1890.
■) Zeitochr. f. phys. Chemie 2S^ 542. 1897.
*) Comptes rendus 120, 26. 1896.
874
II. Chemische Dynamik.
stabile, ergiebt sich die Moglichkeit, einen Fall zu beobachten, welcher
durcb Fig. 174 zur DarstelluDg gebracht ist. Betrachtet man namlich,
wie angegeben, die Fig. 170 als den Durchschnitt zweier selbstandiger
Liniengebilde, von denen sich d'as eine auf das Gleichgewicht der festea
Pbasen mit der Losung, das andere auf das zweier teilweiae mischbarer
Fliissigkeiten bezieht, so kann man sich den Fall vorstellen, dass diese
beiden Gebilde tiberhaupt nicht zum Schnitt kommen, was dann die
Fig. 174 ergeben wiirde. Wie unmittelbar ersichtlich, stellt die gauze
Fliissigkeitslinie fl Zustande dar, welche in Bezug auf eine der festen
Phasen iibersattigt sind und welche daher voUstandig im metastabilen
Oder labilen Gebiete liegen.
Solche Yerhaltnisse sind in der That von Alezejew an der Salicyl-
sanre beobachtet, wenn auch nicht richtig gedeutet worden. Alexejew
fand, dass Salicylsaurelosnngen, die nach der Bereitung noch waiter er^
50 »
lOQO
Fig. 174. Fig. 176.
hitzt worden waren, beim Erkalten fliissige Sauro abschieden. Saliqrl-
saure hat dabei nicht die Eigenschaft, unter Wasser zu scbmelzen,
sondern man erhalt beim Erhitzen beliebiger Mengen Salicylsaure und
Wasser bei einer bestimmten Temperatur eine einheitliche Losung; sie
hat also mit Wasser die mit „fe8t" bezeichnete Losangslinie, wobei bei
niederen Temperaturen die Loslichkeit gering ist, wahrend sie bei 100*
sehr schnell zanimmt.
Alle Ausscheidungspunkte fliissiger Saure liegen unterhalb der
Temperaturen, bei welchen die Losung in Bezug auf feste Saure ge-
sattigt ist; die Losungslinie der fliissigen Saure verlauft also ganz unter-
halb der der festen, wie Fig. 175 zeigt.
Wahrend diese Deutung fiir die Versuche von Alexejew erst spater
gegeben worden ist^), fand Roozeboom*) bei der Suche nach einem Fall,
^) Rothmund, Zeitschr. f. phys. Ghemie 2G, 492. 1898.
a) Rec. Pays-Bas 8, 257. 1889.
Chemlsche Qleichgewichte zweiter Ordnung. 875
welcfaer der Fig. 169, S. 867 entspricht, an deiu Kaliumsalz des Trinitro-
phenylroethylmtramins einen Stoff mit fliissiger Phase, die nirgend mit
der LosuDgslinie der festen Phase zum Schnitt kommt. Fig. 175 giebt
nach den Beobachtungen von Roozeboom den Verlauf der beiden Los*
lichkeiten wioder; ,,fe8t" bezieht sich auf den festen Stoff, „fl'' auf die
beiden flussigen Pbasen.
Auch in diesem Falle macht Roozeboom die Bemerkung, dass Uber-
sattigangeu beziiglich der fliissigen Phase nie aufgetreten seien, wahrend
solche beziiglich der festen sich iiberans leicht erhalten lassen.
Sehr bemerkenswert ist die Gestalt der Losungslinie der festen
Phase in den zuletzt betrachteten Fallen, wo die beiden Losungs-
linien nicht zum Schnitt kommen. Auf Grund der Analogie zwischen
dem dampfformigen und dem gelosten Zustande war fiir den Fall des
Schneidens eine S-formige Gestalt der ersten Linie abgeleitet worden,
die nicht vollstandig zur BeobachtuDg gelangen kann, da sie in ihrem
mittleren Teile einen unmoglichen Verlauf enthalt, namlich einen solchen,
wo der osmotische Druck mit steigender Eonzentration abnehmen
miisste. Wegen der bisher nicht iiberwundenen Schwierigkeit, t)ber-
sattigung in Bezug auf eine fliissige Phase in Losungen zu erhalten,
sind auch die „moglichen<* Teile der Losungslinie der festen Phase nicht
iiber den Durchschnitt mit der Losungslinie fliissig-fliissig hinaus zur
Beobachtung gelangt. Die Annahme einer S-formigen Kriimmung dieses
Teils schwebt also einstweilen in der Lufb.
Denkt man sich nun in einem derartigen Gebilde die Dampfphase
fort, so entsteht eine Freiheit mehr, und man kann durch Veranderung
des Druckes die gegenseitige Lage der beiden Linien andem. Lasst
man dies in solchem Sinne erfolgen, dass die feste Linie zunehmend
nach rechts, die fliissige nach links riickt, so miissen sie schliesslich
auseinander treten, und die in Fig. 174 und 175 dargestellte Erschei-
Dung ist durch einen stetigen Ubergang aus Fig. 169, 8. 867 entstanden.
Wahrend dieses Uberganges muss der S-formige mittlere Teil der festen
Linie immer flacher werden, und bei einem Druck werte, wo die beiden
Linien sich nicht mehr schneiden, sondern eben nur zur Beriihrung
kommen, hort die S-Krummung auf und es bleibt nur ein Wendepunkt
mit senkrechter Tangente iibrig. Geht man noch weiter, so bleibt der
Wendepunkt zunachst bestehen, nur ist seine Tangente nicht mehr
senkrecht.
Der letzte Fall ist es nun, welcher in den ebon betrachteten Bei*
spielen bei gewohnlichem Atmospharendrucke eintritt, und in der That
ist beide Male der auffallig senkrechte Verlauf der Losungslinie der
SL-^^ U. Ghexnische Dynamik.
!<HiCt^u Fliase als Rest der nicht zuganglichen S-formigen Eriiminung
vv>rbaudeu. Man darf allgemein die Forderung anfstellen, dass, weon
'4wei derartige getrennte, aber nicbt weit voneinander liogende Losangs-
huieii auftreten, die der festen Phase in der Nahe der kritischeu Tem-
peratur der beiden flossigen Phasen den geschilderten Verlauf mit
eioem Wendepunkt aufweisen muss. Das Zutreffen dieser Porderung in
den bekannten Fallen bietet umgekebrt einen willkommenen Beweis far
die Angemessonbeit der eingebaltenen Betracbtung.
186. '0l)ersi6ht. Fassen wir die letzten Betrachtungen zusammen,
80 ergeben sich nur zwei wesentlicb verschiedene Arten von vierfachen
Punkten, namlich Knickpunkte und eutektische Punkte. Es wird
die Ubersicht der zum teil etwas verwickelten Verhaltnisse erleichtem,
wenn wir dies Ergebnis aus zusammenfassenden Betrachtungen noch-
mals ableiten.
Die vierfachen Punkte mit fliissiger Phase erscheinen allgemein
als Durcbschnitte zweier Losungslinien im Molenbruch-Temperatur-Dia-
' gramm. Da fiir die Durcbschnitte
nur Brucbteile der gesamten Lo-
sungslinien in Frage kommen
konnen, so sind nur zwei Haupt-
typen aa und bb (Fig. 176) in
Betracht zu Ziehen. Die Losungs-
linie verlauft entweder einsinnig,
aa, Oder sie hat ein nach rechts
iiegendes Maximum, bb. Wah-
rend bei ersterer als feste Phasen
T sowohl die reinen Bestandteile
^^8- ^^^- wie auch feste Verbindungen vor-
kommen konnen, ist die zweite auf Verbindungen beschrankt Sie ist
andererseits das Kennzeichen dafur, dass eine Verbindung als feste
Phase vorliegt, und zwar ist die Zusammensctzuug der Verbindung durch
den zum Maximum m gehorigen Molenbruch unzweideutig gegeben.
Man kann dadurch das Vorhandensein einer solchen Verbindung nach-
weisen und ibre Zusammensetzung ermitteln, ohne dass man sie selbst
zu isolieren und zu analysieren braucht
Die gleiche Form kommt dem Falle zu, dass zwei nicht roiscbbare
Fliissigkeiten auftreten. Sie unterscheidet sich von dem vorigen Falls
dadurch, dass beide Endpunkte in derselben Vertikalen liegen und die
angrenzenden Teile der durchschneidenden Losungslinie sich aaf die-
selbe feste Phase beziehen.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordniing. 877
Aas den Linien a a and bb konnen sicb nun folgende fiinf Arten
des Durcbscbnittes bilden, Fig. 177:
I. Es geht die feste Pbase in eine beteromorphe Form (S. 861),
Oder in eine feste Verbindung aus beiden Bestandteilen iiber (S. 813).
Im letzteren Falle liegt die Zusammensetzang der Losung ausserbalb
der der beiden festen Pbasen. Wir erhalten einen Knickpunkt
(S. 876).
II. Zwei einfacbe Losungslinien schneiden sicb in einem Punkte
niedrigster Temperatur. Dort steben zwei feste Pbasen im Gleicbge-
wicbt mit einer Losung, deren Zusammensetzung zwiscben der der
beiden festen Pbasen liegt Es ist dies der eutektiscbe oder kryo-
hydratische Punkt (S. 842).
III. Eine Maximalkurve scbneidet sicb mit einer einfacben Losungs-
linie zu einem Knickpunkt.
IV. Eine Maximalkurve scbneidet sicb mit einer einfacben Losungs-
linie zu einem eutektiscben Punkt.
Fig. 177.
V. Zwei MaximalkurYcn scbneiden sicb. Sie geben dabei notwendig
einen eutektiscben Punkt wie II.
Somit giebt es wirklicb nur zwei Arten von Durcbscbnitten. Die
Linien laufen dort entweder gleicbsinnig, so dass bei stetiger Vermeb-
rung eines Bestandteils die Temperatur immer steigt (bezw. sinkt) und
geben dann einen Knick, oder sie laufen entgegengesetzt.und geben
dann einen eutektiscben Punkt. In beiden Fallen sind im Durcb-
schnittspunkte zwei feste Pbasen zugegen.
Ausserdem fallen als ausgezeicbnete Punkte die Maximalpunkte
auf. An ibnen verlauft die Kurve aber stetig, denn es ist dort nur
eine einzige feste Pbase zugegen.
Durcb das Auftreten zweier flUssiger Pbasen wird der Verlauf
derart geandert, dass die Kurve an einer Stelle unterbrocben wird und
bei einem anderen Werte von x fiir dieselbe Temperatur sicb fortsetzt.
Dazwiscben liegt die meist nacb recbts, zuweilen aucb nacb links
Oitwftld, Chemle. 11,2. 2.Aafl. 56
ojg II. Chemische Djnamik.
gewendete parabelformige Linie fiir die Gleicbgewicbte der beiden Flussig-
keiten mit dem kritischen Punkte k. Es entstebt also das Bild Fig. 178,
das sich an der entsprecbenden Stelle in den Gesamtverlauf der Kurre
einfugt
Eine neue Art von Durchscbnitten kommt dadurcb niebt zu standc,
da die beiden bei c ansetzenden Stiicke der Losungslinie einer and der-
selben festen Pbase angeboren (S. 869).
Aus diesen Bestandteilen setzen sicb die x-T-Diagramme von Gleich-
gewiobten zweiter Ordnung, welcbe fliissige Pbasen entbalten, zusammen.
Es mag nocb bemerkt werden, daaa
die Yollstandigen x-T-Linien an den bei-
den Enden, wo sicb die reinen Bestand-
teile befinden, immer zunacbst nacb nie-
deren Temperaturen abfallen miissen, da
der Schmelzpnnkt des reinen Stoffes darch
Zusatze jedeufalls erniedrigt werden muss.
Scbeinbar konnen Abweicbungen eintreteD,
wenn der fremde Stoff (der andere Be-
standteil oder eine Verbindnng des ersteo
•^ mit ibm) sebr wenig loalicb ist; dann
^^' wird alsbald ein kryobydratiscber Ponkt
erreicbt, der so nabe am Scbmelzpunkte des reinen Stoffes liegt, dass
der zwiscbenliegende Zweig nicbt zur Beobacbtang gelangt.
Ausserdem aber kann ein wirklicbes Ansteigen stattfinden, wenn
sicb aus der Losung isomorpbe Gemiscbe statt reinor fester Substanz
abscbeiden. Derartige Falle werden in einem anderen Kapitel besondera
bebandelt werden.
187. Anwendimg des thermodynaniischen Fotentiala. Den bis-
berigen Betracbtungen waren moglicbst unmittelbar der Beobacbtang
zuganglicbe Grossen zu Grunde gelegt worden, wie die KonzentratioD
oder der Dampfdrnck, um die Ergebuisse im unmittelbaren Anscblosse
an die Erfahrung zu erbalten. Daneben giebt es aber aucb andere
Arten der Auffassung, welcbe den Vorzug grosserer Allgemeinbeit
baben, wenn ibnen aucb jene unmittelbare Beziebung auf die direkte
Beobacbtung abgebt. Diese Betracbtungen beruben auf der Bildang^
gewisser Funktionen, deren Abbangigkeit von den Veranderlicben, die
den Zustand bestimmen, unmittelbare Auskunft fiber die Eigenschaften
des betracbteten Gebildes giebt.
Solcbe Funktionen sind zuerst in der Mecbanik unter dem Namen
der Kraftefunktion oder der Potentialfunktion aufgestellt worden. Eine
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordoung. 879
solche Funktion hat die Eigensohaft, dass ihre VeranderuDg nach irgend
einer Richtang die Grosse der Kraft angiebt, welche sich bei der Bo-
weguDg eines EinheitsmasseDpuDktes in dieser Richtung bethatigt, in-
dem die Kraft durch den Differentialquotienten der Funktion nach der
Verschiebung dargestellt wird. Hieraus ergiebt sich^ dass die Funktion
eine Energiegrosse sein muss, denn eine Energie dividiert durch eine
Strecke ist eine Eraft (3, 1, S. 19).
Bei chemischen Gebilden sind die Verhaltnisse yerwickelter, indem
nebst den chemischen Vorgangen im allgemeinen gleichzeitig thermische
and Volumanderungen erfolgen, so dass mehrere Energiearten gleich-
zeitig geandert werden. Zieht man aber von der Gesamtenergie des
Gebildes die thermische und Volumenergie ab, so erhalt man eine
Funktion^ welche man die chemische Energie nennen kann und welche
die Eigenschaft hat, dass ihr Differentialquotient nach der chemischen
Zosammensetzung das Mass der chemischen „Kraft'* ist Ahnlich wie
die mechanische Kraftefunktion fiir solche Anderungen, die freiwillig
Oder unter Energieaustritt erfolgen konnen, einen negativen DijSerential-
qaotienten ergiebt^ fiir solche, die mit Energieaufnahme yerkniipft waren,
also freiwillig nicht eintreten konnen, einen positiven, und fiir solche,
die ohne Arbeit erfolgen konnen, also eiu Gleichgewicht darstellen, den
Wert Null des Differentialquotienten ergiebt, so gestattet der Differential-
quotient der „chemischen Energie^ die Erkennung und Begrenzung der
moglichen and unmoglichen Vorgange im vorgelegten Gebilde. Insbe-
sondere wird der kleinste Wert, den die Funktion annehmen kann, den
Differentialquotienten Null haben und das Kennzeichen des Zustandes
sein, der sich freiwillig in keinen anderen yerwandeln kann, also ein
stabiles Gleichgewicht darstellt.
Derartige Funktionen sind von W. Gibbs in seinen Fundamental-
gleichungen (S. 121) aufgestellt worden; er hat sie nur mit den Buch-
staben ^, x ^^^ S bezeichnet, ihnen aber keinen Namen gegeben. Die
hier fur uns in Betracht kommende Funktion g von Gibbs, die spater
Yon Duhem das thermodynamische Potential genannt worden ist, hat
die Definition
g=£ — tiy-f pv = /E/imi-f ^,m,-^ h/^nmn
(S. 121) und enthalt also nur die chemische Energie Z(jim) der vor-
h&ndenen Stoffe. Ihr Differentialquotient nach der Menge m ergiebt
das chemische Potential n oder die chemische „Kraft'S d. h. das Mass
der Tendenz, mit welcher ein Stoff zu entstehen, bezw. zu verschwinden
bestrebt ist.
Zwar giebt es keinen allgemeinen Ausdruck far den Zahlenwert
56*
QOQ II. Chemische Dynamik.
dieser Fnnktion; sie ist nur fiir den YoUkommenen Gaszustand und den
Tollkaninenen Losongszustand durch die Formel
S = A + BT — CpTlnT + RTlnp,
wo A nxtA B KoQstanten sind, darstellbar. Doch kann man gewisse
allgNYiom^ Angaben iiber ihren Verlauf machen, und dies geniigt, um
ern^ An^I weitgehender Schliisse zu Ziehen. Diese haben naturge-
n*^^ k^iium quantitativen Charakter, sie gewahren aber einen Einblick
m ^^> Yurhandenen formalen Mannigfaltigkeiten und liefern daher ein
^s^h^^^w^i, um darin vorhandene Thatsachen unterzubringen und fehlende
r^iN^t^ Aufzusuchen.
Die auf diesem Wege erhaltenen Ergebnisse werden auch denen
y^^nuber, die wir bisher durch unmittelbare Beobachtungen gewaunen,
uicht^ neues bringen. Sie werden aber den Wert haben, dass sie uos
vii0 alien Verhaltuisse in einem neuen Lichte vorfuhren und daher ihre
ifobrauchsfahigkeit steigern.
Von A. C. Ton Kijn van Alkemade^) ist gezeigt worden, wie die
Fuuktion g sich fiir die Theorie der binaren (und tertiaren) Gleichge-
nvichte, insbesondere der Salzlosungcn verwerten lasst und er hat im
Anschlusse an Gibbs ein graphisches Verfahren ausgearbeitet, welches
eine sehr bequeme Ubersicht giebt.
Als Energiegrosse ist die Funktion £ oder die chemische Energie
bei einem homogenen Gebilde jedenfalls proportional der Gesamtmenge
desselben. Wir beziehen den Wert von £ auf ein Mol des betrachtet^i
Stoifes. Um dies bei Gemengen auszufiihren, hat man die auf ein Mol
bezogene chemische Energie jedes Bestandteils mit dem Molenbruch
zu multiplizieren und die so erhaltenen Werte zu addieren').
188. FluBsige Gebilde. Betrachten wir zunachst ein homogenes
Gemenge von fliissigem Gemisch aus zwei Bestandteilen. Dann wird
fiir die beiden Endpunkte der Mischungsreihe, die beiden reinen Stoffe
A und B, die chemische Energie je einen bestimmten Wert haben, der
Yom Druck und der Temperatur abhangt, bei gegebenen Werten der-
selben aber nur noch durch die chemische Natur der beiden Stoflfe
1) Zeitschr. f. phys. Chemie 11, 288. 1893. Ausfflhrlicher Yerli. Egl. Ak. ▼.
Wetensch. Amsterdam 1892, Nr. 5.
') In der obeoerw&hnten Arbeit Yon Rijn Yan Alkemade ist eine andare
RechDungBweise benutzt. Ich babe es for zweckm&ssig gehalten, mit MolaK-
brQchen za rechnen, da anderenfalls den YorhandeDon Bestandteilen Yerschiedene
Rollen zugeteilt werden, die nar scheinbar sind und die Symmetrie der for^
bandenen Beziebongen Yerdecken.
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnung.
881
bedingt wird. Setzen wir zu A eine sehr kleine Menge von B, so gilt
fur die Anderang der chemiscben Energie des Gebildes, wie Gibbs ge-
zeigt hat, die BeziehuDg dg/dx = KlnRx, wo K und R in Bezug auf
X konstant sind, wahrend sie Funktionen von Druck und Temperatur
8ind. Fiir x = 0 wird daher die Anderung der chemiscben Energie
darch die Beimiscbang — oo, d. b. die chemische Energie eines 6e-
miscbes aus Tiel A und wenig B ist bedeutend kleiner, als die von
reinem A und B.
Ganz das Gleiche gilt von B, wenu man eine geringe Menge yon
A zumiscbt.
Stellt man daher die chemische Energie einer ununterbrochenen
Reihe von fliissigen Gemischen grapbisch dar, indem man als Abscissen
den Molenbruchy als Ordinaton die zugehorigen Werte der chemiscben
Energie benutzt, so erhalt man eine Linie, die beiderseits von den
Werten, die den reinen Stoffen zukommen,
sich abwarts senkt, indem sie die beiden
Ordinaten beriihrt. Sie muss daher zwi-
schen diesen Enden mindestens einen
tiefsten Punkt oder ein Minimum haben;
doch sind auch mehrere Minima moglich.
Fig. 179 zeigt den einfachsten Fall, die
g-Linie fiir ein bei alien Mengenverhalt- ^
nissen homogen bleibendes fliissiges Ge-
misch aus zwei Bestandteilen.
Sind mehrere Phasen anwesend, deren
Zusammensetzung durch die Molenbriiche
x' und x'^ gekennzeichnet ist, so wird
folgendes gelten. Die chemische Energie des gesamten Gebildes ist
gleich der Summe der chemiscben Energien seiner Phasen. Man be-
zieht am besten wieder alles auf ein Gesamtmol. Je nach dem Mengen-
verhaltnis zwischen diesen beiden Phasen wird dann diese Summe irgend-
wo zwischen den beiden Werten liegen, die einem Mol jeder einzelnen
Phase zukommen.
Ist ^ der Wert der chemiscben Energie fiir ein Mol der ersten
Phase und £" der fiir ein Mol der zwei ten, so wird also der Wert £
fiir die gesamte chemische Energie von einem Mol eines Gebildes aus
zwei Phasen zwischen diesen beiden Werten liegen. Wegen der addi-
tiven Beschaffenheit der Energie muss, wenn a der Brucbteil der ersten
Phase, und somit 1 — a der Brucbteil der zweiten Phase ist, die Be-
ziehung bestehen g = ag' + (1 — a)g". Ebenso bestebt aber auch
882
II. Ghemische Dynamik.
zwischen dem Molenbrach x' der ersten, dem Molenbruch x'' der zweiten
Phase und dem Molenbruch x, der die GesamtzusammeDsetzung des aus
beiden Phasen bestehenden Gebildes darstellt, die lineare Beziehung
x = ax' + (l — a)x". Hieraua ergiebt sich fiir die graphische Dar-
stellung, dass die chemische Energie eines aas zwei Phasen bestehenden
Gebildes durch einen Punkt dargestellt wird, welcher auf der Verbin-
dangslinie der beiden Punkte liegt, welche die chemische Energie von
je einem Mol der einzelnen Phasen darstellen, und zwar ist diese Linie
durch diesen Punkt im Verhaltnis a/(l — a) geteilt.
Fig. 180 macht diese Beziehung anschaulich.
Es sei nun angenommen, dass zu der fliissigen Phase eine feate
komme, die aus dem reinen Stoffe A bestehen soil. Dessen chemische
Energie liegt auf der Ordinatenaxe (x = 0), und zwar, wenn wir die
Temperatur unter dem Schmelzpunkte des Stoffes A annehmen, unter-
halb des Punktes fur den fliissigen Stoff. Denn der fltissige Stoff kann
Fig. 18L
bei dieser Temperatur nur im iiberkalteten Zustande bestehen und geht
freiwillig in die feste Form iiber; seine chemische Energie ist also not-
wendig kleiner als die der fliissigen Form.
In Fig. 181 stellt a die chemische Energie der festen Form diur»
A die der fliissigen und die Linie ARB die g-Werte der fliissigen Lo-
sungen aus beiden Bestandteilen. Sollen beide Phasen anwesend sein,
so wird man die chemische Energie des Gesamtgebildes finden, indem
man den Punkt a mit einem Punkte der Linie ARB verbindet und die
Verbindungslinie im Verhaltnis der anwesenden Mengen beider Phasen
teilt. Sei L ein solcher Punkt; dann wird g an einer Stelle von aL
liegen, z. B. in e.
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnimg. 883
Nun ist 68 aber moglich, den Punkt L etwas niedriger zu wahlen.
Dadurch gelangt auch der Punkt e tiefer nach unten, uud stellt daher
ein bestandigeres Gebilde dar, als jenes erste. Der tiefste Punkt, den
man fur L und somit fur e finden kann, wird erhalten, wenn man von
a au8 eine Tangente an die Linie AERB zieht, welche sie in R be-
rtihrt. Jeder Punkt der Geraden aR hat dann die Eigenschaft, dass
68 kein Gebilde von gleicber Zusammensetzung x giebt, dessen chemiscbe
Energie kleiner ist und das daber bestandiger ist Daraus folgt, dass
die zu R gehorige Abscisse die Zusammensetzung der Losung, welche
mit dem festen Stoffe A im Gleichgewicht ist, d. h. die der gesattig-
ten Losung darstellt^).
Die Eurve ARB stellt in dem Teile AR Losungen dar, die in
Bezug auf festes A iibersattigt sind. Denn zu jedem Punkte der homo-
genen Linie AR giebt es einen niedriger gelegenen Punkt der hetero-
genen Linie aR; alle heterogenen Zustande sind daher bestandiger, als
die entsprechenden homogenen. Verbindet man umgekehrt den Punkt
a mit einem zwischen R und B gelegenen Teil der Eurve, so kommt
die Gerade der heterogenen Zustande oberhalb der Eurve zu liegen
und diese erweisen sich daher als unbestandiger als die homogenen.
Dies ist daher das Gebiet der in Bezug auf A ungesattigten Losungen,
wo die heterogenen Zustande freiwillig in die homogenen iibergehen,
d. h. der feste Stoff sich auflost
Lasst man die Temperatur steigen, so riicken die Punkte A und
a (ebenso wie B) nach oben; dabei steigt aber a schliesslich schneller
als A, denn beim Schmelzpunkt haben festes und fliissiges A beide
gleiche chemiscbe Energie, da sie nebeneinander bestehen und sich un-
verandert in alien Gleichgewichten ersetzen konnen. Daher wird im
allgemeinen auch der Punkt R naher an a heranriicken, d. h. die Lo-
sung wird reicher an dem StojQFe A, wie das ja allgemein der Fall ist.
Doch ist es auch moglich, dass entfernt vom Schmelzpunkte bei steigen-
der Temperatur die Eurve sich so andert, dass voriibergehend sich der
Punkt R von a entfernt. In der Nahe des Schmelzpunktes muss aber
stets mit steigender Temperatur die Sattigungskonzentration zunehmen.
Gleiche Betrachtungen sind fiir den Stoff B anzustellen. Dieser
wird seinerseits unter Zutritt von A eine Losung bilden konnen, und
wir haben zu fragen, wie sich die Verhaltnisse darstellen, wenn beides
beriicksichtigt wird.
^) Eine Yerl&ngeraDg der Geraden aber R hinaas hat keinen Sinn, da man
entsprechende Gebilde mit mehr B nicbt aus den Phasen a und R zusammen-
setxen kann.
884
II. Chemische Dynamik.
Im allgemeinsten Falle, Fig. 182, haben wir von den beiden
Punkten a und b, welche die chemische Energie der festen Bestandteile
darstellen, Tangenten an die ^-Kurve zu legen und erhalten fur die be-
standigen Gebilde die Linie aRSb, welche folgendes ergiebt. Setzt
man etwas B zu A, so bildet sich die Losung R, neben der festes A
vorhanden ist. Die Menge des letzteren wird bei weiterem Zusatz von
B immer kleiner, bis scbliesslich alles in die Fliissigkeit R iibergegangen
ist. Wird B noch weiter vermehrt, so andert sich die Zusammen-
setzung der Fliissigkeit bis zu dem Punkte S. Dort beginnt sich (wenn
Oberschreitungen vermieden werden) festes B auszuscheiden, und wir
A
B
\
\
1
\
\
\
\
\
1
t
J
•
a"""
b
Fig. 182. Fig. 183
haben wieder ein heterogenes Gebilde aus gesattigter Losung und
festem B, bis scbliesslich nur festes B yorhanden ist
Von diesem allgemeinen Falle konnen mehrere Abweichungen ein-
treten. £s kann die g-Linie so hoch Uber den Punkten a und b liegeoy
dass zwischen ihnen eine unmittelbare Verbindung durch eine Gerade
moglich wird. Dann giebt es keine (bestandige) fiussige Losung, sondem
die beiden festen Stoffe bestehen in beliebigen Verhaltnissen neben
einander. Fig. 183.
Beide Falle sind durch einen stetigen Obergang miteinander Ter-
bunden. Damit der Fall Fig. 183 aus dem vorigen entsteht, miissen
durch Anderung der Temperatur die beiden Beriihrungspunkte R und
S einander immer naher gebracht werden, bis sie zusammenfalleo.
Dann tritt inzwischen noch ein besonderer Fall Fig. 184 ein, aus der
sich folgendes ablesen lasst. Es konnen bei dieser Temperatur die
beiden festen Stoffe A und B nebeneinander und neben einer gleich-
zeitig fiir sie beide gesattigten Losung RS bestehen. Dies ist der
S. 842 beschriebene eutektische Punkt.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnang.
885
189. Feste Verbinduiigeii. Kann sich zwiscben A und B eine
feste VerbinduDg bilden, die sich freiwillig ausscheidet, so muss
deren chemische Energie kleiner sein, als die der entsprechenden homo-
genen Losung. Der zugeborige Punkt muss also unter der Kurve
liegen. Hierdurch entsteht die Moglichkeit^ dass man zwei TaDgenten
an die Kiirve ziehen kann. £s giebt also zwei Terschiedene Losungen,
welche mit der festen Verbindung im Gleichgewicht sein konnen,
Fig. 185. Und zwar hat eine dieser Losungen ein grosseres, die andere
ein kleineres x, als die feste Verbiqdung; die Zusammensetzung der beiden
Losungen ist also derart, dass die der festen Verbindung dazwischen liegt.
Fig. 184. Fig. 185.
Dies ist der zuerst von Pfaundler, spater unabhangig von B. Rooze-
boom beobachtete Fall (S. 817). Derselbe erscheint hier nicht als eine
Ausnahmey wie er sich doch erfahrungsmassig ergeben hatte, sondern als
die allgemeine Regel. Durch welchen Umstand das thatsachliche Auftreten
solcher Falle verhaltnismassig selten ist, wird alsbald erortert werden.
Bei Erhohung der Temperatur wird sich der Punkt V im allge-
meinen der Kurve nahern, und es wird eine Temperatur geben, bei
welcher er in die Kurve hineinf allt. Dann hat die feste Verbindung
die gleiche chemische Energie wie die Fliissigkeit, und beide konnen
nebeneinander bestehen. Dies ist der Schmelzpunkt der Verbindung;
es ist schon friiher dargelegt worden, dass sich ein -solcher Schmelz-
punkt wie der eines einheitlichen Sto£Fes verhalt, unabhangig davon,
ob in der fliissigen Phase die Verbindung unzersetzt vorhanden ist,
Oder diese ein Gemenge der Verbindung mit ihren Zersetzungsprodukten
darstellt. Voraussetzung ist nur, dass beim Erstarren der Zusammen-
tritt der Verbindung mit geniigender Schnelligkeit erfolgt.
Treten wir nun der Frage naher, warum derartige Doppeltangenten
886
11. Ghemische Dynamik.
▼erhaltnismassig selt^n sind, so miissen wir beachten, dass ausser der
YerbinduDg meist bei der aDgenommenen Temperatar einer oder der
andere der Bestandteile in fester Form bestehen kann.
Wir nehmen zunachst an, dass nur der feste Stoff A nnd eine
feste Verbindung V yon A und B in Frage kommen. Der Fall ist
nicht yerschieden yon dem, dass zwei Verbindungen yon A and B yor-
liegen, da man immer die eine dieser Verbindungen als y,Bestandteil"
betrachten darf (S. 478).
Der einfachste Fall ist dorch Fig. 186 gegeben, wo der zum Stoffe
A gehorige Pankt a so tief liegt, dass die Tangente aR nnterhalb des
Punktes V, der die chemische Energie der festen Verbindung darstellt,
yerlauft. Dann ist an den Betrachtungen yon S. 882 nichts zu andern,
Fig. 186.
Fig. 187.
da die Verbindung stets unbestandig ist und daher nur hochstens im
metastabilen, nicht aber im stabilen Gleichgewicht erscheinen kann.
Riickt nun a schneller nach oben, bezw. langsamer nach unten, als
V, so tritt der Fall Fig. 180 ein, wo der Punkt V unterhalb der Tan-
gente liegt. Dann werden die bestandigen Zustande durch aVR" dar-
gestellt, und aus der Linie lasst sich folgendes entnehmen.
Setzt man zu festem A den Stoff B, so wird sich die Verbindung
V in entsprechender Menge bilden, und es entsteht ein mechanisches
Gemenge yon A und V, das durch die Gerade aV dargesteUt wird.
Uberschreitet der Zusatz yon B die durch V bestimmte Menge, so geht
der Zustand auf die Gerade VR" iiber. Dies ist eine Linie» die gani
der Linie aR in Fig. 187 entspricht, d. h. sie stellt das Gleichgewicht
zwischen festem V und seiner gesattigten Losung in iiberschiissigeiD B
dar. Es entsteht also neben dem festen Stoffe V seine gesattigte I^
sung, und diese yermehrt sich durch Vermehrung yon B so lange» bis
in R der feste Stoff ganz yerschwunden ist; dariiber hinaus entstehen
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnung.
887
ungesattigte Losungen. (Aaf das mogliche Auftreten yon festem B ist
hierbei der Einfachheit wegen keine Riicksicht genommen worden, denn
68 wiirden dadorch nur die bei A geschilderten Verhaltnisse wieder-
holt werden.)
AIs Beispiel fiir diesen Fall kann die Bildung eines Hydrates aus
Salz and Wasser dienen. Die ersten Wassermengen werden verbraucht,
am das feste Hydrat zu bilden and erst nachdem dies vollstandig ge-
schehen ist, bewirkt weiteres Wasser die Entstehung einer gesattigten
Losang, aos der bei weiterem Zusatz von Wasser aach das feste Hydrat
yerschwindet, wobei gleicbzeitig die ungesattigten Losungen beginnen.
Zwischen den beiden darch Fig. 186 and Fig. 187 gekennzeich-
neten Zustanden giebt es offenbar eine Zwischenform, bei welcher der
Fig. 188.
Fig. 189.
Punkt V gerade in die Tangente aR fallt, Fig. 188. Dieser Ubergang
aus der einen Form in die andere kann im allgemeinen darch Andening
der Temperatur bewirkt werden, and dieser besondere Fall wird bei einer
ganz bestimmten Temperatar eintreten. Zwar ist die chemische Energie
noch yom Drack abhangig; dieser Einfluss ist aber bei festen and fliissigen
Stoffen so gering, dass er experimentell kaam je in Frage kommt
Aus der Fig. 188 kann man nun ablesen, dass bei der bestimmten
Temperatur die beiden festen Stoffe A und V mit der gesattigten Lo-
sung im Gleichgewicht sein konnen. Auf der einen Seite yon dieser
Temperatur muss der Stoff A verschwinden, auf der auderen Seite die
Verbindung V. Es ist dies die Obergangstemperatur eines „kondensierten"
Gebildes und das Gleichgewicht zwischen wasserfreiem Natriumsulfat,
Glaubersalz und gesattigter Losung, das bei 32-38® eintritt (S. 855) ist
ein wohlbekanntes Beispiel hierfur.
Verschieben sich nun die Punkte a und V gegen die Kurve weiter in
gleichem Sinne, so tritt endlich der Fall Fig. 189 ein, der zu der Aus-
VSS
II. Ghemische Dynamik.
biUIung der beiden TangenteD yon V aus fiihrt (S. 884). Durch das Vor-
handensein der dem Stoffe A angehorigen Tangente aR wird die Erschei-
nung verwickelter, und die Fig. 189 lasst folgendes Yerhalten ablesen.
Setzt man zu dem festen Stoff A etwas B, so entsteht ziiDachst
eine gesattigte Losung neben festem A. Dies geht weiter, bis der
Molenbruch den Wert B erreicht hat. Dort yerschwindet das feste A
und es bleibt nur eine Fltissigkeit iibrig, aus der sich bei weiterer Ver-
mehrung yon A endlich beim Gehalt R' die feste Verbindung V ans-
scheidet. Nun liegen die bestandigen Gebilde auf der beterogenen
Linie R'V und bei weiterer Zunahme des Stoffes B yermehrt sich die
feste Verbindung V, wahrend die Fliissigkeit abnimmt; in V ist endlich
alles in die feste Verbindung iibergegangen. Setzt man noch mehr B
hinzu, so tritt wieder Fliissigkeit auf, die aber eine andere Zusammen-
setzung hat; es ist die zweite in Bezug auf V gesattigte Losung. Die
Fliissigkeit yermehrt sich auf Kosteu yon V; schliesslich ist die feste
Verbindung in R" ganz yerschwunden und man gelangt in das Gebiet
der ungesattigten Losungen.
Alle diese Erscheinungen treten ein, wenn man zu krystallisierter
Schwefelsaure H3SO4 unterhalb ihres Schmelzpunktes wachsende Mengen
Wasser setzt, wie sich dies aus der S. 817
gegebenen Figur unmittelbar ableiten lasst
Die beiden eben geschilderten Ver-
haltnisse konnen gleichfalls an einem und
demselben Paare yon Bestandteilen yor-
kommen, wenn man die Temperatur andert
Dabei riicken die beiden Punkte R und
R' sich immer naher und fallen bei einer
bestimmten Temperatur in eineu zusammen.
Gleichzeitig fallen die beiden Tangenten
aR und V'R' zusammen, Fig. 190. Die
Bedeutung hieryon ist wieder, dass gleich-
zeitig zwei feste Stoffe, der Stoff A und die Verbindung V mit der
Losung im Gleichgewicht sind.
Der Fall ist dem in Fig. 188 ahnlich, unterscheidet sich aber yon
ihm dadurch, dass bier die Zusammensetzung der Losung zwisclien
denen der beiden festen Phasen liegt, wahrend sie im friiheren Falle
ausserhalb derselben lag. Beispiele hierfiir ffnden sich bei den Hydra-
ten des Eisenchlorids (S. 821); ebenso ist es beim Chlorcalcium, wo das
Hexahydrat neben Tetrahydrat und einer Losung, deren Zusammen-
setzung zwischen beiden liegt, bestefaen kann. Das Vorkommen dieses
Fig. 190.
Chemische Qleichgewichte zweiter Ordnung.
889
Falles ist mit Notwendigkeit an das Vorkommen eines ^Scbmelzpunktes'*
der Verbindung geknupft.
Mit diesen Betrachtungen ist das wesentlichste iiber die Verhalt-
nisse bei mebreren festen Phasen gesagt, denn wenn noch eifie dritte
Oder vierte feste Verbindung auftritt, so bilden sie mit ihren Nachbam
irgend eine der eben geschilderten Kombinationen, ohne dass neue Be-
ziehangen auftreten.
190. Zwei fluBsige Phasen. Wir verlassen jetzt die Annahme»
dass die Linie der fliissigen Losungen nur einen Minimumpunkt hat
und untersuchen die Erscbeinungen, die durch das Auftreten mehrerer
eintreten. Auch bier wird es geniigen, den Fall zweier Minima zu be-
trachten, da sicb das wesentliche bereits an ihm ergiebt.
Hat die Kurve eine Gestalt wie Fi-
gur 19 ly so kann man eine Doppeltangente
an sie legen, welcbe die Kurve in L' und
h" beriihrt. Die Gerade VV stellt dann
wieder beterogene Zustande dar^ in welchen
die.beiden Fiiissigkeiten L' und L" neben-
einander in beliebigem Verbaltnis besteben.
Wie sicb aus der Zeicbnung unmittelbar er-
giebt, sind diese beterogenen Zustande be-
standiger, als die homogenen, die der Kurve
angehoren, und auch bestandiger, als alle
moglichen anderen beterogenen Zustande ^*^' ^^^'
aus anderen Fiiissigkeiten zwischen V und L", die an irgend welchen
Stellen der Kurve liegen. Sie stellen daher die bestandigste Form des .
Gebildes dar.
Die zugehorige experimentelle Erscheinung ist die Trennung zweier
Fiiissigkeiten in zwei Schichten oder ihre begrenzte gegenseitige Los-
lichkeit. Die Zusammensetzuug der beiden Schichten wird durch die
Abscissen von L und V gegeben. Liegt die Gesamtzusammensetzung
zwischen L' und V\ so entstehen beide Schichten. Liegt sie ausserhalb,
so bildet sicb eine einzige homogene Losung.
Durch Anderung der Temperatur wird sicb die Form der Kurve
in solchem Sinne andern lassen, dass die Einsattelung zwischen beiden
tiefsten Punkten flacher wird. Meist geschieht dies bei Erhohung, in
einzelnen Fallen aber auch bei Erniedrigung der Temperatur. Dann
werden die beiden Punkte L' und V einander immer naher riicken
und schliesslich mit einander zusammenfallen. Das heisst, die beiden
nicht mischbaren Losungen werden immer Ubereinstimmender in ihrer
890
II. Ghemische Dynamik.
Zusammensetzung und schliesslich identisch. Dies ist der kritische Lo-
Bungspunkt (S. 668).
Der Fally dass die Euire mehrere Minima hat, lasst sich ganz
ahnlich -behandeln. Er ist bisher nicht beobachtet worden, and es ist
nicht wahrscheinlich, dass er vorkommt.
Wir nehmen nan an, dass bei den angewendeten Temperataren der
Stoff A noch im festen Zastande anwesend sein kann. Sei zanacbst der
g-Wert von festem A sehr klein, Fig. 192, so wird eine von a an die
Earve gelegte Tangente diese an ihrem ausseren Teile beriihren. Dann
Fig. 192. Yig. 193.
giebt es nar das Gebiet der gesattigten Losangen neben festem A, in
der Geraden aR and dariiber hinaus angesattigte Losangen. Die Eot^
stebang zweier Fliissigkeiten kann indessen stattfinden, wenn diese nodi
im metastabilen Oebiete liegen. Dies ist z. B. der yon Alexejew bei
Salicylsaare anterhalb 100® beobacbtete Fall.
Riickt der Pankt a mehr nach oben, so tritt der Fall Fig. 193 ein,
wo der Berobrnngspankt R am inneren Teile der Earve liegt Setzt
man also etwas B za viel A, so entsteht zanacbst eine gesattigte Lo-
sang neben festem A and bei R ist darch weiteren Zasatz yon B alles
fliissig geworden. Weiteres B lasst das Oebilde fliissig bleiben, indem
sich seine Zasammensetznng andert, bis der Pankt L' erreicht ist Wird
noch mehr B zagefiigt, so tritt die zweite Fliissigkeit L" aaf, die sich
bei weiterem B yermehrt, bis endlich iiber h" hinaas nar irieder homo-
gene angesattigte Losangen yorhanden sind.
Dies tritt beispielsweise an Benzoesaare bei 100® ein, wo die
Saare darch geringe Wassermengen anfangs „schmilzt^, d. h. in eine
haaptsachlich aas fliissiger Benzoesaare mit wenig Wasser bestehende
Losang abergeht, worauf sich weiter zwei Fliissigkeiten bilden, die
schliesslich in eine, die wasserige Losang der Benzoesaare abergehen.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung.
891
Zwischen diesen beiden Fallen liegt wieder eine eiozelne Tern-
peratur, bei welcher die Tangente aR and die Doppeltangente LX'' in
eine Gerade zusammenfallen, Fig. 194, und bei welcher daher festes A
nebst den beiden Losungen bestehen kann. Bei Benzoesauro tritt dies
bei 98^ ein and macht sich dadurch kenntlich, dass der feste Stoff
anter Wasser schmilzt. Dies geschieht erheblich anter dem Schmelz*
pankte des reinen Stoffes (125^), weil die Flussigkeit gleichzeitig Wasser
aafnimmt, welches die Schmelztemperatur erniedrigt
Wir konnen ans schliesslich noch die Frage stellen, welche Er-
Fig. 194. Fig. 195.
scheinungen aaftreten, wenn aasser einem zweifachen Minimam der
Flassigkeitskurve feste Verbindungen zwischen den Bestandteilen A and
B sich bilden konnen.
Liegt der zu der festen Verbindung gehorige Punkt V seitlich yon
den beiden Minimalpunkten, so sind die Verhaltnisse nioht wesentlich
von denen verschieden, die wir eben antersacht haben, and bediirfen
daher keiner weiteren Darlegung. Einiges
neae tritt dagegen auf, wenn der Pankt V
zwischen die Minima fallt.
Liegt V zunachst, wie in Fig. 195 an-
gegeben, so lassen sich von dort aus zwei
Tangenten an die Eurve legen. Soweit nicht
Vorgange im nichtstabilen Gebiete oberhalb
der Geraden VR' and VR'' in Frage kommen,
ist dieser Fall praktisch iibereinstimmend
mit dem durch Fig. 185 gekennzeichneten.
Riickt dagegen V hoher hinaaf, so
tritt ein Pankt ein, wo die beiden Tan- ^^^- ^^•
geoten in eine zusammenfallen, Fig. 196. Hier ist also das Neben-
einanderbestehen der festen Verbindnng V und zweier yerschiedener.
892 11- Chemische Dynamik.
nicht miteinanrler mischbarer LosoDgen moglich. Von dem Falle
Fig. 194 ist dieser dadurch verschieden, dass bier die Zusammensetzung
des festen Stoffes zwiscben der der beiden Flussigkeiten liegt, wabrend
sie dort ausserbalb lag.
Ruckt V noch weiter nach oben, so gelaagt es in das metastabile
Gebiet, da die Doppeltangente dor zwei nicbt mischbaren Losungen
niedriger licgt und daber bestandigere Zustande kennzeicbnet Dort
wiirde es zwei Losungen geben, die mit der Verbindung V im Gleich-
gewicbt sind und die beide konzentrierter sind, als die entsprechenden
Losungen, die das Fliissigkeitsgleicbgewicbt bilden. Da solcbe Ober-
scbreitungen sehr schwierig sind, so ist es nicht wahrscbeinlich, dass
ein derartiger Fall zur Beobachtung gelangt
Experlmentelle Untersnehung znsammengesetzter Fillle.
191. Zosammengesetzte Gleiohgewiohte. Die ZabI der Pbasen,
die neben einander bestchen koiineny ist bei Gleicbgewichten zweiter
Ordnung auf vier beschrankt. Indessen beschrankt sich die Zahl der
moglichen Pbasen, die aus denselben zwei Bestandteilen entstehen
konnen, durcbaus nicht auf vier; es konnen funf, sechs und mehr ver-
schiedene Phasen sich bilden, und es fragt sicb, in welcher Weise diese
Thatsache mit dem Phasengesetz in Cbereiustimmung gelangt.
Die Antwort ist, dass sich mehr ere vierfache Punkte aus-
bilden, und zwar hochstens so yiele, als Kombinationen Ton vier Phasen
sich aus den moglichen bilden lassen. Dies gestaltet sich folgender-
massen.
In einem vierfachen Punkte treffen vier univariante Linien za-
sammen, in denen je drei Phasen im Gleicbgewicbt sind. Entsteht
eine fUnfte Phase, so wird sie mit drei anderen wieder einen vierfachen
Punkt bilden konnen, und dieser wird auf der univarianten Linie liegen,
welcbe das Gleichgewicht der drei anderen Phasen darstellt, die mit
der neuen den yierfacben Punkt bildet. Die Zabl der moglichen Com-
binationen aus fiinf Elementen zur vierten Klasse ist fiinf; durch das
Auftreten einer fiinften Phase konnen also insgesamt fiinf vierfache
Punkte entstehen, wenn man nur die Kombinationsrechnung za Rate
zieht.
Indessen scheint es ausgeschlossen, dass jemals alle fiinf vierfacben
Punkte eine wirkliche Ezistenz haben konnten. Man kann fiinf Paokte
in der Ebene zwar so durch Linien verbinden, dass von jedem Punkte
deren vier ausgehen, doch ist es nicht moglich, die Punkte so ansa*
ordnen, dass diese Linien neben einander verlaufen, ohne sich anderswo,
ChemiBcbe Gleichgewichte zweiter Ordnung.
893
als in einem yierfachen Punkte zu schneiden. Es ist violmehr mindestens
ein Durchschnittspunkt ausserdem vorhandeu, und es konnen auch drei
Oder fuof auftreten. Da aber von den Drack-Temperaturlinien der sta-
bilen Gebilde verlangt werden mass, dass sie sich nirgend schneiden,
so sind eben nicht alle fiinf vierfachen Punkte» die man aus fiinf Phasen
konstruieren kann, herstellbar.
Fig. 197 zeigt den Zasammenbang der fiinf denkbaren vierfaohen
Punkte aus funf Phasen nebst den zehn univarianten Verbindungslinien
in welcheu je drei Phasen mit einauder im Gleichgewicht sind. Die
vierfachen Punkte sind durch Kreise mit je vier eingeschriebenen Phasen
gekennzeichnet; ebenso sind den univarianten Linien die zugehorigen
Phasen beigeschrieben.
Wie man sieht, findet
bei dieser Anordnung
nur eine Kreuzung, die
der Linien 134 und 245
statt. Um sie zum Ver-
schwinden zu bringen,
muss man einen der
vierfachen Punkte im
Inner n, 1245 oder 1345
nebst den zugehorigen
vier Linien aufgeben,
und erhalt dann ein
Diagramm ohne Kreu-
zangen, welches eine
physische Moglichkeit
darstellt. Vier non-
variante Punkte und sechs univariante Linien erscheinen demnach als die
grosste Anzahl der Beziehungen, welche zwischen fiinf Phasen eines Gleich-
gewichtes zweiter Ordnung moglich sind. Thatsachlich ist ein voll-
standiger derartiger Fall noch nicht hergestellt und beobachtet worden.
Sind sechs Phasen gegeben, so ist es iiberhaupt nicht mehr mog-
lich ein entsprechendes Diagramm zu zeichnen, in welchem jeder vier-
fache Punkt mit jedem anderen durch eine univariante Linie in Ver-
bindung steht, weil dazu fiinf Linien von jedem Punkte aus erforderlich
waren, wahrend nur vier zulassig sind. Von den nach der Combinations-
recbnung sich ergebenden 15 vierfachen Punkten kann daher nur ein
Bruchteil physisch moglich sein. Auf die Untorsuchung der formellen
Moglichkeiten mag verzichtet werden.
Fig. 197.
Ostwald, Cbexnle. 11,2. 2.Attfl.
57
894 n. Chemische Dynamik.
Zur Veranschaulichung der tbatsachlich beobacfateten Mannigfaltig-
keiten soUen nacbstebend die wichtigsten (grosstenteils von B. Roozeboom
und seinea Scbiilern herruhrendeD) Arbeiten geschildert werden, welcbe
im Gebiete der Gleicbgewichte zweiter Ordnung mit Riicksicbt auf die
Pbasenlehre ausgefiihrt worden sind.
192. Die Hydrate des Schwefeldioxyds. Bakhuis Roozeboom
begann seine UntersuchuDgen mit dem Studium des Hydrats des Schwefel-
dioxyds^). Mit Hilfe eines Apparates, der wesentlicb aus einem mit
Kolbchen verbundenen Manometer mit einem beweglichen Schenkel und
einem dazwischen befindlicben Dreiweghahn bestand, iiberzeugte er sich
zanachst, dass ein Gemenge aus dem krystallinischen Hydrat und der ge-
sattigten Losung von Schwefeldioxyd einen bestimmten Dissociationsdruck
besitzt, der von den absoluten und relativen Mengen der beiden An-
teile unabhangig ist. So wurde bei 0*15® bei einer Gesamtzusammen-
setzung der Fliissigkeit SO^ -{- 14H*0 ein Druck von 30-2 cm beob-
acbtet; 10 Minuten spater 30-8 cm, und nacb dem Auspumpen bis
zur Zusammensetzung SO* -h 17H*0 30*7 cm. Bei anderen Tempe-
raturen wurden folgende Drucke beobachtet:
Temp.
Druck
Temp.
Dmck
2-60
21-1
9-U5
102-2
015
308
9-55
108-8
016
310
960
109-4
2-80
432
9-85
1147
4-45
51-9
9-90
115-6
4-60
530
1000
1177
4.65
53-4
10-20
1223
4-90
552
10-70
135-6
6-00
66-6
1080
136-8
6-75
743
10-95
141-0
7-05
754
1130
150-3
7-35
80-1
1155
159-6
7-60
815
1175
1666
8-40
926
1205
175-7
8-95
1008
12-10
177-0
Die Zusammensetzung der wasserigen Losung, welche mit dem
Hydrat im Gleichgewicht ist, geht von 0-024 SO « bis 0-087 SO' auf
ein Mol Wasser. Die Gasphase enthalt sicfaer etwas Wasser, doch ist
seine Menge nicht bestimmt worden.
Bei 12-1^ treten neue Gleicbgewichte ein, da dort fllissiges Schwefel*
dioxyd (etwas Wasser enthaltend) als neue Phase erscheint Urn den
') Rec. Pays-Bas a, 29. 1884; Zeitschr. f. phys. Gh. 2, 449. 188a
Temp.
Dnick
01 •
1131 cm
305
127^
605
141.9
905
158-2
11.0
170.1
11.9
176-2
121
130
.i_
Chemisclie Gleichgewichte zweiter Ordnung. 895
Punkt zu bestimmen, wurden Krjstalle des Hydrats im zugeschmolzenen
Rohre auf Temperaturen in der Nahe von 12*> gebracht und ihr Ver-
halten beobachtet; so wurde ermittelt, dass zwiscben 12.05® und 12*15®
nach halber „ScbmeIzung'' des Hydrats der Zustand anscbeinend un-
verandert blieb, indem die vorhandenen Krystalle weder wuchsen, noch
kleiner wurden.
1st das Hydrat einmal geschmolzen, so lasst sich das Gemenge
beider Fliissigkeiten bis 3® erkalten, ehe sich von neuem Krystalle
bilden. Aucb fur dieses Uberkaltete Gebilde hat Roozeboom die Drucke
bestimmt und sie mit denen des Systems aus Krystallen und fliissigem
Dioxyd gleich gefunden.
Flassiges SO* und Krystalle FlQssiges SO* und
LOsuDg
1275 cm
U1.8
1583
170-4
175.6
1778
1823
Theoretisch lasst sich ein solcbes Verhalten nicht erwarten; viel-
mehr muss angenommen werden, dass der Dampf des unbestaudigeren
Gebildes beim Obergang in den des bestandigeren Arbeit leisten kann.
Ob OS sich hier um zu geringe Unterschiede, oder um eine Tauschung
des Experimentators handelt, ist noch nicht entschieden.
Die Dampfdrucke des fliissigen Scbwefeldioxyds, das in Beriibrung
mit seiner gesattigten Losang steht, sind geringer, als die des reinen
uach Regnault^) und Sims*); dies riihrt, wie natiirlich, vom aufgelosten
Wasser her, welches wie jeder geloste Stoff den Dampfdruck erniedrigt
wahrend sein eigener Teildruck nicht ausreicht, um den Druckverlust
auszugleichen.
Bei 12*1® konnen also neben einander bestehen: festes Hydrat (h),
jQussiges Dioxyd mit etwas Wasser (f); gesattigte wasserige Losung(l);
gasformiges Dioxyd mit etwas Wassordampf(g); es ist also dort ein
vierfacher Punkt mit den Coordinaten t=12-l®, p=177'3 cm vor-
banden. Die vier Phasen konnen vier dreiphasige Gebilde mit einem
Freiheitsgrade bilden, namlich hfl; hfg; hlg und fig; jedem dieser
Gebilde kommt eine Druck-Temperaturourve zu. Von den vier Gurven
>) M^m. de I'lnst. 26, 583.
>) Liebigs Ann. 118, 344.
57*
896
IL Chemische Dynamik.
haben wir die zwei eben kennen gelernt; die anderen sind gleichfails
von Roozeboom ermittelt worden.
Zunacbst erhalt man, wenn man das Hydrat unter einem so hoben
Drucke erhalt, dass sich kein Gas bilden kann, die Kurve bfl aiu
festem Hydrat, fliissigem Dioxyd und wasseriger Losung; sie ist toq
Roozeboom bis 225 Atm. verfolgt worden.
Temp.
Druck
12-9 •
20 Atm.
136
40
14*2
60
14-8
80
163
100
15.8
125
162
150
16-5
175
16-8
200
171
226
F
Da in diesem Falle keine gasformige Phase zugegen ist, so verhalt
sich die Kurve wie eine Schmelzdruckkurve (S. *i^^^^ indem sie mit
erhohter Temperatur sehr
^^^ schnell ansteigt und somit
fast parallel der Druckaze
verlauft
Lasst man dagegen die
gasformige Phase bei Tern-
peraturen iiber 12-1 • ent-
stehen, so erhalt man das Ge-
bilde f 1 g aus den beiden flus-
sigen Phasen und der gas-
fbrmigen. Diesen Fall hat
Roozeboom oberhalb 121*
nicht untersucht; die zuge-
horige Kurve ist aber eine
Fortsetzung der Kurve des
gleichen Systems im meta-
stabilen Zustande (S. 895), desson Drucke von denen des Systems fgk
nicht messbar verschieden gefunden wurden, und erscheint deshalb anch
als eine Fortsetzung dieser Kurve.
Die Gesamtheit dieser Vcrhaltnisse ist schematisch in Fig. 198
dargestellt, wo die vier verschiedenen Kurven mit den Buchstaben der
zugehorigen Phasen bezeichnet sind.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 897
Zwischen den Kurven liegen die divarianten zweipfaasigen Gebilde,
welcbe gleiclifalls bezeichnet sind.
Die Regcl, nairh welcber die Pbaseopaare bestimmt werden, welcbe
in den verschiedenen Gebieten der p-t-Ebene besteben konnen, schliesst
sicb der entsprecbenden Kegel fur einen Bestandteil an. Man kom-
biniert jede p-t-Kurve mit jeder anderen, und schreibt in den von ibnen
eingeschlossenen Winkel, der kleiner als zwei Recbte ist, die gemein-
samen Pbasen ein. Da immer ebensoviele Kurven vorbanden sind, als
die Gesamtzahl der luos^Iichen Pbasen betragt, so deckt sicb die Zabl
der so gefundenen Raumo mit der der moglichen Pbasenkombinationen.
Im vorliegenden Falle konnen die vier vorbandenen Pbasen secbs di-
^ariante Zweiergruppfu geben, ilir die nacb der ebon gegebenen Regel
die secbs (teilweise iibereinandergreifenden) Raume zu ermitteln sind.
Nebmen wir Fig. 196 zur Hand, so baben wir zunacbst fur die
vier Paare benacbbarter Kurven die entsprecbenden Winkelraume f 1, gl,
gb und fh. Ferner aber bilden die Kurven gbl und fbl einen zwei
der friiberen Raume umfasseuden Winkel, in welcbem das Paar bl be-
steben kann, und ebenso kann in dem Winkel zwiscben fgb und fgl
(nacb oben) das Paar fg besteben. Dadurcb sind im liuken oberen
Quadranten drei divariante Paare, fb, bl und fg moglicb, in den beiden
benacbbarten Quadranten konnen je zwei Paare, gb oder bl und fg
Oder fl auftreten, wabrend im Quadranten unten recbts nur das Paar
g 1 Yorkommen kann.
Man siebt leicbt, dass je nacb dor Lage der vier p-t-Kurven sicb
diese Verbaltnisse andern konnen; docb reicbt die eben gegebene Regel
immer aus, die Existenzgebiete zu bestimmen.
Erbobt man beispielsweise bei einer Temperatur iiber 12*1^ den
Druck des Scbwefeldioxyds, das mit der Losung im Gleicbgewicbt
ist, iiber den durcb die Kurve fgl gegebenen Wert, so bangt es von
der Menge des Wassers ab, was gescbiebt Ist die Wassermenge gross,
so bildet sicb fliissige Saure auf Kosten des Gases; dieses verscbwindet,
und wir baben die beiden fliissigen Pbasen f 1, d. b. fliissige scbweflige
Saure, die etwas Wasser enthalt, und Wasser, das scbweflige Saure
entbalt. Ist dagegen die Wassermenge klein, so kann diese von der
fliissigen Saure aufgelost werden, und wir bekommen eine Fliissigkeit,
die weniger Wasser enthalt, als der Sattigung entspricbt. Diese bat
demgemass einen boheren Dampfdruck, als die mit Wasser gesattigte
Saure, und daber kann oberbalb der Kurve fgl, wenn aucb nur in
geringem Abstande, nocb fg, d. b. Gas neben (ungesattigter) fliissiger
Saure besteben.
898 U- Chemische Dynamik.
Lasst man die Eompression unter 12*1® erfolgen, so liegen gleich-
falls zwei Moglichkeiteo vor. 1st wenig Wasser vorhanden, so geht
dies YoUstandig in das Hydrat uber, die Losung wiri ganz verbraucht
und es besteht nur Hydrat neben Gas, welche bei weiterer Kompression
in Hydrat plus fliissige Saure iibergehen. 1st dagegen mehr Wasser
Yorhanden, als zor Hydratbildung erforderlich ist, so Yerscbwindet ober-
halb fgh die Gasphase gaoz, und wir erbalten Hydrat neben gesattigter
Losung, welcbe bei weiter gesteigertem Druck nur geringfiigige Ande-
rungen ihrer relatiYen Menge und der Konzentration der Losung er-
fahren.
Die geschilderten Zustande der Gebilde aus Schwefeldioxyd und
Wasser sind nicht die einzigen, die sich bilden konnen. Geht man zu
tieferen Temperaturen^), so tritt Eis als eine neue Phase auf, und es
bildet sich ein neuer Yierfacber Punkt, der bei so niederem Druck be-
legen ist, dass das fliissige Schwefeldioxyd nicht auftritt. Die Koordi-
naten dieses Punktes sind p = 2115 cm, t = — 2*6®; d. L bei — 2*6*
erstarrt die Losung der schwefligen Saure zum Kryobydrat, welches
einen Dampfdruck Yon 21*15 cm hat. Folgende dreiphasigen Gebilde
mit einer Freiheit, die p-t-Kunren geben, sind dort ausserdem Yor-
handen.
1. Eis, Hydrat und Gas. Die KurYe ist der DampfdruckkurYe eines
hydratischen Salzes ganz ahnlich, nur dass das Schwefeldioxyd die RoUe
des Krystallwassers spielt. Sie steigt demgemass langsam mit steigonder
Temperatur an, und Roozeboom giebt fiir sie folgende Daten:
Temp. Drack
— 2.6« 21.15 cm
— 3-0 2066
— 40 19-35
— 60 17.7
— 8-0 16.0
— 95 150
2. Eis, Losung, Gas. Dies ist die GefrierpunktskurYe der bei Yer-
schiedenen Drucken gesattigten Losungen. Da bei steigendem Druck
die Losung reicher an Gas wird, also niedrigere Gefriertemperatureo
aufweist, so lauft die KurYe Yon — 2*6^ uach hoheren Temperaturen
abwarts.
3. Eis, Hydrat, Losung. Die KurYe ist einer SchmelzdruckkurYe
ahnlich, indem bei steigendem Druck die (unter VolumYerminderung
erfolgende) Umwandlung Yon Eis plus Hydrat in die Losung stattfindet
1) Recueil 4, 66. 1885.
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnung.
899
Die Kurve steigt steil auf warts und muss sich nacfa links neigen, well
hoheren Drucken niedrigere Temperataren (wie beim Eis) entsprecben.
4. Die letzte Kurve ist die bereits bekannte Hydrat, Losung, Gas.
Sie lasst sich wegen leichter Oberkaltung in Bezng auf das Eis ziem-
lich weit Uber den vierfacben Punkt nach niederen Temperaturen und
Drucken verfolgen, und lauft unterbalb der entsprechenden Kurve
Hydrat, Eis, Gas. Die Wei-te sind:
Temp. Eis, Hydrat, Gas
— 2-6» 2115 cm
— 30 20-65
— 4.0 19-35
— 6-0 17.70
Unter — 6^ trat Eis freiwillig auf.
Wir erbalten demgemass, wenn wir Eis mit e bezeichnen, das in
Fig. 199 dargestellte Bild.
In den Wiukolraumen zwischen den Eurven finden sich nach der
LOsung, Hydrat, Gas
2115 cm
20.10
17-65
13.70
T
Fig. 199.
Fig. 200.
oben gegebenen Regel die Pbasenpaare verzeichnet, welche dort be-
stehen konnen. Da die Auseinandersetzungen Uber die moglichen Ober-
gange durchaus denen des vorigen Falles ahnlich sein wiirden, kann
auf sie verzichtet werden.
Die Gesamtheit der von Roozeboom an den Gebilden aus Schwefel-
dioxyd und Wasser beobacbteten Erscheinungen findet sich in Fig. 200
dargestellt Doch ist das Bild offenbar noch nicht voUstandig, da ein
neucr vierfacher Punkt sich links oben ausbilden muss, wo die Phasen
Eis und flUssige Saure zusammentreten konnen, und die Kurven VII
and II sich schneiden.
900 II- Chemische Dynamik.
193. Ein Bcheinbarer WiderspruolL Die Thatsache, dass der
Dampfdruck der unbestandigen Form Losung, Hydrat, Gas kleiner ist,
als der bestandigen Eis, Hydrat, Gas, erscbeint auffallend, da sie im
Widerspnich zu dem allgemeinen Gesetze fiir Gleichgewichte erster
OrdnuDg steht, welches fur die bestandige Form den kleineren Dampf-
drack verlangt (S. 437). Die Losung des Widerspruchs ist in folgen-
dem zu suchen.
Das erwahnte Gesetz ist ein Ausdruck dafur, dass bei der Um-
wandlung der weniger bestandigen Form in die bestandigere Energie
in irgend welcher Gestalt (z. B. als Volumenergie) der ersten entzogen
werden kann. Der Werth dieser Energie ist fiir ein Mol (des Dampfes)
gleich RTln— , wo p^ sich auf die bestandigere Form bezieht, und
Pi
damit der Ausdruck positiv ist, muss notwendig Pi>Pa sein. Im vor-
liegenden Falle haben wir es aber mit zwei Gasen, Scbwefeldioxyd and
Wasserdampf zu thun, die beide ibren Druck andern. Bezieht sich
p^ und Pi auf Scbwefeldioxyd, p^ und p^ auf Wasser, so ist zu ver-
langen, dass der Ausdruck RTln— +xRTln — positiv ist, wo x
Pa P4
die Wassermenge auf ein Mol Scbwefeldioxyd ist, oder dass — ~- grosser
als Eins ist. Die beobachteten Drucke sind die beiden Summen
Pi "f- Ps u^^ Ps ~4- Pif ^^^ 68 ist ganz wohl moglicb, dass Pi + Ps <
P« + P4 ausfallt, wahrend gleichzeitig PiP8^>PtP4^ ist Im vor-
liegcnden Falle ist also zu erwarten, dass, obwohl der Druck des
Schwefeldioxyds (welcher den grossten Teil des Gesamtdruckes aus-
macht) in der bestandigeren Form (Eis, Hydrat, Dampf) grosser ist,
als in der unbestandigeren (Losung, Hydrat, Gas), der des Wasserdampfs
kleiner ist, und zwar in einem grosseren Verhaltnis, als der des Di-
oxyds grosser ist.
In der That ist eine solche Beziehung sebr wohl moglicb, weun
auch eine Messung nicht vorliegt. Sie verlangt, dass die verhaltnis-
massige Abnahme des Dampfdruckes des Eises (denn der Wasserdampf-
druck eines Gebildes, in welchem Eis vorbanden ist, muss gleich dem
des Eises bei der betreffenden Temperatur sein) geniigend mehr betragt,
als die Abnahme des Wasserdampfdruckes in der jeweils mit dem Hydrat
im Gleicbgewicht stehenden Losung mit fallender Temperatur. Da
nun die mit dem festem Hydrat im Gleicbgewicht stehende Losung mit
fallender Temperatur armer an gelostem Scbwefeldioxyd wird, so wird
die Dampfdruckverminderung des Wassers durch den aufgelosten Stoff
Chemische Gleichgewicbte zweiter Ordnung. 901
mit fallender Temperatur geringer, d, h. die Dampfdruckkurve des
Wassers verlauft hier flacher, als die des reinen Wassers, und also
a fortiori flacher, als die des Eises. Dies entspricht aber gerade dem,
was zu erwarten war.
Die hier gegebenen Erorterungen fuhren za bestimmten Schliissen
liber die den genannten Reaktionen eDtsprechenden Warmetonungen.
Doch soil der Gegenstand nicht weiter verfolgt werden, da noch keine
Messungen der Wasserdampfdrucke vorliegen, und daher aucb nichts
iiber die Grosse x bekannt ist.
Auch durch eine BetrachtuDg, die sich auf die moglichen Umwand-
lungen bezieht, kann man sich davon iiberzeugen, dass die erwahnte
Dampfdruckbeziehung nicht nur keinen Widersprach cnthalt, sondern not-
wendig ist. Wenn die uiibestaiidigere Form Losung, Hydrat, Gas einen
kleineren Dampfdnick bat, als die bestandigere Eis, Hydrat, Gas, so
muss sich durch isothcrme Destination die erste in die zweite verwandeln.
Nun besteht der Dampf grosstciiteils aus Schwefeldioxyd und enthalt
weniger Wasser, als eine der anderen Phason. Durch Verlust von
Schwefeldioxyd wird das bestandige Gebilde Eis, Hydrat, Gas sich so
andern, dass das Hydrat sich vermindert und das Eis sich vermehrt.
Das andere Gebilde Losung, Hydrat, Gas wird durch Aufnahme von
Schwefeldioxyd Losung verlieren und Hydrat bilden. Geht der Vor-
gang zu Ende, so ist scbliesslich die Losung verschwunden, wahrend
Eis und Hydrat iibrig geblieben sind, d. h. es hat sich die bestandige
Form durch die isotherme Destination gebildet, und die Dampfdrucke
miissen sich wie gefunden verhalten, damit ein solcher Vorgang ein-
treten kann.
Ware das Wasser der vorwiegcnde Bestandteil des Dampfes, so
miisste umgekehrt das bestandigere Gebilde den kleineren Dampfdruck
baben, da sonst die isotherme Destination die unbestandigere Form
vermefaren wiirde. Es hangt also vom Molenbruch der beiden Phasen
Teranderlicher Zusammensetzung ab, in welchem Sinne der Unterschied
des Gesamtdruckes liegen muss, und damit gelangen wir auf die oben
gegebcne allgemeine Auseinandersetzung zuriick.
194. Chlorhydrat. Die ersten Messungen des Dissociationsdruckes
des Chlorhydrats wurden von Isambert^) unter der Voraussetzung aus-
gefiihrt, dass sich diese Verbindung ganz wie ein gewobnlicher dissoci^
ierender oder verdampfender Stofif verhalte; es fehlte mit anderen Worten
DOch die Erkenntnis, dass ausser der Gasphase in diesem Falle zwei nicht
>) Comptes rendus 86, 481. 1878.
902 II> Chemische Dynamik.
gasformige Phasen erforderlich sind, urn ein Gebilde mit einem Frei*
heitsgrade herzustellen. Indessen geht aus der Versucbsbeschreibung
hervor, dass tbatsachlich zwei andere Phasen vorhanden waren, namlich
neben dem Chlorhydrat eine mit Ghlor gesattigte wasserige Losung.
Unter diesen Bedingungen stellt sicb, wie Isanibert durch yerscbiedene
Versuche feststellte, in der Tbat ein ganz bestimmter Dissociations-
druck ein, der mit steigender Temperatar zunimmt^). Die Messungen
ergaben:
0«
23-0 cm
8-8 •
722 cm
33
37-5
9.1
776
3-6
40-0
9.5
79-3
50
48-1
lO-l
83.2
5.7
53.0
110
950
5-9
54.5
115
101.5
6-6
57.1
117
103.2
72
59.5
129
1245
76
644
145
140-0
8.0
671
Die gewobniicbe Zersetzung des Ghlorbydrats bei 9^ tritt deshalb
ein, weil bei dieser Temperatar der Dissociationsdruck gleich einer At-
mospbare wird.
Von Le Gbatelier ^) ist dann hervorgehoben worden, dass die Druck-
linie sich aus zwei Zweigen zusammensetzt.
Untersucht man den Druck bei fallenden Temperaturen, so zeigt
sich zuerst eine regelmassige Abnahme, die bis — 7^ andauern kann;
dann steigt der Druck plotzlich, nimmt wieder ab, und bleibt einige
Centimeter iiber dem friiheren Werte stehen. Erwarmt man nun lang-
sam, so beobachtet man eine neue Drucklinie» die oberhalb der fruheren
verlaufty und diese bei — P scbneidet.
Die Erklarung ergiebt sich daraus, dass man zuerst den Druck
beobachtet, der zum Chlorhydrat neben iiberkalteter wasseriger Chlor^
losung gehort. Bei — 4 ® bis — 7 ® tritt die Erstarrung des Wassers
ein, und es stellt sich das andere Gleichgewicht Ghlor, Chlorhydrat,
Eis ein, welches einen grosseren Druck des Ghlors aufweist. Der
Schnittpunkt beider Kurven bei — 1^ ist der Schmelzpunkt des Eises
in Benihrung mit gesattigtem Ghlorwasser.
*) Die AusfQhrang der Messangen mit einem Quecksilbermanometer worde
dadurch ermOglicht, dass ttber das Quecksilber eloe Schicht SchwAfelsAure gegossen
wird. Unter diesen Umst&nden wirkt das Chlor nur sehr langsam aof das Queck-
silber eio.
*) Comptes rendus 99, 1074. 1884.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnang. 903
Der Winkel zwiscboD beiden Eurven lasst sich nach den far den
einfacheren Fall der Verdampfung der festen und der fliissigen Form,
oder allgemein zweier hylotroper Formen eines Stoffes dargelegten Be-
ziehungen aus dem Unterscbiede der Reaktionswarmen, je nachdem
sich das Ghlorbydrat aos Wasser und Chlor, oder aas Eis und Ghlor
bildet, berechnen. Aus dem Winkel beider Kurven ergiebt sich 14*3 K;
die Schmelzwarme von lOH'O (Le Chatelier nimmt die Zusammen-
setzung des Hydrats zu Cl«+ lOH^O an) betragt 18-6 K.
Den vorbandenen Unterscbied fiibrt Le Chatelier auf die Scbwierig-
keit zuriick» die Dissociationsdrucke bei niedrigen Temperaturen zu be-
stimmen; doch liegt bier noch eine Vernacblassigung vor. Die Bildung
des Ghlorhydrats aus fiiissigem Wasser erfolgt nicht mit reinem Wasser,
sondern mit einer gesattigten Losung von Ghlor, wahrend sie im Falle
der Bildung aus Eis mit reinem Eis erfolgt. Daber ist im erstcn Falle
die Warmemenge abzuziehen, welcbe sich entwickelt, wenn das zur
Chlorbydratbildung erforderliche Wasser zuerst mit Gblor gesattigt wird.
Vom Standpunkte der. Phaaenlehre bat dann Roozeboom^) den
gleichen Fall behandelt. Er fand die Drucke fiir das Gleicbgewicbt
Hydrat, Losung, Gas etwas kleiner^ als Isambert sie gefunden hatte,
namlich:
Temp. Druck Temp. Druck
00» 24.9 cm 9.0* 70-1 cm
20 320 10-0 79.7
4.0 39-8 120 99*2
6-0 496 140 124*0
80 620 160 152-2
Steigert man den Druck weiter, so kann man das Gleichgewicht
bis zu 28'7® hinauf verfolgen; hier tritt fliissiges Cblor als neue Pbase
auf, und das Bestandigkeitsgebiet des Cblorbydrats hat ein Ende.
Messungen des Druckes bis zu diesem Puukte hat Roozeboom nicht
angestellt, sondern nur die „kritiscbe Zersetzungstemperatur*' d. h. den
neuen vierfacben Punkt des Cblorbydrats durch langsame Erwarmung
eingoscbmolzener Proben ermittelt
Der Gehalt an Cblor in der wasserigen Losung, die mit dem festen
Hydrat im Gleicbgewicht stebt, nimmt mit steigender Temperatur ab.
Roozeboom fand folgende Zahlen:
Temp. Gehalt in Prozenteo
0« 0-503
30 0.611
60 0-709 •
^) Recueil 8, 59. 1884.
904 n. Ghemische Dynamik.
Temp.
Gehalt in ProzeDten
9.0»
0.900
12-5
110
20-0
182
28-5
350
Umgekehrt nimmt der Gehalt einer bei bestimmtem Dnick ge-
sattigteD Ghlorlosung wie gewohnlich bei Gaslosungen mit steigender
Temperatur ab; so wurde fiir Atmospharendruck folgende Zusammen-
setzung dor Losungen gefunden:
Temperatur 6-0 <> 90 • 120«
Gehalt in Prozenten 1-07 0-93 0-87
Unterhalb 6® entstand das Hydrat freiwillig, so dass die Versache
nicht weiter nach UDten fortgesetzt werden koDoten^).
Fiir die Zusammensetzung des Ghlorbydrats nimmt Roozeboom auf
Grand seiner Analysen die Formel C1*-8H*0 an.
Angeregt durcb die Arbeit von Le Chatelier hat Roozeboom*) dann
die beiden Gleichgewichtskurven rait gesattigter Losung oder Eis neben
dcm festen Hydrat und dem Dampfe ^enauer untersucht and insbe-
sondere den von Le Ghatelier auf — 1^ angegebenen vierfachen Punkt
auf — 0*24* bestimmt. Die Uberkaltung konnte er nicht unter — 3*
bringen; die zu beiden Kurven gehorigen Drucke und Temperaturen sind;
Drack
^^"'P- L58ung Eis
0« 25-2 cm —
— 0-24 244 244 cm
— 10 223 234
— 20 20^ 22*3
— 30 183 21-3
— 4^ — 20.3
— 60 — 185
— 80 — 16-9
— 10-0 — 15-6
Auch in diesem Falle hat das bestandigere Gebilde nicht den
kleineren, sondern den grosseren Druck. Es lassen sich daher die-
selben Betrachtungen anstellen, wie im Falle des Schwefeldiozyds.
*) Roozeboom erkl&rt hieraus die Angabe ftlterer Autoren, dass das Chlor
in der N&he yon 8® ein Maximum der LOslichkeit besitze. Es handelt aich urn
den Durchschnitt zweier verschiedener Kurven: der fUr das Gleichgewicht mit dem
festen Hydrat und der der S&ttigung unter Atmosph&rendruck. In der ersten nimnt
der Chlorgehalt der Ldsung mit steigender Temperatur zu, in der sweiten ab, and
daraus ist die Yorstellung eines LOslichkeitsmaximums entstanden.
*) Recueil 4, 69. 1886.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung: 905
Beim Chlor finden sicb demnach, wie beim Schwefeldioxyd, zwei
Yierfache Punkte. Bei — 0*24® besteben die Pbasen Eis, Hydrat, Dampf
UDd Losung nebeneinander; bei 28*7® beginnt fliissiges (wasserbaltiges)
Gblor als neue Pbase aufzutreten, neben welcber Losung, Dampf und
Hydrat bestebt.
Die Zahlen sind merklich kleiner, als bei Le Cbatelier, und Rooze-
boom vermutet, dass die letzteren durcb die Anwesenbeit von Luft im
Apparate beeinflusst worden sind.
195. Bromhydrat. Ahnliche Versuche bat Roozeboom mit Brom
aDgestellt^)» fur welches er folgende Zablen fand. Der Dampfdruck des
reinen Broms war:
Temp.
Druck
Temp.
Drack
0.13''
6.2 cm
20.6*
17-2 cm
1-8
6.73
2265
190
4-0
7.73
2506
212
4.95
8-2
29.8
25.9
5.95
8.65
34.7
314
7.90
9.5
39.6
378
9-95
104
45-6
478
12.56
119
49.8
56-3
1640
139
647
66.8
18-15
1525
59.5
768
om, das mit
seiner
wasserigen Losung im
Gleicbgi
iden:
Temp.
Druck
•
2.0 «
7.6 cm
3.95
8.3
4.95
8-8
5.95
9.2
6.95
96
796
101
12-50
124
15.90
146
Die Zablen sind bober, als die fiir reines Brom, entgegen dem,
was fur Scbwefeldioxyd beobacbtet worden war. Es riibrt dies einer-
seits von der sebr geringen Loslicbkeit des Wassers in Brom her, wo-
durcb dessen Dampfdruckverminderung entsprechend gering bleibt,
andererseits addiert sicb der Druck des Wasserdampfes zu dem des
Broms, und dessen Betrag iibertrifft den jener Verminderung.
In der Nabe von 0® bildet sicb das Bromhydrat, welches bis etwa
6*2® besteben kann; dariiber hinaus zerfallen die Krystalle plotzlich in
>) Recueil 3, 73. 1885
906 n. Ghemische Dynamik.
eine Art Emulsion aus Wasser und Brom, welche nur langsam sich in
zwei Scbichten trennt. Die Drucke fiir das Gleicbgewicht Hydrat, Lo-
sang und Dampf sind:
Temp.
Drack
04 «
5-05 cm
2-0
67
30
635
41
73
50
84
5-5
8-6
59
8-95
62
9-3
Der Druck von 9-3 cm bleibt wahrend der Zersetzung des HydraU
konstant; dariiber hinaus tritt fliissiges Brom auf, und es beginnt ein
neues Gleicbgewicht.
Die Zusammensetzung der wasserigen Losung, die mit fiiissigem
Brom im Gleicbgewicbt ist, wurde gefunden:
Temp. Gehalt in % LGsnng neben Hydrat
0-0 « 4-05 232
3-0 3-80 297
5-0 360 —
6-0 — 3-50
100 3327 —
Aucb bier nimmt die Loslicbkeit mit steigender Temperatur ab.
Die letzte Spalte giebt den Gebalt der Losungen, die mit dem
festen Hydrat im Gleicbgewicbt sind. Die Zablen sind kleiuer, und
beide Kurven scbneiden sicb in dem vierfacben Punkte bei 6-2^ und
9-3 cm Druck, wo Hydrat, Losung, fliissiges Brom und Dampf im Gleicb-
gewicbt sind.
Die Zusammensetzung des Hydrats driickt Roozeboom durcb die
Formel BrM0H«O aus.
Aucb beim Brom konnten die beiden Zweige der Kurve beim
unteren vierfacben Punkte nebeneinander verfolgt werden*), indem eine
ziemlicb starke Uberkaltung der wasserigen Losung moglicb war. Die
erbaltenen Zablen sind:
Drack in cm
Temp.
Ldsung EIb
0»
45 —
— 0.30
43 4-3
-1.0
4.0 4-1
20
3-5 3.9
— ao
31 —
•
') Recueil 4, 71. 1886.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 907
Druck in cm
Temp.
LOsang Eis
i'O^
27 3.5
— 5.0
235 —
-6-0
- 31
— 80
— 28
-^ 100 — 25
Wie in den friiheren Fallen sind anch bier zwei vierfacbe Punkte
Yorhanden, welche bei — 0-3® und +6*2® liegen und deren charakte-
ristische Pbasen Eis und fliissiges Brom sind.
196. Die Hydrate dee ChlorwasserBtofb. Chlorwasserstofif bildet
nach Pierre und Pucbot') bei — 18® und darunter ein Hydrat von der
Zusammensetzung HC1.2H'0. Roozeboom*) hat zunacbst die Loslich-
keit des CblorwasserstofiFs bei niederen Temperaturen untersucht und
gefunden:
Temp.
Druck
HCl
Temp.
Druck
HCl
0»
76 cm
0.842
— 21.0°
32-6 cm
0-866
— 51
75.9
0*869
— 19-0
49-1
0-9066
— 101
76-9
0-899
— 151
75.9
0-934
-190
104-2
1-020
— 181
75.4
0-956
— 180
110-6
1-023
— 2M
74.8
0-982
-17-0
1140
1-019
Die Zablen bedeuten Teile Chlorwasserstoff auf einen Teil Wasser.
Aus diesen Zablen wurden die Werte interpoliert^ welche sich fur
den Gehalt der Losung im System Hydrat, Losung und Dampf ergeben.
Temp. Druck HCl
— 238° — 0.842 cm
— 21-0 33.4 0-868
— 190 58-0 0926
— 18-0 90-0 0.ii84
— 17-7 107.3 1-014
Die Konzentration der Gleichgewichtslosung nimmt somit scbnell
mit steigender Temperatur zu..
Die Drucke fur das Gleichgewicht Hydrat, Losung, Dampf waren:
Temp. Druck
— 23.4° 19.4 cm
— 218 274
— 20-5 37-6
— 2005 419
— 19-2 53.4
— 18-8 62-8
^) Comptes rendus 82, 45. 1876.
*) Recueil 8, 84. 1885.
908
II. Cbemische Dyoamik.
Temp.
Druck
— 18-6«
681 cm
18-2
79-1
— 18-05
893
— 1783
990
— 177
1080
Bei — 17*7^ bat die Losung die gleicho Zusammensetzung, wie das
Hydrat, und Roozebeom glaubte anfaiigs, dass diese Temperatur anch
die hochste ware, bci welcher das Hydrat bestehen kann. lodesseD
iiberzeugte er sich, dass unter Foitlassung der Gaspbaae viel hohere
Temperataren erreicht werdea koDnen, uud er giebt fiir das Gleichge-
wicht Hydrat, Losung, fliissiger Cblorwasserstoff die folgende Reihe:
Temp.
Dnick in Atm.
— 17.2«
10
— 166
15
— 156
25
— 14-8
50
— 138
100
— 13.0
150
— 125
200
197. Die Hydrate des Bromwasserstoffs. Die mannigfaltigsten and
am eingebendsteu uutersuchten Verhaltnisse liegen bei den Hydraten
des Bromwasserstoffs vor, mit deren
Entzifferung die Bedeutung der Pha-
seulehre und fiir die Auffassung der
verwickelteren Gleicbgewichte zuerst zu
Tage trat. Roozeboom ist wiederbolt
auf die bier vorliegenden Erscbeinun-
gen zuriickgekommen, bis es ibm ge-
lungen war, sie alle in ricbtiger Weise
zu erfassen^).
Die moglicben Pbasen sind bier
neben Dampf und Losung fliissiger
Bromwasserstoff und zwei feste Hydrate,
H Br -|- 2 H '0 , welcbes scbon bekannt
war, und ein anderes Hydrat HBr + H"0,
welcbes neu war und durcb sein dem bekannten Hydrat gleicbes Aussehen
das ricbtige Verstandnis erscbwerte. Die ausserdem noch moglicbe Phase
Eis kann neben der sebr konzentrierten Losung erst bei so niedrigen
Temperaturen besteben, dass die Verbaltnisse nicbt untersucbt worden.
Die Gesamtbeit der beobachteten Gleicbgewicbte ist in Fig. 201
Fig. 201.
») Rec. Pays-Baa 4, 102, 188, 331; lb. 5, 323, 351, 363; ib. ^ 374. — Zo-
sammengefasst in Zeitschr. f. phys. Chemie 2, 454. 1888.
Chemische Gleichgewichte zweiter OrdnuDg. 909
in Druck-Tempcraturkoordinaten dargestellt. Die Bedeutung der Linien
ist die folgende.
AFB stellt das Gleichgewicfat zwiscben Losung, dem festen Bihydrat
und dem Dampfe dar. Beginnt man bei A, so steigt Druck und Tem-
peratur gleicbzeitig, wobei die Losung wegen der Druckzunabme mebr
an Bromwasserstoff gewinnt, als sie durch die Temperaturerbobung ver-
liert, so dass ibre Konzentration mit steigenden Werten von Druck und
Temperatur wacbst. Dies gebt bis F, wo die Losung die gleicbe Zu-
sammensetzung bat, wie das Hydrat. Von dieser Stelle ab wird die
Linie rucklaufig, weil die Losung mebr Bromwassersto£f cntbalt, als das
Hydrat und der Druck nimmt zu, die Temperatur aber ab. Da um die
Zeit dieser Untersucbungen trotz der bereits lange Yorliegenden Arbeit
von Pfaundler und Scbnegg (S. 817) liber die Scbwefelsaurebydrate, wo
die erste derartige Losungslinie beobacbtet worden war, die Kenntnis
und ricbtige Auffassung dieser Verbaltnisse nocb nicbt entwickelt war, so
bereitete das unerwartete Auftreten eines solcben Falles anfangs grosse
Scbwierigkeiten, die aber durcb die gemeinsamen Bemiibungen von yan
<ler Waals und Roozeboom vollstandig iiberwunden wurden. Dieser
Fall kann somit als der erste gelten, an dem die Verbaltnisse der riick-
laufigen Losungslinien vom Standpunkte der Pbasenlebre erfasst und
dargelegt worden sind.
Die beobacbteten Zablen sind in der nacbstebenden Tabelle wicder-
gegeben, in welcber unter p die Drucke in cm Quecksilber, unter c die
Konzentrationen des Bromwasserstoffs auf einen Teil Wasser, unter x
^ie Mole HBr auf 2H*0 angegeben sind.
t
P
C
X
25»
0-1 cm
1.755
0-78
— 21.8
1 „
—
— 18.9
3 „
1855
084
— 16.8
6 „
14.6
12 „
2.000
0891
— 13.0
22 „
—
—
— 12-4
28 „
—
—
— 12-0
34 „
2138
0.952
— 116
44 „
—
—
-11.3
525 „
2244
10*
-11-6
1 Atm.
2352
1048
— 12-0
IV4,,
2430
1083
— 126
1V.„
2-486
1107
-13-3
1V4,,
—
— 14.0
2
2638
1175
148
2V4,,
—
—
— 155
2Va„
2750
1225
Ofltwftld, Chemi«. 11,3.
2.Aufl.
58
910 n. Chemische Dynamik.
Wahrend also die Drucke bestandig steigen, nimmt die Temperatur
erst zu und danu wieder ab. Das Maximum liegt bei — 11-3'' und
x=l und ist mit oinem Stern bezeichnet. Zwischen — lI-3^ und
— 15-5*^ gehoren zu jeder Temperatur zwei gesattigte Losungen von
yerschiedener Zusammensetzung und verschiedenem Drucke.
Da die allgemeinen Verbaltnisse solcher riicklaufiger LosungsliDien
bereits friiher (S. 818) dargelegt worden sind, braucht auf sie hier nicht
nocb einmal eingegangen zu werden.
Im Punkte F verhalt sich das Brombydrat wie ein einheitlicher
Stoff beim Schmelzen. Aucb kann man diesen Scbmelzpunkt leicbt be-
obacbten, da der Druck des Gases hierbei nur 52*5 cm, also wenigcr
als eine Atmosphare betragt.
Schliesst man die Gasphase aus, so kann man eino Schmelzdruck-
linie erbalten, die der eines einfachen Stoffes vollkommen abnlich ist
Die zusammengeborigen Drucke und Temperaturen sind in der nach-
stehenden Tabelle zusammengestellt.
p
t
V4 Atm.
11.3 •
25 „
— 110
50 „
10-6
100 „
9-8
200 „
8-5
Da das Volum beim Schmelzen zunimmt, so steigt die Temperatur
gleichzeitig mit dem Druck. Roozeboom hat die Schmelzwarme uDd
Volumzunahme hierbei bestimmt, und aus seinen Messungen nach der
bekannten Formel den Temperaturkoeffizienten zu 0-01 35^/ Atmosphare
berechnet. Aus der Tabelle folgt im Mittel 0*0142.
In der Fig. 201 ist diese Linie durch FY dargestellt. Da sie keine
univariante Linie eines binaren Gleichgewichtes ist, sondern eine solche
eines Gleichgewichtes erster Ordnung, so gehort sie eigentlich nicht in
die Zeichnung und ist zum Unterschiede von den anderen Linien punk-
tiert angegeben.
In B ist ein vierfacher Punkt, in welchem die folgenden Phasen
nebeneinander bestehen: Dampf, Losung, festes Bihydrat und festesMono-
hydrat. Dementsprechend treffen dort drei weitere univariante Linien
ein. GB enthalt die Phasen Monohydrat, Bihydrat undj Dampf. Die
Linie ist somit vergleichbar der Dampfdrucklinie uber zwei festen
Salzhydraten und enthalt keine fliissige Phase. Die beobachtetea
Werte sind:
Chemische Oleichgewichte zweiter Ordnung. 911
t
P
t
P
285 <»
76 cm
— 20«
181cm
26
85
-18
156
24
96
-16
184
22
111
— 15-5
195
Die Linie BL stellt die Oleichgewichte zwischen dem Monohydrat,
der LosuDg and dem Dampfe dar, hat also fur das Monohydrat die-
selbe Bedeutung, wie AB fiir das Bihydrat. Die Linie hat den ge*
wohnlichen Verlauf, weil die Losungen alle weniger Bromwasserstoflf
enthalten, als das Hydrat. Die beobachteten Werte sind:
t
P
c
t
P
c
— 15-5*
2V.
Atm.
275
— 7.2»
6 Atm.
811
14.8
2V4
—
-5-8
7
825
— 14.0
3
279
— 4.7
8
340
— 110
4
290
— 4.0
9
—
- 8.7
5
300
— 3.3
lov.
3.75
Die Linie BZ endlich stellt die Oleichgewichte zwischen den beiden
Hydraten und der Losung ohne Dampf dar, ist also einer Schmelzdruck-
linie.yergleichbar. Sie ist nicht eingehender untersucht worden; doch
ist bekannt, dass sie ein wenig nach rechts geneigt sein muss, da bei
der Schmelzung des Hydratgemisches sich das Volum vergrossert.
Die Linie BL endet bei L in einem neuen vierfachen Punkte, da
dort als neue Phase fliissiger Bromwasserstoff (der eine Spur Wasser
gelost enthalt) auftritt. Die dort vorhandenen Phasen sind demnach
MoDohydrat» fliissiger Bromwasserstoff, Losung und Dampf, und daraus
ergiebt sich die Beschaffenheit der anderen Linien, die in diesen Puukt
miinden.
DL stellt das Oleichgewicht zwischen fliissigem Bromwasserstoff,
festem Monohydrat und Dampf dar. Sie ist nicht eingehender unter-
sncht worden.
Dasselbe gilt fur die Linie LF, in welcher als Phasen beide Fliissig-
keiten: Wasser gesattigt mit Bromwasserstoff, und Bromwasserstoff ge-
sattigt mit Wasser, neben Dampf bostehen.
LX ist endlich wieder eine Schmelzdrucklinie, nur dass hier der
feste Stoff, das Monohydrat, in die beiden eben genannten Fliissigkeiten
zerfallt. Der Druckeinfluss ist ziemlich betrachtlich:
t
P
t
P
3.8 •
lOVs Atm.
— 1.6»
100 Aim
2.9
25
0-9
150
24
50
— 03
•^00
20
75
+ 0-3
250
58*
912
II. Chemische Dynamik.
198. Ammoniakverbindangen des Bromammonimns. Einen weiteren
Fall des binaren Gleichgewichtes beobachteto B. Roozeboom^) bei der
Untersuchung der Verbindungen, welche das Ammooiak mit Bromammo-
nium bildet. Diese sind von Troost*) entdeckt worden, welcher fest-
stellte, dass es deren zwei giebt: eine bis zu hoheren Temperaturen
feste A von der Formel NH*Br.NH* und eine unterhalb 6® feste B von
der Formel NH*Br.3NH'. Roozeboom bestatigte zunachst die Bildung
der beiden Stoffe; die Aufnahme des Ammoniaks erfolgt ziemlich lang-
8am und es entstebt zuerst eine zusammenhangende Masse von A.
Setzt man die Einwirkung des Ammoniaks unter 6®. fort, so bildet sich
eine Fliissigkeit, obv^ohl sich festes B unter diesen Umstanden aus-
scheiden konnte. Es ist dies ein
weiteres interessantes Beispiel fur die
bevorzugte Bildung der metastabilen
Form unter den Umstanden, unter
denen sich die stabile bilden konnte.
Die Fliissigkeit nimmt weiter
Ammoniak auf, und zeigt eine je nach
der Temperatur und dem Dfucke
wecbselnde Zusammensetzung, ent-
Z sprechend der zweifachen Freiheit
Fig. 202. ^gg zweiphasigen Gebildes. Sie bleibt
iiberkaltet bis zu — 12®, ohne freiwillig zu erstarren. Durch Reibung
der Glaswand kann man bis 0® hinauf Erstarrung, d. h. Ausscheidung
von festcm A und B bewirken.
Die Gesamtheit der gemachten Beobachtungen ist in der Fig. 202
zusammengefasst. Bezeichnet man die bier moglichen Phasen mit nach-
stebenden Buchstaben:
S = NH*Br, Bromammonium,
A = NH*Br -|- NH', feste Monoverbindung,
B = NH*Br + 3NH», feste Triverbindung,
F = Fliissigkeit, aus Bromammonium und Ammoniak in wech-
selnden Verhaltnissen zusammengesetzt,
D = Dampf, wesentlich Ammoniak,
80 kann man aus der Figur die Gleichgewichtsverhaltnisse unmittelbar
ablesen.
Zunachst liegt unten die Linie ASD yor, in welcher die beideo
festen Phasen Bromammonium und Monoverbindung mit Ammoniakgas
') Rec. Pays-Bas 4, 355. 1885; ib. 5, 381. 1886.
«) Comptes rendiis 88, 94. 1878 und d2, 716. 1881.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnang. 913
im Gleichgewichte sind. Ein Durchschnitt dieser Linie mit einer anderen
ist nicht beobachtet worden, wiewohl ein solcber bei etwas hoheren
Teraperaturen und Drucken mit der Linie AFD zu erwarten ist. Dort
wiirde sich ein vierfacher Punkt ausbildcn, in welchem Fliissigkeit neben
den beiden festen Phasen auftrate, also ein Knickpunkt zu beobachten
ware. Der Punkt ware ganz analog dem Schmelzen eines Gemiscbes
von Glaubersalz und Anhydrid bei 324®.
Dann folgt bei niedrigen Temperaturen die Linie ABD, wo die
beiden Verbindungen neben Ammoniakgas bestehen; es ist wieder eine
Dampfdrucklinie ohne fliissige Phase. Sie endet bei P in einem vier-
fachen Punkte, in welchem zu den genannten drei Phasen noch Fliissig-
keit tritt, also wieder eine scheinbare Schmelzung, vergleichbar der
eben geschilderten, eintritt. Von den yier Linien, die in diesem Punkte
zusammenstossen, sind nur drei gezeicfanet; die vierte, eine Schmelz-
drucklinie mit den Phasen ABF, ist nicht untersucht worden.
Die Linie AFD stellt das Gleichgewicht der Verbindung A mit
der Fliissigkeit, die man als eine gesattigte Losung von A in B bo-
zeichnen kann, dar. Sie lasst sich weit iiber den vierfachen Punkt
hinaus riick warts verfolgen, da sich die Losung, wie oben angegeben,
in Bezug auf B weitgehend iibersattigen lasst. Diese metastabile Ver-
langerung ist in der Figur gestrichelt angegeben.
Von Interesse ist die oberste Linie BFD, welche die gesattigte
Losung von B in A darstellt; der Durchschnitt dieser Linie mit der
vorerwahnten entspricht einigermassen einem kryohydratischen Punkte.
Wir habeu es wieder mit einer riicklaufigen Linie zu thun: bei R hat
die Fliissigkeit dieselbe Zusammensetzung, wie der feste Stoff, namlich
NH^Br-f-3NH^ und dieser lasst sich hier zu einer gleichzusammen-
gesetzten Fliissigkeit schmelzen, wie ein einhcitlicher Sto£f. Dariiber
hinaus enthalt die Fliissigkeit mehr Ammoniak, als die feste Verbindung,
und die Temperatur des Gleichgewichtes sinkt, wahrend der Druck
steigt. Da um die Zeit jener Untersuchung die riicklaufigeu Gleich-
gewichtslinien noch fremdartig waren, so hat auch die Aufklaruug dieser
Verhaltnisse einige Schwierigkeit gemacht.
Die Koordinaten der charakteristischen Punkte sind: fiir den yier*
facben Punkt P die Temperatur 6-6® und der Druck 79-5 cm Queck-
silber; fiir den Umkehrpunkt R 8-7® und 110 cm.
199. Die Chloride des Jods. Die von Stortenbecker^) festgestellten
Verhaltnisse der Chlorjodyerbindungen geben ein sehr yoUstandiges
') Rec. Pays-Bas 6, 152. 1888; Zeitschr. f. phys. Ghemie 3, 2. 1889.
914
II. Ghemische Dynamik.
n
V
^M^'
Beispiel der Gleichgewichte zweiter Ordnung. Es sind drei feste Ver-
bindimgen vorhanden; zwei davon habcn die ZusammensetzuDg JCI und
sind isomer, und zwar moDotrop, so dass iiber das ganze bekannte 6e-
biet die eine der beiden Formen metastabil oder labil ist. Sie solleD
mit a und j3 unterscbieden werden; j9 ist die unstabile Verbindong.
Die dritte, feste Verbindung hat die Formel JCI^. Die Schmelzpankte
sind 27'2^ 13-9® und 101 •; wahrend sich die ersteren unter gewohn-
licbem Druck beobachten lassen, erfordert der letztere etwa 16 Atmo-
spbaren.
Fliissigkeiten lassen sich je nach dem Druck und der Temperator
von alien moglichen Verhaltnissen zwischen reinem Chlor und reinem
Jod herstellen.
Eine Cbersicht der moglichen Zustande gewahrt Fig. 203, in welcber
Temperaturen und Zusammensetzungen gegeneinander ausgesetzt sind.
Die Kurven stellen die uni-
'^ ' ^ ^ ^ ^ ^ ^ ^ r— r-T— I yarianten Gleichgewichte
dar. Die mit I bezeichnete
Kurve lasst die mit festem
Jod im Gleichgewicht be-
findlichen Fliissigkeiten iiber-
sehen. Sie beginnt mit dem
Chlorgehalt x = 0, entspre-
sprechend dem Schmelz-
punkt des reinen Jods bei
114^; mit zunehmendem
Chlorgehalt fallt die Schmelz-
temperatur und lasst sich
unter Uberkaltung in Bezag
auf festes JCI bis unter 0^
verfolgen.
Sorgt man fur die Ad*
wesenheit von festem Jod-
monochlorid in der Form a,
so kann solchos neben der
Fliissigkeit und neben freiem Jod bei x = 0-66 und 7-9^ bestehen. Dies
ist also ein vierfacher und zwar ein eutektischer Punkt fiir die beiden
festen Phasen Jod und Monochlorid neben Fliissigkeit und Dampf;
eine Fliissigkeit von der Zusammensetzung J -|- 0-66 CI erstarrt bei
dieser Temperatur vollstandig zu einem Gemenge der beiden festen
Stoffe, ohne ihre Temperatur zu andern.
^2P3M9Prfu^z«/r/p
0* j»' SC Stf ur so' €0' SD* S(f 80* iOO* !»• !»•
Fig. 203.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 915
Wird die Menge des Chlors verinehrt, so steigt die Temperatur
des Gleichgewichtes mit dem MoDOchiorid, nachdem Jod als feste Phase
jerschwunden ist. Die Flussigkeit nahert sich immer mehr der Zu-
sammensetzung der Verbindung und erreicht sie (x=l) bei 27*2^ dem
Schmelzpunkt des Monochlorids: Linie II. Der zwischen diesem Punkte
und dem Durchschnitte mit der Jodkurve I belegene Teil kann als
Korve der durch Jodzusatz erniedrigten Erstarrungspunkte des Mono-
chlorids aufgefasst werden, ebenso wie der nach oben belegene und mit
III zum Durchschnitt kommende Teil als die durch Jodtrichloridzusatz
bewirkte entsprechende Kurve. Bei II gehen beide Kurven ineinander
liber, und zwar stetig^).
Das Monochlorid kann also bei Temperaturen unter 27-2® mit zwei
▼erschiedenen Fliissigkeiten im Gleichgewicht sein, von denen die eine
mehr, die andere weniger Chlor enthalt, als es selbst. Die letzteren
lassen sich, wie erwahnt, bis 7-9® verfolgen; die ersteren nur bis 22*7 ®:
der Chlorgehalt der Fliissigkeit ist dabei J 4- 1*19 CI.
An dieser Stelle beginnt Jodtrichlorid aufzutreten, und wir haben
an der eben bezeichneten Stello wiedcr einen eutektischen Punkt,
wo als feste Phasen neben der Fliissigkeit Monochlorid und Trichlorid
bestehen; eine Fliissigkeit von der Zusammensetzung J 4-1*19 CI er-
starrt bei der unveranderlichen Temperatur von 22-7^ vollstandig zu
einem Gemenge der beiden festen Stoffe. Diese Temperatur ist gleich-
zeitig die tiefste, bei welcher festes Trichlorid neben einer Chlorjod-
fliissigkeit stabil ist.
Von diesem Punkte aus gelangen wir auf die Kurve III, wenn der
Chlorgehalt der Fliissigkeit weiter vermehrt wird. Da deren Zusammen-
setzung sich dabei der des festen Stoffes immer mehr nahert, so steigt
wieder die Gleichgewichtstemperatur und erreicht bei 16 Atmospharen-
drack mit 110^ ihren hochsten Wert. Die Fliissigkeit hat dann die-
selbe Zusammensetzung JCI3, wie der feste Stoff, und wir haben einen
zweiten Maximalpunkt.
Wird durch weitere Drucksteigerung der Chlorgehalt der Fliissig-
keit liber x = 3 hinaus vermehrt, so siiikt die Gleichgewichtstemperatur.
Dieser Vorgang ist in der Fig. 203 nicht mehr zum Ausdruck gebracht.
£r ist von Stortenbecker, doch ohne Messung der Drucke, bis zu einem
Gehalt von 99-6 % Chlor in der Fliissigkeit und einer Temperatur von
'} Die Zeichnung (nach dem Original) l&sst eher auf einen Knick an dieser
Stelle schliessen; aie ist vielleicht der Ausdruck der damals noch bestehenden
Unsicherheit ftber diesen Punkt.
916 n. Chemische Dynamik.
30^ verfolgt worden; sein Ende erreicht er beim Schmelzpunkt de&
reinen Chlors — lOi^i).
Ausser diesen Kurven ist noch die Eurve IV, welcbe der j3*Form.
des MoDochlorids angehort, beobachtet worden. Diese Form entstebt
freiwillig beim Abkiihlen von Fliissigkeiten, die weniger als ein Ver-
bindungsgewicht Ghlor auf oines Jod enthalten. Lasst man solcbe laugBam
auf — 10^ abkiiblen, so erscheint es, wenn auch nicht immer. Bei Tem-
peraturen unter — 10^ geht es sicher freiwillig in die a- Form iiber;
dort scheint also seine metastabile Grenze zu liegen. Doch sind auch
bei hoheren Temperaturen Ursachen thatig, welcbe seine Existeoz be-
schranken; es lasst sich nicht langer, als einige Tage aufbewafaren, und
oberhalb 5^ verwandelt es sicb meist ziemlich bald in die bestandige
Form. Doch kann man es oft schnell erwarmen, ohne dass sofort Urn-
wandlung eintritt.
In einer Fliissigkeit, die mehr Chlor enthalt, als die Verbindung
selbst, scheint sie viel weniger bestandig zu sein.
Was nun die Kurve IV anlangt, so hat sie eine ganz ahnliche Ge-
stalt, wie 11, und es lasst sich iiber ihre Eigenschaften nur das gleiche
sagen. Die eutektische Temperatur mit festem Jod liegt bei 0-9 ^ die
Maximal- oder Schmelztempcratur bei 13*9®.
VoUstandiger lassen sich alio Moglichkeiten iibersehen, wenn man
die entsprechende Zeichnung in Druck-Temperaturkoordinaten ausfuhrt,
wie dies schematisch in Fig. 204 geschehen ist. Jedem der univarianteo
Gebilde der vier T-x-Kurven entspricht eine Dampfdrucklinie, und diese
Rchneiden sich in den vierfachen oder eutektischen Punkten. Dazu
kommen noch die Kurven der beiden reinen Bestandteile.
In der Zeichnung ist OB die Dampfdrucklinie des reinen festcD
Jods, an die sich im Schmelzpunkt B die des flUssigen Jods BA au-
setzt. Sie begrenzt das Feld nach unten, wahrend es nach oben Yon
der Dampfdrucklinie GH des festen und HK des fiussigen Chlors be-
grenzt ist. Zwischen beiden liegen alle Linien der Jodchloride.
Wir haben von unten gerechnet zuerst die Dampfdrucklinie des
Gemenges von festem Jod und Monochlorid, die sich bei C in zwei
Teile trennt. Bei weniger Chlor bleibt festes Jod neben einer chlor-
haltigen FlUssigkeit, und wir haben die Linie CB. Je hoher wir die
Temperatur nehmeu, um so weniger Chlor kann die Fliissigkeit nebea
festem Jod enthalten, und daher endet die Linie in B, dem Schmelz-
punkt des reinen Jods.
^) Dazwischen muss es noch einen eutektischeD Punkt fftr festes Trichlorid
und festes Chlor geben.
Cbemische Gleichgewichte zweiter Ordnung.
917
Bei mehr Chlor gelangen wir von C aus dagegen auf die Linie
GDE, in welcfaer Monocblorid neben der FlUssigkeit bestebt. Ver-
mebrtem Druck entspricbt ein vermehrter Chlorgebalt; die Temperatur
steigt aber nur bis x= 1, urn von dort bei steigendem Druck zu sinken,
bis bei E als nene Phase das Tricblorid erscheint.
In C sind somit vier Phasen gegenwartig: festes Jod, Fliissigkeit,
festes Monocblorid nnd Dampf; G ist demnach ein nonvarianter oder
▼ierfacher Punkt. Von den vier Knrven, welche dort zusammentreffen
4^
/ 0 t^0»
.3
0
&ediet von
JJOampf.
Fig. 204.
miissen, sind bereits drei erwabnt worden; die vierte, punktiert ange-
deutete entspricbt der Verscbiebung des Gleicbgewichtes der beiden
festen und der fliissigen Phase durch Druck, und ist nicht untersucht
worden. Sie steigt fast seiikrecht auf warts, wie eine Eis-Wasser- Druck-
korve, jedoch etwas nach rechts geneigt, weil bier beim Schmelzen eine
Ausdebnung eintritt.
Nach E gelangen wir andererseits auf der Linie ME, welche das
Gleichgewicht der beiden festen Phasen Mono- und Tricblorid mit
Dampf darstellt. E ist wieder ein vierfacher Punkt, in welchem Mono-
cblorid neben Tricblorid, Fliissigkeit und Dampf besteht. Von den
beiden anderen Kurven, welche dort einmiinden, geht fast senkrecht
918 n. Chemische Dynamik.
nach oben wieder eine Scbmelzdrucklinie oboe Dampf ab, die nicht
untersucbt worden ist. Ausserdem baben wir die Linie EF, welche
dem Gleichgewicbt des festen Tricblorids mit Flussigkeit uiid Dampf
entspricbt.
Ausser diesen beobacbteten vierfacbeu Punkten konnen wir uoch
einen weiteren in 6 erwarten, wo festes Gblor neben Tricblorid, fliis-
sigem, etwas Jod enthaltendem Chlor uud Cblorgas besteben kann; sie
ist bei sebr tiefen Temperaturen zu sucben. Von dort aus muss sich
cine Dampfdrucklinie fUr das univariante Gebilde aus Fliissigkeit, Tri-
cblorid und Gas erstrecken. Da es dieselbe ZusammeDstelluiig ist, wie
sie auf EF bestebt, so muss sie stetig mit dieser Linie zusammeD-
hangen, wie das in der Zeicbnung durcb die punktierte Linie GF an-
gedeutet ist.
Diese Linie zeigt nicht nur die Eigenscbaft, ein Temperaturmaximum
(den Scbmelzpunkt des Tricblorids) zu baben, sondern sie besitzt auch
ein D ruck maximum. Dies kommt folgendermassen zu stande. Urn den
Cblorgebalt der Fliissigkeit zu vermebren, muss anfangs der Druck er-
bobt werden. Gleicbzeitig fallt aber die Temperatur des Gleichge-
wichtes mit dem festen Tricblorid, wodurch die Yerfliissigung des Chlors
erleicbtert wird. Die erforderlicbe Drucksteigerung wird also immer
geringer, und scbliesslicb tragt der Einfluss der Temperaturerniedrigong
so viel aus, dass keine Drucksteigerung mebr erforderlicb ist, urn doD
Cblorgebalt der Fliissigkeit zu vermebren. Dariiber hinaus beginnt
daun die Vermebrung des Cblorgebaltes unter Druckverminderung in-
folge der Temperaturorniedrigung.
An der Stelle des Druckmaximums muss die Fliissigkeit gleiche
Zusammensetzung baben, wie der Dampf.
In einer spateren Untersucbung^) erganzte Stortenbecker seine
alteren Messungen und erortert einige unerledigt gebliebene Punkte.
Zunachst wurde die Tbermocbemie der Cblorjodverbindungen durch
die nachstebenden Messungen erganzt:
Molekularwarme von fliissigem J CI 0-256 K
„ „ festem J CI a 0-134 „
JCl^ 0.138,.
Molek. Scbmelzwarme von J CI a — 26.58 „
„ „ „ JCl^ —22.66 „
Umwandlungswarme von j3 in a 2*03 „
Dass die Umwandlungswarme nicbt gleicb dem Unterscbiede der
') Zeitschr. f. phys. Chemie 10, 183. 1892.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 919
Schmelzwarmen ist, liegt an der Verscfaiedenheit der Molekularwarmen
im festen und fliissigen Zustande und der Verschiedenheit der Schmelz-
temperaturen.
Ferner enthalt die Arbeit P>orteruDgen und MessuDgen iiber die
Yerhaltnisse beim Maximalpunkte und die Beziehung dieser Erschei-
nungen zum Raoultschen Gesetze. Da die Angelegenheit bereits
(S. 813£f.) behandelt word en ist, so kann darauf verwiesen werden.
200. Die Hydrate des Chloroalciums. Als typisches Beispiel fiir
die moglicben Falle der Verbindung und Losung bei Salzhydraten hat
Roozeboom^) das Ghlorcalcium in moglichst weitem Umfange untersucht
Dabei wurden folgende wesentlichsten Ergebnisso erhalten.
Ghlorcalcium bildet mit Wasser fiinf verschiedene Hydrate: eines
mit 6, zwei isomere mit 4, eines mit 2 und eines mit 1 Wasser; da-
neben ist auch noch das wasserfreie Salz neben der Losung untersucht
worden. Mit Hinzurechnung des Eises liogen also sieben verschiedene
feste Phasen vor. Wie in den anderen bisher untersuchten Fallen
wurden vierfache Punkte nur aus zwei festen, einer fliissigen und der
Dampfphase beobachtet; die fliissigc Phase war immer die gesattigte
Losung. Roozeboom hat insgesamt sieben solche vierfache Punkte er-
mittelt und gekennzeichnet.
Fig. 205 giebt einen Cberblick iiber die moglichen Gleichgewichts-
zustande der Chlorcalciumlosungen neben festen Phasen in den Koordi-
naten Zusammensetzung und Temperatur; dabei ist, urn die Analogic
mit den spater zu erorternden Dampfdrucken zu wahren, die Salzmenge
(gerechnet auf eine konstante Wassermenge gleich 100) von oben nach
unten abgetragen worden, wahrend nach rechts die Temperatureu ge-
rechnet sind.
Wir haben zunachst die Linie fur Losung tind Eis; von einem Ge-
halt x = 0 bei 0^ sinkt die Temperatur mit zunehmendem Salzgehalt,
bis bei — 55^ sich neben Eis das Hydrat mit 6 Wasser auszuscheiden
beginnt. Es ist dies die Kurve AB, und B ist der erste vierfache Punkt,
in welchem die Phasen Eis, Hexahydrat, Losung und Dampf neben-
einander bestehen.
Von B an nimmt die Loslichkeit des Hexahydrats mit steigender
Temperatur zu, und wir durchlaufen die Linie BG. Bei C tritt ein
Maximalpunkt ein, in welchem die Losung dieselbe Zusammensetzung
hat, wie das Hydrat (S. 819). Der entsprecheude „Schmelzpunkt" des
Hydrats liegt bei 30*2^. Entzieht man der Losung noch mehr Wasser,
') Rec. Pays-Bas 8, 1. 1889; Zeitschr. f. phys. Chemie 4, 31. 1889.
920
II. Chemische Dynamik.
SO fallt die Temperatur des Gleicbgewichtes, indem die LosuDg weniger
Wasser, als das Hydrat enthalt, doch lasst sich dieser Teil nur urn
einen Grad iiber C hinaus verfolgen.
Bei 29*2^ erscheint eine neue feste Phase, und zwar ein Tetrabydrat
Es ist die von Roozeboom mit p bezeicbnete weniger bestandige Form.
Da sich die Losung in Bezug auf diese nicht merklich iibersattigeD
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Fig. 205.
lasst, so kann die Loslichkeitskurve des Hexahydrats nicht iiber D
hinans verfolgt werden.
Die Loslichkeitskurve des Tetrahydrats j9 ist wieder mit der Tem-
peratur ansteigend, DF. Sie kann bis 18^ riickwarts von D nach E
fortgesetzt werden. Die Losungen DE sind alle in Bezug auf das Hexa-
hydrat iibersattigt; da aber dieses aus solchen Losungen niemals frei-
willig sich ausscheidet, so bildet dies kein Hinderuis. Vielmehr ist die
Grenze bei 18® dadurch gegeben, dass sich hier das /9- Hydrat in die
isomere bestandigere a-Form verwandelt.
Chemische Gleichgewichte zweiter OrdnuDg. 921
Da die LosuDgen zwischen E und F alle weniger Wasser als
sechs Mole enthalten, so erstarren sie, weon man sie mit einem Krystall
des Hcxahydrats in Beriihrung bringt, und notigenfalls die Temperatur
erniedrigt, zu einer trockenen Salzmasse, die aus den beidcn Hydraten
besteht.
Nach oben ist die Kurve durch den Punkt F begrenzt, in welchem
sich Krystalle des Bihydrats abscheiden; er liegt bei 38-4^. Dort faaben
wir wieder einen vierfacben Punkt, desseu Phasen das Tetrahydrat j9
and das Bihydrat neben Losung und Dampf sind.
Hat man die Losung auf 18^ abgekiihlt, so erscfaeint das Tetra-
hydrat a, welches das bestandigere ist und eine geringere Loslichkeit
besitzt. Wir gelangen dadurch auf einen Punkt seiner Loslicfakeits-
kurve GHK, von welcher der Teil HG in Bezug auf das Hexahydrat
iibersattigt ist. Wie man sieht, liegt der Punkt C unterhalb H, d. h.
das Gleichgewicht zwischen dem Hexahydrat im festen und geschmolzenen
Zuatande ist metastabil in Bezug auf das Tetrahydrat a, und wenn in
Bezug auf dieses nicht eine bedeutende Ubersattigung moglich ware,
80 hatte man den Maximalpunkt in diesem Falle gar nicht beobachten
konnen.
Wird bei H (Temperatur 29-8 ®) durch Einsaen eines Krystalles des
Tetrahydrats a die Umwandlung aus dem Hexahydrat bewirkt, so wird
fast die ganze Menge fliissig. Denn die Losung, die mit a im Gleich-
gewicht ist, hat 6'1 Wasser; die zwei Mole Wasser, die frei werden,
konnen somit 20 Mole des Hexahydrats in gesattigte Losung ver-
waodeln. Die Erscheinung sieht fast wie eine Schmelzung aus.
Die Kurve von a lasst sich bis 45-3® beobachten, wo sich gleich-
falls das Bihydrat abzusetzen beginnt Ist die Umwandlung vollzogen,
so kann man die Losung bis 35^ hinunter beobachten, ohne dass sich
eines der hoheren Hydrate abscheidet, in Bezug auf welche sie iiber-
sattigt ist.
Unterhalb dieser Temperatur ist die metastabile Grenze erreicht,
doch scheidet sich immer nur das unbestandigere j9-Salz ab: ein wei teres
Beispiel fur das friihere Auftreten der loslicheren und weniger bestan-
digen Form.
Entsprechend dem Gesagten sind in diesem engen Temperaturge-
biete vier vierfache Punkte D, F, H und K vorhanden. Die grosse Zahl
entsteht dadurch, dass das j3-Hydrat sich vollstandig beobachten lasst,
obwohl alle seine Losungen in Bezug auf a iibersattigt sind.
Dem Bihydrat kommt die Kurve FKL zu; der letzte Punkt liegt
bei 175-5^ Schon bei 165^ iibersteigt der Druck der gesattigten L6-
922 n. Chemische Dynamik.
sung den einer Atmospfaare, so dass die Beobachtungen in zuge-
schmolzenen Rohren gemacht werden mussen. Der Punkt L liegt nahe
am Schmelzpunkt des Hydrats, denn die Losung neben den Krystallen
hat die Zusammensetzung CaCI,. 2*074 H^O. Bei der Umwandlung in
das dort auftretende Monohydrat wird daher fast die ganze Menge
fliissig, und es scheidet sich nur wenig von dem neuon Hydrat ab.
Die Kurve des Monohydrats LM geht bis etwa 260®; die Losungen
besitzen alle einen starken Druck. Bei dieser Temperatur werden die
trockeuen Krystalle feucht, es geht also dort das Monohydrat in eine
wasserarmere Verbindung, wahrscheinlich das wasserfreie Salz, nebst
Losung fiber. Messungen konnten in diesen Gebieten nicht mehr aos-
gefiihrt werden. AUer Wahrscheinlichkeit nach setzt sich dort eine
Kurve fiir das wasserfreie Salz an, liber deren Verlauf jedoch nichts
bekannt ist. Die Annahme, dass sie stetig bis zum Schmelzpunkt des
Chlorcalciums gehen wiirde, wenn man sie beobachten konnte, wiirde
zur Voraussetzung haben, dass flussiges Chlorcaleium sich in alien Ver-
bal tnissen mit fliissigem Wasser mischen lasst, was nicht notwendig ist,
wenn man es auch vermuten darf.
Ausser den Meugenverhaltnissen hat Roozcboom auch noch die
Dampfdrucke der verschiedenen Gebilde mit einer Freiheit untersucht
Da die hier auftretenden vierfachen Punkte samtlich zwei feste Phasen
nebst Fliissigkeit und Dampf enthalten, so sind von den vier Kurven
zwei zu Gebilden aus fester, fliissiger und Dampfphase gehorig; eine
bezieht sich auf zwei feste Phasen neben Dampf und eine auf zwei
feste Phasen neben Fliissigkeit. Es sind daher drei Dampfdrucklinien
vorhanden, und eine Schmelzdrucklinie. Diese letzteren Linien sind io
keinem Falle gemessen worden.
Die Untersuchung bestatigte iiberall, dass in den vierfachen Pankten
die drei Dampfdrucklinien sich schneiden, und dass also die drei Ge-
bilde e^e^d, ejwd und e^wd (wo e^ und e, die beiden festen Phasen
bezeichnet) an den vierfachen Punkten den gleichen Dampfdruck aof-
weisen, wahrend bei anderen Temperaturen diese verschieden sind.
Die Dampfdrucklinien der gesattigten Losungen sind im allge-
meinen aufsteigend. Cberlegt man aber, dass zwei entgegengestxte
Ursachen hier thatig sind, namlich die Drucksteigerung durch die Tem-
peraturerhohung einerseits, die Druckverminderung durch die (meist
vorhandene) Zunahme der Loslichkeit mit der Temperatur andererseits,
so sieht man, dass auch Abweichungen hiervon moglich sind. In der
That ist eine solche bei den Losungen zu erwarten, die mit dem Heza-
bydrat im Gleichgewicht sind.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung.
923
Bei diesem Saize ist beim Schmelzpunkt die Zunahme der Los-
lichkeit mit der Temperatur unendlich gross; es muss also scbon Yor-'
her der vermindernde Einfluss der Konzentrationszunahme den ver-
mehrenden der Temperaturerhohung ubertroffen baben. Und voUends
ISO* ZMT iW
Fig. 206. Fig. 207.
iiber den Scbmelzpunkt binaus, wo mit einer Zunabme der Konzentra-
tioD eine Abnabme der Temperatur verbunden ist, muss die Dampf-
dmcklinie gegenlaufig werden (vergl. S. 829).
Dies ist denn aucb in der Tbat gefunden worden; die Linie BOCD,
Fig. 206, giebt die Dampfdrucklinie wieder. Die Bucbstaben, welcbe
924
II. Ghemische Dynamik.
die yierfachen Punkte bezeichnen, sind dieselben wie in Fig. 205, and
da ausserdem die zu den Yerscbiedenen Linien gehorigen Phasen ao-
gegeben sind, so macbt das Verstanduis der Zeichnung keino Schwierig-
keit. Dor obere Teil, Fig. 206, bezieht sicb auf die hoberen Hydrate
und die entsprechenden Losungen; der untere, Fig. 207, auf die wasser-
armeren, und ist in einem anderen Massstabe ausgefiibrt.
Dieser entbalt noch eine zweite Dampfdrucklinie mit einem Maxi-
mum, namlich die des Bibydrats neben Losung. Wie bereits bemerkt
worden worden war (S. 922), ist dieses bei seinem Umwandlungspunkt
in das Monobydrat seinem Schmelzpunkt sebr nabe, und da nacb dem
eben Gesagten das Dampfdruckmaximum bereits unter dem Scbmelz-
punkte zu erwarten ist, so lasst es sicb versteben, dass dies Maximum
zur Beobacbtung gelaugt.
Da das Maximum des Dampfdruckes ein ausgezeicbneter Punkt ist
so muss gefragt werden, welcbe andere ausgezeicbnete Eigenscbaft das
Gebilde an dieser Stelle bat. Die Autwort ist, dass an dieser Stelle
die Verdampfungswarme unendlicb wird (S. 830).
Die nacbfolgenden Tabellen entbalten die von Roozeboom ge-
messenen, bezw. berecbneten Dampfdrucke seiner verscbiedenen Gebilde.
Die zu den yierfachen Punkten geborenden Werte sind durcb fetteD
Druck bervorgehoben. Unter S ist der Salzgebalt auf 100 Wasser in
Gewicbt angegeben; x bedeutet Mole Wasser auf ein Mol Cblorcalcium.
Die Reihe p/jr giebt die Verbaltnisse der Drucke zu dem Dampfdrucke
des reinen Wassers bei derselben Temperatur. Das Zeicben rv;> be-
deutet eine Losung, deren Zusammensetzung durcb die Formel ge-
goben ist.
A. Gleichgewicht zwischen vier Phasen.
Yierfache Punkte.
Zosammeosetxaiig der Phasen
— 66°
29-8 •
38-4 »
45 3'>
175 5 •»
260°
+ 0 mm
5 67 „
I 680 „
7-88 „
1177
1842
^ mehrere
Atmo-
I sph&ren
91
Eis CaCl,.6H,0
CaCl,.6HjO , CaCl,.4H,0
CaCla.6HjO , CaCl4.4H,0
CaCla.4H,0/9, CaCla.2H,0
CaCI,.4Ha0a, CaCl,.2H,0
CaC1^.2H,0 , CaCij.HjO
CaClj.HjO , CaCl,
, GaCl,
A CaCI,
a, CaCl,
CaCl,
CaCU
GaCI.
CaCl,
145 H^O. Dampf
5-41
610
4^3
4.73
207
+ 18
n
19
>»
ft
If
fi
ff
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnuog.
925
B. Gleichgewicht zwischen drei Phasen.
I. Eis, CaClg^ :^xH,0,
Dampf.
t p
s
X
mm
0»
463
0
OC
— 5»
306
105
58-7
-^W
203
17-0
363
— 20»
27-0
22-8
30»
335
184
— 4u«
385
160
— 66« +0
425
41-5
1
II. Ca CI, . 6 H,0, Ca CI, ^ x H,0,
Dampf.
t
p
p
B
^
mm
— 55«
+0
425
14-5
25»
500
123
— 10*
0972
0452
550
112
0*
1944
0-425
595
1037
10°
3-456
0-380
650
9-49
20®
5-616
0-323
745
8-28
25*
6-696
0-285
82-0
752
285« 7 02
0-243
905
681
29.5°
6-91
0-226
95-5
6.46
80 2«
6'o96
0-210
1027
600
29.6«
5-83
0189
109-0
5-70
29.2»
667
0-188
1128
5-41
III. CaCl,.4H,0a, CaCJ, xe,0,
Dampf.
V. CaCI,.2H,0, CaCl, xH,0,
Dampf.
t
p
p
s
X
mm
20*
4-744
0-273
91-0
6-78
25*
5.724
0--244
960
6-42
29-8«
680 0-218
100-6
610
35»
8-64
0-207
107-3
5-75
40*
10-37
0-188
115-3
5-34
45-3'^
11-77
0162
130-2
4-73
IV. CaCl,.4H,0/9, CaCl,- oxH.O,
Dampf.
t
1
1 p
1
p
ft
s
z
mm
20»
3-564
0-205
1045
5-90
250
4-644
0-197
108-8
5-66
2^2?
567
0-188 112-8
541
30»
5-83
0187 1140
5-40
35»
7-128
0173 1225
504
384«»
7-803
0-155
1275
4-83
40«
45-3'>
50«
55'*
60°
65°
75«
80»
85«
90°
100«
110°
125°
135°
140°
155°
160°
165°
170°
1755°
mm
8-5
11-77
15-5
20-5
26-5
840
430
54-0
66-5
82-5
100
145
204
326
485
497
680
744
790
834
842
0-155
0-162
0-168
0-174
0-178
0-181
0184
0-186
0188
0190
0-191
0-191
0191
ai87
0185
0-183
0-167
0-160
0150
0140
0124
128-1
130-2
1323
134-5
136-8
139-2
141-7
144-3
147-0
149-8
152-7
159-0
165-5
176-0
185-0
1910
214-5
222-5
236-0
2550
297
4-81
473
4-66
4-59
4-51
4-43
4-37
4-31
4-24
4-16
4-08
3-90
3-72
3-50
3.33
323
2-88
277
2-61
2-42
207
OstwAld, Chemle. 11,3. 2.Auil.
59
926
n. CbemiBche Dynamik.
VI. CaCl^-HjO, CaCJ,^-^xH,0,
Dampf.
t
p
p
s
X
mm
176.6*
842
0124
297
2-07
180®
910
0-121
800
205
ISb^
1006
0-119
202-5
2-04
190*
IIU
0-118
305
202
19.0®
1230
0117
308
2-00
200*
1354
0116
311
1-98
205®
1491
0-115
314
1-96
236«
—
—
332
1-86
260*
—
—
+347
+1-8
VII. CaCl,.6H.C. CaCl,.4H.0a,
Dampf.
p
t
p
H
mm
-15®
0-27
0190
0«
092
0200
10«
1-92
0210
2i)«
3-78
0-^iSl2
25«
5-08
0-216
29-8«
6-80
0218
VIII. CaCl,.6H,0, CaCI,.4H,0/9,
Dampf.
t
p
P.
mm
-150
022
0153
0®
0-76
0-165
10*
1-62
0-177
20^
315
0-182
25«
4-32
0-185
29.2«
5-67
0-188
IX. CaCl,.4H,0a, CaClt.2H,0,
Dampf.
t
p
p.
n
mm
— 15®
017
0117
0®
0-59
0-129
10«
1-25
0-137
20»
2-48
0-143
25«
3-40
0145
80°
4-64
0147
35®
6-26
0-150
40«
8-53
0-155
45-d*
1177
0-1^2
X. CaCla.2HaO, CaClg.HjO,
Dampf.
t
p
p_
n
mm
65®
13
0-070
7b»
24
0-074
100«
60
0-080
129^
175
0-0^9
155^
438
0-107
165*
607
0-115
170»
715
0-120
17d.6»
842
0-124
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnang.
927
C. Gleichgewicht zwischen zwei Phasen.
CaCI, 'occ zH,0 und Dampf.
x»22
z*=8.2
x»8.9
x«4.76
t
p
p
IT
i
P
P.
n
i
P
P
IT
t
p
p
mm
mm
mm
mm
160*
570
0-123
135*
420
0178
90«
90
0-171
45*
115
0-162
165*
651
012.H5
140^*
492
0-181
95*
114
0-180
1700
751
01245
150«
682
0-190
100*
152
0200
ISO*
980
0127
154*
760
0191
146°
760
0-236
138«
760
0299
190*
laio
0139
z»6.0
x = 8.85
X = ii.a
t
P
p.
t
p
p
t
p
p.
30»
130«
mm
6-6
760
0-209
0-374
18«
100*
120«
mm
5-1
849
760
0.83:i
0-460
0-510
— 10*
10o«
114«
mm
0-97
444
760
0-481
0-584
0-618
201. Die Hydrate des EisenohloridB. Noch mannigfaltigere Ver-
baltnisse als das Chlorcalcium bot das Eisenchlorid, uber dessen Unter-
sucbung durch Roozeboom^) bereits einiges bericbtet wordeu ist. An
too*
Fig. 208.
dieser Stelle sollen die gegenseitigen Beziehungen der Yerschiedeneii
Hydrate und ihrer Losungen erortert werden. Zu diesem Zwecke sei
die eotsprecbende Fig. 208 wieder abgedruckt
Uber die Losungslinie des gewobnlichen gelben Hydrats mit
12HyO, welcbe durch BCN dargestellt ist, ist S. 820 das erforderlicbe
gesagt worden. Verdampft man etwa die Halfte des Wassers aus
^) Zeitschr. f. phys. Chemie 10, 476. 1892.
59*
928 n. Chemische Dynamik.
diesem Saize auf dem Dampfbade und lasst erkalteu, so erscheinen
rhombische Krystalle des Hydrats mit 5HyO, deren Losungslinie dorch
M6H dargestellt ist. Beide Linien schneiden sich in N bei etwa 15^
wo dieselbe Losung mit etwa 7*6 H^O gleicbzeitig mit beiden Hydraten
im Gleicbgewicht ist, und bei Warmeentziehung bei konstanter Tem-
peratur zu einem Gemenge beider erstarrt Dieser Punkt verbalt sich
vollkommen wie ein eutektiscber Punkt; ebenso die unteren eut-
eprecbenden, mit D, F, H und K bezeichneten Punkte.
Indessen erstarrten aucb Losungen aus dem rechts von CN G gelegeneo
ungesattigten Gebiete haufig zu einer festen Masse, welche demnach ein
zwischenliegendes Hydrat enthalten musste. Dies wurde weiter dadurch
bestatigt, dass je nach der Zusammensetzung der Losung die ontstandene
feste Masse entweder bei 30® oder bei 27*6® konstant sehmolz; diese
Temperaturen waren als eutektische Punkte aufzufassen, in welchen die
Losungslinie des neuen Hydrats die der Hydrate mit 12 und mit
5H2O Bchuitt.
Um das Hydrat zu isolieren, wurde eine Losung hergestellt, die
etwas reicher an Salz war, als dem Punkte D entsprach und erstarren
gelassen. Beim Erwarmen etwas iiber 274® sehmolz das 1^- Hydrat
voUig und vom neuen der grosste Teil, doch musste wegen der Zq-
sammensetzung der Losung etwas iibrig bleiben. Dieses Salz wurde
in eine grossere Menge iiberkalteter Losung mit etwa l-bH^O gesat,
worauf cine reichliche Krystallisation braungelber monokliner Blattcben
von der Zusammensetzung Fe2Glg.7H90 entstand, deren Schmelzpunkt
bei 32-5® (also niedriger als der des 12-Hydrat8, 37®) gefunden wurde.
Die Losungslinie des Hydrats wurde bestimmt und ist durcb OEP dar-
gestellt.
Sehr bemerkenswert sind die Cbersattigungsverhaltnisse, die sich
durch diese Lage der Losungslinie herausstellen. Beachtet man, dass
rechts von jeder Losungslinie die ungesattigten, links die iibersattigten
Losungen liegen, so findet man folgende Ubersattigungsgebiete:
CDC iibersattigt fiir das Hydrat 10
ODM „ „ „ „ 10 und 7
MN „ „ „ „ 10, 7 und 5
DNFE „ „ „ „ 7
NFP „ „ „ „ 7 und 5
PFGH „ „ „ „ 5.
Alle Losungen, welche nur fiir ein Hydrat iibersattigt sind, er-
starren beim Einsaen desselben zu einem Gemisch von Krystallen und
fliissiger Mutterlauge. Alle diejenigen dagegen, welche fiir zwei Hydrate
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnung.
929
libersattigt sind, konnen ebenso erstarren, wenn Keime eines der
Hydrate ausgeschlosBen sind. Sind dagegen beiderlei Keime vorhanden
(oder ist die metastabile Grenze iiberscbritten) , so erstarren derartige
Losungen zu einem festen Gemisch beider Hydrate.
Dies Verbalten ist keineswegs allgemein, sondern riihrt daher, dass
solcbe zweifach iibersattigten Gebiete einerseits yon einem vor-, andercr-
seits von einem riicklaufigen Teil der Losungslinie begrenzt sind. Ist dies
nicht der Fall, so bleibt Mutterlauge iibrig, donn beim Einsaen beider
Arten Erystalle wiirden sich nicht beide nebeneinander ausscheiden
konnen, sondern die loslichere Form wUrde von der weniger loslichen
aufgezehrt werdeu. Solches tritt z. B. bei Natriumsulfatlosungen ein»
die sowobl fiir das Hydrat 10, wie fur 7 libersattigt sind.
Das Ubersattigungsgebiet wird bei den Linien mit riicklaufigem
Teil^ durch die Horizontale QC, Fig. 209, die durch den Schmelzpunki
gebt und die Zusammensetzung des Hydrats darstellt, in zwei Gebiete
von verscbiedeiiem Verbalten geteilt. Wird im unteren Gebiet die
Qbersattigung ausgelost, so
wird die Zusammensetzung der
Mutterlauge durch einen Punkt
der Linie BC dargestellt, im
anderen Falle durch einen
Punkt von CN. Liegt die Zu-
sammensetzung auf QC, so
kommt man nach C.
Zu beachten ist noch, dass ^
Losungen, die nur in Bezug "^
auf ein Hydrat libersattigt sind,
durch Ausscheidung desselben libersattigt fiir ein anderes werden konnen.
Dies gilt fiir Losungen im Gebiete QSDO. Bringt man in eine solcbe
Losung das 10- Hydrat und lasst bei konstanter Temperatur krystalli-
sieren, so gelangt man senkrecht nach oben an einen Punkt der Linie
DN, und somit in das Gebiet der t)bersattigung fiir das 7-Hydrat.
Eine weitere Folge der riicklaufigen Losungslinien ist, dass sich
zwei Hydrate, die bei niederen Temperaturen nebeneinander bestehen
konnen, sich bei boheren, die noch weit unter dem Schmelzpunkte der
Hydrate liegen, gegenseitig verfliissigen. Dies lasst sich z. B. an den
Hydraten mit 12 und dH^O beobachten. (Da die Zwischenform mit
TH^O nur schwierig auftritt, kann sie ausser Acht gelassen werden.)
Wahreod beide Hydrate unterhalb 15^ im festen Zustande nebeneinander
bestehen* werden sie oberhalb 15^ sich gegenseitig verfliissigen, wenn
Fig. 209.
930
II. Ghemische Dynamik.
8ie in solchem Verhaltnis vorhanden aind, dass die entstehende Losang
zwischen die Linien CN und MG fallt, da sich dort ungesattigte Lo-
sungen befiuden. Schon Fritzsche hat diese merkwlirdige Erscheinang
beobachtet
AuBser den eben besprochenen Hydraten wurde noch eines mit
4H2O in rhombiscben Krystallen beobachtet, dessen Schmelzpunkt bei
73*5^ liegt, und von dem ein riicklaufiger Teil der Losongslinie bis
66^ verfolgt werden konnte. Dort wird diese von der Losungslinie des
wasserfreien Eisenchlorids geschnitten, welche fast horizontal verlaoft.
Neue Verhaltnisse treten hier nicht aaf.
202. O'rganiBohe Verbindungen« Eine Anzahl von Beispielen fur
die verschiedenen Arten der biuaren Losungsgleichgewichte bei orga-
nischen Verbindungen ist von Kurilow^) beigebracht worden. In den
Figg. 210 bis 213 sind seine Ergebnisse dargestellt, indem eutektische
.^+
0-9
i
/
0 A
/
0-7
/
/
Ofy
y
t
OS
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0 ¥
Ost
J
or
y
/
0 I
X
/
'■^
. — ■
Fig. 210.
Fig. 211.
Punkte mit e, Schmelzpunkte mit s und Knicke mit k bezeichnet sind.
Fig. 210 bezieht sich auf Benzol und Triphenylmethan; die links
verzeichneten Zahlen geben den Molenbruch des letzteren an. Die
Linie beginnt unten bei 5 mit Sbi dem Schmelzpunkte des reinen
Benzols. Bereits bei 4-2 ist der eutektische Punkt e, erreicht, in
welchem die Losung fiir die Verbindung von Triphenylmethan und
Benzol; die aus gleichen Molen der Bestandteile besteht, gesattigt ist;
diese scheidet sich daher in e^ neben festem Benzol aus. Von dort
beginnt die Losungslinie der Verbindung, welche in s bei x=r0-5 und
^) Zeitschs. f. phys. Ghemie 23, 547 und 678. 1897.
Ghemische Gleichgewichte zweiter Ordnang.
931
78-2<> riicklaufig zu werden beginnt. Es liegt also hier ein Schmelz-
punkt der Verbindung vor, in welchem die Schmelze die gleiche Zu-
sammensetzung bat, wie diese. Bei e tritt neben der Verbindung
festes Triphenylmethan auf; es ist also ein neuer eutektischer Punkt
Yorhanden. Von dort bleibt als feste Pbase nur Triphenylmethan iibrig
und die Linie e^St stellt die Schmelzpunktserniedrigungen desselben
durcb Benzol dar; St ist der Schmelzpunkt des Triphenylmethans.
Fig. 211 zeigt die Linie /3-Naphtol-Pikrinsaure; der Molenbmch
der letzteren wacbst nach oben. Wir haben, von unten gerechnet,
zaerst die Schmelzpunktserniedrigung des Naphtols durch Pikrinsaure,
bei e| einen eutektischen Punkt, wo sich feste Pikrinsaure neben fester
Doppelverbindung ausscheidet Von dort beginnt die Losungslinie der
Verbindung, die bei s durch deren Schmelzpunkt geht und einen un-
gewohnlich langen riick-
laufigen Teil bildet. Bei
e^ ist ein zweiter eutek-
tiscber Punkt, in welchem
feste Verbindung neben
fester Pikrinsaure bestebt,
und Sp ist der Schmelz- o^
punkt der letzteren.
Fig. 212 zeigt die
Linie Benzol -Pikrinsaure.
Nach der sehr kurzen Linie
mit festem Benzol tritt in
e der erste eutektische
Punkt mit festem Benzol
ond fester Verbindung auf. Von dort geht die Losungslinie der Ver-
bindung bis k, wo zwei Punkte zusammenfallen: der Schmelzpunkt der
Verbindung und der eutektische Punkt, bei dem die Verbindung neben
fester Pikrinsaure besteht. Dies Zusammenfallen ist sicher nicht abso-
Ittt, sondern es handelt sich wahrscheinlich um einen Knickpunkt, in
welchem die Verbindung unter Abscheidung von (sehr wenig) fester
Pikrinsaure schmilzt; ebenso wird k nicht, wie gezeichnet, genau auf
die Ordinate 0-5 fallen, sondern etwas niedriger; doch hat die Schwierig-
keit der Analyse eine genauere Kontrolle verhindert. ^
Fig. 213 giebt endlich die Verbal tnisse zwischen /3-Naphtol und
Benzol wieder. Es ist eine gewobnliche zweifache Linie mit einem
eutektischen Punkte darin, die sich von den anderen nur durch die
auffallende Kriimmung des langeren Zweiges unterscheidet; Der stetige
5a
J'
—
/
/
-
/
y
/
r
:.
^
/
/
f
\
-
^
\ I
1
1
1
1 ...
1
•
1
. 1
i_
SOT
Fig. 212.
iOO"^
932
II. Chemische Dynamik.
OJ -
60'
Fig. 213.
100'
Verlauf beider Zweige ist eine Bestatigung dafiir, dass diese beiden
Stoffe keine feste Verbindang bilden.
203. Legiemngen. Ein besonderes praktisches leteresse hat
das Phasengesetz fur die Beurteilung der Verhaltnisse an die L^ie-
Sft rungen mebrerer Metalle.
In der Technik werden
verhaltnismassig wenige
Metalle in moglichst rei-
nem Zustaude benntzt;
meist kommen Gemenge
zur Anwendung, und die
Gesetze, deneu diese unter-
worfen sind, haben daher
eine grosse Bedeutung.
Die iiber diesen Gegen-
stand namentlich in letzter
Zeit ausgefuhrten Forsch-
ungen haben ergeben, dass
sich die Verhaltnisse bei Metalllegierungen in jeder Beziehung denen
anscbliessen, die bei anderen Stoffen, z. B. Salzlosungen bekanot ge-
worden sind. Zunachst gelten fur die verdiinnteu MetalUosungen die
allgemeinen Losungsgesetce
(I, 1023); fur das Verstand-
nis der gesamten Erscheinon-
gen ist das Phasengesetz dor
zuverlassige Fiihrer.
A Is ein gutes Beispiel
eines etwas verwickelteren
Falles seien die Ergebnisse
wiedergegeben, die von Hay-
cock und Neville^) bei ihrer
Untersuchung der Legieron-
gen Yon Gold und Aluminiam
erhalten worden sind.
Fig. 214 giebt eioea
* Oberblick iiber die Gleicb*
gewichte zwischen der flussigen Legierung und den ycrscbiedenen festen
Stoffen, die sich aus ihr ausscheiden. Die Ordinaten stellen die Zu-
^) Phil. Trans. 1900, 201. Altere Arbeiten Uber andere MeUllgemiKhe:
Journ. Chem. Sbc. 1892, 888 und in den folgenden fi&nden dieser Zeitschrilt
A
Att.
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I
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300'
600
" J
700'
SOO"
900
iOOO^
Fig. 214.
Chemische Gleichgewichte zweiter Ordnung. 933
sammensetzuDg der flussigen Phase in Molenbriichen dar, die Abscisscn
sind die Temperaturen, bci deiien diese mit einer, bezw. zwei festcD
Phasen im Gleicbgewioht ist.
Beginnen wir bei A, dem Schmelzpunkte des reinen Goldes, so
wird darch den Zusatz yon Aluminium eine sehr scbnelle Erniedrigung
der Gleichgewichtstemperatur hervorgerufen. Die zugehorige Linie ist
fast eine Gerade, wie dies meist beobachtet worden ist (S. 850).
Bei B liegt ein Knick in der Linie, zum Zeicben, dass eine neue
feste Phase entsteht. Wahrend zwischen A und B reines Gold krystalli-
siert, tritt bier eine Verbindung von Gold und Aluminium auf, der sehr
wahrscheinlich die Formel Au^Al zukommt.
C ist ein eutektischer Punkt, in welchem ein Gemenge von Au^Al
und der nachsten Verbindung AugAl, (?) sich ausscheidet, dessen Ge-
samtzusammensetzung gleich der der Schmelze in diesem Punkte ist
Der Zweig CD stellt die Gleichgewichte mit dioser zweiten Ver-
bindung Yon Gold und Aluminium dar, deren Zusammensetzung nicht
genau hat bestimmt werden konnen. Vermutlich ist sie AugAl^; sie
kann aber auch AugAlg sein.
Der Zweig DEF stellt den S. 817 geschilderten Fall dar, dass
eine feste Verbindung mit fliissigen Phasen im Gleichgewicht steht,
deren Zusammensetzung sich stetig so andert, dass die des festen
Sto£fe8 innerhalb der Grenzen liegt. Seine Zusammensetzung ergiebt
sich aus der Lage des Gipfels £, da dort die fliissige Phase die gleiche
Zusammensetzung haben muss, wie die feste. Die zugehorige Ordinate
ist 0*33 9 die Zusammensetzung ist demgemass Au^Al, wie es auch die
Analysen ergeben haben.
Zwischen F und G erscheint wieder eine neue Verbindung, deren
Formel wahrscheinlich AuAl ist.
Zwischen G und I iiber H endlich tritt als feste Phase die Ver-
bindung AuAl, auf, welche am bosten von alien gekennzeichnet ist
Sie hat eine purpurviolette Farbe und ist von Roberts-Austen entdeckt
worden. Die Zusammensetzung der flussigen Phasen, die mit dieser
Verbindung im Gleichgewicht stehen konnen, geht durch die der festen
hindurch; daher tritt wieder ein Buckel auf, dessen ausserster Punkt
bei dem Molenbruche 0-67 liegt, wo die Zusammensetzung der fliissigen
und der festen Phase gleiph ist
Eine weitere bemerkenswerte Eigeutiimlichkeit dieses Punktes ist,
dass seine Temperatur mit dem Schmelzpunkte des reinen Goldes inner-
halb der Versuchsfehler Ubereinstimmt
Zwischen I und J endlich krystallisiert reines Aluminium aus und
934 n. Ghemische Dynamik.
wir baben die dem Zweige AB eDtsprechenden ScbmelzpuDktserniedri-
gangen des AluminiumB, die darcb Zusatz kleiner Goldmengen zu Ala-
minium ber?orgebracht werdcn. Dieser Zweig erstreckt sich iiber ein
80 enges Gebiet, dass er leicht uberseben werden kann, deoQ der Punkt
I liegt beim Molenbruche 0*989.
Die' Ergebnisse der Scbmelzpunktsbestimmungen wurden durch
mikroskopiscbe Beobacbtung geschliffener und dann mit Bromwas8er
gcatzter Flacben durcbgangig bestatigt. In den eutektischen PunkteD
C und F stellte sich die erstarrte Masse als ein korniges Gemenge d^r
beiden festen Formen dar, wabrend in den beiden Punkten E und H,
wo die Legierung nacb der Tbeorie einheitlicb erstarren soli, durcb die
Atzung dicbt aneinander liegende Krystalle aufgedeckt wurden, zwischen
denen eine kaum merkliche Zwiscbensubstanz vorhanden war. Je weiter
man sicb von diesen Punkten entfernte, urn so 46utlicber trat die Za-
sammensetzung aus zwei verscbiedenen festen Anteilen auf.
Dabei wurde allerdings zuweilen das Bild dadurcb verwickelter,
dass Starke Cberkaltungen eintreten konnen, die aucb tbermometrisch
beobacbtet wurden, wodurcb die Ordnung der Ausscbeidung gestort
wird. So ergab beispielsweise zwiscben G und H die mikroskopiscbe
Untersucbung unzweifelbaft, dass die feste Legierung aus drei ver-
scbiedenen festen Stoffen zusammengesetzt war. Diese mit dem Pbasen-
gesetz anscbeinend im Widersprucb stebende Tbatsache klarte sicb
dabin auf, dass zuerst ein unbestandiger Stoff X entstebt, dessen Za-
sammensetzung unbekannt ist. Dann entstebt die bestandige purpur-
violette Legierung; die Umwandlungsgescbwindigkeit tier ersten Krystalle
ist aber nicbt gross genug, um sie verscbwiuden zu lassen, und es
bleiben daher nocb Reste davon neben den beiden bestandigen Stoffen
erhalten, indem jedes Korn der Verbindung X von einer Hiille aos
AuAl^ umscblossen ist. Wegen solcber Uberscbreitungserscbeinungen
zeigen aucb scbnell abgekiiblte Legierungen oft ganz andere Beschaffen-
beit, als gleicbzusammengesetzte Gemenge, die man einer sehr lang-
samen Erkaltung unterworfen bat. Dieser Befund bat aucb fur die
Deutung geologiscber Erscbeinungen eine grosse Bedeutung.
Viertes
Chemische Oleichgewichte dritter Ordnnng.
1. Die Bestandteile. Entsprecbend den Definitionen der Gleidi-
gewicbte niedrigerer Ordnungen wird man als ein Gleicbgewicht dritter
Ordnung ein solches zu definieren baben, in welcbem fur den Aosdruck
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnung. 935
der Zusammensetzung , verschiedener gleichzeitig bestebender Pbasen
drei voneinander unabbangige Bestandteile erforderlicb sind. Mit dieser
Kennzeicbnung ist iibereinstimmend die andere, dass die Zusammen-
setzung einer polcben Phase nur durcb eine algebraiscbe Summe dreier
anderer koexistenter Pbasen darstellbar ist.
Wabrend es aber bei Gleicbgewichten erster und zweiter Ordnung
moglich war, als Bestandteile Stoffe zu wablen, die unter deu einge-
haltenen Bedingungen wirklicb als cbemiscbe Individuen besteben, und
bierfur nur positive Stoffmengen zu verwenden, treten bei den Gleicb-
gewicbten dritter Ordnung Verbaltnisse ein, die zum Verzicbt auf die
eine oder die andere dieser Voraussetzungen zwingen. Man kann die
Bestandteile so wahleu, dass sie durcb vorbandene Stoffe dargestellt
warden: dann muss man negative Stoffmengen einfiibren. Oder man
will negative Stoffmengen vermeiden : dann muss man als Bestandteile
Teilstiicke der vorbandenen Verbindungen wablen, die oft iiberbaupt
nicbi fiir sicb existenzfabig sind.
Es riibrt dies daher, dass bei den Gleicbgewicbten dritter Ordnung
eio neuer Typus der Reaktionsgleicbungen auftritt. Wir wollen ibn im
Anscblusse an die Betracbtung des gewobnten Typus kennen lernen.
Einen Vorgang dritter Ordnung wird man zunacbst in der Gestalt
mj Aj -f- m^ Aj + m3 A J = n B
zu scbreiben geneigt sein, wo die drei Stoffe A^, A^ und A^ sicb zu
einer Verbindung B nacb den Verbaltnissen mi'.mgrmszn vereinigen.
In diesem Falle lassen sicb allerdings die moglicben Verbindungen als
Summon der als Stoffe darstellbaren Bestandteile A^, A2, A3 ausdriicken,
und die Betracbtungen fiir die Gleichgewicbte zweiter Ordnung finden
bier ibre regelmassige Fortsetzung.
Ausserdem sind aber nocb Vorgange moglieb, die nacb dem allge-
meinen Scbema
m^ A^ + m^ Aj = n^ B^ + n^ Bg
▼erlaufen und diese miissen gleichfalls als solcbe dritter Ordnung an-
gesprocben werden, fiir welcbe aber die gewobnliche Darstellangsweise
nicbt mebr zutrifft.
Zunacbst ist die Frage zu beantworten, ob man es bier wirklicb
mit Vorgangen dritter Ordnung zu tbun bat, zumal sie von einem sebr
verdienten Forscber in die vierte Ordnung verwiesen worden sind. Die
Antwort kann nicbt zweifelbaft sein, wenn man sicb der Definition des
anabbangigen Bestandteils erinnert. Wablen wir in der oben gegebenen
Cileicbung irgend welcbe drei Stoffe als unabbangige Veranderlicbe, so
konnen wir immer den vierten Stoff algebraiscb durcb eine Summe
936 II* Chemische Dynamik.
der drei anderen ausdriicken. Dies ergiebt sich allgemein aus der notwen-
digen Voraussetzung, dass in einer cheniischen Gleichung die Samme der
Bestandteile auf beiden Seiten gleich 8ein muss; von den vier Gliedern der
bier vorliegenden sind also drei uuabhangig, das vierte aber nicht
Daraus geht zunachst die allgemeine Kegel hervor, dass die Zabl
der Bestandteile irgend einer Reaktion gleich der um eins verminderten
Zahl der Glieder in der chemischen Gleichung ist, durch welcbe diese
Reaktion ausgedriickt wird').
Da man jedes Glied der Reaktionsgleichung durch die drei anderen
darstellen kann, so ist die Wahl, welcbe drei von ihnen man als Be-
standteile annehmen soil, willkiirlicb. Da man aber ferner bei dieser
Form der Gleichung in dem Ausdrucke ein negatives Glied neben zwei
positiven hat, so enthalt die Darstellung irgend eines Bestandteiles
durch die beiden drei anderen Stoffe immer eine negative Stoffmenga
Um diese Betrachtungen anschaulich zu machen, wahlen wir irgend
eine Reaktion, die dem gegebenen Schema entspricht, z. B. den Vorgang
C0»4-H« = H»0 + C0.
Von den vier Stoffen dieser Gleichung kann man jeden durch die
drei anderen seiner Zusammensetzung nach darstellen, und ihn auch
durch eine entsprechende chemische Reaktion erhalten. Dies wird aus
den Gleichungen ersichtlich:
H«=H»0 + CO — C0»; CO«=CO + H»0 — H«; CO=CO*+H«— H»0;
fl»0 = H»4-C0«-C0.
£s sind jedesmal die drei anderen Stoffe und nie weniger fiir den
Ausdruck der Zusammensetzung des vierten erforderlich. Einer der
drei Stoffe crscheiut mit dem negativen Zeichen. Man wird demnach
auch jede Phase, die aus diesen vier Stoffen besteht, durch drei von
ihnen ihrer elementaren Zusammensetzung nach darstellen konnen, aber
nur unter Benutzung des negativen Zeichens.
Nun kann man allerdings die Bestandteile so wahlen, dass nar
positive Zeichen vorkommen, dann aber ist mindestens ein Bestandteil
„virtuelPS d. h. als Individuum nicht vorhanden. So kann man jede
mogliche Phase bei dem eben geschilderten Gleichgewicht durch die
drei Bestandteile H^ CO und 0 darstellen; der Bestandteil 0 kommt
aber als solcher in den Gleichgewichten nicht vor.
Diese Moglichkeit, jede Phase eines chemischen Vorganges als eine
Summe von lauter positiven Gliedern darzustellen, wenn man als
^) Eine notwendige Erl&uteruDg hierzu, wddurch der Satz in gevissem Siiuie
eiDgeschr&Dkt wird, findet sich weiter unten.
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnung. 937
Bestandteile Bruchstucke der vorhandenen Stoffe wahlt, ist die Quelle alter
Theorien iiber die „KoD8titution** der chemischen Stoffe, und man kann
dieses Element von der Berzeliusschen Salztheorie durch die Radikal-
theorie bis in die neueste lonentheorie hinein verfolgen.
Bei der Ausfiihrung dieses Gedankens gelangt man nocb auf zwei
▼erschiedene Falle, deren Unterscheidung niitzlich 6eiu wird. Sie werden
darch die beiden Formeln
und m, (ai + /9J + m, (a, + jj,) = n^ (a^ + jS,) + n, (a^ + /?,)
dargestellty und man pflegt die Reaktionen der ersten Formel als ein-
facbe, die der zweiten als doppelte Umsetzungen zu bezeichnen.
Im ersten Falle treten drei Bestandteile auf, von denen zwei reelle
Stoffe sind, und nur der dritte virtuell; eine besondcre Bemerkung ist
hieran nicht zu kniipfen.
Im zweiten Falle erscheinen dagegen vier virtuelle Bestandteile,
von denen keiner durch die anderen ausdriickbar ist, und es scbeint
demnach, als hatto man es bier wirklich mit einer Reaktion vierter
Ordnung zu thun. Nun kann allerdings schon die Thatsache, dass ein
solcber Anschein nur bei der willkiirlicheu Darstellung der Reaktion
durch virtuelle Bestandteile oder Radikale auftritt, wahrend die un-
mittelbare Formulierung dcs Vorganges dessen Zugehorigkeit zur dritten
Ordnung hervortreten lasst, zur t)berzeugung fiihren, dass jener Schluss
auf die vierte Ordnung eben irrtiimlich sein muss; doch hat man das
fiediirfnis, auch die Ursache dieses Irrtums einzusehen.
Diese Ursache liegt darin, dass zwischen den vier Radikalen der
Voraussetzung gemass eine quantitative Beziehung besteht. Wahrend
bei der einfachen Umsetzung (man kann sich diese etwa durch die
Reaktion 2AgBr-f- CI, =2AgCl-|- Br, veranschaulichen) die drei Be-
standteile, sowohl die reellen CI, und Br,, wie der virtuelle Ag in
jedem beliebigen Verbaltnis genommen werden konnen, und immer ein
Gleichgewicht ergeben, so ist bei der doppelten Umsetzung eine solche
Freiheit nicht mehr vorbanden, sondern es muss die Summe der virtu-
ellen Bestandteile a^ -\- a^ der der Bestandteile /3| -f- /3, aquivalent
sein. Hat man also drei von ihnen bestimmt, so ist die Menge des
vierten eindeutig festgelegt, und kann iiberhaupt nicht anders genommen
werden. Wenn also auch die vier Radikale als Bestandteile aufgefasst
werden konnen, so sind sie doch nicht unabhangige Bestandteile. Nur
auf solche aber bezieht sich die Definition der Ordnung der Reaktion
nach der Zahl der Bestandteile.
Um sich diese Verhaltnisse anscbaulich zu machen, betrachte man
938 n* Chemische Dynamik.
die Umsetzung von Alkohol und Essigsaure zu iLthylacetat' und Wasser').
Mail kann die Zusammensetzung jedes dieser Yier Stoffe durch die drei
anderen ausdriicken; es ist also eine Reaktion dritter Ordnung'). Man
erkennt dies allgemein, wenn man den Alkobol mit R.OH, die Saore
mit A.H, den Ester mit R.A und das Wasser mit H.OH bezeichnet
Dann gelten wieder die vier Gleichungen
R.OH = R.A + H.OH — R.H; A.H = R.A + H.OH — R.OH;
R.A = R.OH + A!.H — H.OH; H.OH = R.OH + A.H — R.A,
denen zafolge man jeden der Stoffe durch die drei anderen darstelleii
kann. Beim Zerlegen in Radikale erh^lt man die vier verschiedenen
R, A, H und OH. Diese sind aber nicht unabhangig, denu in jedem
beliebigen Gemisch der vier Stoffe muss sein:
R + H = A + OH
und es ist unmoglich, ein Gemenge von Saure, Alkohol, Ester und
Wasser herzustellen, fiir welches die eben gescbriebene Gleichung nicfat
giiltig ware.
Die lonen der gewobnlichen Neutralsaize unterliegen der gleichen
Beziehung. Es kann daher das Verstandnis erleichtern, wenn man sich
vergegeiiwartigt, dass man beispielsweise in eiuem beliebigen Gemenge
von Natriumchlorid, Magnesiumsulfat, Magnesiumchlorid und Natrium-
sulfat nur die Mengen von CI, SO4 und Mg zu bestimmen braucht, urn
die von Na alsbald durch Rechnung finden. zu konnen, denn es muss
notwendig Na + Mg aquivalent sein Cl + SO^^).
2. Sammengleiohungen. Die eben gegebene Regel zur Bestimmung
der Ordnung einer chemischen Reaktion er^hrt eine Ausnahme fiir ge-
wisse Gleichungen, von denen die nachstehende ein Beispiel ist:
2CaC0» + H»0 = Ca(OH)» + CaO + C0«.
Die Gleichung enthalt fiinf Glieder, und erscheint demnach als eine der
vierten Ordnung. Indessen iiberzeugt man sich alsbald,. dass sie nor die
Summe zweier unabhangiger Gleichungen dritter, bezw. zweiter Ordnung
CaC0»4-H«0 = Ca(0H)« + C0« und CaCO» = CaO + CO«
ist Diese sind ausserdem zu Unrecht addiert worden, denn die beiden
Reaktionen finden zwar gleichzeitig, aber nicht notwendig in den durch
') Durch einen Irrtam habe ich diesen uod fthnliche Yorg&nge im vorigea
Kapitel unter den Vorg&ngen zweiter Ordnung erw&hnt Dieser Fehler sei hiermit
zurechtgestellt.
') Vergl. die etwas anders gefQhrten ErOrterongen von B. Roozeboom, Zeit*
schrlft f. physik. Chemie 15, 145. 1894.
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnung.
939
die Formel yerlangten Aquivalenzverbaltnissen, soDdern in wechselnden,
von Druck und Temperatur abhangigen Verhaltnissen statt.
Es ist also bei der Bestimmung der Ordnung der Reaktionen aus
der cbemischen Gleichung darauf zil achten, dass nicbt derartige falsche
Summengleichungen der Betrachtung zu Grunde gelegt werden. Wird
dieser Irrtum ausgeschlosseu; so gilt die oben (S. 936) gegebene Regel
allgemein.
Gleichungen, die in der eben erwahnten Weise scheinbar als
Summen auftreten konnen, yerdanken diese EigentUmlichkeit dem Um-
stande, dass sie gemeinsame Glieder enthalten. Dieser Umstand be-
dingt eine wichtige Beziehung der Gleichgewichtskoeffizienten der ent-
sprecbenden einfachen Reaktionen, auf die an spaterer Stelle einzugeben
ist Einfacbere Falle der bier auftretenden Beziehungen sind bereits
bei Gelegenbeit der Reaktionen erster Ordnung erwabnt worden.
3. Die mdgliohen FSlle. Unterscbeidet man wie friiber feste,
flussige und gasfbrmige Phasen, so ist die Anzabl der moglicben Falle
mit den Freibeitsgraden Null bis Tier auf 35 gestiegen. Macbt man
von der erfabrungsmassigen Beziebung Gebraucb, dass bocbstens so viele
fliissige Pbasen vorkommen, als Bestandteile Yorbanden sind (also im
Yorliegenden Falle drei), so fallen yier Falle fort, und es bleiben nur
31 iibrig.
Die Forscbung ist nicbt soweit yorgescbritten, dass fiir jeden dieser
Falle ein Beispiel yorbanden ware. Es wird daber geniigen, yon ibnen
die wicbtigsten, die uniyarianten Falle yorwiegend zu betracbten, soweit
dies zur Zeit durcbfiibrbar ist. Die nonyarianten Falle oder funffachen
Punkte ergeben sicb dann als Durchscbnitte der uniyarianten Linien,
und aucb die biyarianten Falle konnen, soweit sie Interesse bieten, im
Anscbluss an die nachstyerwandten uniyarianten bebandelt werden.
Daneben besteben allerdings nocb einige wicbtige FalleT mit mebr
Freibeiten.
Eine Obersicbt der moglicben Falle giebt die nachstebende Tabelle.
Freiheitsgrad
NuU
Eins
Zwei
Drei
Vier
eeeee
eeeew
eeeww
eewww
ewwww*
eeeed
eeewd
eewwd
ewwwd
WW wwd*
eeee
eeew
eeww
ewww
wwww*
eeed
eewd
ewwd
wwwd
eee
eew
eww
www
eed
ewd
wwd
*
ee
ew
WW
ed
wd
e
w
d
wwwww^
940 n. Chemische Dynamik.
Von diesen wiirden die mit eincm Stern bezeichneten fortfallen, da
sie mehr als drei fliissige Phasen enthalten.
Die Zabl der Falle mit einer Freiheit betragt alsdann acht.
4. Gemisohe mehrerer Gase. 'Fiir den Fall, dass mehrere Case
in gleichformigem Gemische vorliegen, gilt das Daltonscbe Gesetz, dass
sicb die Eigenschaften der einzelnen Gase durch die Anwesenheit dei*
anderen nicht andern, vorausgesetzt, dass man mit den Teildrucken
der Gemengbestandteile recbnet.
Hieraus folgt unmittelbar, dass durch die isotberrae VermischuDg
veracbiedener Gase, die bei gleicbem Drucke miteinander in Beriihning
gebracbt werden, stets Arbeit geleistet wird. Denn jedes der beteiligteo
Gase yermindert seinen Druck von dem gemeinsamen Anfangsdracke
auf seinen schliesslichen Teildruck. Sind p^, p^, P3...pn diese Teil-
drucke und ist P =^ Pi + p» + Ps + . . . der Anfangsdruck, so ist
(S. 482) die von jedem der Gase gelei^tete Arbeit gleicb Pvln(P/p)
und der Gesamtbetrag der bei der Vermischung geleisteten Arb.eit gleich
P^Vnln(P/pn). Ebcnsoviel betragt auch die Arbeit, um das Gemisch
isotherm wieder in seine Bestandteile zu sondern, von denen jeder unter
dem Drucke P stehen und das entsprechende Volum Vj, v,, v^ Vb
einnehmen soil.
5. Chemisohe Vorgange dritter Ordnnng bei Gasen. Sind saint-
liche Stoffe in dem untersuchten Gebiete gasforxnig, so ist eine einzige
Phase vorhandcn, und es bestehen von den n -{- 2 = 5 Freiheiten deren
vier. Vorfiigt man liber eine von diesen durch die Annahme einer be-
stimmten Temperatur, so bleiben noch drei Freiheiten iibrig, d. h. man
kann fiir drei der vorhandeneu StofiPe die Konzentrationen willkurlich
annehmen, wodurch die der anderen, bezw. des anderen* eindeutig be-
stimmt ist. Nimmt man noch den Gesamtdruck als eine der willkurlich
Veranderlichen dazu, so ist natiirlich nur noch fiir zwei Stoffe die
Konzentration frei.
Das Gesetz fiir das Gleichgewicht in diesem Falle ist durch ganz
dieselben Oberlegungen ableitbar, wie sie S. 484 fur den Fall des
Gleicbgewichts zweiter Ordnung gegeben sind. Nur nimmt die Formel,
entsprechend den beiden moglicben Formen der Reaktionsgleichung,
zwei verschiedene Gestalten an. Sind p^, p^, p, fiir die auf der einen
und q^, q, fiir die auf der anderen Seite der Reaktionsgleichung
stehenden Stoffe die entsprechend en Teildrucke, so giobt die Fonnel:
m^Aj -f- m^Aj =n,Bi +n,B,
die Gleichgewichtsbedingung
RT(midlnpi -f-m^dhipj — n^dlnq, — n,dlnq,)=:0,
Ghemische Gleichgewichte dritter Ordnung. 941
UDd daraus
Die andere Reaktionsformel m^A^ -f-ii^s^s + ^s^s == "B ergiebt
in gleicher Weise
RT (noid In p^ + m^d In p, + nijd In pg — n d In q) = 0
und -— = k'.
Die Formen dieser Gleichungen zeigen ebenso, dass man yon den
yier aufbretenden Druckwerten drei willkiirlich annehmen darf, wodurch
der yierte Wert bestimmt ist. Die Konstante k' ist wie friiher als eine
Funktion der Temperatur aufzufassen.
Ferner ergiebt sich aus den Formeln, dass der Gesamtdruck keinen
Eiofluss auf das Gleichgewicht hat, wenn die Bedingung m^ -|- ntj =
"i +"t» bezw. mi+™2+ni3 = n erfiillt ist, denn dies ist die Be-
dingung dafiir, dass sich ein gemeinsamer Faktor aus der Gleichung
heraushebt. Es ist dies gleichzeitig die Bedingung dafiir, dass sich bei der
Reaktion der Gesamtdruck nicht andert, denn gemass der Bedeutung yon
m und n als Molekularkoeffizienten besagt sie, dass beim Verschwinden
der einen Stoffe gleichyiel Mole, d. h. gleiche Volume der anderen ent-
steben. Es hat also allgemein der Druck keinen Einfluss auf die Re-
aktion, wenn die Reaktion keinen Einfluss auf den Druck hat.
Ist die Gleichung nicht erfiillt, so hat eine Anderung des Druckes
nach dem allgemeinen Grundsatz einen solchen Einfluss, dsyss die mit
Druckyerminderung ycrbundene Reaktion eintritt, wenn man den Druck
durch Verminderung des Gcsamtyolums zu erhohen sucht, und umge-
kehrt. Der Betrag dieses Einflusses lasst sich durch naheliegende
Rechnungen bestimmen.
6. Einf&hrong der Konzentration. Definiert man wie friiher die
Konzentration durch den reziproken Wert des Volums, so ist sie gleich
p/RT und die Gleichgewichtsgleichungen gehen iiber in
bi°ib,°«/ai°»iaj™2 = (RT)°^i+°«-°i-°»k' = k,
beZW. b°/ai™iag™aa3™» =(RT)mi + ma-n,-nit' = k,
wo mit a die Konzentrationen der in der Reaktionsgleichung links, und
mit b die der rechts stehenden Stoffe bezeichnet werden.
Die Gleichungen gelten natiirlich in ganz derselben Gestalt fiir
yerdiinnte Losungen und finden fiir letztere eine weit ausgedehntere
Anwendung, als fiir Gase.
7. Einfliiss der Temperatur. Fiir den Einfluss der Temperatur auf
das yorliegende Gleichgewicht gilt die allgemeine Gleichung yant' Hoffs:
Ostwald, Chemie. II, l. 2.Aufl. 60
942 U. ChemlBche Dynamik.
dlnk/dT = w/RT«,
wo w die Reaktioiiswarnie bei koDstantem Volum bedeutet. Der Gleich-
gewichtskpeffizient k ist definicrt durch die beiden Eonzentrationsformeln
k = (bi»ibg"«)/(ai"ia,"«) und k = (bi"ibj°«b3°»)/a".
Die AbleituDg ist in nichts wesentlichem yon der S. 492 gegebenen
yerschieden, so dass sie nicht wiederholt zu werden braucht.
Sie giebt den zahlenmassigen Ausdruck fur den allgemeinen Satz,
dass sich das Gleicbgewicht mit der Temperatur in solcbem Sinne
yerschiebt, dass die Reaktionswarme der Temperaturyeranderung ent-
gegenwirkt.
8. Beispiele. In der chemischen Litteratur ist kein Fall bekannt,
in welchem die yorstehend entwickelten Formeln eine geniigende Pru-
fung oder Bestatigung erfahren batten. Der Fall, dass sich drei Gase
zu einer gasformigen Verbindung yerelnigen, ist iiberbaupt yom Stand-
punkte der Massenwirkungslehre noch nicht untersucht worden. Cher
den anderen Fall: die Wechselwirkung zweier Gase unter Bildung
zweier anderer haben wir eine Reihe yon Untersuchungen; diese sind
indessen noch nicht in solcher Weise durchgefuhrt, dass yon einer
wirklichen zahlenmassigen Priifung der Theorie die Rede sein konnte.
Der Fall, um den es sich hier handelt, liegt beispielsweise bei
dem Gleichgewichte zwischen den Gasen Kohlenoxyd, Wasserdampf,
Kohlendioxyd und WasserstofiP yor. Die Reaktion
CO + H«0 = CO» + H«
kann bei hoheren Temperaturen sowohl yor- wie riickwarts stattfinden.
Sie erfolgt ohne Anderung des Volums, ist also als yom Druck unab-
hangig zu erwarten. Die Bildungswarmen der yier Stoffe (Wasser als
Dampf gerechnet) ergeben fiir die Reaktion, yor warts gelesen, eine
Warmeaufnahme yon 100 K; es ist somit zu erwarten, dass bei niedriger
Temperatur yerhaltnismassig mehr WasserstofiP und Kohlendioxyd, bei
hoherer mehr Kohlenoxyd und Wasserdampf entstehen werden.
Die wissenschaftliche Untersuchung dieser Reaktion hat eine inter-
essante Geschichte. Der erste, welcher sie unter allgemeinen Gesicbts-
punkten studierte, war R. Bunsen^), der sie als einen yon moglichen
Nebenerscheiuungen besonders freien Fall der Wirkung der chemischen
Verwandtschaft wahlte, um deren Gesetze kennen zu lernen (S. 54).
Die Versuche wurden so angestellt, dass Gemenge yon Kohlendioxyd
und WasserstofiP mit unzureichonden Mengen Sauerstofif im Eudiometer
yerpufiPt wurden. Es stellt sich dann ein chemisches Gleicbgewicht
*) Lieb. Ann. 85, 137. 1853.
Ghemische Gleichgewichie dritter Ordnang. 943^
zwischen den genannten Gasen her, dessen Verhaltnis durch die Ana-
lyse des Ruckstandes gemessen werden kann.
Das ErgebniSy zn welchem Buusen gelangte, war sehr auffallend.
£r fandy dass die gleichzeitig entstehenden Oxydationsprodukte Wasser*
dampf und Eohlendioxyd in einem einfachen stochiometrischen Yer-
haltnisse zu einander standen. Ferner fand er, dass bei stetiger Ver*
mehrung des einen oxydierbaren Stoffes gegeniiber dem anderen die»
Teilungsverhaltnis anfangs konstant blieb, und dann sprungweise auf
einen anderen Wert iiberging, welcher wieder ein einfaches stochio-
metriscbes Verhaltnis des Wassers und Eohlendioxyds aufwies.
Bunsen war mit Recht erstaunt iiber dies unerwartete Ergebnis
und prlifte es deshalb an anderen Beispielen. Die mit dieser Reaktion
im engen Zusammenhange stehende Einwirkung des Wasserdampfes auf
gliihende Holzkohle giebt ein Gemenge von Wasserstoff, Eohlenoxyd
und Kohlendioxyd, das im Volumverhaltnisse 56*5 : 28-7 : 14-8, also sehr
nahe im Verhaltnis 4:2:1 stand, und auch eine alte Analyse des
gleichen Gasgemisches von Dulong hatte die gleiche Beziehung ergeben.
Endlich wurden einfache stochiometrische Verhaltnisse bei der unvoll-
kommenen Verbrennung des Cyans erhalten, wo StickstofiP, Eohlenoxyd
und Eohlendioxyd im Verhaltnis 3:2:4 auftraten.
Fa war also ganz gerechtfertigt, wenn Bunsen die beobachteten
Erscheinungen als wahrscheinlich allgemein ansah. Er sprach aller-
dings aus, dass das Stattfinden solcher Beziehungen erst bei flussigen
Gebilden nachgewiesen werden miisste; aber auch diese Bestatigung^
schien sich aus den nach dieser Richtung von ihm veranlassten Ver-
suchen^) zu ergeben.
Ja selbst bei Gelegenheit viel spaterer Untersuchungen in diesem^
und einem ahnlichen Gebiete, bei dem Studium der langsamen Ver-
brennung Yon Gasgemischen unter dem Einflusse des feinzerteilten
Platins, welches E. v. Meyer*) unternommen hatte, glaubte dieser eine
durchgangige Bestatigung des von Bunsen aufgestellten Gesetzes aus
seinen Zahlen ableiten zu mussen.
Dass es sich hier um merkwiirdige Zufalligkeiten einerseits und
um eine nicht geniigend kritische Verwertung der Beobachtungsdaten
andererseits handelte, ist hernach erst yon Horstmann^) gezeigt worden.
Dieser hatte auf Grund der von ihm zuerst entwickelten Theorie des
chemischen Gleichgewichts bei Gasen (S. 113) die zugehorige Gleich-
^) Lieb. Ann. 85, 103. 18&3
>) Joam. f. pr. Ghemie 10, 273. 1874.
») Lieb. Ann. 190, 228. 1877.
60*
944 n. Chendsche Dynamik.
gewichtsgleichung abgeleitet, welcbe wegen m| = m^ = n^ = n, == 1 die
Gestalt annimmt , ,, , ^,»,.
qiq«/PiP2=aia,/bib, = f(T)
uud au8 ihr sacbgemass gescblossen, dass die Anderung der Mengen-
▼erhaltDisse der yier Stoffe notwendig stetig verlaufen muss und keine
SpriiDge zeigen kano. Bei der Wiederholung der Versucbe von Bunsen
entdcckte er aucb eine damals nicbt yermutete Fehlerquelle, die in der
AnwenduDg feucbter Gase lag. Denn da der Wasserdampf einer der
Stoffe ist, die sicb am Gleicbgewicbt beteiligen, so wird dieses durch
die Gegenwart wecbseluder Mengen yon Wasser natiirlicb beeinflussi
Ferner aber fand Horstmann, dass der Gleicbgewicbtskoeffizient
^' = PiPs/4iQs ^^ yergleicbbare Versucbe sicb allerdiugs nabezu kon-
stant erwies, fiir das ganze untersucbte Gebiet dagegen zwiscben 3*6
und 6*2 sicb yeranderlicb zeigte. Urn die Bedeutung dieses Ergebnisses
zu beurteilen, muss man sicb die Art der Versucbsanstellung yergegen-
wartigen.
Es wurden zu Gemengen von Eoblenoxyd und Wasserstoff unzu-
reicbende Mengen Sauerstoff gesetzt und das Ganze zur Explosion ge-
bracbt. Die dabei erreichte Temperatur bangt ausser yon der Zu-
sammensetzung des Gases nocb yon der Weite des Eudiometers ab, und
ist insbesondere an den Wanden desselben niedriger, als in der Axe.
Diese Temperatur bleibt nur eine sebr kurze Zeit besteben, und dann
kiiblt sicb das Ganze scbnell ab. Wabrend der Abkiiblung findet noch
eine Verscbiebung des Gleicbgewicbts statt, da dieses yon der Tem-
peratur abbangt; andererseits nimmt die Reaktionsgescbwindigkeit sebr
scbnell wegen der fallenden Temperatur ab. Das scbliesslicbe Ergebnis
des Explosionsyersucbes ist daber ein Erfolg dieser yerscbiedenen Um-
stande, dereu Betrag sicb nicbt leicbt abscbatzen lasst, und die be-
obacbteten Zablen werden nur ein einigermassen yerwiscbtes Bild der
einfacben Verbaltnisse geben, die sicb bei konstanter Temperatur und
yoUstandiger Einstellung des entsprecbenden Gleicbgewicbts zeigen
wurden ^).
Fig. 215 zeigt die yon Horstmann beobacbteten Gleicbgewichts-
H'O X CO
koeffizienten k' = -p- - — lTT ^^® Ordinaten der ausgezogenen Linie.
M Man wOrde sich den idealen Verh<nissen viel mehr n&hem> wenn maa
das Gleichgewicht sich in Gegenwart eines Beschleanigers (z. B. feinxertetltes
Platin) bei konstanter Temperatur herstellen liesse, und die Abkahlnng mOglichst
scbnell an einer Stelle vorn&hme, wo' der Bescbleuniger nicht lagegen ist Die
Aufgabe l&sst sich mittelst Durchleitons des Gasgemiscbes durch ein paasend be-
sciiicktes und erhitztes Rohr unscbwer lOsen.
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnung.
945
Als Abscissen sind dabei die Prozente yerbrennbaren Gases in der an-
gewandten Mischung eingetragen. Gleichen Anteilen derselben ent-
sprechen annahernd gleiche Maximaltemperatureo in dem Reaktionsge-
misch. Deshalb sind in der Figur gleichzeitig die Temperaturen (punk-
tierte Linie) eingetragen, wie sie sicb aus Bunsens Messungen der bei
der Verbrennung erreichten Maximaldrucke ergeben. Die dazu ge-
horigen Zablen finden sich auf der rechten Seite der Zeichnung.
Eine Bestatigung der Angemcssenheit seiner Auffassung, dass die
Verbrennungstemperatur wesentlicb von dem Bruchteil der verbrennen-
den Gase im Gemenge abbangt, hat Horstmann scbliesslich dadurch er-
bracht, dass er einen Teil der nicbtverbrennenden Gase durcb Stick-
stoff ersetzte. Dadurch blieb die Endtemperatur wesentlicb unverandert^
TO--
e-0-
s-o-
vtf-
-\ — I — I — h
-» — I — I — I — I — I — h
H 1-
-k 1 1 h-
Temperat^Jl
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- 100 O'^
55
60
66
70
7B
Fig. 215.
wahrend die Teildrucke der reagierenden Gase ganz andere Werte an-
nahmen. Das Ergebnis war, dass doch die friiberen Teilungskoeffizien-
ten erbalten wurden.
Was nun den auffallenden Gang der Koeffizienten mit der Tem-
peratur angeht, so ist zunachst aus der allgemeinen Gleicbung auf
S. 942 zu folgern, dass bei steigender Temperatur die Reaktion vor-
wiegen wird, welche Warme verbraucbt. Dies ist die Bildung von
Koblenoxyd und Wasserdampf auf Kosten von WasserstoflF und Koblen-
dioxfd. In der That liegt die Anderung der Koeffizienten in dieser
Ricbtung, denn das Anwachsen von k = H*0 X CO/CO* X H* mit
steigender Temperatur bedeutet, dass Wasserdampf und Koblenoxyd zu-
nimmt und die anderen beiden Gase abnehmen, wenn die Temperatur
erhoht wird. Der S. 942 auf lOOK berecbnete Wert dieser Reaktions-
warme bezieht sicb auf Zimmertemperatur; es muss daher gefragt
werden,' in welcher Weise sich diese Zahl mit steigender Temperatur
andert. Wahrend man die Warmekapazitaten von Wasserstoff und
946 11. Ghemische Dynamik.
Kohlenoxyd als Dicht erbeblich verschieden ansehen kann, ist die des
Kohlendioxyds sicher grosser, als die des Wasserdampfes. Denn wenn
auch Mallard und Le Chatelier einerseits, Berthelot and Vieille anderer-
seits die einzelnen Werte ziemlich verschieden gefunden haben (2, 1,
S. 100 und 171) so stimmen sie doch in Bezug auf das Zoichen des
Unterschiedes iiberein.
Hieraas folgt, dass die oben angegebene Beaktionswarme mit
steigender Temperatur kleiner werden muss und moglicherweise an einer
Stelle durch Null geht. Die Folge eines solchen Verhaltens der Be-
aktionswarme ist bereits an friiherer Stelle entwickelt worden: der
Gleichgewichtskoeffizient muss durch einen Maximalwert geben, and
dariiber hinaus wieder abnehmen. In der That zeigen die yoq Horst*
mann gemessenen Werte ein solches Verhalten, und lassen daher ver-
muten, dass auch die Beaktionswarme den erwarteten Gang zeigen wird.
Eine genauere Berechnung dieser Verhaltnisse wUrde erst lohnend
sein, wenn durch Versuche der oben (S. 944, Anmerkung) angedeuteten
Art genauere Auskunft iiber die Beziehung zwischen Temperatur and
Gleichgewichtskoeffizienton gewonnen ist. Inzwischen konnen die Ver-
suche von Horstmann unter den gemachten Einschrankungen und bei
dem voUstandigen Mangel an anderen, ahnlichen Untersuchungen als
zwar nicht eigentlich als Bestatigungen der Theorie, aber doch als mit
ihr nicht im Widerspruche angesehen werden kann.
9. Fortsetzung. Die Berechnung der Temperatur bei den Ver-
suchen von Horstmann beruht auf der Annahme, dass die Warmekapa-
zitat der Gase konstant sei. Dies ist nicht richtig, und die thatsach-
lichen Temperaturen sind, da die Warmekapazitat mit steigender Tem-
peratur stark zunimmt (2, 1, 93 ff.), niedriger als die berechneten. Die
erforderlichen Umrechnungen sind auf Grundlage der nachstehenden
Annahmen iiber die Warmekapazitat der Gase
permanente Gase 4-67 -f 0-001 22 T
Kohlendioxyd 650 -f 0-00387 T
Wasserdampf 5-78 + 0-00286 T
von G. Hoitsema*) ausgefiihrt worden und haben die nachstehende Ta-
belle ergeben:
Temp.
Konstante
25C0«
60
2560
6-5
2550
6 25
2600
63
») Zeitechr. f. phys. Chemie 24, 695. 1898.
Ghemische Gleichgewichte dritter Ordnang. 947
Temp.
Konstante
2700 «
6*86
2725
6-5
2800
5*6
2950
6-0
Wie man sieht, schwaDken die Konstanten ziemlich unregelmassig;
sie lassen indessen mit einiger Deutlichkeit einen maximalen Wert in
der Nahe von 2670® erkennen. Aus der Reaktionswarme von 101 K
im Verein mit den obensteheuden Zahlen iiber die Warmekapazitaten
der beteiligten Gase bei hohen Temperaturcn berecbnet Hoitsema fiir
die Lage des Maximums die Temperatur 2825®. £r giebt ferner eine
Oberlegung, dass bei diesen Temperaturen bereits die Dissociation des
Kohlenoxyds und des Wasserdampfes sich zu bethatigen anfangen.
Hierdurch wiirde die Warmeentwicklung geringer und die berechnete
Maximaltemperatur sinkt, nabert sich also der aus Horstmanns Zablen
sich ergebenden. (Doch diirfte dieser Einfluss sich bereits in den
Warmekapazitaten geltend gemacht baben.)
Ferner zieht Hoitsema Versuche iiber Temperatur und die Zu-
sammensetzung der Gase bei der Verbrennung von Explosivstoffen herbei.
Solche StoflFe vom Typus der Schiessbaumwolle enthalten allerdings
neben Kohlenstofif, Wasserstoff und SauerstofiP noch Stickstoff; dieser
geht aber bei den hohen Temperaturen in den elementaren Zustand
iiber und beeinflusst somit nur den Teildruck, nicht die Gleichgeveichts-
konstante. Da diese StofiPe etwas weniger Sauerstoff zu enthalten pflegen,
als zum voUstandigen Ubergange in Kohlendioxyd und Wasser erforder-
licb ist, so stellen sich die Bedingungen unseres Gleicbgewichts hier
gleichfalls ein. Er benutzt hierzu Versuche von Mac Nab und Ristori^)
und berechnet aus deren Ergebnissen folgende Tabelle:
Temp.
Konstante
2115«
3-62
2280
413
2350
447
2416
410
2535
4*54
2650
4-56
2730
467
2880
4.94
Die Konstanten zeigen einen aufsteigenden Gang mit der Tem-
peratur, sind aber alle kleiner, als die Horstmannschen Werte und
schliessen sich diesen nicht an. Eine Erklarung ergiebt die Uberlegung,
») Proc. Roy. Soc. 66, 8. 1894.
948 II* Ghemisclie Dynamik.
dass bei der Versucbsanordnang die Abkiihlung der Gase nach der
Reaktiou nicht so schDell erfolgt ist, wie bei Horstmann. £s war aha
Gelegenbeit vorhanden, dass das bei der bohen Temperatur erreichte
Gleichgewicbt sich wabrend der Abkiihlung nocb um ein Merkliches
nacb der Seite der niedrigeren Teroperaturen verschob. Da die Kon-
stanten mit fallender Temperatur kleiner werden, so entspricht dies der
beobacbteten Bezicbung zwischeu beiden Versucbsreihen. Das Maxi-
mum wird nicht erreicbt.
10. Eine feste Phase neben einer gaafdrmigen. Von den yier
Freiheiten eines gasformigen Gebildes dritter Ordnung fallt eine fort,
wenn eine feste Phase auftritt, und es bleiben nur drei iibrig. Eine
wird durcb die Temperatur in Anspruch genommen, die beiden iibrigeo
gewahren fiir die Veranderlichkeit in der Zusammensetzung der Gas-
phase eine entsprecbende Mannigfaltigkeit.
Die Gleichgewichtsisotberme kann in diesem Falle verschiedene
Formen annehmen, je nach der Gleichung fiir den Vorgang und je nacb
der Seite der Gleichung, auf welcher die feste Phase erscheint In dem
Falle m^Aj -^ m^A, -|- mjA, = nB kann entweder einer der drei
Stoffe links oder der eine Stoff rechts fest sein; darnach wird in der
GleiGbgewichtsgleicbung entweder eine der Kouzentrationen a oder die
Konzentration b konstant. In dem Falle der Gleichung xn^k^ -{-m^kf
=snjBi -f~ ^fl^s ^^^ ^3 gleichgiiltig, welcher der Stofife fest wird und
dadurch eine konstante wirksame Mengc erbalt, denn es entsteht nor
eine typische Form der Gleichgewichtsgleichung, die mit der zweiteo
oben erwahnten iibereinstimmt.
Bringt man die konstante Konzentration in dem Koeffizienten k
unter, der demnach mit K bezeichnet werden soil, so giebt der erste
Fall die Gleichungen
ai"».a2"«.a3"» = K und ai°»>.a2"«/b"^ = K,
wabrend der zweite die Gleichung ai™i.a2"«/bi"i==K giebt, die mit der
zweiten obigen iibereinstimmt. Formell bleiben somit nur zwei Falle
iibrig.
11. Beiapiele. Fiir den ersten Fall, dass drei gasfiirmige Stoffe
unter Bildung eines festen aufeinander oinwirken, ist mir kein durch-
gearbeitetes Beispiel bekannt Fiir den zweiten Fall des Austausches
zwischen drei Gasen und einem festen Stofife giebt es ein Beispiel, das
zwar vom Standpunkte der chemischen Mecbanik nicht yollig durcbge-
arbeitet ist, dessen technischc Wichtigkeit es aber rechtfertigt, wenn
etwas naher darauf eingegangen wird.
J
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnung. 949
Es ist dies die Reaktion, welche sich zwischen Eoblenstoff uud
Wasserdampf vollzieht and die zu dem sogenannten Wassergas ftihrt.
Die WechselwirkoDg kann nach einer der beiden folgenden Gleichungen
stattfinden:
C + 2H,0 = C0, + 2Hj
und C + H,0 = CO + H,.
Wahrend also im ersten Falle Kohlendioxyd und Wasserstoff nebeii-
einander entstehen, sind im zweiten Falle die Produkte Kohlenoxyd und
WasserstoflF.
Thatsacblicb werden im allgemeinen beide Reaktionen gleicbzeitig
nebeneinander stattfinden, und es entsteht die Frage, wie man diesen
verwickelteren Fall zu behandeln hat. Die Antwort ergiebt sich aus
dem Daltonschen Gesetz: es wird jede Reaktion so -stattfinden, als ware
das reaktionsfremde Gas nicht yorhanden, und daher werden zunachst
fur die beiden Vorgange zwei unabhangige Gleichgewicbtsglcichungen
anzusetzen sein.
Bezeichnen wir die Konzentration des Wasserdampfes mit w, die
des Wasserstoffs rait h, die des Kohlenoxyds mit o und die des Koblen-
dioxyds mit d, so werden die Gleichungen gelten:
d.h*/w^ = ki und oh/w = k2.
Beide sind insofern unabhangig voneinander, als das Gleichgewicht durch
das reaktionsfremde Kohlenoxyd, bezw. Kohlendioxyd nicht beeinfiusst
wird. Doch sind sie insofern abhangig voneinander, als die Konzen-
tration des Wasserstoffs und des Wasserdampfes durch beide Gleich-
gewichte bestimmt wird.
Die Erfahrung hat nun zunachst ergeben, dass bei niedrigercn
Temperaturen die erste Reaktion bedeutend vorwiegt, so dass wir vor-
laufig aunehmen konnen, sie fande allein statt Die Gleichgewichts-
forxnel d.h^/w^ = k^ lasst folgende Eigentiimlichkeiten erwarten.
Das Volum nimmt durch die Reaktion zu; es wird also sich das
Gleichgewicht im Sinne der Bildung yon Wasserstoff und Kohlendioxyd
yerschieben, wenn der Druck vermindert wird.
Fiir eine bestimmte Konzentration des Wasserdampfes kann das
Verhaltnis zwischen Kohlendioxyd und Wasserstoff jeden beliebigen
Wert haben, da es immer moglich ist, den Ausdruck d.h^ auf einen
yorgeschriebenen Betrag zu bringen. Bei der Bereitung des Wasser-
gases durch die Einwirkung von Wasserdampf auf Kohle wird indessen
diese Freiheit beschrankt, da die Konzentration des Wasserstoffs immer
zweimal so gross wird, wie die des Kohlendioxyds. Es ist also in
950 n. Ghemische Dynamik.
diesem Falle h = 2d and die Gleichgewiclitsgleichung nimmt darch
diese Substitution die Gestalt an
4d^/w2 = k,
in welcher Gestalt sicli die Beziehung am leicbtesten priifen, bezw. der
Gleicbgewicbtskoeffizient am bequemsten bestimmen lasst.
In der Litteratur babe ich kaum Daten gefunden, auf die sich eine
Berecbnung des Koeffizienten griinden Hesse (s. w. u.). Von Lang^) ist
beobachtet worden, dass die Einwirkung des Wasserdampfes auf Kohle
bereits bei etwa 600® beginnt, und dass dabei fast ausschliesslich
Eohlendioxyd neben dem Wasserstoff entsteht. Leider enthalten aber
seine Analysen keine Angaben iiber die Konzentration des Wasser-
dampfes im Gasgemenge, so dass sie sich nicbt berechnen lassen.
Was den Einfluss der Temperatur auf die Reaktion anlangt, so ist
der Vorgang mit einer sehr bedeuteuden Energieaufnahme verbunden.
FUr dampfformiges Wasser berecbnet sich die Gleichung
C + 2H^0= CO^ + 2H^ — 217 K,
woraus zu scbliessen ist, dass ein um so grosserer Anteil des Wasser-
dampfes zersetzt werden wird, je hoher die Reaktionstemperatur steigt
Wegen des grossen Betragcs der Reaktionswarme ist ein sehr bedeuten-
der Temperaturkoeffizient der Gleichgewichtsgrosse zu erwarten. Nimmt
man auf die unzweifelhafte Veranderlichkeit der Reaktionswarme mit
der Temperatur keine Riicksicht, so ergiebt sich dlnk/dT = 0-01 bei
1000® abs, d. h. der Gleicbgewicbtskoeffizient andert sich bei dieser
Temperatur fiir jeden Grad um ein Hundertstel seines Wrtes.
Diese Bestimmung ist sicher etwas zu gross, da die Warmekapa-
zitat des Kohlendioxyds grosser ist, als die des Wasserdampfes (S. 946);
doch wird die Grossenordnung richtig sein.
Diese Verhaltnisse laden sehr zu einer genaueren Untersuchnng
ein, die kaum erheblichen technischen Schwierigkeiten unterworfen
sein diirfte.
Die zweite Gleichung
C + H20 = C0 + H2
findet bei hoheren Temperaturen statt und ist bei 1000® C. ganz ubor-
wiegend. Lang') fand bei dieser Temperatur folgende Teildrucke in
Atmospharen:
C0» 0012
CO 0.296
H, 0303
HgO 0031
») Zeitschr. f. phys. Chemie 2, 173. 1888.
*) Zeitschr. f. phys. Chemie 2, 182. 1888.
Ohemische Gleichgewichte dritter Ordnang. 951
Wie man sieht, ist der Anteil Eohlendioxyd sehr gering geworden.
Berechnet man hieraus den Gleicbgewichtskoelfizienten k, =h.o/w, in*
dem man die Konzentration bei 1000^ nnd Atmosphareudrnck als Ein*
bait annimmt) so folgt k, = 2*9.
Aus dem gleicben Zablenmaterial lasst sicb der Koeffizient k^ = h^d/w'
berechnen und ergiebt sicb zu 1*1. Da in diese Recbnung der sebr
kleine Wert fur d eingebt, so ist das Ergebnis entsprechend unsicber,
und wir werden in der Tbat spater Anlass finden, den Wert fiir zu
gross anzuseben.
Aucb bei der zweiten Reaktion sind Einfliisse des Druckes und
der Temperatur zu erv^arten, die in gleicbem Sinne liegen^ wie bei der
Torigen Reaktion , nur nocb grossere Betrage baben. Fiir den Druck
ergiebt sicb dies daraus^ dass sicb das Volum durch die Reaktion ver-
doppelt, wabrend es beim ersten Vorgange nur auf 1-5 giog. Fiir die
Temperatur folgt eine starkere Beeinflussung des Koeffizienten daraus,
dass die Reaktionswarme nocb betracbtlicber negativ ist, da sie — 317 K
fur ein Mol betragt. Bei 1000® A wiirde daher der Temperatur-
einfluss auf den Gleicbgewicbtskoeffizienten nicht weniger als 1-5 Pro-
zent fiir den Grad betragen.
12. Abgeleitete Gleiohimgen. Ziebt man die beiden Gleicbungen,
die im Yorigen Abscbnitt bebandelt worden sind, Yoneinander ab, so
folgt:
C+2H20 = C02 + 2H.,
C + H2O = CO + H2
H20+C0 = C02+H2,
d. h. der Unterscbied beider Gleicbungen ergiebt die Reaktionsgleicbung,
welcbe friiber (S. 942) als einziges einigermassen bekanntes Beispiel
einer Reaktion dritter Ordnung zwiscben Gasen bebandelt worden ist.
Scbreifot man die entsprecbenden Gleichgewicbtsgleicbungen und
diYidiert sie ineinander, so folgt
d.h2/w2 = ki
o.h/w = k2
wo ko
dh k,
d. b. der Gleicbgewicbtskoeffizient der Gasreaktion ergiebt sicb als
Quotient der beiden Reaktionen mit festem Kohlenstoff. Nun war
oben k2 = 2-9 und ki=l-l gefunden worden; das Verbaltnis beider
ist 26 bei 1000® C.
Andererseits folgt aus den Messungen Horstmanns, dass bei dieser
Temperatur der Koeffizient der Gasreaktion 3-6 betragt. Der Unter-
952 n. Ghemische Dynamik.
schied zwischen beiden Zahlen ist zwar gross; er ist aber doch nicht
gross genug, urn nicht die Hoffimng zu lasseo, dass eine ein-
gehendere und genauere Untersuchung der hier Torhandenen Gleich-
gewicbtsyerbaltnisse Resultate geben wiirde, die sicb mit der Theorie
in gutem Einklange befinden.
Maltipliziert man die zweite Gleichung mit 2 und zieht von ihr
die zweite ab, so ergiebt sicb
2C + 2H20 = 2CO + 2H,
C + 2H20 = C0g + ^Hj
~C + C0,=2C0
d. b. die gleicbe Reaktion steht aucb mit der bekannten Einwirkung
des Eoblendioxyds auf Koble im ZusammenhaAge.
Dieser Zusammenbang lasst sicb aucb auf die Gleicbgewichtsglei-
cbungen iibertragen. Erhebt man die zweite Gleicbung . ins Quadrat
und dividiert sie durch die erste, so folgt
o«b«/w« = k,«
db«/w« = ki
o27d = k,«/ki.
Diese Gleicbung stellt das Gleicbgewicbt zwiscben Koblenozyd und
Eoblcndioxyd bei Gegenwart von Koble dar. Wie aus der cbemischen
Gleicbung bervorgebt, bandelt es sicb bier um einen Vorgang zweitcr
Ordnung mit einer festen Phase, welcber ein Beispiel fiir den S. 505
erwabnten ersten Fall bildet.
. Eine Untersuchung dieser Gleicbgewicbte ist in jungster Zeit toq
0. Boudouard^) vorgenommen worden, welcber bei 650^ 0-61, bei 800*
0*07 und bei 925"^ 0*04 Koblendioxyd in dem Gemiscbe nacb.Erreicbung
des Gleicbgewicbts gefunden batte. Die beiden ersten Versuchsreiben
waren in gescblossenen Gefassen aus Glas, bezw. Porzellan angestellt
worden, welcbe mit Koblendioxyd gefiillt und gescblossen worden waren.
Der letzte Versucb ist unter Durcbleiten des Gases durch eine mit
Koble beschickte Robre angestellt worden.
Er vereinigt seine Versucbsergebnisse durch die Formel lnc/ci' =
L/RT -f- Konst., wo c die Konzentration des Koblendioxyds, C| die des
Kohlenoxyds und L die Reaktionswarme ist Wird diese von der Tem-
peratur unabbangig und gleich 420 K gesetzt, so ergiebt sich, wenn
>) Gomptes rendos 128, 822. 824. 1522. 1524. 1889; ib. iaOt» 132. 1900-
Ghemisclie Gleichgewichte dritter Ordnang. 953
die ang^ebenen Zablen als Konzentrationen gerecbnet werden, die
KonsUnte za 0214, 0-222 und 0-206, also recht konstant^).
BeDotzt man die Angabe, dass bei 925^ 4 ^/^ Koblendioxyd im Ge-
meoge entbalten sind, so ergiebt sich fiir o~/d der Wert 23. Aas den
'oben geschatzten Werten tod k^ and kj berecbnet sicb nar 10. Hier
liegen also nocb sehr grosse Unterscbiede vor, die aufzuklaren sind.
Die Gesamtheit dieser Vorgange bietet ein Ganzes, das fiir die
experimentelle Behandlang von theoretischen Gesichtspunkten aus ganz
besonders geeignet ist. Hierzu kommt die sehr erhebliche tecbnische
Bedeatuog dieses Problems. Die bier erorterten Vorgange finden bei
alien Verbrennangen Yon technischen Brennmaterialien statt, und regcln
insbesondere die Erscbeinungen bei der Herstellang gasformiger Brenn-
stoffe ans festen. Solcbe aber spielen unter dem Namen Generatorgas,
Wassergas, Dowsongas u. s. w. eine taglich wacbsende Rolle, da sie eine
yiel rationellere Aasnutznng der Warme gestatten, als die festen Bremi-
materialien und da sie sicb yiel leichter raucblos verbrennen lassen,
als diese. Dazu kommt nocb die Moglicbkeit^ bei der vorgangigen Ver-
gasung den Sticks toffgebalt der Brennstoffe in Gestalt Ton wertvoUem
Ammoniak zu gewinnen. Alio diese Umstande vereinigen sich, um der
Heiztechnik die Ricbtung auf gasformige Heizmaterialien za geben, and
die genaue Kenntnis der bier geschilderten Gleichgewichte ist die Grund-
lage einer rationellen Gewinnung der letzteren. Ein Punkt, der sich
schon aus den durftigen Kenntnissen ergiebt, die wir.hier zur Zeit be-
sitzen, hat bereits tecbnische Anwendung gefunden. Es ist der Urn-
stand, dass bei niedriger Temperatar die Reaktion vorwiegen muss,
welche Koblendioxyd neben Wasserstoff giebt, wahrend bei boherer
Temperatar immer mehr Kohlenoxyd entsteht. Will man das letztere
Gras wegen seiner Gifligkeit moglichst vcrmeiden, so muss die Vergasung
bei moglichst niedriger Temperatur durcbgefuhrt werden. Gleichzeitig
ist dies die giinstigste Bedingang zur Gewinnung des Ammoniaks. Die
*> £s ist in dieser Becbnong ein Widerspracn entbalteD, den ich nicht zu
deaten Termag. Aos der Yersochsbeschreibang geht nicbt henror, ob die ROhren
bei Zimmerteinperatar oder bei der Yersacbstemperatiir mit Koblendioxyd gef&Ut
and Terscblossen wurdeD. Nimmt man das letztere an, gem^Lss der Angabe (S. 133),
dass der Drock immer gleicb einer Atmospbare gewesen sei, so dtirfen offenbar
nicht die TeiJdmcke im Gemische gleich den Konzeotratioiien gesetzt werden,
sondem diese mfissen erst bezQglich der Temperatur reduziert werden. Nimmt
man umgekebrt an, dass die Gef^se bei Zimraertemperatnr Terscblossen wurden,
BO ist die Berecbnong der Konzentrationen fur die beiden ersten Tersncbsreiben
zwar richtig, nicbt aber far die dritte. denn bei dieser bat Atmospb&rendnick
unter der VerBochstemperatur geberrscht.
964 II* Chemische Dynamik.
nach dieser Richtung angestellten Versucbo^) scheinen bereits wichtige
technische Erfolge ergeben zu baben.
13. Allgemeines ftber abgeleitete Gleiohnngeii. Die Darlegangen
des vorigen Abscbnittes baben die ZusammeubaDge gezeigt, welcbe sicfa
zwiscben verscbiedenen Reaktionen in Bezug auf deren Gleicbgewichts-
koeffizienten berstellen konnen. Die sicb bieraus ergebende Moglicb-
keit, die Gleicbgewicbtskoeffizienten auch fiir solche Vorgange zu be-
recbnen, welcbe nicht unmittelbar gemessen worden sind, oder gemessen
werden konnen, ist von 80 grosser Bedeutung fur die cbemiscbe Mecba-
nik, dass eine allgemeinere Betracbtung der Aufgabe wiinschenswert
erscbeint.
Die Moglicbkeit fur die Aufstellung dieser Beziebungen tritt ein,
wenn in verscbiedenen cbemiscben Gleicbungen dieselben Stofife vor-
kommen. Da die Gleicbgewicbtsgleicbungen immer die Form eines
Produkts der entsprechenden Konzentrationen mit positiven oder nega-
tiven Exponenten baben, so ist es immer moglicb^ durcb Division zweier
derartiger Gleicbungen, die gleicbe Giieder enthalten, notigenfalls nach
Potenzierung einer von ibnen, ein oder einige Giieder zum Verscbwinden
zu bringen. Dadurcb entstebt eine neue Gleicbgewicbtsgleicbung, die
sicb immer auf eine moglicbe cbemiscbe Reaktion beziebt.
Um die letztere Bebauptung einzusehen, braucbt man sicb nur zn
erinnern, dass jeder Gleicbgewicbtsgleicbung eine cbemiscbe Reaktions-
gleicbung entspricbt, in welcber die Stoffe additiv verbunden sind and
in welcber die Exponenten als Molekularkoeffizienten erscbeinen. Die
eben gescbilderte Operation der Division zweier Gleicbgewicbtsgleicbungen
entspricbt der Subtraktion der Reaktionsgleicbungen, und die notigen-
falls ausgefiibrte Potenzierung einer Multiplikation mit demselben Fak-
tor. Durcb eine solcbe Verbindung zweier Reaktionsgleicbungen ent-
stebt immer eine neue Reaktionsgleicbung, welcbe einen formell mog-
licben Vorgang ausdriickt, denn die Bedingung bierfiir, die Gleichheit
der auf beiden Seiten auftretenden Stoffsummen, ist immer erfullt
Die Art der abgeleiteten Gleicbungen ergiebt sicb nun bieraus
leicbt. Betracbten wir zwei Reaktionsgleicbungen, mit ni und n^ Gliedero,
so entstebt durcb Elimination eines beiden gemeinsamen Gliedes eine
Gleicbung mit n^ — 1 + "g — 1 = n^ -{- Ug — 2 Gliedern. Zwei Glei-
cbungen erster Ordnung, die je zwei Giieder entbalten, konnen faier-
nacb nur zu einer Gleicbung mit 2 + 2 — 2 = 2 Gliedern fubren, er-
^) Hamphrey, The Mond Gas Producer Plant Proc. Inst CItU Engineen,
London 1897.
Ghemische Gleicbgewichte dritter Ordnang. 955
geben also wieder einen Vorgang erster Ordnuug. Zwei Gleichungen
zweiter Ordnung ergeben eine Gleichang mit vier Gliodern, also einen
Yorgang dritter Ordnung, wahrend eine Gleichung erster und eine
zweiter Ordnung eine Gleichung zweiter Ordnung ergiebt.
Diese Betrage geben indessen nur die Hochstzahl an, die eintritt,
wenn die beiden vereinigten Gleichungen nur einen einzigen Stoff ge-
meinsam enthalten. Sind deren mehrere yorhanden, so wird die Ord-
nung der resultierenden Gleichung nicdriger.
Hierbei tritt noch der besondere Umstand ein, dass wenn z. B.
zwei gemeinsame Stoffe in den Gleichungen vorhanden sind, diese nicht
gleiche Molekularkoeffizienten, bezw. Exponenten zu haben braucheu;
das Gegenteil ist haufiger. Dann liegt die Moglichkeit einer zweifachen
Art der Elimination Yor, indem man entweder den einen oder den
anderen gemeinsamen Stoff ganz eliminiert; als Koeffizient des iibrig
bleibenden Stoffes erscheint dann je nachdem die Summe oder der
Unterschied der Koeffizienten desselben in den urspriinglichen Glei-
chungen.
Diese Rechnungen haben, wie man sieht, eine grosse Ahnlichkeit
mit den thermochemischen Rechnungen fur die mittelbare Bestimmung
von Energieunterschieden zwischen Stoffen fiir Reaktionen, die man
nicht unmittelbar messen kann oder will (3, 1, 77). Man kann auch
den Gleichgewichtsgleichungen eine yoUkommen entsprechende Form
geben, wenn man sie logarithmiert, wodurch sie als Summen von posi-
tiven oder negativen Gliedern erscheinen, deren jedes einem vorhan-
denen Stoffe entspricht. Diese Summen sind gleich dem Logarithmus
des Gleichgewichtskoeffizienten, und die letzteren Werte yerhatten sich
bei der Rechnung ganz wie die Energiegrossen bei der thermochemi-
schen Rechnung.
Die Ursache dieser tJbereinstimmung liegt darin, dass die das
chemische Gleichgewicht bestimmende Grosse, das thermodynamische
Potential (S. 878), fur nebeneinander befindliche Stoffe dieselbe addi-
tive Beziehung zeigt, wie die Gesamtenergie. Man hatte daher die
eben erorterten Verhaltnisse aus dieser Theorie unmittelbar ableiten
konnen; dem Gharakter dieses Werkes entsprechend babe ich aber yor-
gezogen, sie an der Hand der Einzetbeobachtung zu entwickeln, und
will auch an dieser Stelle nicht yersaumen, die yorhandenen grossen
Liicken in der exporimentellen Bewahrung der Theorie nochmals zu
betonen.
14. Zwei feste Stoffe neben Gaseu. Untersucht man die beiden
Formen der Gleichung dritter Ordnung auf die Moglichkeiten, welche
956 n. Ghemische Dynamik.
eintreten, wenn von den veranderlichen Konzentrationen zwei durch
das Auftreten fester Stoffe konstant werden, so ergeben sich nur zwei
Falle, die durch die Formeln
ai"ia2°*« = k und a°^/b° = k
gekeunzeichnet sind. £s konneu mit anderen Worten die ubrigen ver-
anderlichen Konzentrationen entweder beide auf einer Seite der Re-
aktionsgleichung auftreten, oder auf beiden.
Daa Verhalten derartiger Gebilde braucht nicht von neuem ge-
schildert zu werden, da es vollkommen dem der Gebilde zweiter Ord-
nung entspricht, in denen neben Gasen eine feste Phase anwesend ist
(S. 504 ff.).
15. Beispiele. Fiir den ersten Fall ai™ia2"* = k weiss ich kein Bei-
spiel anzufiihron.
Der zweite Fall a"* / b° = k ist experimentell' belegt, wenn auch
wie die meisten derartigen Beispiele in einer fiir die heutigen Anspriicbe
nicht geniigenden Weise. Das ersto hier auftretende Beispiel hat zu-
dem ein nicht geringes geschichtliches Interesse.
£s handelt sich urn die Reaktion zwischen Wasserdampf, Wasser-
stoff, Eisen und Eiseuoxyd, von der schon Berzelius koustatiert hatte,
dass die Oxydation des Fisens durch Wassefdampf und die Reduktion
des entstandencn Oxyds durch Wasserstoff bei derselben Temperatur
stattfinden; dieser grosse Forscher hat auch die Bedeutung dor That-
sache fiir die Theorie der chemischen Verwandtschaft nicht iibersehen.
Gleich falls als eine Erscheinung von theoretischer Wichtigkeit bat
Devillc den Fall cingeheud untersucht und ihn allerdings dabei stark
missdeutet. Dass Devilles Versuchsergebnisse mit der Theorie der
Massenwirkung in voUstandigem Einklango, und nicht wie ihr Autor
wollte, ini Gegensatze stehen, wurde dann von mir in der ersten Auf-
lage dieses Werkes gezeigt^).
Es ist der Miihe wert, den Gedankengang Devilles kennen zu
lernen, der durch seine Studien der Dissociationserscheinungen so viel
fiir die experi men telle Erforschung der Gesetze der chemischen Massen-
wirkung gethan bat, und der dabei der Meinung war, eben durch die-
solben Arbeiten die Annahme einer solchen Wirkung, als im Wider-
spruche mit den Thatsachen stehond, aus der Wissenschaft entfernt
zu haben.
Deville beginnt seine erste Mitteilung^) mit einigen methodischcn
') Lehrb. d. AUg. Chemie 2, 666. 1887.
•) Comptes rendus 70, 1105 und 1201. 1870; ib. 71, 30. 1871; aach Liob.
Ann. 167, 71. 1872.
Ghemische Oleichgewichte drltter Ordnung. 057
ErorteruDgen, in denen er einen Ocgeusatz zwischen der Mathematik
und den physischen Wissenschaften aufstellt; die erste entwickle aus
willkiirlichen Annahmen ibre Schliisse, sei daher ausschliesslich eine
Schopfung unseres Geistes. Die physischen Wissenschaften soUen nun
die Thatsachen darstellen und keine Zuthaten unseres Geistes enthalten.
^In den physischen Wissenschaften muss jede Hypothese strong ausge-
scblossen bleiben. Die Hypothesen sind, wie ich dies bereits zu zeigen
yersucht babe, zuerst eine Abstraktion, d. h. eine Schopfung unseres
Geistes, und nehmen durch die Gewohnheit den Anschoin von Reali-
taten an; sie sind Fictionen, denen man einen Korper gegeben hat; sie
sind immer unnotig gewesen und werden oft schadlich. Diese Hypo-
thesen oder Krafte (denn beide sind dasselbe), welche man die Affini-
tat nennt, und ihr notwendiger Gegensatz, die Repulsivkraft der Warme,
die Kohasionskraft und die besonderen Agentien, wie die katalytische
Kraft, die endosmotische Kraft, die Imponderabilien u. s. w., alle diese
Hypothesen haben den Geist nur von dem Aufmerken auf die wirk-
lichen Aufgaben der Wissenscbaft entfernt. Man hat diese als gelost
angesehen, weil man den unbekannten Ursachen einen Namen ge-
geben hatte.
„Die Methode in den physischen Wissenschaften, welche die gleiche
bleibt, wenn es sich um die Materie, die trage wie die organisierte
handelt, ob sie sich auf Feuer, auf Steine oder Tiere bezieht, ist die
moglichst genaue zahlenmassige Bestimmung der Ahnlichkeiten und
Unterschiede und schliesslich die Aufstellung der Analogien; die sich
aus der Klassifikation ergeben. Jede fruchtbare Theorie ist ein gutes
System von Analogien.^
Nach der Beschreibung seiner Einrichtungen, um konstante Tem-
peraturen zwischen 100^ und 1500® zu erhalten, schildert Deviile seine
Versuche, die folgendermassen angeordnet waren. Eine Rohre aus Glas
oder Porzellan wurde mit schwammformigem Eisen, dass durch Reduk-
tioD des Oxyds im Wasserstofifstrome erhalten worden war, beschickt,
and einerseits mit einer kleinen, Wasser enthaltenden Retorte, anderer-
seits mit einer Luftpumpe und einem Manometer yerbunden. Das
Wasser in der Retorte wurde auf konstanter Temperatur, gewohnlich
0®, erhalten; dann wurde der Apparat luftteer gepumpt und erhitzt, bis
das Manometer einen konstanten Druck anzeigte. Dieser wurde je nach
der Temperatur langsam oder schnell erreicht; wahrend bei 200®
mehrere Tage erforderlich waren, vollzog sich die Reaktion bei 1600®
in wenigen Minuten.
Die Ergebnisse fasst Deviile wie folgt zusammen.
Ostwald, Chemle. U,i. a.Aofl. 61
958 II- Ghemische Dynamik.
„Unterwirft man eine beliebige Menge von Eieen der Wirkung des
Wasserdampfes, so oxydiert sicb das Eisen, falls die Temperatur kon-
stant bleibt, bis der Druck des entwickelten Wassers toffs eine un-
yeranderlicbe Grosse erreicht. Dieser Druck kann nur ein kleiner Teil
einer Atmosphare sein.
Da der Druck voUkommen uuabhangig von der Menge des Eisens
ist, so kann man sagen, dass die von Berthollet in die Wissenschaft
unter dem Namen der Massen wirkung eingefiihrte Hypothese fur die
Erklarung der Erscbeinuug keine Anwcndung finden kann.
Ich babe scbon friiher in meinen Vorlesungeu vor der cbemischen
Gesellschaft nacbgewiesen, dass der Einfluss der Massen, oder genaner
des Verbaltnisses der Gewichte der reagierenden Stoffe nabezu absolut
-aus der Deutung der cbemischen Thatsacben ausgescblossen werden
muss: denn jedesmal, wo er durcb einen messenden Versuch hat ge-
priift werden konnen, hat sicb dieser Gedanke als falsch erwiesen.
Eine einzige Tbatsacbe, die beute erorterte, entzog sicb dem von mir
gegebenen Beweise. Meine Versuche gestatten mir nun, endgiiltig eine
unklare und irrige Konzeption zuriickzuweisen, welcbe angenommen
worden war, ohne dass man irgend einen Beweis zu ibrer Stiitze ver-
langt hatte.
Im vorliegenden Falle kann 1 g Wasser mit 10, 100, 1000. . .g Eisen
in Beriihrung gebracht und auf Rotglut erhitzt werden, ohne dass sich
mehr davon zersetzt, als notig ist, um den vorhandenenen Raum soweit
zu fiillen, dass der von der Temperatur des Eisens abhangige Maximal-
druck erreicht wird.
Um es zusammenzufassen: das Eisen verhalt sicb in meinen Ver-
suchen so, als wenn es einen Dampf aussendete, (den Wasserstoff), der
den Gesetzen der Hygrometrie gehorcht.
Wenn der Maximaldruck des Wasserstoffs, der einer bestimmten
und unveranderlichen Temperatur entspricht, erreicht ist, und man entr
femt schnell einen Teil des Gases, so stellt sich der Druck, der voniber-
gehend kleiner geworden war, wieder her, indem sich eine neue Menge
Wasser zersetzt, die aus der Retorte verdampft.
Lasst man den Wasserstoff plotzlich zuriicktreten, so dass sich der
Druck vergrossert, so nimmt dieser wieder langsam ab, das Quecksilber
fallt im Manometer, um seinen anfanglichen Stand wieder einzunehmeo,
und eine gewisse Menge des gebildeten Eisenoxyds wird wieder redu-
ziert und giebt Wasser, welches sich in der Retorte verfliissigt
Der in Beriihrung mit dem Eisen entwickelte Wasserstoff verhilt
sich wiederum, den Gesetzen der Hygrometrie entsprechend, ahnlich dem
Ghemische Gleiebgewichte dritter Ordnung. 959^
in einen yeranderlichen Raum bei konstanter Temperatur eingeschlossenerv
Wasser, welches sich yerfliissigt oder yerdampft, so dass der Raam
immer mit Dampf gesattigt bleibt.
WeDn Wasserdampf yon bestimmtem Druck in Beriifafung mit
gltihendem Eisen von unyeranderlicher Temperatur steht, so kann der
Raam, in welchem sich der feucbte Wasserstoff befindet, auf jede be*
liebige Temperatur gebracht werden, (wenn uur die Verfliissigung de&
Wasserdampfes yermieden wird), ohne dass der Druck im Raume sich
andert Erwarmt man beispielsweise den ganzen Apparat, so nimmt
der Druck zu und der Wasserstoff ,ykonden8iert sich" auf dem Eisen-
ozydy bis sein Druck auf den Wert berabgegangen ist, welcher der
Temperatur des erhitzten Eisens entspricht.
Dies ist eine offenbare Analogic mit dem Wattschen Prinzip und
eine neue Anwendung eines der wichtigsten Gesetze der Hygrometrie.*^
In seiner zweiten Mitteilung berichtet Deyille iiber die Ergebniss&
seiner Versuche mit Eisen yon yerschiedenen Temperaturen und Wasser-
dampf yon yerschiedenem Drucke. Wird der Wasserdampf konstant
gehalten, und erhoht man die Temperatur des Eisens, so yermindert
sich der Druck des Wasserstoffs. „B6im ersten Anblick der Zahlea
konstatiert man die unerwartete Thatsacbe: dass je heisser das Eisen
ist, um so weniger zersetzt es das Wasser.^ Folgende Tabelle zeigt dies.
Temperator Drack des Wasserdampfes Druck des Wasserstoffs
200* 046 cm 9-59 cm
265 „ 642
360 „ 4.04
440 „ 258
(860) 766° „ 1-28
(1040) 920° „ 0-92
•1600 „ 0-51
Die eingeklammerten Zahlen ftir die Temperaturen sind yon
Deville nicht ganz ricbtig angegeben worden; es sind die Siedepunkte
des Kadmiums und Zinks, die nach neueren Bestimmungen bei 765^
nnd 920^ liegen. Die richtigen Zahlen sind beigeschrieben.
Als nun der Druck des Wassers dadurch geandert wurde, dass die
Retorte auf andere Temperaturen gebracht wurde, stellte sich ein ent-
sprcchend anderer Druck ftir den Wasserstoff ein. Deyille hat sicb
ausdriicklich die Frage gestellt, ob nicht etwa zwiscben beiden Grossen
Proportionalitat yorhanden sei, und hat sie auf Grund einer Rechnung
yemeint, die so gefiihrt war, dass die Einfliisse etwaiger Versuchsfehler
den grosstmoglichen Wert annahmen. Berechnet man fiir gleiche Tern-
61*
960
II. Ghemische Dynamik.
peraturen die Verhaltnisse zwischen den Drucken dee Wasserstoffs and
dea Wasserdampfs, so ergiebt sich die folgende Tabelle:
Pi
Qi
Pt
qt
Pi/Qi
Pt/Qa
200«
0-46
9-59
0.97
19.53 •
0.048
0050
205
046
642
1.57
2351
0072
0.067
360
0*46
404
0-95
763
0.114
0-124
440
0-46
2-58
1.01
579
0.178
0174
770
046
1.28
1.30
239
0-36
054
950
046
0-92
127
191
050
0^
1600
046
0-51
1.63
1.17
0-90
140
Hier sind unter j)^ und p2 die Drucke des Wasserdampfes (pi bei
0®), unter qi und q, die zugeborigen Drucke des Wasserstofis ange-
geben. Die Verhaltnisse pi/qi und p^/q^i sollen nach der Theorie gleich
sein. Wie man siebt, scbwanken die nebeneinanderstebenden Werte
beider Reiben um die Gleicbheit in einem Betrage, der die Versuchs-
febler kaum iiberschreiten diirfte. Nur die letzten Zahlen bei den
hochsten Temperaturen zeigen grosse Abweichungen. Diese liegen aber
in soicbem Sinne, dass sie sich dnrcb eine etwas hohere Temperatur des
in der Retorte befindlichen Wassers erklaren lassen. Auch ist es wohl
nicht moglicb, eine durch ein weites Rohr mit einem Raume yon heller
Rotglut bis Weissglut verbundene kleine Wassermasse durch Umgebung
mit Eis genau auf 0® zu erhalten, so dass die Torhandenen Abwei-
chungen eher zur Bestatigung der Richtigkeit von Devilles Druck-
messungen, als zur Widerlegung der Theorie dienen konnen.
Letztere ergiebt folgendes. Das unter den Versuchsnmstanden ge-
bildete Eisenoxjd hat die Zusammensetzung Fe4 05 und die Reaktion
erfolgt daher nach der Formel 4Fe + 5H,0 = Fe405 +5H,.
Die zugehorige Gleichgewichtsgleichung hat die Form p*/q^ = kon8t
Oder p/q = k, d. fa. es miissen die Konzentrationen und daher auch die
Teildrucke der beiden gasformigen Stoffe einander proportional sein,
wie es die Beobachtungen auch ergeben haben.
Was den Einfluss der Temperatur auf das Gleichgewicht aniangt,
so ist die Oxydationswarme fiir ein in der Gliihhitze entstehendes Eisen*
ozydulozyd gleich 662 K fiir ein Verbindungsgewicht Sauerstoff gefunden
worden (3, 1, 299); daraus folgt, dass die Oxydaticn des Eisens dozch
dampfformiges Wasser 82 E fiir jedes Mol der Gase entwickelt Daraos
ist zunachst zu schtiessen, dass die umgekehrte Reaktion, die Redukiion
des Eisenoxyduloxyds durch Wasserstoff, mit steigender Temperatur be-
fordert werden muss, wie es auch der Versuch ergeben bat Berechnet
man auf dieser Grundlage dlnk/dT^ so findet man fiir 600^ abs, also
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnung. 961
327^0 0-011, d. h. die Gleichgewicbtskonstante muss sich in dieser
Gegend fiir 90* ungefahr verdoppeln*). Der Anblick der Tabelle auf
S. 959 zeigt» dass die Messungen dieser Forderung hinreicbend nahe-
entsprechen, namentlich, wenn man die sicberer bestimmten Werte fiiF
den Wasserstoff benutzt Der Fall scbeiut sicb gut fur eine genauere^
rechneriscbe Untersuchung zu eignen, die bier nicbt beabsicbtigt ist.
In seiner dritten Mitteilung*) zeigt Deville, dass die gleicben
Drucke des Wasserstoflfs erbalten werden, ob man von Wasserdampf
und Eisen, oder von Wasserstoff und Eisenozyduloxjd ausgeht. Wenn
ancb das gleicbe Ergebnis bereits aus den Versucben fiber die Wieder-
berstellung des Druckes nach Vergrosserung oder Verkleinerung des-
selben zu folgern ist, so ist doch die ausdriicklicbe Bestatigung dieses
Schlusses nicbt unwillkommen, namentlicb, da auf diese Weise die Un-
abhangigkeit des Gleicbgewicbts von der relativen und absoluten Menge
der festen Pbasen in einem weit grosseren Umfange bewiesen wird.
16. Andere FSUe. Weitere zahlenmassig untersucbte Gleicbge-
wiebte, die unter diese Abteilung fallen, sind mir nicbt bekannt. Zwar
ist ein bierber geboriger Fall, die Verdrangung der Halogene durcb
einander an ibren Metallverbindungen, eingebend studiert worden'), docb
ohne Eenntnis der bier obwaltenden Gleicbgewicbtsgesetze und daber
aucb obne Materialien zu ibrer Priifung zu liefern.
Zu erwarten ist wiederum, dass die Gleicbgewicbte sicb in diesen
Fallen so einstellen werden, dass nur das Verbaltnis der Halogene in
der Gasphase massgebend ist, und dass die relativen und absoluten
Mengen der festen Stoffe keincn Einfluss darauf baben.
Falle, in denen die Reaktion unter Volumanderung verlauft, feblen
gleichfalls ganz.
Endlicb ist nocb darauf hinzuweisen, dass wie in friiheren Fallen
das Gleicbgewicbt von der Bescbaffenbeit der festen Pbasen abbangig
ist und sich verandert, wenn eine dieser Pbasen eine Anderung er-
leidet. So werden insbesondere poljmorpbe Zustandsanderungen bei
den festen Pbasen sich durcb Knicke in den Dampfdrucklinien verraten
miissen. Dass der Druck fiir die unbestaudigere Form grosser sein
muss, wie beim Gleicbgewicbt erster Ordnung, ist bier wieder keine
^) Da bei der Reaktion keine Yolum&nderung erfolgt, ist es gleicbgQltig, ob
man das Yerh<nis der Teildnicke oder das der Eonzentrationen der Rechnan^
zu Gninde legt.
») Comptes reDdus 71, 30. 1871.
•) Potylitzin, Joiirn. d. russ. chem. Ges. 8, 193; 11, 413ff. — Aucb Ber. 12»
17, 1308. 1879—1884.
962 II- Ghemische Dynamik.
Notwendigkeit; vielmehr hangt das Verhaltnis von ahnlichen Umstandea
ab, wie sie in solchen Fallen beim Gleichgewicht zweiter Ordnnng
mehrfach auseinandergesetzt wordeu sind (S. 900).
17. Drei feste Stoflb und eine GtasphaBe. Bei drei featen Phasen
and einer gasformigen ist nur eine einzige Freiheit ubrig geblieben,
und ein solcbes Gebilde verbalt sich daher, wie ein verdampfender ein-
heitlicher Stoff. Es besteht mit anderen Worten far jede Temperatur
ein ganz bestimmter Wert dee Dampfdmckes, der yon den abaolaten
und relativen Mengen der festen Phasen ganz nnabbangig ist, and im
allgemeinen mit steigender Temperatur zunimmt.
Wahrend in dieser Beziehung mit jenen einfacheren Fallen yoU-
Btandige Ubereinstimmung besteht, ist nacfa anderer Seite ein wichtiger
Unterschied vorhanden. Er besteht darin, dass die Zusammensetzang
der Dampfphase bei wechselnder Temperatar nicht konstant ist od^ zu
sein braucht. Die Dampfphase besteht in allgemeinster Auffassung ans
dem gasformigen Prodnkt der Wechselwirkung zwischen den festen Phasen,
den Dampfen der drei festen Phasen und aus etwaigen gasformigen Ver-
bindungen zwischen ihnen, und der Druck dieser Phase ist die Samme
der Teildrucke aller dieser Bestandteile. Nun ist es im allgemeinen nicht
zu erwarten, dass die Dampfdrucke der drei festen Phasen solche Fank-
tionen der Temperatur sein werden, dass sie einander bestandig propor-
tional sind; ferner wird die Konzentration der entstehenden gasformigen
Verbindungen ibre eigene Temperatur- und Druckfunktion haben. Daher
wird denn auch die Zusammensetzung des Dampfes eine Funktion der
Temperatur seiu, wenn auch bei jeder Temperatur jeder Teildruck ein-
deutig bestimmt ist.
In vielen Fallen werden sich diese Verhaltnisse insofern Terein-
fachen, als nicht alle moglichen gasformigen Stoffe bei den Versuchs-
temperaturen einen messbaren Druck aufweisen werden. Am einfachsten
werden die Verhaltnisse, wenn nur ein gasformiger Stoff von messbarem
Drucke entsteht; dann ist auch die Zusammensetzung der Gasphase
praktisch konstant, und nur ihr Druck oder ibre Konzentration wechselt
mit der Temperatur.
18. BeispieL In der Litteratur ist ein Fall verzeichnet, den rniui,
wenn auch nicht ganz einwandfrei, als einen Beleg fiir die eben ent-
wickelte Theorie ansehen kann. Es ist dies das von Isambert untor-
suchte Gleichgewicht zwischen Bleioxyd, Salmiak und deren (Tmsetzungs-
produkten. Je nachdem man diese formuliert, hat man es mit einer
Reaktion dritter oder vierter Ordnung zu thun; da aber in beidea
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnang. 963-
Fallen ein univariantes Gebilde entsteht, so mag der Fall hier abge-
handelt werden.
Der Vorgang kann dorch die Gleichnng
NH^Cl + PbO = PbCl(OH) + NH^
dargestellt werden, und entspricbt dann den gemacbten Voraussetzungeh,
da er drei feste Phasen und eine gasformige ergiebt. Da aber nach
den Angaben Isamberts bierbei Wasserdampf auftritt, so kann man die
Formulierung
2NH^C1 + PbO == PbCl, + 2NH3 + H,0
for die richtigere balten, und dann ware die Reaktion viorter Ordnung.
Da aber in diesem Falle der fliissige Anteil des Wassers eine bei dem
vorhandenen Drucke gesattigte Losung von Ammoniak in Wasser bilden
wurde, so waren flinf Phasen vorhanden, und das Gebilde hat wieder
nur eine Freiheit.
In der That beobachtete Isambert^), dass sich bei jeder konstanten
Temperatur innerhalb einigen Stunden ein Gleichgewichtszustand her-
stellte, welcher feruerhin unverandert blieb und nur von der Tempera-
tur, nicht von den Mengenverhaltnissen der Bestandteile abhing. Die
beobachteten Drucke waren:
Temp.
Drack
Temp.
Drack
175°
29-6 cm
363°
59-9 cm
220
346
39-5
67-5
242
37.7
420
73.3
27-0
420
45-9
839
29-7
469
48-9
92-6
321
5145
Der Atmospharendruck wird bei 42^ erreicht*).
Um auch Uber den Temperatureinfluss eine Schatzung auszufiihren,
berechnen wir aus den thermochemischen Daten die Reaktionswarme
des Vorganges. Wir finden
2NH^CI + PbO = PbCl, + 2NH8 + H,0 — 169 K,
wobei das Wasser als flussig angenommen und keine Riicksicht auf die
Absorption des Ammoniaks durch das Wasser, sowie die mogliche Bil-
dung eines Oxychlorids genommen ist Mittelst der Formel
^) Gomptes rendas 102, 1313. 1886.
*) Isambert giebt eine zweite Reihe von Zahlen, indem er von diesen Ge-
samtdrucken den Gesamtdruck des Wassers abzieht, als den Druck des Ammoniaks
aUein. Da aber sicher nicht reines Wasser vorliegt, sondern eine LOsang von
Ammoniak in Wasser, so ist es aach nicht statthaft, den Dampfdrack des reinen
Wassers, wie geschehen, in Rechnung zxx setzen, und die Zahlen gestatten nicht
anmittelbar, die beiden Teildracke zu sondern.
964 n* Ohemische Dynamik.
r>_ RJnpWPi
^~ 1 1
ergiebt sich aus den beiden ersten Messangen Q = 103K fiir ein Mol
Ammoniak, also 206 K fur 2NH3. Der Unterschied ist wohl teilweise
auf die erwahnten Vernachlassigungen zuriickzufiihren, welche die
Warmeabsorption bei der Reaktion grosser erscheinen lassen, als sie
in Wirklichkeit ist.
19. Flflssigkeiten and Gtase. Das DaltonBOhe Ghesets. Bei den
Gleichgewichten dritter Ordnung, bei denen eine fliissige und eine gas-
formige Phase Yorhanden ist, treten bei den einfachen Fallen der Lo-
sung ohne erhebliehe chemische Yorgange zwei Hauptfalle ein, die sich
dadurch unterscheiden, dass in einem Falle ein Oasgemich in einer ein-
heitlichen Fliissigkeit gelost wird, im anderen ein einheitliches Gas in
einem Flussigkeitsgemisch. Streng genommen sind beide Male die
drei Bestandteile sowohl in der gasformigen wie in der fiiissigen Phase
vorhanden; die beiden angefiihrten Falle sind indessen Grenzfalle, deren
Betrachtung die Ubersicht erleichtert.
Der Fall, dass ein Gemisch zweier Gase sich mit einer Fliissigkeit
ins Losungsgleichgewicht setzt, ist bereits von Dalton^) erledigt worden,
indem dieser zeigte, dass jedes Gas so gelost wird, als ware es unter
seinem Teildrucke allein vorhanden.
Die ezperimentellen Belege fiir diesen Satz sind bei Dalton aller-
dings noch ziemlich unToUstandig. Das Verdienst, den Satz eingebend
gepruft zu haben, kommt Bunsen*) zu, der ihn fiir die wenig loslichen
Gase als innerhalb der Fehlergrenzen vollig zutreffend erwies. Die
von Bunsen angestellten Versuche bestanden darin, dass er ein be-
stimmtes Gasgemisch einerseits eudiometrisch analysierte, anderer-
seits seine Zusammensetzung aus dem absorptiometrischen Verhalten auf
Grand des Daltonscheu Gesetzes berechnete. Die Ubereinstimmung der
beiderseits erhaltenen Werte ergab die Richtigkeit des vorausgesetzten
Daltonschen Gesetzes.
Die Rechnung lasst sich folgendermassen iibersehen. In dem von
Bunsen angewendeten Absorptiometer war sowohl der Druck, wie das
Volum veranderlich. Ist pa, ta, Va Druck, Temperatur und Volum vor
dem Absorption sversuch, p, t, v nach demselben und w das absorbiereode
Wasservolum, so ist die Loslichkeit ji durch das Verhaltnis des absor-
bierten Gasvolums zu dem Fliissigkeitsvolum w gegeben. Nach dem
^) Mem. Lit. Phil. Soc. MaDchester (2) 1, 271. 1805.
*) Lieb. Ann. 93, 1. 1855 und Gasom. Methoden, Braunschweig.
Ghemische Gleichgewicbte dritter Ordnuog. 965
Henryschen Gesetz ist X anabhangig vom Druck, dagegen eine Funktion
der Temperatur.
Nun ware das ursprungliche GasYolum bei dem Drucke p und der
Temperatur t, die nach Beendigung des Yersuches herrschen, gleich
-TT—: — -r-z und — --*- —-'^ V ist das absorbierte Volum; die
p (1+ata) p 1+ata
Loslichkeit hat somit den Wert X= PaV>(l + «t) — pv
pw(l + at.)
Die Formel wird einfacher, wenn man sich das anfangliche ge-
messene Gasvolum durch Multiplikation mit (1 -|- at)/(l 4- cc^a) &uf dio
Temperatur t des Absorptionsversuches reduziert denkt; wir woUen
fiir die Folge annehmen, dass dies bereits geschehen sei; dann ist
^_ PaVa — PV
pw
Fiir ein zweites Gas gilt eine entsprecbende Gleichung
/ /
V Pa Va — p V
A, = - , - - -.
p W
Wird nun ein Gemisch dieser beiden Gase mit der Fliissigkeits-
menge w behandelt, so wird wieder eine bestimmte Menge der Gase
absorbiert werden. Diese gehorcht aber nicht dem Henryschen Ge-
setze (ausser wenn beido Loslichkeiten gleich sind), sondern durch die
ungleiche Aufnahme der beiden Gase seitens des Losungsmittels andern
sicb die Teildrucke in einem verschiedenen Verhaitnis, und die Absorp-
tion kann nicht dem Gesamtdrucke proportional sein. Vielmehr werden
folgende Gleichungen gelten.
Seien Druck und Yolum des Gasgemisches Yor der Absorption
gleich Pa und Va, uiid P, V die Werte nach der Absorption, so ist
P, = pa + Pa' und P = p-)-p'. Die Volume sind Va = Va = Va' und
V = v = v'. Daraus ergeben sich die Formeln paVa — pV = ipw
und pa'Va — p'V = A'pV und durch Summierung, da Pa + Pa' = Pa und
P + P=P>
P V — PV
oder
w
p V,P,/P — V — 2'w
P (X — X)v
p' v.pjp-v— ;iw
™d p = — (1= rrw —
Da p/P und p'/P die Bruchteile der Gase in dem urspriinglichen
Gemenge sind und rechts lauter bekannte Werte stehen, so ist damit
966 n, Chemische Dynamik.
die Analyse ausgefUhrt Die Deatang der Formeln ist einfach und
bleibe dem Leser iiberlassen.
Auf Bolcbe Weise hat Bunsen eine Reihe von Analysen an Gre-
mischen von Kohlendiozyd und Wasserstoff ausgefiihrt; die Ergebnisse
der eudiometrischen Analyse sind unter E, die der absorptiometrischen
unter A angegeben.
Wasserstoff Kohlendiozyd
£ A £ A
09246 0-9207 0-0754 0-0793
07319 0-7343 * 02681 0-2657
07319 0-7285 02681 0-2715
0-7319 0-7372 0-2681 0-2628
Die ' drei letzten Versuche sind mit demselben Gasgemenge, nur
bei verschiedenen Temperatoren gemacht, und zur Berechnung dienten
die fur diese Temperaturen ermittelten Loslichkeiten der beiden Gase.
Bunsen hebt bei gleicber Gelegenheit die methodisch wichtige
Thatsache heryor, dass die Absorptionsverhaltnisse gestatten, einheiUiche
Gase Yon Gemengen zu unterscbeiden, die in stdchiometrischen Ver-
haltnissen hergestellt sind, und die bei der Analyse gleiche Zusammen-
setzung und gleicbe Dichte zeigen. So ist es z. B. nicht moglich, dorch
eudiometrische Analyse oder Bestimmung der Dichte ein Gemenge von
gleichen Volumen Wasserstoff und Athan von Methan zu unterscheiden,
da Zusammensetzung und Dichte bei beiden gleicb sind. Dagegen kann
ein AbsorptionsversucH sofort Entscheidung bringen, da die Loslichkeiten
beider Gase verschieden sind. Erstens folgt das Gemenge nicht dem
Henryschen Gesetze und zweitens ergiebt sich auch bei irgend einem
bestimmten Drucke die Loslichkeit des Gemenges yerschieden yon der
bekannten Loslichkeit des Methans. Auf diese Weise konnte bewiesen
werden, dass das beim Gluben von Natriumacetat mit Natronkalk ent^
stehende Gas in der That ein einheitlicher Stoff und identisch mit dem
Sumpfgas ist, „welches den Schlammyulkanen am Bulganak in der Eiim
entstromt**.
Umgekehrt ergab sich durch die Bestimmung der Absorption, dass
das Gas, welches man durch die Einwirkung konzentrierter Schwefel-
saure auf Oxalsaure erhalt, ein Gemenge yon gleichen Yolumen Eohlen-
oxyd und Kohlendioxyd ist. Die Messungsergebnisse sind
E A
Kohlendioxyd 5006 50-00 50-03 50-34
Kohlenoxyd 49-94 50-00 49-97 49-66
Die Ubercinstimmung lasst nichts zu wiinscben iibrig.
Chemische Qleichgewichte dritter Ordnung. 967
t)ber die Grenzen der Giiltigkeit des Daltonschen Gesetzes lasst
sicb noch nichts bestimrates sagen, da keine dabin gericbtete Unter-
sucbung Yorliegt Sie werden yoraussicbtlicb weiter sein, als die Grenzen
des Henryscben Gesetzes.
20. Ii58liohkeit eines Gases in Fl&sigkeitsgemisohen. Die Frage
nacb den Gesetzen, welcbe die Loslicbkeit eines Gases in einem au?
zwei Stoffen zusammengesetzten Losungsmittel zeigt, lasst sicb in zwei
Hauptfalle zerlegen. Der erste beziebt sicb auf die Anderuugen, welcbe
die LoBlicbkeit erfabrt, wenn verbaltnismassig kleine Mengen eines
dritten Stoffes zum Losungsmittel gefiigt werden, dies also in eine yer-
diinnte Losung eines anderen Stoffes verwandelt wird. Der andere tritt
ein, wenn diese Bescbrankung aufgegeben wird, und das Losungsmittel
seine Zusammensetzung innerbalb weiter Grenzen andert.
Fiir den ersten Fall wurden verbaltnismassig einfacbe Beziebungen
crwartet, gemass der Einfacbbeit des Verbaltens der Stoffe in vielen
Beziebungen, wenn sie im Zustande verdiinnter Losung vorliegen; in-
dessen bat sicb diese Erwartung nicbt bestatigt.
Die alteren Versucbe liber diese Fragen sind durcb pbysiologiscbe
Probleme angeregt worden, die sicb auf die Gase des Blutes bezogeu,
und sind bereits friiber (1, 625) erortert worden. Die Versucbe iiber
die Absorption des Eoblendioxyds in verdunnten Salzlosungen, insbe-
sondere solcben von Natriumpbospbat, liesson als bald erkennen, dass es
sicb bier um eine zusammengesetzte Erscbeinung baudelt. Einerseits
wipd das Gas dem Henryscben Gesetze gemass aufgenommen, und es
erfolgt eine einfacbe Losung. Andererseits aber findet zwiscben dem
gelosten Gase und dem vorbandenen Salze eine cbemiscbe Wecbselwir-
kung statt, durcb welcbe ein Teil des Gases in eine nicbtfliicbtige Ver-
bindung iibergefiibrt wird. Dieser An teil kann offenbar dem Absorp-
tionsgesetze nicbt geborcben. Das Verdienst, diese Unterscbeidung zu-
erst klar aufgestellt zu baben, kommt Fernet^) zu. Docb bat er darin
geirrt, dass er den zweiten, cbemiscb gebundeneu Teil in seinem Falle,
der Losung von Binatriumpbospbat, fiir konstant und unabbangig von
Temperatur und Konzentration ansab. Heidenbain und L. Meyer ^
baben gezeigt, dass letzteres nicbt der Fall ist, sondern dass, wie es
aucb die Gleicbgewicbtslebre erwarten lasst, die cbemiscb gebundene
Menge wegen der Abbangigkeit des entstebenden Gleicbgewicbts von
Druck und Temperatur aucb mit diesen Faktoren wecbselt. Sie baben
ferner auf unzweifelbafte Unricbtigkeiten in Fernets Arbeiten binge-
^) Comptes rendas 46, 620. 1858. ^) Lieb. Ann. Suppl. 2, 157. 1863.
968 II* Ghemische Dynamik.
wiesen; doch ist das von ihm aufgestoUte Prinzip in sachgemasser An-
wendung durchaus richtig und hat sich in der Folge als in hohem
Masse fruchtbar erwiesen.
Von physiologischen Gesichtspunkten aus hat auch spater Setschenow^)
seine sehr umfassenden Arbeiten liber die Absorption des Kohlendioxyds
durch Salzlosungen unternommen; sie haben ihn jedoch bald zu rein
physikochemischen Problemen gefiihrt.
Wenn auch die Wahl des Gases wegen der schwach sauren Eigen-
schaften der Kohlensaure nicht eben gliicklich war, da die VerhSItnisse
hier verwickelter sein miissen, als bei neutralen Gasen, so haben sich
doch bemerkenswerte Beziehnngen ergeben, die als Fiihrung bei weiteren
Studien dienen konnen.
Die Grunderscheinung, von der Setschenow ansgeht, ist die folgende.
Lost man ein Salz in Wasser auf, so ist der Absorptionskoeffizient in
der Losung in einem bestimmten Verhaltnis kleiner, als im Wasser.
Benntzt man an Stelle des Wassers irgend eine wasserige Losung » so
zeigt sichy dass die verhaltnismassige Verkleinerung der Absorption die-
selbe ist, wenn man nur das Salz in demselben Volum der Fliissigkeit
auflost.
Da man als Losungsmittel in solchem Sinne auch eine Losung des
Salzes selbst benutzen kann, so folgt, dass bei gleichen Zusatzen des
Salzes die Absorptionskoeffizienten immer in demselben Verhaltnisse
abnehmen miissen. Sie bilden also eine geometrische Reihe, wenn die
Konzentratiou der Satzlosung in arithmetischer Roihe wachst. Die Eon-
zentrationsfunktion des Absorptionskoeffizienten wird daher durch den
Ausdruck a=aoe~^® dargestellt, wo a^ die Absorption durch reines
Wasser, c die Konzentratiou und k eine spezifische Konstante ist. Die
Konstante bestimmt sich aus der Formel
log gp — log a
- =K,
wo K = 04333 k wegen des Uberganges auf dekadische Logarithmen ist.
Der Vergleich dieser Formel mit den Messungen zeigt, dass sie
diese bei konzentrierten Losungen gut darstellt, dass aber bei verdunn-
ten Losungen die Absorption grosser gefunden wird, als die Formel
erwarten lasst.
Dagegen iindet man eine sehr weitgehende Obereinstimmung
zwischen Formel und Mcssung bei den Losungen von Sauren. Versache
^) Zusaxnmenfassung Zeitschr. f. phys. Chemie 4, 117. 1889; Ann. Chim. Phfs.
(6) 25, 226. 1892.
Chemische Gleichgewichie dritter Ordnung. 969
mit Citronensaure , Weinsaure und Metaphosphorsaure zeigen Abwei-
chungen, die hochstens ein Prozent erreichen.
Vergleicbt man die Eoeffizienten k, welche den spezifischen Ein-
flass der gelosten Sto£Fe darstellen, untereinander, so zeigt sich zu«
nacbst, dass man die Messungen auf aquivalente Losungen bezieben
ranss, da dann die Werte fiir abnlicbe Saize einander nabe kommen.
In den Werten der Koeffi^ienten lasst sieb dentlicb ein additiver Eiu-
flnss der beiden lonen erkennen. Die geringste Verminderung der Ab-
sorption wird durcb die Nitrate bewirkt, dann kommen die Cbloride
und die Sulfate. Ebenso baben die Ammoniumsalze den kleinsten Ein-
flussy dann folgt Kalium und Natrium.
Die Erorterung der Frage, ob nur das Losungswasser die absor-
bierende Wirkung auf das Kohlehdioxyd ausiibe, oder das Salz dabei
aktiv beteiligt sei, fuhrt zur Bejabung der zweiten Alternatiye. Dies
ergiebt sicb daraus, dass in einer grossen Zabl von Salzlosungen die
Menge des aufgenommenen Gases sicb grosser ergiebt, als die Menge,
welcbe unter gleicben Umstanden von dem in der Losung enthaltenen
Wasser aufgenommen werden kann. Besonders gross erwiesen sicb die
Unterscbiede bei Losungen von Ammoniumnitrat, wo die konzentrierte
Losung etwa das 1-25-facbe von dem aufnimmt, was das in ibr ent-
haltene Wasser losen konnte.
Werden zum Losungswasser die SaIze schwacber Sauren gesetzt,
so macbt sicb die cbemiscbe Wirkung des Eoblendioxyds darin geltend,
dass die Absorption grosser wird, und dass gleicbzeitig das Henryscbe
Gesetz seine Geltung yerliert Die bier auftretenden Erscbeinungen
werden einer rationellen Zerlegung offonbar erst dann zuganglich sein,
wenn fiber die Gesetze der einfacben Absorption in gemiscbten Ld-
sungsmittebi Elarbeit bestebt, und die Untersucbung solcber Falle ist
daher die erste Aufgabe, die bier gestellt werden muss.
Von diesen Gesicbtspunkten aus bat Steiner^) die Absorption des
Wasserstoffs durcb Salzlosungen untersucbt. Als Losungsmittel bat er
wieder Wasser benutzt, als Zusatze Salze, und zwar in ziemlich kon-
zentrierter Losung. Ausserdem sind Versucbe mit Losungen von Robr-
zucker angestellt worden. Die Temperatur scbwankte um 15^ und
unter der Voraussetzung, dass der Temperaturkoeffizient der Loslich-
keit des Gases proportional sei^ sind die Versucbe auf 15^ reduziert
worden.
Es zeigte sicb, dass aucb bei der Absorption des Wasserstoffs der
») Wied. Ann. 62, 257. 1894.
970 11. Gbemische Dynamik.
Znsatz eines fremden Sto£Pes die Loslichkeit immer yerminderte. Wabrend
aber bei den Salzlosungen diese Verminderung schnell relatiy kleiner
wird, weDn die Konzentration zunimmt, so zeigt der Nichtelektxolyt
Zacker einen viel geringeren Einfluss der Konzentration.
Beim Vergleicb aqaimolekularer .Salzlosungen erwies sich der
Betrag dieser Verminderungen von Salz zu Salz deatlich verschiedeD;
fBrner sonderten sich die mehrwertigen Salze durch ihre grosseren
Werte Ton den einwertigen ab. Vergleicht man dagegen aquiyalente
Losungen, so fallen beide Gnippen ineinander.
Eine tJbersicht iiber die erhaltenen Zahlen giebt die nachstehende
Tabelle, in welcher die aquiyalente Verminderung der Loslichkeit an-
gegeben ist, d. h. der durch den Aquiyalentgehalt'der Losung diyidierte
Unterschied zwischen der Loslichkeit des Wasserstofib in reinem Wasser
und in der Salzlosung. Erstere wurde zu 0*01883 bei 15® bestimmt').
AqoiyalentTerminderang
m»»0 12 3456789
0-00 000 000 0-00 000 0-00 000 0-00 OW O-OO
Li CI 36 309 279 254 288 — — — — —
KNO, 47 359 303 269 — — — — — _
V.AICI, 44 372 331 297 268 243 222 — — —
KCl 46 381 333 296 266 — — — — —
NaNO, 47 387 341 300. 269 243 223 — — —
V.CaCl, 46 390 344 308 276 250 229 — — -
NaCi 46 405 369 334 296 262 — — — —
VgMgSO^ 52 432 381 342 306 277 — — — —
V.ZnSO^ 52 437 385 344 304 275 — — — —
VjNagSO^ 62 513 446 391 — — — — — —
VaKgCO, 66 545 458 . 394 344 302 268 239 214 192
VaNa,CO, 66 643 458 395 — — — — — —
Rohrzucker 63 603 576 _ — — — — — —
Neben m steht der Aquiyalentgehalt der Losungen'); die Zahlen
der ersten Spalte sind fiir m:=0 aus den Beobachtungen eztrapoliert.
Wie man sieht, nehmen die Werte mit steigendem m schnell ab, ausser
beim Zucker, wo die Abnahme yiel geringer ist Im ubrigen yerlaufen
die entsprechenden Kuryen ohne erhebliche Durchschneidungen; es
handelt sich also um spezifisch yerschiedene • Eigenschaften der Salxe»
ahnlich den Wanderungsgeschwindigkeiten und der inneren Reibang.
Auoh einige Andeutungen additiyen Verhaltens in Bezug auf die
^) Es ist der Rechnung der Bansensche AbsorptionskoCffixient, d. h. die dureli
l-^-at diyidierte LGslichkeit zu Grunde gelegt worden.
*) Nar AIGI3 ist merkwUrdigerweise halbiert, statt gedrittelt
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnung. 971
lonen lassen sich erkennen, indem die Kaliamsalze einen merklich.
kleineren Einfluss haben, als die Natriumsalze^ und die Nitrate einen
kleineren, als die Chloride. Auch besteht hier die Gleichheit des Ver-
haltens bei Zink- und Magnesiumsulfat, welche bei fast alien Eigen-
schaften dieser beiden Stoffe bervortritt.
Steiner weist daraaf bin, dass die Zahlen Setscbenows fiir Eoblen-
dioxyd abnlicbe Beziebungen erkennen lassen. Aucb ist die relatiye
Verminderung der Loslicbkeit beider Gase fiir dieselben Salze in gleicb
konzentrierten Losungen einigermassen iibereinstimmend, wie die Ta-
belle zeigt.
m
CO,
H.
Li CI
118
0-808
0-807
KCl
126
0819
0756
NaNO,
122
0-796
0757
V.MgSO,
1-08
0778
0766
V.ZnSO^
131
0-669
0-714
V.Na,S04
083
0783
0799
100
0700
0-728
Unter m stebt der Aquivalentgebalt der Salzlosungen, unter GO^
die Verbaltnisse , der Loslicbkeiten des Eoblendioxyds in den Lo-
sungen za der in reinem Wasser, unter H, die gleicben Werte fiir
Wasserstoff.
Gleichzeitig mit der Arbeit von Steiner erscbien eine von V. Gor-
don^), in welcber statt der friiher benutzten Gase Stickoxydul zur
Verwendung gelangte, welcbes sicb durch seine ziemlicb grosse Los-
licbkeit und seine chemiscbe Indififerenz empfabl. Aucb bier wurde
eine Yermindernng der Loslicbkeit durcb den Salzzusatz ausnabmslos
nacbgewiesen; fur den Einfluss der Konzentration auf die Verminderung
wurde eine von H. Jabn angegebene Interpolation sformel benutzt, welche
die Gestalt bat: ~-^«r- = L.
m^»
Hier ist a^ der Absorptionskoeffizient in reinem Wasser, a der in
der Losung; m ist der Molekulargebalt der Losung an Salz und L eine
Konstante. Der Vergleich dieser Formel mit den Messungen zeigt eine
Ubereinstimmung auf einige Prozente. Die Yersucbe wurden bei
verschiedenen Temperaturen ausgefubrt und sind fiir 5^ 10^ 15® und
20® berechnet. Die nacbstebende Tabelle entbalt die Ergebnisse der
fiir verscbiedene Salze und Temperaturen gefundenen Konstanten L.
*) Zeitschr. f. phys. Chemie 18, 1. 1895.
fl72
II. ChemiBche Dynamik.
20*
15*
10 •
5«
Ls/L,o
LiCl
0448
0167
0.193
0-234
1-58
KaCl
0160
0.187
0223
0270
1*69
KCl
0154
0-174
0-211
0266
173
Na3S0^
0322
0369
0-443
0.528
1-64
K,SO^
0*260
0299
0-336
0394
1-52
LijSO^
0239
0826
0-386
0470
163
CaCl,
0-255
0-290
0-351
0-337
1-71
SrCl,
0-259
0317
0-386
0-468
1.77
MgSO^
0.321
0.368
0.414
0-511
159
Diese Konstanten geben das Mass des Einflusses der Salze auf die
Loslichkeit uDabhangig von der Verdiinnung wieder. Wie maa sieht,
zeigen sich dieselben Verhaltnisse, welche Setscheoow und Steiner ge-
fdnden batten; die Einfliisse ahnlicher Salze sind tou gleicber Grossen-
ordnung, wenn auch deutlich verschieden, und die mehrwertigen Salze
haben etwa doppelt so grosse Einfliisse, wie die einwertigen. Auch sind
die Zahlen der Kaliumsalze kleiner, als die der Natriumsalze.
Der Einfluss der Temperatur liegt immer in der Ricbtung, dass
die Anderung durch den aufgelosten Stoff um so geringer wird, je hoher
die Temperatur steigt. Um die verscbiedenen Salze zu yergleichen,
babe icb in der letzten Spalte die Yerbaltnisse h^jh^Q berecbnet; sie
sind annabernd gleicb, indem die aussersten Werte 1-52 und 1-77 sind;
eine Beziebung der Verscbiedenbeiten zu anderen Eigenscbaften lasst
fiicb nicbt erkennen, so dass wobl ein erbeblicber Teil derselben auf die
Versucbsfebler zu scbieben sein wird.
Gordon bat aucb die Eonstante der gleicben Interpolationsformel
aus den Versucben von Steiner berecbnet, und ziemlicb grosse Schwan-
kungen gefunden. Die Mittelwerte der zum Teil weit auseinander-
gebenden Zablen sind:
KCl
KNOs
KjCOs
KaCl
NaNO,
Na3C08
Unter NgO/Hg babe icb die Yerbaltnisse der Konstanten L, wie
sie mit Stickoxydul und Wassersto£P erbalten worden sind, beigeschrieben.
Es zeigt sicb, dass sie sicb verbaltnismassig nabe kommen, entsprechend
der Bemerkung von Steiner iiber die Einfliisse bei Koblendioxyd and
Wasserstoff. Die Konstanten sind den Absorptionskoeffizienten propor^
tional und das Verbaltnis dieser betragt bei 15« 0-787/0.0188=42,
L
N,0/H,
L
N,0/H,
000396
44
Na,SO^
0-00835
43
0-00359
—
LiCl
0-00348
48
0-00798
—
MgSO^
0-00740
50
0-00445
42
ZdSO«
000742
0-00408
—
CaCla
0-00652
46
0-00848
Chemiscbe Gleichgewichte dritter Ordnang. 973
identisch mit dem kleinsten Werte jenes Verhaltnisses. Daraus folgt,
dass auch hier der spezifische Einflas8 der Saize auf die Absorption
der Gase in erster Annaherung Ton der Natur des Oases unab-
hangig ist. Das firgebnis ist interessant genug» urn zu einer ein*
gehenderen Erforschung des Problems einzuladen. An spaterer Stelle
werden sich weitere Bestatigongen dieser Beziehungen ergeben.
Eine weitere Arbeit von W. Roth^) fiber die Aufnahme des Stick-
oxyduls duroh Losungen ist der Priifung einer von H. Jahn (a. a. 0.)
angegebenen Beziehung gewidmot, nach weloher die Absorption eines
Gases in Losungen indifferenter Sto£Pe so erfolgen muss, dass sich unter
gleichen Umstanden stets die gleicbe moleknlare Konzentration des
Gases herstellt.
Zur Untersuchung gelangten Losungen von Harnstoff, Glycerin,
Oxalsaure, Phosphorsaure, Chlornatrium. Die Ergebnisse waren folgende.
Bei den Losungen yon Harnstoff wurde jenes Gesetz mit grosser
Annaherung bestatigt, denn das Verhaltnis der molekularen Konzentration
in der Losung zu der in reinem Wasser wurde bis 10 ^/^ hinauf kon^
stant gleich Eins gefunden. Die Einzelwerte sind 1*009, 1*002, 1*010^
0-990, 0-993. Bei Glycerin zeigte sich eine ziemlich erbeblicbe Ab-
weichung in dem Sinne, dass die Losungen eine geringere molekulare
Konzentration aufwiesen, als reines Wasaer. Die Abweichungen nehmen
mit sinkender Temperatur stark zu und betragen fiir eine Losung von
16% bei 5^ schon 7-5®/^, uberscfareiten also weit die Versuchsfehler.
Oxalsaure zeigt wieder annahernde t)bereinstimmung innerhalb der Be-
obacbtungsfehler; dagegen sind die Abweichungen bei Phosphorsaure
und Chlornatrium von hoffnungsloser Grosse, selbst bei ziemlich ver-
diinnten Losungen.
Die empirische Formel (a — a,)/n*/« = L gilt fur Chlornatrium und
Phosphorsaure in guter Annaherung; fur die Nichtolektrolyte dagegen
nicht.
Eine spatere Untersuchung von L. Braun') ergab ganz ahnliches.
Sie enthalt eine Ausdehnung dieser Untersucbungen auf Stickstoff und
Wasserstoff, wobei im wesentlichen die gleichen Verhaltnisse gefunden
wurden. Die Losungen von Harnstoff und Propionsaure ergaben auch
bei etwas hoheren Konzentrationen die gleiche Loslichkeit, wie sie in
reinem Wasser gefunden wurde, wahrend Elektrolyte die Loslichkeit stark
vermindern. Die Gultigkeit der empirischen Formel (a-*-a8)/n^s = L
bestatigte sich im Falle der Elektrolyte Chlorbaryum und Chlornatrium.
h Zeitschr. f. pbjrs. Chemie 24, 114. 1897. «) Ebenda 88, 7!^. 1900.
Ostwftld, Chemie. 11,3. 3.Aufl. 62
974 n. Ghemische Dynamik.
Ein Vergleich der L-Werte fur Stickstoff und Wasserstoff in gleichen
Losnngen ergab, dass das Verhaltnis beider Ton der Temperatur nabezn
abbangig ist, dagegen mit der Natur des aufgelosten Elektrolyts
wecbselt. Ein Vergleich mit den L-Werten ana den Messungen von
Roth am Stickstoffoxydul ergab dagegen eine bedeutende Abbangigkeit
yon der Temperatur.
Betrachtet man die Oesamtbeit dieser Erfahrungen, so wird man
zn dem Schlusse gefiihrt, dass auch in sehr verdiinnten Losnngen ein
spezifisoher Einfluss des Zusatzes auf die Absorption der Gase yorhan-
den ist) so dass sie sich als eine Funktion (in erster Annaherung ak
Summe) zweier spezifiscber Orossen darstellt, yon denen eine darcb das
Losungsmittel, die andere durch den Zusatz bestimmt ist Von der
Natur des absorbierten Gases scheinen diese Grossen nur wenig ab-
bangig zu sein.
Dass sich diese Eonzentrationsfunktion des Zusatzes bei Nichtelek-
trolyten ziemlich linear, bei Elektrolyten dagegen etwa der % Po-
tenz der Konzentration proportional gezeigt bat, ist noch der Anf-
klarung bediirftig.
21. Absorption dnroh FItUisigkeitagemisohe. Der erste, welcher
den Gang des Absorptionskoeffizienten durch eine ganze Reihe yon
Flussigkeitsgemischen zwischen den beiden reinen Endgliedem unter-
suchte, war Setschenow. Die Versuche warden mit Wasser und
Schwefelsaure angestellt, als Gas diente Koblenoxyd. Das Ergebnis
war, dass durch die Mischung sich der Absorptionskoeffizient yermindert;
eine Kurye,' welche diesen als Funktion der Zusammensetzung der
Fliissigkeit darstellt, bleibt Uberall unter der Verbindungslinie der beiden
Werte fur die reinen Fliissigkeiten, und zwar so bedeutend, dass sich
ein Minimum des Koeffizienten ausbildet. Spater hat er dasselbe bei
Gemischen yon Milchsaure und Wasser gefunden. Seine Zahlen sind:
Schwefels&ure bei 17 ^
GewichUteile Wasser 0000 0032 0080 0155 0-270 0-914 1-00
Absorptionskoeffizient 0-932 0-852 0-719 0-666 0-706 0-887 0961
MilchB&are bei 15<2^
Yolumteile Wasser 0-00 0-50 0-75 0-875 1-00
AbsorpUonskoSffizient 1-438 0-956 0-935 0-970 1-000
Die nachfolgenden Untersuchungen haben gezeigt, dass es sich hier
um eine allgemeine Erscheinung haudelt, denn es ist in jedem Falle die
Verminderung des Absorptionskoeffizienten unter das proportionate
Mittel und auch das Minimum desselben wiedergefunden worden.
Ghemische Gleichgewichte dritter Ordnang. 975
So hat 0. Miiller^) fiir Kohlendioxyd in Alkohol-WassergemischeD
ein MiDimum bei etwa 30 Gewichtsprozent Alkohol gefundeo.
Ebenso hat 0. Lubarsch') unabhaogig yon Setschenow das Minimum
bei Schwefelsaare und Wasser gegen Kohlendioxyd beobachtet and
gleichzeitig gefunden, dass bei derselben Konzentration auch Stickoxyd
ein Absorptionsminimum hat. Ferner ergab sich, dass auch die Los-
lichkeiten yon WasserstoflP, Sauersto£P und Kohlenoxyd bei 28 Gewichts-
prozent Alkohol in Wasser Minima zeigen. Die nachstehende Tabelle
lasst dies deutlich heryortreten.
GewichUprozente Alkohol 000 909 16*67 2308 28-57 3333 5000 66-67 80-00
Sauerstoff 2-98 278 2-63 2-52 249 2-67 8-50 4-95 5*66
Wasserstoff 193 143 129 1-17 1-04 1-17 202 2-55 —
. Kohlenoxyd 241 1-87 177 1-68 1-50 1-94 3-20 — —
Obwohl die Minima an derselben Stelle liegen, yerlaufen doch die
Koeffizienten der yerschiedenen Gase nicht proportional untereinander.
Halt man diese Beobachtungen mit den im yorigen Abschnitt ge-
schilderten Thatsachen zusammen, so wird man zu dem Schlusse ge-
fiihrty dass fiir die Losung der Gase in Flussigkeitsgemischen die
Natur dieser letzteren yiel mehr massgebend ist, als die des Gases.
Da die Loslichkeiten der Gase in yerschiedenen einheitlichen Losungs-
mitteln untereinander nicht proportional sind, so ist allerdings nicht
za erwarten, dass der Einfluss, der yon der Natur der Gase herriihrty
sich in Gestalt eines einfachen Koeffizienten geltend machen wird; die
Funktion muss notwendig yerwickelter sein. Wohl aber ist zu erwarten,
dass bei dem yorwiegenden Einflusse des Losungsmittels die Absorp-
tionsyerhaltnisse beliebiger indifferenter Gase iiber die Natur dieser
letzteren werden Aufschluss geben konnen. Hierzu wird insbesondere
der S. 973 angedeutete Satz yon der theoretisch zu erwartenden Absorp-
tion zu gleicher molekularer Konzentration bei gleichem Druck') An-
regung geben, da er sich zu einem Mittel zur Messung des Molekular-
zustandes des Losungsmittels konnte entwickeln lassen. Das Auftreten
des Absorptionsminimums wUrde dann durch die Bildung yon Verbin-
dungen zwischen den fliissigen Gemengbestandteilen zu deuten sein, und
miisste dort ausbleiben, wo durch Verwendung indififerenter, insbe-
sondere auch nicht polymerisierter Fliissigkeiten solche Vorgange aus-
geschlossen sind. Doch sind bei der zweifelhaften Beschaffenheit der
Grundlagen auch die Ergebnisse unsicher.
») Wied. Adh. 87, 24. 1889. •) Wied. Ano. 87, 524. 1889.
») Vergl. H. Jahn bei W. Roth, Zeitachr. f. physik. Chemie 24,' 115. 1897
62*
976 n. Chemische Dynamik.
22. ChemiBohe Voigfinge in der Gaaphase. Wenn zwiscben den
gas- Oder dampfformig vorhandenen Bestandteilen chemische Vorgange
eintreten, so dass mehr als zwei verschiedene Stoffe darin anweaead
sind^ so bleibt das Daltonsche Gesetz in der Gestalt bestehen, dass for
jeden gasformigen Stoff das Henryscbe Absorptionsgesetz mit seinem
eigenen Koeffizienten gilt Da nnter diesen Umstanden in der Fliissig-
keit gleichfalls die Reaktionsprodukte anwesend sein miissen, so kommt
dieser Fall auf den anderen zurfiok, dass sich in der Fliissigkeit
chemische Vorgange abspielen, welche zu fiiichtigen Produkten fiihren.
Es kann also auf den entsprechenden Abschnitt iiber die Reaktionen in
der fliissigen Phase verwiesen werden. Nor soil an dieser Stelle betont
werden» dass auoh hier die Betrachtung Anwendung findet, weldie einen
nnmittelbaren Zusammenhang zwischen den Loslichkeiten der Terschie-
denen Gase und Dampfe im Reaktionsgemisch und den Gleichgewichts-
koeffizienten in der Gasphase und in der flussigen Phase hersteUt
(S. 603).
Gleichgewichte in Flflssigkeiten.
23. TemlUre Gleiohgewiohte in Flussigkeiten. Wenn die Tor-
handenen drei Bestandteile bei der betrachteten Temperatur flussig aind
und sich gegenseitig in alien Verhaltnissen zu einer bomogenen Fliissig-
keit losen, so hat ein solches Gebilde vier Freiheiten. Yerfugt man
durch die Temperatur iiber eine und durch den Druck (bezw. durcb
Annahme einer Dampfphase) iiber eine andere, so bleiben zwei Frei-
beiten iibrig, und die unter diesen Umstanden moglichen Gleichge-
wichte werden durch eine zweifache Mannigfaltigkeit dargestellt. Es
konnen mit anderen Worten, z. B. fiir zwei Bestandteile oder onab-
hangige Verbindungen beliebige Konzentrationen (innerhalb der Existenz-
grenzen) yorgeschrieben werden, und es ist dann stets moglich, durch
entsprechende Wahl der Konzentration des dritten Bestandteils und
der etwaiger anderer Verbindungen einen (aber auch nur einen) Gleich-
gewichtszustand herzustellen.
Beispiele fur diesen Fall liefern die Untersuchungen von Berthelot
und Pean de St. Gilles und die spateren von Menschutkin iiber die Ester-
bildung, deren Hauptergebnisse bereits friiher (S. 605) mitgeteilt worden
sind ^). Es wurde schon erwahnt, dass die Unterbringung jener Arbeiten
an der friiheren Stelle auf einem Versehen meinerseits beruht, da sie
*) Vergl. aoch Rogow, Joum. tubs. chem. Ges. 19, 149. 1887.
Ghemische Qleichgewichte dritter Ordnung. 977
nicht unter die Qleichgewichte zweiter, Bondern unter die dritter Ord-
QUDg gehoreD. S. 605 ist gezeigt worden, dass die Beobachtung eine
nnerwartet gute Annaherung der Ergebnisse an die einfachste Form
der Gleichgewichtsgleichaug — = const, ergab, wo a, b, c und d die
molekalaren Konzentrationen von Saure, Alkohol, Ester und Wasser be-
deuten, so dass unter diesen Bedingungen bis in grosse Konzentrationen
hinein eine nahe Proportionalitat zwischen Molenbruch und wirksamer
Menge zu bestehen scheint.
Einen ahnlichen Fall untersuchte A. Zaitschek^), indem er die
Wechselwirkung zwischen Schwefelsaure und Alkohol bestimmte. Bei
der eingehaltenen Temperatur von 45^ erfolgt die Reaktion obne Bildung
von Diathylsulfat oder Ather nach der einfachen Gleichung Cj,H50H -\-
H3SO4 ^ C2H5SO4H + H2O, und lasst sich, wenn man die Menge der
Ausgangsstoffe kennt, durch den Titerverlust der Saure messen.
Das Ergebnis war, dass auch in diesem Falle das Massenwirkungs-
gesetz unmittelbar giiltig ist, d. h. die wirksamen Mengen den Konzen-
trationen proportional gesetzt werden konnen. AUerdings trifft dies
nur zu, wenn soviel Wasser yorhanden ist, dass man die Schwefelsaure
in der Gestalt H2SO4 + 2HaO, oder S(OH)e formulieren kann. Rechnet
man dann zu jedem Mol vorhandener freier Schwefelsaure zwei Mole
Wasser als „gebunden", und nur den Rest als frei, so ergiebt sich die
nachstehende Tabelle, in welcher die Konzentrationen der betrefifenden
Stoffe, sowie die Gleichgewichtskonstante nach dem einfachen Massen-
wirkungsgesetz angegeben sind; unter Wasser (gesamt) steht die un-
mittelbar gefundene Wassermenge, unter Wasser (frei) diese Menge
nach Abzug der von der Schwefelsaure „gebundenen*^
Scbwefels&are
0-0194
0.02B1
00178
0-0143
0-0226
0-0159
00142
Alkohol
0.2019
0.2119
0-4632
0-634
01133
0-479
0-649
Ester
00719
00507
0-0591
0-0626
00246
00439
0-0473
Wasser (gesamt)
00821
01288
01381
0-1408
0-1020
0-1642
01709
Wasser (frei)
00435
0-0788
0-1035
0-1121
0.0747
01323
0-1482
Eonstante
0-798
0-757
0744
0-771
0715
0-761
0-732
Die Tabelle enthalt etwa die Halfte der angestellten Versuche; die
9,Kon8tante" ist leidlich (auf rund 10 %) konstant.
Die Deutung dieses Ergebnisses, dass wirklicb eine Verbindung
S(OH)g besteht, die auch bei Gegenwart von mehr Wasser nicht
weiteres Wasser aufnimmt, wUrde durch diese Versuche nicht zweifellos
') Zeitschr. f. phys. Chemie 24, 1. 1897.
978 II. Ghemische Dynamik.
bewiesen seio, da auch eine zufallige Kompensation vorhandener Abwei-
chungen zwischen Konzentration und wirksamer Menge zu der ange-
naherten Konstanz des Gleichgewichtskoeffizienten fuhren konnte. Aber
man kann fiir die Biindigkeit des Schlusses das Ergebnis der waiter
unten erwahnten Arbeit yod Jones ^) anfiihren, welche auf ganz unab-
hangigem Wege, namlich aus Gefrierpunktserniedrigungen in Essigsaure-
losung, das Bestehen einer Verbindung H2SO4.2H2O oder S(0H)9 er-
geben hat').
24. Iidsmigeii. Ein besonders einfacher Fall des ternaren Gleich-
gewichtes mit einer flussigen JPhase tritt ein, venn einer der vorban-
denen Stoffe im Verhaltnis zu den anderen in grosser Menge zugegen
ist. Dann gelten fiir die anderen Stoffe die Gesetze verdiinnter Lo-
sungen, wabrend fiir die Eigenschaften. des vorwiegenden Stoffee oder
Losungsmittels im Gebilde die eingesetzt werden konnen, welcbe der
Stoff im reinen Zustande besitzt (1, 671).
Hierdurch entsteht ein Gebiet von Gleicbgewichten, welches dem
der binaren Gleichgewichte zwischen Gasen sehr ahnlich wird. Die
dort (S. 483) aufgestellten Gesetze lassen sich auf den yorliegenden
Fall sachgemass iibertragen, und ein grosser Teil dieser Gesetzmassig-
keiten ist in der That durch die Benutzung dieser Analogie entdeckt
worden.
Die Ahnlichkeit ist ebenso vorbandeuy ob nur eine fliissige Phase
(neben einer Dampfphase) vorliegt, oder ob daneben auch eine oder
mehrere feste Phasen vorhanden sind. £s konnen deren natUrlich nor
hochstens drei anwesend sein, da schon in diesem Falle die Freiheit
Null erreicht ist.
Die ausgezeichnete RoUe, welche in solchen Fallen dem vorwiegen-
den Stoffe oder Losungsmittel zukommt, beruht nur auf dem Umstande,
dass die einfachen Losungsgesetze um so genauer gelten , je geringer
^) Zeitschr. f. phys. Chemie 13, 419. 1894.
') Eiermit ist indessen die Angelegenheit auch nicht zweifelsfrei eriedigt
da unter dieser Yoraussetzang die Reaktionsgleichung die Gestalt erh&It:
S(OH)e + CjHgOH ^Z^CjHg.SO^H + 3H,0.
Es milsste also die Eonzentration des Wassers in dritter Potenz (and nicht vie
oben gerechnet in erster) das Gleichgewicht beeinflossen. Der hierin enthalteoe
Widerspruch wttrde sich heben lassen, wenn man dem Wasser onter diesen Um-
st&nden die Formel H^Og zuschreiben dQrfte. Es ist bekannt (1, 543 a. 777), dass
Wasser polymolekular ist; welcher Zustand in der Alkobol-Schwefels&orelGsiiBf
besteht, l&sst sich auf Grund unserer gegenw&rtigen Eenntnisse allerdings nicht
angeben.
Chemische Qleichgewichte dritter Ordnung. 979
die KonzentratioD des betracbteten Stoffes in dem Yorliegenden fiussigen
Gemenge ist. Am cbemiscben Gleicbgewichte beteiligen sich die vor-
bandenen Stoffe, Gelostes wie Losungsmittel^ in prinzipiell ganz gleicber
Weise, und einen Unterschied zwischen beiden, ausser dem eben be-
zeichneten quantitativen za machen, berechtigt keine Thatsache und
daher auch keine Theorie. Die gelegentlichen Versacbe, solcbe Unter-
schiede einzafubren, baben stets in Verwirrang geendet.
Von den binaren Gleicbgewicbten an Gasen anterscbeiden sicb die
temaren an Losungen nocb durch den wesentlicben Umstand, dass das
Losungsmittel nicbt notwendig eine indiiferente Rolle spielt. Vielmebr
ist es moglicb, dass sich zwiscben den gelosten Stoffen und dem Lo-
sungsmittel cbemiscbe Verbindungen berstellen, welcbe in die Gleicb-
gewicbte der anderen Bestandteile eingreifen. Hieriiber lasst sich
einiges Allgemeine sagen.
Solange die Verbindung zwischen dem gelosten Stoff S und dem
Losungsmittel L nach der Formel S-f-nL = SLn erfolgt, so dass ein
Mol des Gelosten in ein Mol der Verbindung iibergeht, verhalt sicb der
Stoff gegeniiber den anderen formal so, als ware er unverbunden an-
wesend. Man kann mit anderen Worten die Konzentration des Stoffes
S in die Gleichgewicbtsgleicbungen so einfiibren, als entstande keine
Verbindung, und wird abgesehen von dem Zahlenwert der Gleichgewichts-
konstanten ganz richtige Resultate finden.
Dies riihrt daher, dass die Konzentration des unverbundenen Stoffes
S der gesamten Konzentration jedenfalls proportional ist, wenn die an-
gegebene Reaktionsgleichung bestebt. Denn die Konzentration der ent-
stebenden Verbindung ist proportional dem Produkt der wirksamen
Mengen der beiden beteiligten Stoffe, da die Gleichgewichtsgleichung
die Gestalt s = kL(S — s) hat, wo L die wirksame Menge des Losungs-
mittels und s die des entstandenen Stoffes bedeutet
s kL
Formt man die Gleicbung passend um, so erhalt man -^ = ,
d. h. 8 und S sind proportional. Man kann somit den einen Wert
durch den proportionalen anderen ersetzen, wenn man in der Gleicb*
gewichtsgleichung den Koeffizienten entsprechend andert.
Umgekebrt kann man aus den Gleichgewichtserscheinungen nicbts
iiber einen etwaigen Verbindungsvorgang solcher Art erfahren, wenn
man nicbt den Wert der Gleicbgewichtskonstanten aus anderweitigen
Bestimmungen kennt. Ist dieser bekannt, so kann er umgekebrt be-
nutzt werden, um den Betrag des umgewandelten Stoffes zu be-
stimmen.
980 U- Ghemische Dynamik.
Anders wird die Sache, wenn Verbindungen in solchen Verhalt-
nissen entstehen, dass ein Mol des Stoffes mehr oder weniger als ein
Mol der Yerbindung liefert In solchen F&Uen lautet die Gleichge-
wichtsgleichung allgemein s'^ = k L (S — n s) , nnd durch Messung des
Gleichgewichts bei Terschiedenen Kouzentrationen kann man sowohl die
Oleichgewichtskonstante) wie den uuverandert vorhandenen Bruchteil
des Stoffes bestimmen.
25. Homogeneft Gleiohgewioht. Der einfachste Fall cines Gleich-
gewichts dreier Stoffe in einer fiussigen Phase, wenn einer von ihnen
LSsungsmittel ist, wird durch die Reaktionsgleichang m^ A^ 4~ ^2*^2 =^ i^B
dargestellt, welche zu der Gleichgewichtsgleichuug ai'^i.az'^ = kb
fnhrt. AUe die Darlegungen, welche S. 483 ff. Uber die binaren Gas*
gleichgewichte gemacht worden sind, finden ihre unveranderte Anwendnng
auf diesen Fall.
Daraus geht insbesondere hervor, dass die Form des Gleichgewichts
Yon der Natur des Losungsmittels nnabhangig ist. Dieses bedingt nur
den Wert der Gloichgewichtskonstanten von Fall zu Fail, und wirkt
etwa in dem Sinne, wie eine Verschiedenheit der Temperatur. Insbe-
sondere wird eine Reaktion, die ohne Anderung der gesamten Molen-
zahl vor sich geht, durch Verdiinnung nicht beeinflusst werden. Re-
aktionen, welche dieser Bedingung nicht geniigen, erfahren dagegen
eine Verschiebung durch die Verdiinnung in solchem Sinne, dass bei
zunehmender Verdiinnung die mit Vermehrung des osmotischen Druckes,
d. h. Vermehrung der Molenzahl verbundene Reaktion vorschreitet, und
umgekehrt.
Diese Verdiinnuugsfunktion hangt nur von der Reaktionsgleichnng
ab und nicht yon der Natur des Losungsmittels. Hat man daher das-
selbe Gleichgewicht zwischen denselben Stofifeu in zwei verschiedenen
Losungsmitteln hergestellt, so bleibt es auch gleich, wenn man beide
Losungen in gleichem Verhaltnisse verdiinnt oder 4couzentriert
Von ganz einfachen Beispielen fiir diesen Fall weiss ich keines an-
2ufuhren, soodern nur solche, bei denen lonen beteiligt sind. Doch
bringen diese in dem hier anzufiihrenden Falle keine besondere Vet^
wickelung hervor.
Ein derartiges homogenes Gleichgewicht zwischen Jod, Jodkalium
und Wasser (letzteres als Losungsmittel) ist von Jakowkin') untersocht
worden, nachdem Le Blanc und Noyes*) mittelst der Methode der 6e-
frierpunktserniedrigung nacbgewiesen batten, dass zwischen den beiden
^) Zeitechr. f. phys. Ghemie 13, 539. 1894. V Zischr. f. ph. Chemie e, 401. 189a
Ghemische Gleicbgewiohte dritter Ordnimg.
981
erstgenannten Stoffen in wasseriger Losang teilweise zerfallene Additions-
produkte entstehen. Das Verfahren bestand in dem Ausschiitteln einer
grossen Menge der wasserigen Ldsung mit Schwefelkohlenstoff. Da der
Teilungskoeffizient des freien Jods zwischen Wasser und Schwefelkohlen-
stoff gleich 1:410 gefunden war, ergab sich durch Division der beim
Ausschiitteln in Schwefelkohlenstoff gefundenen Konzentration des Jods
mit 410 die des freien Jods in der wasserigen Losung. Moltipliziert
man diese mit dem Volum y der wasserigen Losung, in welcher ein
Mol Jod aufgelost ist, so erhalt man den Bruchteil x des freien Jods
darin, wahrend 1 — x Jod gebuoden sind« Ist ferner a die Menge des
Jodkaliums in derselben Losung, so ist a — 1 + ^ ^^^ Menge des freien
Jodkaliums und 1 — x die des gebundenen unter der Voraussetzung,
dass Jod und Jodkalium sich zu gleichen Molen verbinden, und die
Gleichgewichtsgleichung lautet:
(a-l+x)
= k
1— X
— Oder k =
x(a— 1+x)
v(l-x)
Die Priifung der Gleichung ergab eine sehr gute t)bereinstimmung
der Einzelwerte fiir die Konstante k, wahrend das Jodkalium zwischen
8 und 100 g im Liter und das Jod zwischen 0-1 und 30 g wechselte.
Die Mittelwerte dieser Reihen sind 1670, 1707, 1671.
In den nachstehenden Tabellen enthalten die Spalten folgende
Werte: 1. Menge Jod in 1 1 der wasserigen Losung, 2. Jodmenge in 1 1
der damit im Gleichgewicht stehenden Schwefelkohlenstofflosung, 3. die
oben definierte Grosse x, 4. das Volum, in welchem ein Mol J, ent-
halten ist, 5. die Grosse a, 6. die Konstante L
Tabelle I. 8g KJ in 1 Liter.
KoDientr. J,
Eonzentr. J,
in w&88eriger
in
X
V
a
k
Ldsaog
CS,-L68UDg
1
4.766
109-9
005624
53-20
2-568
1809
3-676
7125
0-04727
69-09
3-329
1707
3290
61-44
0-04557
7721
3721
1710
2*150
3542
004018
118-2
5-693
1678
1-546
23-93
0-03776
164-3
7-920
1662
1-166
1675
003504
218-0
1051
1590
09314
13-03
0-03412
272-7
13-14
1577
0-6466
9017
0-03401
3929
1894
1628
0-4122
5-817
0-0.^442
6162
2970
1663
0-8569
4974
003400
7120
34-31
1618
0-1388
1-893
0-03451
1898-8
91-50
1704
Mittel 1670
982
II. Ghemische Dynamik.
Tabelle II. 40g KJ in 1 Liter.
KoDzentr. J,
Eonzentr. J,
in w&sseriger
in
X
V
a
k
LOsung
GS,-LOsung
1491
57-38
0-009386
17-04
4-106
1729
11-99
42-63
0-008672
2119
5-106
1699
6-992
22-98
0-008016
36-33
8-753
1726
5681
18-23
0.007t<27
44-71
10-76
1727
4-021
12-58
0-007631
63-18
15-22
1732
, 3-096
9-688
0007632
82-03
1977
1760
2-048
6-C)43
0-007197
12410
29-89
1688
2028
6-044
0-007269
125-3
30-18
1706
1638
4-855
0-007230
155-05
37-36
1727
1-388
4056
0-007127
183 0
4408
1690
1258
3-7QP
0-007185
201-8
48-63
17U8
0-7866
2-258
0007002
322-9
77-81
1678
0-4596
1-269
0-006720
701-3
1690
1621
Mittel 1707
Tabelle III. lOOg KJ in 1 Liter.
30-27
1748
1039
7122
4-949
2-717
1-913
1-318
41.95
22-17
12-84
7-991
5-853
3-134
2-198
1-499
0-003380
0003102
0003014
0-002737
0-002884
0-002814
0-002802
0-002774
8-392
1457 '
24-45
35-66
51-52
93-49
132-8
192-7
5-056
8-778
14-73
22-87
30-92
56-32
7999
116-1
1641
1662
1698
1683
1680
1670
1672
1662
Mittel 1671
Die oben eingehaltene Darstellang folgt der von Jakowkin aus dem
Jahre 1884, indem angenommen warde, dass das Jodkalium sicfa an-
mittelbar mit dem Jod verbindet Man sieht leicht ein» dass die Glei-
chuDg dieselbe bleibt, wenn man statt dessen das Ion J' sich mit Jod
za J3' yerbinden lasst, and dabei vollstandige elektrolytische Dissociation
annimmt. Der Id der letzteren Annabme enthaltene Fehler wnrde
keinen Einfluss haben, wenn auch das nichtdissociierte Jodkalium sich
mit Jod zu EJ3 verbindet (was ausser Zweifel ist, da die feste Ver-
bindung gut bekannt ist) und wenn die Dissociation der Verbindang in
wasseriger Losung der des Ions J3' gleich ist. Letzteres ist in aller
Genauigkeit schwerlich der Fall; doch scheint der unmerklich geringe
Einfluss der Verdiinnung auf die Gleichgewichtskonstante zu beweisen,
dass die beiden Dissociationskoeffizienten voneinander nicht sehr yer-
schieden sein konnen.
26. Graphisohe Darstelliing drelflEbcher Q^misohe. Die bisher
erorterten Falle sind dadurch gekennzeichnet, dass von den drei be-
teiligten StofTen einer oder zwei eine ausgezeichnete Stellung einnehmeo.
Chemische Qleichgewichte dritter Ordnuog. 983
indem sie Oase sind, oder wegen geringer Eonzentration wie Oase be-
handelt werden konnten. Es bleibt der Fall iibrig, wo die Dampf-
drucke der drei beteiligten Sto£Pe Toa gleicher Ordntrng sind, bezw.
nicht beachtet werden , so dass keiner von ibnen eine ausgezeichnete
Rolle den anderen gegeniiber spielt
Bevor wir in die Behandlung dieser Frage eintreten, sei fiber die Bezeich-
nungs- and Darstellungsweise solcber Gemische einiges voraasgeschickt.
Die rationelle Darstellung der ZusammenBetzung wird auch hier,
soweit es moglicb ist, durch den Molenbruch zu geben sein; wo dieser
nicht anwendbar ist, wird man sich der Gewichtsverbaltnisse bedienen.
Sind von den drei Stoffen A, B und C Mole vorbanden, so ist der
Molenbruch des ersten gegeben durch xa = A/(A. + B + C) und der des
zweiten und dritten durch xb = B/( A + B + C) und xc = C/(A + B + C).
Sind die Molekulargewichte nicht bekannt, so bildet man die ent-
sprechenden Ausdriicke aus den Gewichtsmengen und nennt sie die An-
teile der drei Stoffe im Gemisch.
Die anschauliche Darstellung eines binaren Gemisches wurde durch
eine Gerade von der Lange Eins bewirkt, auf welche der Molenbruch
seinem Werte nach abgetragen wurde. War dies fiir den ersten Stoff
geschehen, so war der Rest der Geraden gleich dem Molenbruche des
zweiten Bestandteils. Senkrecht zu dieser Geraden konnte dann eine
andere Veranderliche ausgesetzt werden, und der Einfluss, den die Zu-
sammensetzung des Gemisches auf diese hatte, wurde durch eine ent-
sprechende Linie dargestellt, welche die aufeinanderfolgenden Werte der
Veranderlichen im Gemische darstellte. Auf diese Weise sind insbe-
sondere Losungslinien aller Art veranschaulicht worden.
An Stelle dieser Darstellung ist baufig die andere benutzt worden,
dass zur einen Koordinate nicht der Molenbruch, sondern die Menge
des einen Bestandteils (in Molen oder in Gewicht) auf die Einheit
(bezw. auf 100 Teile) des anderen benutzt wurde. Dies hat einige
rechnerische Vorteile, aber den prinzipiellen Nachteil, dass dadurch das
Fold unendlich gross wird, indem die Koordinate des reinen zweiten
Stoffes in der Unendlichkeit liegt. Dieses ist nur dann kein Mangel,
wenn es sich um die Untersuchung eines begrenzten Gebietes aus dem
gesamten Felde handelt; es wird aber einer, wenn die Aufgabe die
Untersuchung des ganzen Feldes erfordert.
Wenn es sich um die Darstellung dreier Veranderlicher handelt, so
kaon man zunachst auf die Gerade, welche die Gemenge AB darstellt,
eine zweite Gerade senkrecht stellen, welche zur Abtragung der Ge-
menge AC dient
984
II. Chemische Dynamik.
Die Gemenge der drei Bestandteile kann man durch einen Punkt
in dem dreieckigen Felde darstellen, das auf diese Weise begrenzt ist
Indessen ist diese Darstellungsweise nicht ganz zweckmassig, da
sie nicht ToUkommen eymmetrisoh in Bezug auf die drei Bestandteile
ist, und es ist deshalb von W. Gibbs^) eine etwas andere angegeben
worden, durch welche dieser Fehler vermieden wird. Man benutzt als
Feld ein gleichseitiges Dreieck ABC, Fig. 216, und misst die Koordi-
naten senkrecht zu diesen Seiten, Jeder Punkt p in dem Felde hat
die Eigenschaft, dass die Summe pa + pb-|~pc dieser Senkrechteu
gleich der Hohe des Dreiecks ist. Da nun auch die Summe der drei
B
X
\
A/
\/\
/\/\
2\\
/y\/
\Aa«
^/vA/\
LKP<f\
/YyJ^
>^\A A
/\/\2<Y^
/fA/yA
/Vti Y
lATy^A
/W\/\/\\/\
/\/\/\/v<^
c
Fig. 216.
Molenbriiche oder der drei Anteile gleich Eins ist, so sieht man, dass
alle denkbaren Zusammenstellungen der Werte der Molenbriiche durch je
einen Punkt des Dreiecks dargestellt werden konnen, den man so wablt,
dass die von ihm aus gezogenen Senkrechten zu den Dreiecksseiten den
Yorgelegten Molenbriichen gleich sind.
Um dies Koordinatensystem zu benutzen, teilt man die drei Eck-
normalen in je 10, bezw. 100 Teile und legt durch die Teilpunkte
Senkrechte, d. h. Parallele zu den Gegenseiten. Dann erhalt man ein
Feld wie Fig. 216. Soil ein Gemisch aus den Anteilen x., Zb> ^ <^^~
gestellt werden, so sucht man den Wert von Za auf der von A ausgehenden.
') Thermodyn. Stadien, S. 141. Leipzig 1892.
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnung. 985
den von x^ aof der yon B ausgehenden Normalen auf; der Darchschnitt
der durch diese Punkte gehenden Netzlinien stellt den gesuchten Punkt
dar. Umgekehrt findet man die einem gegebenen Pnnkte entsprechende
Zusammensetzung, wenn man die Durchschnittspunkte der dorcb ihii
gehenden Netzlinien mit den drei Normalen aufsucht und die zu-
gehorigen Zahlen abliest. So hat der in Fig. 216 angegebene Punkt p
die Koordinaten Xa = 0-5, Xb = 0'3, xi = 0-2.
Bei der praktischen Benutzung des Koordinatennetzes wird man
die Ziehung der drei Ecknormalen entbehrlich finden, und die zuge-
horigen Zahlen an einer der anliegenden Seiten des Dreiecks mittelst
der Netzlinien ablesen. Man hat sich hierbei nur zu m'erken, dass
man die Zahlung immer von der Gegenseite des gesuchten Bestandteils
beginnt. Eine Bezifferung wird durch Heryorheben der halben und
ganzen Zehntel (bei Hundertstelteilung) mittelst starkerer Linien ent-
behrlich gemacht. Zur Bequemlichkeit kann man sich die drei Netz-
linien 0-5 noch besonders heryorheben.
27. Das zweite Beaktionsschema. Diese Darstelluugsweisen er-
fordem keine weiteren Bemerkungen, wenn es sich um Reaktionen
handelt, die nach dem Schema m^A^ -}- Q^a^s -f-ii^s^s =qC erfolgeu.
Handelt es sich aber um Vorgange yom Typus m^A^ -f-m^A, =niBi
4- n^B,, so treten negative Stoffmengen auf, und indem man diese
entgegengesetzt zu den positiven rechnet, entsteht neben dem einen
Dreieck ein zweites. Die Seite, mit welcher beide Dreiecke anein-
ander grenzen, ist entweder die, an deren Ecken A^ uud A, stehen,
oder die mit B^Bg. Die beiden anderen Stoffe finden sich dann an
den beiden gegeniiberliegenden Ecken.
Um eine Anschauung von den hier auftretenden Verhaltnissen zu
haben, denke man sich etwa unter A^ und A, binare Stoffe M^Nj und
M^N,; dann sind B^ und B^ M^Ng und M^N^. In einem Gebilde mit
drei Freiheiten, wie es durch die Figur (unter Einbeziehuug einer
raumlichen Temperatur- oder Druckaxe) dargestellt wird, kounen nui*
drei yon diesen Stoffen yorhanden sein, einer der yier Stoffe muss not-
wendig in der Gesamtsumme fehlen. Quantitativ lassen sich aber alle
Zusammensetzungen durch beliebige drei yon den yier Stoffen darstellen,
wenn man negative Mengen einfuhrt. Solange die Zusammensetzung
des darznstelienden Gebildes durch iauter positive Werte der drei Stoffe
darstellbar war, bleibt der darstellende Punkt in dem Dreieck, in dessen
Eoken diese drei Stoffe stehen. Sowie dagegen zur Darstellung des
Gebildes eine negative Stoffmenge eingefuhrt werden muss, tritt der
Punkt in das andere Dreieck uber, in welchem diese Zusammensetzung
986
II. Ghemische Dynunik.
darch drei positive Werte nnter Benutzang des vierten Stoffes darge-
stellt werden konnte.
In Fig. 217 hat der Punkt o im Dreieck M^Nj. M,N„ M^N, die
m;n^
M,N^
Fig. 217.
positiven Koordinaten MiNi = 0.55, M,Nj = 0-15, M^N, = 030. Be-
zieht man aber den Punkt mittelst der Netzlinien auf das Dreieck M|Np
M^Ng, M,Ni, 80 sind die Koordinaten MiNi = 0'85, Mj,Nj, = 045,
MgNj = — 0-30. Somit kann man also jedes Gebilde auf eines der
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnung.
987
beiden Dreiecke allein beziehen, and hat nar fur einen Stoff die
Moglichkeit negativer Werte zuzulassen. Sowie solcbe auftreten, ist
8tatt dieses Stoffes der ^^reziproke'S d. h. aas den beiden anderen An-
teilen bestebende thatsacblich Torbanden.
Aus dem Vergleicb der beiden Ausdriicke fiir dasselbe Gebilde:
M4Ni=0.55 = x, M,Ng=0.15 = y, MiN,=0.30 = z,
MiNi = 0.85 = X , M,N, = 045 = y , MgNj = — frSO = z',
geht die Regel hervor, dass fiir den Ubergang aus der einen Eoordi-
natengruppe in die andere die Formeln gelten:
Xa'==Xa + Xc> Xb' = Xb + Xc, xc' = — Xq.
Aus dem Anblicke der Fig. 217 ergiebt sich, da die Entfernungen
der parallelen Gegenseiten des Rbombus beiderseits gleicb, und zwar
nacb ,d©r Voraussetzung xa + xb + xc=1, gieich Eins sind, diese Be-
ziebung geometrisch. Denn es findet sich durch Ansohauung:
xa + xb'=1, Xb + Xa' = 1, xc = — xc',
C . C
Fig. 218. Fig. 219.
und zieht man die beiden ersten Gleichungen von Xa + xb + Xc = 1
ab, so kommt, wie oben:
Xa' = Xa + Xc, Xb'=Xb + XC. Xc' = — Xc.
Beziiglich der weiteren geometrischen Eigenschaften dieser Dar-
stellungsweise ist noch zu bemerken, dass Punkte, die auf einer durch
einen Eckpunkt gehenden Geraden liegen, Gemische angeben, welche
die beiden anderen Bestandteile in konstantem Verhaltnis en thai ten.
Dies ergiebt sich unmitteibar daraus, dass die von einem beliebigen
Punkte einer solchen Geraden auf die beiden anliegenden Seiten ge-
fallten Normaien in konstantem Verhaltnis stehen. Fig. 218 lasst diese
Beziehung alsbald erkennen.
Punkte, die auf einer beliebigen Geraden liegen, ergeben das Ver-
haltnis zweier Bestandteile nicht konstant, wohl aber ist das Verhaltnis
zwischen einem Bestandteil und einem anderen nach Abzug eines un-
veranderlichen Wertes konstant. Aus Fig. 219 ergiebt sich W(s^ — /) =
988 ^* Ghemische Dynamik.
bs/(c2 — 7);=soon8t., wo y die LaDge der Normalen vom Durchscbnitta-
punkte auf die Seite AB ist.
Ferner haben alle Punkte, die auf irgend eiuer Geraden liegen, die
Eigenschaft, dass man jedes einem solcben Punkte entsprechende
Gemisch aus Gemiacben zusammensetzen kann, die irgend
welchen anderen Punkten derselben Geraden entsprecben.
Liegt das berzustellende Gemiscb zwischen den anderen, so kann es
durcb Zusammensetzung bergestellt werden; liegt es dagegen ausserbalb,
so kann es nur durcb Entfemung des am anderen Ende liegenden Ge*^
misches aus dem mittleren erbalten werden. Die gegenseitigen Abstande
der drei Punkte geben die Verbaltnisse an, in denen die endstandigen
Gemisobe znsammengebracbt werden mussen, um das mittiere zu ergeben.
28. Dampfdrucke dreifaoher homogener Qemisohe. Dt^ Dar^
legungen iiber die Dampfdruckverhaltnisse zweifacber Gemische (S. 611)
geben die Anbaltspunkte fiir eine tlbersicbt der bei dreifachen zu eiv
wartenden Ergebnisse. Bei dem gegenwartigen Stande unseres Wissens,
welches in Bezug auf die experimentelle Durcbarbeituug dieses Gegen-
standes iiberaus diirftig ist, muss die Darstellung wesentlicb auf diese
theoretiscbe Seite beschrankt bleiben^).
Stelit man die Zusammensetzung aller aus drei Bestandteilen ber-
gesteliten Gemische auf die S. 984 angegebene Weise in einem Dreieck
dar, 80 wird man fiir irgend eine Temperatur den zu jedem Gemisch
geborigen Gesamtdruck, oder fur jeden Druck die Temperatur, bei
welcher die Dampfe ihn aufweisen, senkrecht zu der Zeichenebene auf-
tragen konnen, und erhalt dadurch ein dreiseitiges, aufrecbt stebendes
Prisma, welches oben durcb eine gewolbte stetige Flache abgeecblossen
ist. Das letztere gilt unter der einstweilen festgefaaltenen Voranssetzung,
dass die drei FlUssigkeiten in dem ganzen untersuchten Gebiete sich za
eiDer homogenen Losung vereinigen. Die anzustellenden Betraehtungen
werden uns spater unmittelbar an die Falle fUbren, in denen diese
Voraussetzung aufzugeben ist.
Diese Flache ist an den drei Prismenseiten durcb Grenzlinien ab-
gescblossen, welche fiir das entsprechende aus nur zwei Bestandteilen
bestebende Gemisch die Dampfdrucklinien (8. 618 ff.) darstelleu. Die
Gestalt der Flache wird gemass den in den einfacberen Fallen gemacbten
Wahrnehmungen wesentlicb durcb die Form dieser drei Grenzlinien be-
einflusst werden.
^j W. Ostwald, Dampfdracke ternftrer Gemische. Abk. d. S&chs. Ges. d. WiM.
25, 413—453. (Ausgegeben Jan. 1900.)
Ghemische Gleichgewichte dritter Ordnang.
989
a
Von Bolchen Grenzlinien hat die Beobachtung mit Sicherbeit bisher
Dur drei yerschiedene Arten erkennen lassen; wir diirfen uns daher
Yorlaufig auf diese drei Arten beschranken. Diese sind: einfach auf*
steigende Linien, solche mit einem Maxi-
mum und solche mit einem Minimum. Es
ist mit anderen Worten der Differential-^
quotient dp/dxA bezw. dp/dxB und dp/dxc ^
entweder innerhalb des ganzen Gebietes
von gleichem Zeichen, oder er geht ein-
mal durch Null. Die Moglichkeit, dass er
mehrmals durch Null geht, soil also zu- ^
nachst ausgeschlossen sein. Bezeichnet man Fig. 220.
diese drei Arten mit I, II und III, gemass Fig. 220, so giebt es
folgende Zusammenstellungcn:
1 1 1, 1 1 II, 1 1 HI, I II n I II III, I III III, II n n, II II III, II III III, m m in
Dies sind zehn Falle, zu denen noch verschiedene Unterabteilungen
kommen.
29. Der Fall III. Die Frage, welche bier gestellt wird, ist die
nach dem Verhalten bei der isothermischen oder isobarischen Destina-
tion. Erstere wird durch die Untersuchung der Dampfdrucke, die
andere durch die Untersuchung der Siedepunkte erledigt. Die in einem
Falle auftretenden Verhaltnisse finden sich sehr nahe im anderen in
reziproker Gestalt wieder, d. h. die Gemische mit dem kleinsten Dampf-
drucke haben den hochsten Siedepunkt und umgekehrt. VoUkommen
ahnlich in solchem Sinue sind die beiden Erscheinungsreihen allerdings
nicht, aber die vorhandenen Abweichungen werden selten so gross werden,
dass die Ubertragung der allgemeinen Verhaltnisse von dem einen Ge-
biete auf das andere wesentlich fehlerhaft wUrde.
Da die Betrachtung der Dampfdrucke bei einer und derselben
Temperatur, der isothermischen Destination entsprechend, theoretisch
etwas einfachere Verhaltnisse umfasst, so soil sie der Darstellung zu
Grunde gelegt werden. Die gleichzeitige Angabe der entsprechenden
Verhaltnisse fiir die Siedepunkte bei konstantem Druck wird unter-
lassen werden, um die Darstellung nicht zu schleppend zu machen; die
Erganzung in diesem Sinne kann leicht vom Leser vorgenommen werden.
Fur die Untersuchung der Erscheinungen an ternaren Gemischen
werden wir uns desselben Hilfsmittels bedienen, welches das Studium
der binaren Gemische so anschaulich gemacht hat Wir denken uns
auf der Flache, welche die Gesamtheit der Drucke in ihrer Abhangigkeit
Ostvald, Chenile. 11,3. 2.Aufl.
63
990
n. Chemische Dynamik.
Yon der ZusammensetzaDg der Flussigkeit darstellt, einen schweren
Korper, der mit grosser Reibung herabgleitet. Die Bewegungen, welche
er auf der Flache ausfiibrt, stellen qualitativ die Anderungen dar,
welcbe die Zusammensetzung der Flussigkeit bei der Destination erleidet.
Die umgekehrte Betrachtung, dass ein aufsteigender Korper die
Anderungen in der Dampfpbase angiebt, ist nicht unmittelbar anza-
wenden, da die Zusammensetzung der letzteren yon der der Fliissigkeit
im allgemeinen verschieden ist. Wenn man die entsprecbende Flacbe
in Bezug auf die Zusammensetzung des Dampfes konstruieren ^iirde,
so wiirde ein solcbes Verfabren mit dem
^ aufstrebenden Korper anwendbar sein^).
Uber den allgemeinen Verlauf kann
man folgendes aussagen. In den die reinen
Stoffe darstellenden Punkten und in den
ausgezeichneten Punkten fallen beide Flacben
zusammen. Denn da ein Maximum oder
Minimum des Dampfdruckes notwendig mit
Gleicbheit in der Zusammensetzung von
Fliissigkeit und Dampf verbunden ist, so
treten in diesen ausgezeicbneten Punkten
notwendig beide Flacben zusammen, und
in der Nabe solcber Punkte werden beide
weuig voneinander abweicben. Diese That-
sacben gestatten bereits eine Reihe wicb-
tiger Schliisse. Hierzu kommt noch ein
weiterer Zusammenhang, der sich an den
spater zu erorternden Begriff der unuber-
schreitbaren Linien kniipft.
Untersucbt man nun die Yerschiedenen
Moglicbkeiten , so stellt der Fall III die
einfachsten Verhaltnisse dar. In Fig. 221 ist die entsprecbende Flache,
Fig. 221.
^) Eine quantitatiye Darstelluog durch den herabsinkenden, bezw. aof-
steigenden Probekdrper l&sst sich nicht durch die Betrachtung der Dampfdruck-
fl&che, sondem durch die der Fl&che der Funktion g nach Gibbs oder des thenno>
dynamischen Potentials gewtnnen. Diese hat im allgemeinen die Form der Dampf-
drnckfi&che, onterscheidet sich aber von ihr dadurch, dass sie die Grenzebenea
und -kanten nicht wie diese unter einem bestimmten Winkel schneidet, sondam
sich ihnen asymptotisch anschliesst. Da (iber die genaue Form dieser Fl&cbe zor
Zeit nur wenig bekannt (vergl. S. 1003) und ihre experimentelle Darstellung schwierig
ist, 80 ist der Anschaulichkeit vegen zun&chst die Betrachtung der Dampfdrock-
fl&che den nachstehenden Darlegungen zu Grunda gelegt worden.
Chemische Oleichgewichte dritter OrdnuDg.
991
(lie Ton lauter Grenzlioien ohne Maximum oder Minimum eingefasst ist»
perspektivisch yeranscfaaulicht.
Da die Flache nirgend ein Maximum oder Minimum zeigt, so folgt,
das8 jedenfails der am schwersten fliiehtige und ebenso der am leich-
testen fluchtige Anteil durch Destination rein abscheidbar ist, wenn
man den Prozess sehr oft ausfuhrt. Die mit A und G bezeichneten
StofiPe lassen sieh also jedenfails trennen.
Eine weitere Frage ist, was aus dem Stoffe mit mittlerem Siede-
punkte wird. Man liberzeugt sicb leicht, dass auch diese schliesslicb
als konstant siedende mittlere Fraktion
auftreten muss. Denn wenn man von
irgend einem beliebigen Punkte ausgeht
und die Anderung des Riickstandes ver-
folgt, so muss man in ^die Nahe einer der
Randlinien AG oder AB gelangen» d. h. in
beliebiger Annaherung ein binares 6e-
miscb erhalten. Ein solches kann aber
nach der Voraussetzung in seine beiden
Bestandteile gescbieden werden. Da eine
gleiche Betrachtung fiir das Destillat gilt,
so ist das Gesamtergebnis, dass in diesem
Falle alle drei Bestandteile durch Destil-
lation gescbieden und in reinem Zustande
erhalten werden kounen.
30. UnflberBohreitbare Idnien. Gehen ^
wir zu der Zusammenstellung I I II iiber,
so finden wir zunachst drei Unterabtei-
lungen, je nach der Lage der drei Haupt-
punkte. Der Punkt, in welchem die beiden
Linien vom Typus I zusammentreffen,
kann entweder hoher, als die beiden
Enden der Linie vom Typus II liegen,
oder niedriger, oder endlich zwischen bei-
den. Es kann mit anderen Worten der Dampfdruck des Bestandteils,
der kein binares Gemisch mit einem Maximum giebt, eine der drei
genannten Lagen zu den Dampfdrucken der beiden anderen Bestand-
teile haben.
Der erste Fall wird durch Fig. 222 dargestellt. Untersuchen wir
die Flache mit unserem Probekorper, so finden wir zunachst zwei Regi-
onen zu beiden Seiten der punktierten Linie RA, welche die Eigenschaft
63*
992 II- Chemische Dynamik.
baben, dass der Korper nie aus der einen in die andere gelangen kann.
Gemiscbe aus der Region ARC konnen durcb Destination nie so ge-
andert werden, dass sie durcb einen Punkt von BRC dargestellt warden.
Daraus folgt^ dass ein Gemisch aus der Region ARC niemals reines B
liefern kann, und eines aus BRC nie reines A. Vielmehr wird ARC den
reinen Stoff C im Destillat, reines A im Riickstande geben, und aus den
Zwiscfaenfraktionen wird sich allmahlicb das aus A und B bestehende
binare Gemisch R aussondem. £s ist dasselbe Gemenge, welches als
Destillat der binaren Gemenge dieser beiden Stoffe erscheint, and
durcb Destination nicht zu scheiden ist. Entsprechendes gilt fiir das
Gebiet ARB.
Die Linie AR ist also eine innere Grenzlinie, die durch die hier
betrachteten Anderungen nie iiberschritten werden kann. Sie ist in
solchem Sinne ganz vergleichbar mit den Maximal- und Minimalpunkten
binarer Gemische, die ja auch nicht durch Destination uberscbritten
werden konnen. Wir woUen derartige Linien daher klinftig uniiber-
schreitbare nennen.
Eine Folge dieser Eigenscbaft ist, dass wenn ein temares Fltissig-
keitsgemisch infolge seiner Zusammensetzung in diese Linie fallt, es
sie bei der Destination nicht verlassen kann. Dies ist nicht 90
zu yersteben, dass bei solchen Gemischen Fliissigkeit und Dampf gleich
zusammengesetzt sind; dies ist sicher nicht der Fall, da die Linie ja
nicht horizontal ist, also der Dampf von der Fliissigkeit im Sinne der
aufsteigenden Seite der Linie verschieden ist Wohl aber ist die Zu-
sammensetzung des Dampfes durch einen anderen, hoher gelegenen Pankt
derselben Linie ausgedriickt. Durch wiederholte Destillation eines der
Linie angehorigen Gemisches geht dieses daher in zwei Anteile aua-
einandcr, deren Zusammensetzung durch die Endpunkte der Linie dar-
gestellt sind, namlicb den reinen Stoff A und das Gemisch R mit dem
hochsten Dampfdruck. Ein ternares Gemisch von dieser Linie Yerhalt
sich demnach wie ein binares, ebenso wie ein binares Gemisch im Maxi-
malpunkt sich wie ein einheitlicher Stoff verhalt
Eine weitere bemerkenswerte Eigenscbaft der unuberschreitbareii
Linie ist die, dass sich in ibr die beiden Flachen beriihrai,
welche die Dampfdrucke in Bezug auf die Zusammensetzung der
Fliissigkeit, und in Bezug auf die Zusammensetzung des Dampfes
darstellen (S. 990). Diese Beriihrung erfolgt aber, wie aus dem 6e-
sagten hervorgebt, nicht so, dass die entsprecbenden Punkte zusammeo-
fallen; sie sind im Gegenteil ineinander verscboben. Nur wenn die
uniiberschreitbare Linie ein Maximum oder Minimum hat (soloheii
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnang. 99S
•
Fallen werden wir spater begegnen), fallen die entsprechenden Punkte
an dieser Stelle zusammen. Ausser an dieser Stelle fallen sic nur
noch an den Endpunkten der Linie zusammen, aber nirgend sonst^).
Eine letzte wichtige Eigenschaft der uniiberschreitbaren Linie ist
endlich, dass ihr Grundriss eine Gerade sein muss.. Denn da das Gemiscb
bei der Destination diese Linie nicht verlassen kaun, so muss notwendig
jeder Punkt der Linie die Beschaffenheit baben, dass das entsprechende
Gemiscb aus solcben anderen Gemischen (dem Destillat und dem Riick-
stande) zusammensetzbar ist, welcbe auf anderen Punkten der gleichen
Linie liegen. Diese Eigcnschaft kommt aber nur der Geraden zu^).
Man gelangt zu dem gleichen Ergebnis, wenn man sich liberlegt,
dass ein jedes einem Punkte der Linie entsprechende Gemiscb sich
durcb Destination Tollstandig in die konstant siedenden Fliissigkeiten
muss scheiden lassen, in deren Punkten die Linie beiderseits endigt
Es muss sich daher auch jedes Gemiscb der Linie aus diesen beiden
Fliissigkeiten zusammensetzen lassen.
Liegt der Dampfdruck A des dritten Stoffes tiefer, als die der
Stoffe B und G, so entsteht die Fig. 223. Die Diskussion fiihrt zu
ahnlichen Ergebnissen. Durcb Destination wird jedes Gemisch aus dem
Gebiete ARC in den reinen Riickstand A und das konstant siedende
Gemisch R im Destillat geschieden; der reine Stoff G lasst sich aus
den Mittelfraktionen aussondern. Ein urspriinglich auf der uniiber-
schreitbaren Linie AR belegenes Gemiscb verhalt sich dagegen wie ein
binares Gemisch und giebt nur A und R.
Liegt endlich der Punkt A zwischen B und C, Fig. 224, so liegen
die Verhaltnisse wieder ahnlich. Man kann entweder nur A, C und R,
^) Wenn eine antlberschreitbare Linie in ihrem ganzen Verlauf horizontal
wftre, 80 f&nde auch kein Zusammenfallen Pankt fdr Punkt statt, sondern jede
FlUssigkeit der ganzen Linie w&re mit jedem Dampfe im Gleichgevicht.
*) Auf den Begriff der uniiberschreitbaren Linie gelangte ich im Herbst 1899
bei der Bearbeltung des vorliegenden Kapitels. Das Ergebnis erschien rair so
interessant, dass ich alsbald eine experimentelle Bearbeitung der Frage Yeranlas8te»
bei df*r allerdings zun&chst nur die sehr grossen Schwierigkeiten zu Tage traten,
einigermassen genaue Werte fur die Dampfdrucke torn&rer Gemenge zu ermitteln.
Da damals noch keine andere Bearbeitung der Frage Yorlag, so verOffentlichte ich
meine theoretischen Ergebnisse (S. 988; Anm.) und verschob die Ausgabe des
Kapitels bis zur Gewinnung experimenteller Unterlagen. Die unerwartete Yer-
zdgerung hierin zwingt mich nun doch, das yorliegende Eapitel als theoretisches
erscbeinen zu lassen. Inzwischen ist die gleiche Frage von etwas anderen Ge-
sichtspunkten aus von F. Schreinemakers in einer Reihe ausfCLhrlicher Arbeiten
(Zeitschr. f. phys. Chemie 36, 257 ff. 1901) behandelt worden.
994
II. CliemisGhe Dynamik.
Oder A, B und R yoneinander trennen, dagegen nie aus eiiiem Gemenge
die Anteile B und C einzeln rein erhalten.
In Summa verhalten sich diese Falle so, als ware das dreiseitige
Prisma durch einen in der Linie AR parallel zur Axe gelegten Schnitt
in zwei unabhangige dreiseitige Prismen zerlegt» deren Gemische sich
wie im ersten Falle verhalten. Nur sind die schlieeslichen Ergeb-
nisse der Trennnng nicht die drei reinen Stoffe, sondern je zwei ood
das konstant siedende Gemenge R. Die den Figg. 222 bis 224 beige*
gebenen Gruudrisse zeigen dies noch deutlicher.
Fig. 223.
31. Der Fall I I in. Wenn neben den zwei einfachen Linieo Tom
Typus I eine Linie III mit einem Minimum vorbanden ist, so ergeben
sich ganz dieselben Betracbtungen, wie im Torigen Falle, wie denn iiber-
baupt die Falle mit II und die mit III einander ganz parallel gehen.
Die Darstellung dieser Falle in den Figg. 225 bis 227 braucbt nur be-
trachtet zu werden, um die Richtigkeit dieser Behauptung alsbald her-
vortreten zu lassen.
32. Der Fall inn. Aus der Betracbtung der Dampfdruckfl&che
ABC, Fig. 228, ergiebt sich zunachst» dass zwischen den beiden biuiren
gewichte dritter Ordnaog.
995
Fig. 225.
Fig. 227.
Fig. 228.
996 II* Ghemische Dynamik.
Maximalwerten R und S eine uniiberschreitbare Linie verlaufen muss.
Ober das Verhalten eines Gemisches aus dem Gebiete BRS ist daher
nichts nenes zu sflgen, es wird in die Bestandteile B, R und S getrennt
werden. Gegen die friiberen Falie macbt sicb nur der Unterschied
geltend, dass bier zwei von den Fraktionen binare Gemische sind, und
nur eine ein reiner Stoff. Dies ist die Folge davon, dass bier fiinf
konstant siedende Fliissigkeiten vorbanden sind: die drei reiuen Stoffe
und die beiden binaren Maximalgemiscbe.
Eine neue Oberlegung fordert das Viereck CRSA. Man konnte
geneigt sein, anzunebmen, dass ein Gemisch aus diesem Gebiete sicb in
vier Fraktionen wird spalten lassen. Docb zeigt eine eindringendere
Oberlegung, dass zwiscben R und A» d. b. zwiscben dem bocbsten
Punkte des Feldes und der gegeniiberliegenden Ecke nocb eine uniiber-
scbreitbare Linie yerlauft. Denn nacb der Voraussetzung ist R boher
als C und S; daber kann ein in der Nabe von C liegendes Gemisch
nicbt in das Feld ARS gelangen, und ein Gemiscb aus diesem Felde
ebensowenig nacb ACR.
Die Voraussetzung, dass R bober als S ist, erscbeint nicbt als eine
notwendige. Nimmt man umgekebrt an, dass S bober liegt als R, so
wird aus denselben Griinden eine uniiberscbreitbare Linie yon S nach
G verlaufen. Es gebt in alien Fallen die uniiberscbreitbare Linie tod
dem bocbsten Punkte des Vierecks nacb dem gegeniiberliegenden.
AUe diese uniiberscbreitbaren Linien sind im Grundriss Geiude. Der
Beweis berubt auf ganz abnlichen Oberlegungen, wie die S. 993 gegebenen.
Im Falle I II II und, wie gleicb hinzugefiigt werden soil, in dem
ganz entsprecbenden Falle I III III Fig. 229 wird also das ganze Ge-
biet in je drei Dreiecke zerlegt, die durcb zwei uniiberscbreitbare Linien
voneinander gescbieden sind. Jedes dieser Dreiecke ergiebt drei Frak-
tionen, von denen in zwei Fallen zweie binare Gemiscbe sind, wahrend
die dritte durcb einen reinen Bestandteil gebildet wird; im dritten
Falle ist es umgekebrt
Auf den beiden uniiberscbreitbaren Linien verbalten sicb die ter-
naren Gemiscbe wieder wie binare. Die Fraktionen sind in einem
Falle zwei binare Gemische, im anderen ein binares Gemiscb und ein
reiner Bestandteil. Ausserdem sind fiinf Punkte da, welche konstant
siedende Fliissigkeiten kennzeicbnen.
33. Die F&Ue H n n und ni m m. Wenn die drei Grenx-
linien der binaren Gemische samtlicb ein Maximum aufweisen, so tritt
eine neue Eigentiimlicbkeit auf. Diese bestebt darin, dass der bochste
Punkt der terniiren Dampfdruckflacbe nicbt mebr in einem der Eckpankte
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnung.
997
Oder auf einer der Grenzlinien liegt £r riickt vielmehr in das Innere
der Flache hinein, and hierdurch entstehen neae Mannigfaltigkeiten').
Bezeichnen wir den hochsten Punkt mit X» so ist auf ihn zunachst
dieselbe Uberlegung anzuwenden, welche iiber die Beziehung zwischen
der Zasammensetzang der Fltissigkeit and des Dampfes bei einem bi-
naren Maximalpunkte entwickeit warde. Da nicht angegeben werden
kann, in welchem Sinne der Dampf von der Fltissigkeit verschieden
zusammengesetzt sein konnte (S. 990), so muss geschlossen werden, dass
Fig. 229.
er gleich zusammengesetzt ist. Daraus folgt weiter, dass eine Fltissig-
keit von der Zusammensetzung X unverandert destillieren muss. Ein
seiches ternares Gemisch verhalt sich so, wie ein binares Gemisch mit
maximalem Dampfdruck, oder wie ein reiner Stoff.
Es sind demnach insgesamt sieben konstant siedende Fltissigkeiten
vorhanden: die drei reinen Bestandteile A, B, G, die drei binaren Maxi-
malgemische R, S, T und das ternare Maximalgemisch X.
Untiberschreitbare Linien yerlaufen nun zunachst, Fig. 230, zwischen
*) Es darf einstweilen nicht als eine Unindglichkelt angesehen werden, d&ss
nicht auch in einem der frQher erOrterten F&lle ein Minimal- oder Maximalpunkt
998 n. Ghemische Dynamik.
A, B, G und X; ferner zwischen R, S, T and X. Es sind also im ganzen
sechs uniiberschreitbare Linien vorhanden, deren Grundrisse aus bekannten
Griinden alle Gerade sind. Sie treffen alle im Pankte X zusammeii,
vnd teilen dae Feld in sechs Dreiecke, in deren Ecken je ein reiner
Stoff, ein binares Gemisch und das ternare Gemiscb X liegt Ein be-
liebiges Gemisch zerfallt daher beim Destillieren in drei Fraktionen:
einen reinen Bestandteil, ein binares Gemisch und das ternare Gemisch.
Letzteres wird also in jedem Falle in gleicher Zusammensetzung er-
halten.
Ein Gemisch, das auf einer uniiberschreitbaren Linie liegt» zerfallt
in das konstante ternare Gemisch und entweder eiuen reinen Bestand-
teil, Oder ein binares Gemisch von konstantem Siedepunkte.
Es ist noch besonders hervorzuheben, dass die beiden Geraden AX
und XR und die entsprecbenden anderen Paare yon einander ganz un-
abhangig sind, und nicht etwa sich gegenseitig yerlangem. Es mag ein
solches Verhalten vielleicht aus besonderen Griinden eintreten, aus den
hier benutzten allgemeinen Grundlagen ergiebt es sich, soweit ich or-
teilen kann, nicht').
Vollig analog den hier betrachteten Beziehungen sind die Ergeb-
nisse, die man bei dem Zusammentreten dreier Grenzlinien mit je einem
Minimum findet Sie brauchen daher nicht besonders entwickelt za
werden, da sie aus Fig. 231 unmittelbar ersichtlich sind.
34. Die FftUe n II HE und n m IIL Wenn Grenzlinien des
Typus II und III gleichzeitig in einem ternaren Gemisch auftreten, so
erscheint an der Dampfdruckflache eine neue Gestaltung, eine Sattel-
flache. Es ist dies eine Flache, deren Durchschnitte mit den yer-
im Inneren der Fl&che auftreten kdnnte. Dies wQrdc nor der Annahme wider-
sprechen, welche eingangs gemacht worden ist, dass in der N&he der Grenzlinien
die Durchschnitte durch die Dampfdruckfl&che denselben Typus behalten, wie die
Grenzlinien ihn haben. Diese Annahme ist zwar die einfachste und wird Yoraos-
sichtlich auch in der Mehrzahl der F&lle zutreffen, es ist aber kein Grand an*
zugeben, warum nicht auch Abweichungen hiervon mAglich w&ren.
£ine Vermehrung der Mannigfaltigkeiten wiirde indessen durch solche und ftbn-
liche F&lle nicht hervorgerufen werden. Sie wQrden wesentlich einem der gegenwArtig
erdrterten zuzurechnen sein, die durch das Auftreten eines Maximalpunktes im
Inneren der Dampfdruckfl&che gekennzeichnet sind, und es wQrde nur dem Am-
bleiben des Maximalpunktes an der Grenze entsprechend die zugehOrige unQber-
schreitbare Linie fortfallen.
^) Da in der N&he des Maximalpunktes die Richtung der andberschreitbaren
Linien wegen der mehr und mehr horizontal werdenden Tangente zunehmend
weniger bestimmt ist, so stellt deren Zusammen treffen im Punkt X keine wirk-
lichen Winkel dar.
Ohemische Gleiehgewichte dritter Ordnung.
999
schiedenen Vertikalebenen einerseits Minima, andererseits Maxima auf-
weisen. In einer solchen Flache giebt es einen Punkt, der der hochste
aUer Minimalpunkte und der niedrigste aller Maximalpunkte gleich-
aeitig ist; diesen ausgezeichneten Punkt nennen wir den Sattelpunkt X-
Betrachten wir eine der beiden Flachen mit einem Sattelpunkte,
z. B. die Flache II ll III, Fig. 232, und wenden das allgemeine Prinzip
fiir die Veranderung der Gemische durch Destination auf diesen Fall
an, so ergiebt sich folgendes. Die Gesamtflache muss zunachst zwischen
den beiden Mazimalpunkten S und T eine uniiberschreitbare Linie
haben. Femer wird eine solche zwischen dem Minimalpunkte R und
der gegeniiberliegenden Ecke A bestehen miissen. Diese Linien miissen
daher in einem Punkte zusammentreffen, und dieser kann kein anderer,
als der Sattelpunkt X sein. Hierbei ist zu bemerken, dass die beiden
durch den Punkt X getrennten Teile jeder dieser Linien nicht not-
wendig in derselben Geraden liegen miissen. Jede von ihnen muss im
Gmndriss eine Gerade zwischen X und dem entsprechenden Endpunkte
sein; es ist aber nicht notig, dass diese Teile miteinander eine unge-
brochene Gerade bilden.
1000 n. Chemische Dynamik.
Der Grundriss wird dadurch in zwei Dreiecke und zwei Vierecke
geteilt. Die beiden ersten geben zu keinen weiteren Erorterungen An-
lass; sie fuhren zu dem Schlusse, dass ein innerhalb ihrer Flachen be*
legeDes Gemisch durch Destillation in je drei Fraktionen zerlegt wird,
von denen eine der reine Stoff C, die andere ein binares Gemisch
und die dritte ein ternares Gemisch, und zwar das durch den Sattel-
punkt X bestimmte ist.
In den beiden Vierecken findet sich noch je eine oniiberschreit-
bare Linie, welche zwischen dem tiefsten Pankte des ganzen Gebietes
R, und den beiderseits liegenden hochstcn Punkten S und T yerlauft.
Das Feld wird dadurch in weitere yier Dreiecke geteilt, durch
deren Eckpunkte die entsprechenden Fraktionen bei der Destination an-
gegeben werden. Von diesen vier enthalten aber nur zwei das temare
Gemisch an einer ihrer Ecken; zwei andere, CRS und BRT, geben
neben reinem Stoffe nur binare Gemische. Dies ergiebt den Unter-
schied gegen die Falle II II II und III III III, wo auch sechs Dreiecke
auftraten, die aber samtlich eine Ecke im ternaren Gemisch hatteu.
Das Gesamtergebnis dieser Betrachtungen ist also folgendes. Wird
ein beliebiges Gemisch destilliert, so zerfallt es immer in drei Frak-
tionen. Liegt das Gemisch innerhalb des Gebietes ATXS, so zerfallt
es in je einen reinen StoiF, ein binares Gemisch von konstantem Siede-
punkte und in das temare von gleicher Eigenschaft; liegt es in RTXS,
80 giebt es zwei binare konstante Losungen und eine ternare. Liegt
das Gemisch endlich in einem der Dreiecke CRS oder BRT, so zerfallt es
in einen reinen Bestandteil und zwei binare konstant siedende Gemisdie.
Im Felde verlaufen sechs uniiberschreitbare Linien, welche wieder
die Eigenschaft haben, dass Gemische, die auf ihnen liegen, nur in zwei
Fraktionen zerfallen. Von diesen Linien ergiebt nur eine einen reinen
Bestandteil neben dem ternaren konstanten Gemisch. Drei andere er-
geben neben diesem ternaren Gemische je ein binares yon konstantem
Siedepunkte. Zwei uniiberschreitbare Linien fuhren endlich zu je zwei
binaren Gemischen als Produkten der fraktionierten Destination.
Endlich sind sieben Punkte vorhanden, welche untrennbaren Flassig-
keiten entsprechen: die drei reinen Stoffe, die drei binaren konstante
Gemische und ein ternares konstantes Gemisch.
Beim Vergleich dieser Ergebnisse mit denen der Falle II II II und
III III III stellt sich heraus, dass sie sich wesentlich durch die Lage
zweier uniiberschreitbarer Linien unterscheiden. Statt der Linien AX
und BX im symmetrischen Falle treten die Linien RS und RT in dem
weniger symmetrischen Falle auf.
Ghemische Gleichgewichte dritter Ordnung.
1001
Fig. 233 stellt den Fall II III III dar, auf den die eben angestell-
en Betrachtungen gleichlautend Anwendung finden.
35. Der Fall I II m. Als letzten Fall haben wir schliesslich
den za erortern, wo alle drei Linientypen gleichzeitig auftreten. Ge-
mass der allgemeinen Beziehung, dass das Vorhandensein der Linien
Yom Typus I die Mannigfaltigkeit vermindert, ist anch hier eine nicbt
80 weitgehende Teilung des Feldes, wie in den letzten Fallen zu erwarten.
Die Anschauung der Fig. 234 zeigt, dass wieder ein Sattelpunkt
erscheint, in welchem sich yier uniiberschreitbare Linien tre£Pen. E^
Fig. 233.
Fig. 234.
entsteben dadurch zunacbst drei Dreiecke mit je einer Ecke im Sattel-
punkte X, und ein Viereck BRXT, zwischen dessen hocbstem Punkte
R und tiefstem Punkte T noch eine uniiberschreitbare Linie verlauft.
Das ganze Feld wird dadurch in fiinf Dreiecke geteilt, die durch fiinf
uniiberschreitbare Linien begrenzt werden.
Yon diesen funf Dreiecken sind vier von der Beschaffenheit, dass
sie als eine der Fraktionen das temare Gemisch X ergeben. Ein Drei-
eck ergiebt ausserdem zwei reine Stofife als Fraktionen, zwei Dreiecke
ergeben dazu einen reinen Stoff und ein binares Gemisch> eines ergiebt
zwei binare Gemische.
1002 n. Chemische Dynamik.
Das fiiDfte Dreieck ergiebt endlich als Fraktionen einen reinen
Stoff and zwei binarc Gemische.
36. ZuaammenBtellung. Stellt man non alle diesc Ergebnisse zn-
sammen, so ergiebt sich zunachst, dass beziiglich der Mannigfaltigkeit
sechs Klassen vorhanden sind, indem solche Klassen, in denen die Linien
Yom Typus II durch solcbe vom Typus III ersetzt sind, sich iiberein-
stimmend verhalten. Die verschiedenen Klassen sind dorch die Zahl
der Fraktionen, der uniiberschreitbaren Linien, der getrennten Dreiecks-
felder, und die Bescha£Penheit der Fraktionen verschieden. In der nach-
stehenden Tabelle sind die Falle iibersichtlich zusammengefasst.
Anzahl der
Klaase
[Z4
9 OB
Arten
der Fraktionen
1 (III)
2 (I I II a. I I III)
3 (I II II u. 1 III III)
4 (I II III)
5 (II II III u. II III III)
6 (II II II u. Ill III HI) -
1
2
3
5
6
6
3 [0)
4 (1)
5 (2)
8 (5)
9 (6)
9 (6)
3
4
5
6
7
7
(111)
(112)*
(112) (122)*
a22) (113) (123)* (223)
(122)* (123)* (223)*
(123)«
Zur Erklarung der Tabelle sei folgendes bemerkt. In der ersten
Spalte sind die sechs Klassen zusammengestellt, deren Mannigfaltigkeit
antereinander yerschieden ist. Wie man sieht, enthalten nnr zwei
Klassen je einen Fall; die anderen enthalten je zwei Falle, die durch
Vertauschung der Typen II und III gegeneinander entsteheu.
Die Anzahl der Felder, in welche das Gesamtgebiet durch uniiber-
schreitbare Linien zerlegt wird, nimmt von 1 bis 6 zu; die Zahl der
letzteren von 3 auf 9, wenn man die drei binaren Dampfdrucklinien ak
uniiberschreitbar mitrechnet. Rechnet man nur die inneren uniiber-
schreitbaren Linien, so werden die Zablen um je 3 kleiner; sie sind in
Klammern beigefiigt.
Unter „Fraktionen'' ist die Anzahl konstant siedender Flussigkeiten
angegeben, die aus alien Gemengen insgesamt erhalten werden konoen.
Sie nimmt von 3 auf 7 zu.
Die letzte Spalte endlich enthalt die BeschafiFenheit der Fraktionen.
Unter 1 ist eine einheitliche Fliissigkeit (einer der Bestandteile) ver-
standen, unter 2 ein konstant siedendes binares Gemiscb, unter 3 ein
ternares Gemisch von konstantem Siedepunkte. Die Exponenten gebea
an, in wie vielen Feldern die Zusammenstellung vorkommt, die Summe
der Exponenten ergiebt also die Zahlen der zweiten Spalte.
Ghemische Oleichgewichte dritter Ordnung. 1003
37. Die Fl&ohe der ohemisohen Energie. Von der unmittelbareu
BetrachtuDg der Dampfdrucke wenden wir uns nun zunachst zu allge-^
meineren Aufgaben; Bpater werden wir anf diese besondere Frage noch-
mals zuriickkommen. Diese allgemeineren Verhaltnisse lassen sich mittelst
der Funktion g, der cbemischen Energie, untersuchen. Ganz ahnlicb, wie
S. 881 £f. die binaren Gemische mit Hilfe der Linie der cbemiscben
Energie g behandolt worden sind, kann eine Untersuchung der Gleicb-
gewicbte dreifacher Gemenge mittelst einer entsprechenden g-Flache
Yorgenommen werden. Indem man die unter bestimmten Voraussetzungen
moglichen Mannigfaltigkeiten erschopfend durcharbeitet, kann man sich
ein Schema yerschaffen, in welches die in einem gegebenen Falle be-
obachteten Verhaltnisse systematisch untergebracht werden konnen.
Ober die Form der Flacbe, welche die chemische Energie als
Funktion der Zusammensetzung darstellt, lasst sich einiges Allgemeine
sagen^). Von der entsprechenden Linie bei hinaren Gebildon wurde
gezeigt, dass sie die beiden einschliessenden Ordinaten, die die reinen
Bestandteile darstellen, beriihrt. Die Flache der cbemischen Enci^ie
ergiebt sich, wenn man in jedem Punkte des Dreiecks, welches alle
moglichen Zusammensetzungen aus drei Bestandteilen darstellt, eine
Senkrechte errichtet denkt, welche die g-Grosse darstellt. Die Eigen-
schaft des homogenen fliissigen Gebildes, dass die aussersten Ordinaten
Tangenten sind, bezieht sich dann nicht nur auf die drei den reinen
Stoffen entsprechenden Ordinaten der Eckpunkte, sondern auch auf alle
aof den Seiten des Dreiecks stehenden Ordinaten, so dass die auf
diesen Seiten errichteten senkrechten Ebenen gleichfalls die g- Flache
beriihren. Dies ergiebt sich aus der Betrachtung, dass alle fliissigen
Gemische z. B. aus A und B sehr kleinen Mengeu von C gegeniiber
ebenso als Losungsmittel aufgefasst werden konnen, wie die reinen Be-
standteile A oder B. Es gilt also auch fiir die ersten Anteile von C
in diesen Gemischen die Formel (S. 881) dg/dx = Klnx, und daher
wird die Flache der cbemischen Energie dort iiberall die entsprechende
Ordinate zur Tangente haben, d. h. die ganze Ebenc, die senkrecht auf
AB steht, beriihrt die Flache. Gleiches gilt fiir die Dreiecksseiten BO
und CA.
VITeiter wirc^ man sagen miissen, dass in den eben genannteu drei
Ebenen, welche die binaren Gemische darstellen, g-Linien verlaufen
miissen, welche den allgemeinen Cbarakter der fiir binare Gemische
giiltigen Linien haben, d. h. im einfachsten Falle sich nach Art einer
>) Rijn van Alkemade, Zeitschr. f. phys. Chemie 11, 289. 1893.
1004
II. GhemiBche Dynamik.
Kettenlinie von beiden Seiten herabsenken. Daraus ergiebt eich fiir die
einfachste Gestalt der temareo £-Flache eine beutelformig herunter-
hangeDde, allseits gerundete Flacbe, Fig. 235, wie man sie etwa er-
halten wiirde, wenn man einen innerhalb eines dreiseitig priBmatischen
Hohlraums aufgehangten Gummibeutel mit Wasser anfiillt oder mit
Lnft aufblast, bis er die drei Prismenseiten beriihrt
Diese Form kommt der Flache zu, wenn die drei Bestandteile bei
der gewablten Temperatnr alio fliissig sind, und sich in alien Verhalt-
P nissen zu einer flussigen Losung ver-
einigen. Jede Abweichung von dieser
Voraussetzang bewirkt eine Anderong
der Flache.
Bei den nachfolgenden Erorter-
ungen werden wir noch von einer
anderen Art raumlicher Darstellnng
Gebrauch machen, die man mit der
g-Flache nicbt verwechseln darf. Da
die fur konstanten Dnick und kon-
stante Temperatur geltende £- Flache
bei drei Bestandteilen scbon fiir eich
eine raumliche Darstellung bean*
sprucht, BO kann eine jede derartige
Flache nur fiir eine bestimmte Tem-
peratur gelten, und um den Einflnss
der Temperatur darzustellen, bleibt
(* nur iibrig, fur eine Anzahl von gleich-
abstandigen Temperaturen die ^-Fla-
chen nebeneinander in dasselbe Koor-
dinatensystem zu setzen. Dies ist ein
so uniibersichtliches Verfahren, dass
eine andere Darstellungsweise er-
wiinscht ist
Diese ergiebt sich daraus, dass man als Isotherme nicht die ganze
g- Flache selbst benutzt, sondern ihre Projektion auf die Basis. In dieser
kommt das Wichtigste, die Teilung der Gesamtflache du^ch Grenzkurven,
die Art der vorhandenen Gleichgewichte und die Zusammensetzung der
Phasen geniigend zum Ausdruck. Denkt man sich solche Basiaflachqi
raumlich nach einer senkrecht zur Ebene stehenden Temperaturaxe uber-
(oder neben-) einander gestellt, so lassen sich die Grenzkurven lo
Flachen vereinigen, deren Gestalt den Einfluss der Temperatur auf das
B
Fig. 235.
Ghemische Gleichgewichte dritter Ordnong. 1005
Gebilde wiedergiebt. Zum Unterschiede von den isothermen ^-Flacben
soUen diese Flachen, deren Koordinaten die Molenbriiche x, y, z der
Stoffe A, B, G und der Temperatur T sind, die Temperaturflachen
beissen.
Das Verfahren entspricht voUig der Darstellung des Temperatur-
eiDflusses be! binaren Gebilden durch Losungslinien, welcbes im vorigen
Kapiiel eine so ausgedebnte ADwendung gefunden hat.
38. Weitere ITnterBuohungen. Bei seinen S. 993 erwahnten
Untersuchungen^) bedient sich F. Schreinemakers dieser g-Flacbe. Da
die Dampfe der ternaren Gemische im allgemeinen eine andere. Zu-
sammensetzung haben, als die fliissige Phase, so befinden sich oberhalb
des Koordinatendreiecks zwei Flachen, yon denen die eine der Fliissig-
keit, die andere dem Dampfdruck entspricht*). Je nachdem bei den
gewahlten Werten von Druck und Temperatur FlUssigkeit oder Dampf
bestandig ist, liegt die entsprechende Flacbe unter der anderen. Somit
wird bei sehr kleinen Drucken, wo alles in den Dampfzustand iiber-
geht, die Dampfflacbe zu unterst liegen, und die Fliissigkeitsflache yoU-
standig dariiber. Umgekehrt liegt bei hohen Drucken die Fliissigkeits-
flache YoUstandig unter der Dampfflacbe. Da durch Druckzunahme die
Energie Yermehrt wird, so liegen das letztgenannte Flachenpaar weit
oberhalb des ersten. Beim Cbergange aus dem ersten Zustande in den
letzten oder bei isothermer DruckYermehrung muss daher die Dampf-
flacbe schneller als die Fliissigkeitsflache steigen, diese durchdringen
und sich schliesslich iiber sie erheben.
In umgekehrter Weise wirkt eine Anderung der Temperatur bei
konstantem Drucke. Bei niedriger Temperatur wird alles fliissig sein,
die Fliissigkeitsflache liegt also ganz unter der Dampfflacbe. Bei hoher
Temperatur ist dagegen alles Yerdampft: die Dampfflacbe liegt unter
der Fliissigkeitsflache. Beim Erwarmen wird also die Fliissigkeitsflache
schneller steigen, als die Dampfflacbe, diese durchdringen und sich iiber
sie erheben.
Es sind also in beiden Fallen Druck- und Temperaturgebiete Yor-
handen, wo ein Teil der im Dreieck dargestellten Gemische als Fliissig-
keit und ein anderer als Dampf bestandig ist.
Hierbei durchdringen sich die beiden zusammengehorenden Flachen
^) Zeit«chr. f. phys. Chemie 36, 257. 1901.
*) Der aus der Formel von van der Waals sich ergebende „dritte Zustand"
ist experimentell unzug&nglich und bedarf daher keiner Berflcksichtigung. Die
zugehdrige ^-Fl&che wtirde, da die Zust&nde unbest&ndiger sind, als alle anderen,
ganz oberhalb der beiden reellen Fl&chen liegen.
Ostwald, Chemle. 11,2. 2.Aufl. 64
1006
II. Ghemisclie Dyoamik.
gegenaeitig, und zwar ist immer die Flache die untere, welche den be-
staDdigeren ZustaDd darstellt Ist Fig. 236 ein Vertikalschnitt dorch
ein Bolohes Flachenpaar und stellt f die Fliissigkeit, d den Dampf dar,
so ist im Gebiete ab der Dampf, an beiden Seiten die Fliissigkeit die
bestandigere Phase. Nun darf man nicbt scbliessen, dass wenn man die
Zutammensetzung von a nach b andert, die Fliissigkeit plotzlich yer*
schwinden und dem Dampfe Platz macben wird. Vielmehr werden sich
an diesen Stellen Gebiete heterogener Zustande entwickeln, welche
im Anscblusse an die friiheren Betraohtungen (S. 889) sich dadarch
kennzeicbnen, dass sicb Doppeltangenten an die Linie, bezw. Flache
legen lassen. Eine solche Doppel-
1^ tangente lasst immer die gleich-
zeitige Anwesenheit mehrer Pha*
sen erkennen, und so entsteben
auch bier die beiden Gebiete
a^ag und b^b,, in welcben Dampf
und Fliissigkeit nebeneinander
bestehen.
In der raumlichen Darstd-
lung, von der Fig, 236 ein
Durchschnitt ist, geatalten sidi
die Verhaltnisse folgendermaasen.
Man legt an die beiden Flachen
eine Beriihrungsebene, welehe
mit je einem Punkte anlie^t,
und rollt sie an dem Gebilde so ab, dass sie immer den Durch-
schnitt der beiden Flachen iiberbriickt. Hierdurch entsteht auf jeder
Flache eine Spurlinie, die entweder in sich zuriicklauft, also gesohloesen
ist, Oder beiderseits an den Prismagrenzen endet, und die Gresamtbeit
der Doppeltangenten bildet eine Regelflache, von der das Gleiche
gilt. Jedcm Punkt der Spur auf der Dampfflache entspricht ein be-
stimmter und einziger Punkt der Spur auf der Fliissigkeitsflache. Diese
Punktpaare soUen entsprechende Punkte genannt werden, und die
verbindenden Doppeltangenten Erzeugungslinien. Die Spur auf der
Dampfflache heisse die Kondensationskurve, weil dort aus dem
Dampfe die ersten Fliissigkeitsanteile kondensiert werden. Die Spur
auf der Fliissigkeitsflache heisse die Verdampfungskurve, weil hier
die ersten Dampfspuren auftreten.
Fig. 237 stellt die Projektion eines solchen Falles auf die Grund-
flache unter der Voraussotzung dar, dass die Fliissigkeitsflache in der
Fig. 286.
ChetniBche Qleicbgeirichte dritter Ordnung. 1007
Hitte des Gebietee sich nnter der Dampfflacfae befindet. Erstere ist
mit L, letztere init D bezeichnet. Auaeeu liegt die Kondensationskarve,
inneo die VerdampfungskurTe; znischen beiden ist nocb die Projektioo
der Durcbscbnittskurve beider Fl&oben aDgegoben. Die r&dial ver-
laufeoden Geradea stelien ErzengungslinieD dar. Wabrend die Gebiete
L und D bomogene Zuetande darstelleD, umfasst der ringformige Raom
zwischen beiden die heterogenen Zostande ana FlUssigkeit and Dampf.
Entspreohend dem PhaseDgeeetz beeteben in dem beterogeneD Ge-
biete nocb drei Freiheiten. Weon man iiber zwei Ton ibnen dnrcb
Festlegnng tod Drnck and Temperatnr rerfngt, so bleibt nocb eine
ubrig. Wabrend also bei bio&ren .
Gemengen fiir bestimmte Werte von
Druok and Temperatnr (inoerbalb
der tbatsacblicben Grenzen) our eine
etnzige ZnsammeDsetzuag (oder eine
eadlicbe Zahl solcher) moglicb war,
60 giebt es bei ternaren Gemengen
eine (einfache) Unendlichkeit ver-
Bchiedeoer fliiasiger Gemische, die
alle bei deneelben Werten too Drack
and Temperatur mit je einem za- ^ B
geborigen Dampf im Gleichgewicbt "*■ ^'"
Bind: 66 sind dies die dnrcb die VerdampfungBkarve gekennzeichneteD
Gemiscbe.
Da aber nur eine einzige Freibeit bestebt, so iet auch nor eine
einzige anf die ZasammenBetznng bezuglicbe Groese verfiigbar. Diese
kaoD in rerschiedener Form gegeben werden: als Molenbrncb eines der
drei Bestandteile in der Fliissigkeit oder im Dampfe, als Verbaltnis
zweier Bestandteile in einer der beideo PhaBen, oder eadlich als Ver-
baltnis je eines Bestandteiles beider Pbaaen. Naturlicb sind bier
iiberall aicbt beliebige Werte zwiscben 0 and ao moglicb, sondem nor
solcbe zwiscben bestimmten Genzen, die ihrerseits von Dnick, Tempera-
tor and der Natur der Stoffe abbangen.
39. Die Hanptffille. Es entsteht nnn die Frage nacb den Typen
der TerscbiedeneD moglichen Formen solcber beterogener Gebiete. Von
Schreinemakers sind (a. a. 0.) oar einzelne Beispiele ang^eben worden;
einm Uberblick werden wir ans schafFen koooen, wenn wir die S. 98i^
bis 1001 betracbteten Mannigfaltigkeiten der DampfdrnckverhaHnisBe als
Uuterlage benutzen.
Nacb dem allgemeinen Grundsatze, df^s die Zusaniiuensetzung des
1008 U. GhemiBche DjoAinik.
Dampfes von der der Fliissigkeit stets im Sinne eines Ansteigens
in der Isothermenflache verschieden ist, ergiebt sich alsbald die
gegenseitige Lage der Verdampfungs- and Kondensationslinie: jeder
Punkt der letzteren liegt niedriger als der entsprechende Punkt der
ersteren. Nun ergeben sich die Verdampfungslinien, da sie Linien
gleichen Druckes auf der Isothermenflache Bind, als Dorchschnitte, in-
dem man horizontale Ebenen durch diese Flache legt. Damit sind die
Anhaltspunkte fiir eine schematische Darstellang der moglicben Falle
gewonnen.
Ein dreifaches Gemenge des Falles III, dessen samtliche Grenz-
linien ohne Maximum oder Minimum ansteigen, ergiebt die Form
Fig. 238, wo eine Anzabl heterogener Stareifen, aus Verdampfongs-,
Kondensations- und Erzeugungs-
linien bestehend, eingetragen sind.
Nach dem Vorgange von Schreine-
makers sind die Kondensationslinien
punktiert, um sie von den Ver-
dampfungslinien zu unterscbeiden.
Die heterogenen Gebiete stellen
sich als Streifen dar, welche die
Ecke des Dreiecks, welche dem
Stoff niedrigsten Dampfdruckes ent-
spricht, einschliessen und stufen-
Fig. 238. weise von dort ausbreiten, um in
der Ecke des hochsten Dampfdruckes zu verschwinden.
' Die beiden zugehorigen Linien enden im allgemeinen einzeln an
den Dreiecksgrenzen. Nur in dem besonderen Falle, wo der Druck
gleich dem Dampfdruck des reinen Bestandteils gewahlt wird» dessen
Druck zwischen denen der anderen Bestandieile liegt, vereinigen sich
beide Eurven im entsprechenden Eckpunkte, da beim reinen Stofie
natiirlich Dampf und Riickstand gleich sind. Fig. 238 stellt diese Ver-
haltnisse dar.
40. Isotherme Destillation. Man kann^) diese Darstellung dazn
benutzen, um eine genauere Vorstellung vom Verlaufe einer isothermen
Destination zu gewinnen. Hierzu machen wir folgende Uberlegung.
In Fig. 239 sei ein zusammengehoriges Paar. von Kurven mit 1 be-
zeichnet; die obere, ausgezogene ist die Verdampfungs-, die untere
punktierte die Kondensationskurve; aa^ sei eine Erzeugende. Wild
^) Schreinemakers, Zeitschr. f. phys. Ghemie 36, 413. 1901.
Ghemische Oleichgewichte dritter Ordnang. 1009
dann der Drack so weit erniedrigt, dass eben Verdampfung eintritt, so
wird die Zusammensetzang des Rackstaodes geandert, indem der anders
zusammengesetzte Dampf entfernt wird. Gemass den S. 1008 dargelegten
Eigenschaften des Diagramms wird die Zusammensetzung des Riickstandes
durch einen Punkt dargestellt sein, welcher
in der Verlangening der Erzeugenden liegt, >-— — -^ "ZCir"*^
da deren anderes Ende die Zusammensetzung HI^^^jA iT^^t
des Dampfes darstellt. * //l\ j/J I '^
Hierdurch gelangt der Riickstand in ^/JAX^.y/.A I
den (unbegrenzt nahen) Punkt b^ ; man legt 'JzSJiZ'I^-USlZZZ^'^
durch ihn die Verdampfungslinie 2, welcher ^ 1 ^
die punktierte Kondensationslinie 2 ent- Fig. 239.
spricht. Nun kann man die Konstruktion wiederholen; das Ergebnis ist
eine Eurve a,b^qdi, welche die aufeinanderfolgenden Zusammensetzungen
des Riickstandes wahrend der isothermen Destillation darstellt; sie heisse
die Destillationskurve.
Wie sich aus der Konstruktion ergiebt, ist die Erzeugende in ihrem
auf der Verdampfungslinie liegenden Endpunkte jedesmal die Tangente
der Riickstandskurve fUr diesen Punkt. Da nun andererseits die Er-
zeugenden dort, wo die heterogenen Streifen an den Dreieckseiten enden,
diesen parallel beginnen miissen (weil dort das ternare Gemisch nur
unendlich wenig yom binaren yerschieden ist, dessen ^Erzeugende*' in
der Dreieckseite liegt), so lasst sich ein angenahertes Bild von den
Riickstandslinien gewinnen, wenn man das Dreieck mit aufeinanderfolgen*
den heterogenen Bandem angefiillt denkt und den Verlauf der aneinan-
derschliessenden Erzeugenden ins Auge fasst In Fig. 240 stellt das
linke Dreieck diese Entstehung einer Anzahl RtLckstandskurven, das
rechte diese Kurven selbst dar.
Schreinemakers zoigt nun, dass jede RUckstandskurve gewissermassen
eine uniiberschreitbare Linie ist. Dies ist namlich identisch mit dem Satze,
dass die Riickstandskurven eines gegebenen Feldes sich niemals schneiden
(oder beriihren) konnen. Denn konnten sie sich schneiden, so hatte
das den Schnittpunkt entsprechende Gemisch die Fahigkeit, zwei ver-
schiedene Destillate^ den beiden Destillationskurven entsprechend, zu
geben, d. h. mit zwei verschiedenen Dampfen gleichzeitig im Gleich-
gewicht zu sein, was nicht moglich ist. Der gleiche Beweis gilt fiir
die Beriihrung zweier solcher Kurven.
Indessen gilt diese Uniiberschreitbarkeit doch nur in viel engerem
Umfange, als im Falle der S. 991 definierten Linien. Denn sie gilt fur
die Voraussetzung, dass das Gemenge nur einmal destilliert wird und
1010
II. Chemische Dynamik.
class niemals das Destillat wieder in die Retorte gebracht wird. Denn
die Zusammensetzung des Destillats wird im allgemeinen nicht darch
einen Punkt der RUckstandslinie dargestellt; wird also das Destillat yod
neuem in die Retorte gebracht, so geht man von einem anderen Pankte
des Feldes aus, und die Destillation verlauft aaf einer anderen RUck-
standslinie. Bei den S. 991 definierten Linien liegen dagegen Ruck-
Fig. 240.
stand and Destillat auf derselben Linie, die eben darum eine Gerade
sein muss.
Hierbei muss bemerkt werden, dass ausser den Riickstandslinien
noch Destillatlinien im Diagramm verzeichnet werden konneD.
Sie stellen die Zusammensetzung der Dampfe dar, welche von einer
durch Destillation in jedem Augenblicke veranderten Flussigkeit ab-
gegeben werden, und man erhalt sie durch eine ganz ahnliche Eon-
struktion, wie die Riickstandslinien. Nur sind in diesem Falle die aaf
der Kondensationskurve liegenden Endpunkte der Erzeugenden die
Beriihrungspunkte derselben an der neuen Kurve.
Diese wird im allgemeinen denselben Charakter zeigen, wie die
Riickstandskurve, nur wird sie gegen diese etwas verschoben sein. Da
die Zusammensetzung sich bei der Destillation im Sinne der steigenden
Drucke andert, so werden die Destillatlinien sich verhaltnismassig im
oberen Teile der Isothermenflache zusammendraogen^).
41. Die einfSaoheren FSlle. Treten wir biernach an die Zusammen-
stellung der Yorhandenen Falle heran, so finden wir folgendes.
*) Die Destillatlinien stellen die Zusammensetzung der D&mpfe in jedem
Augenblicke unter der Yoraussetzung dar, dass nur eine anbegrenst kleine Danpf-
menge aus der FlQssigkeit gebildet wird. Will man eine Definition, welche der
Chemische Gleichgewlchte dritter Ordnimg.
1011
Fall I I I, wiederholt ton S. 1010. Es sind in Fig. 241 neben-
einander dargestellt a) die Dampfdruckflache, b) ein Grnndriss mit einer
Ansahl ^heterogener Bander*' aos den Verdampfungs* and Kondensations-
/ 2 1 2
Fig. 241.
linien nebst den Erzeugenden, nnd c) ein Grnndriss mit Riickstandslinien,
an denen die Pfeile den Sinn angeben, in welchem sich bei der Destina-
tion die Znsammensetzung des RUckstandes andert.
^
3.
* 3 4- i 3 4 Z
Fig. 242.
Fall I I II. Wie bereits erwahnt, giebt es hier drei.Unterfalle,
welche durcb die Lage des Maximums von II boziiglich der beiden
anderen Grenzlinien unterscbieden sind. In Fi^. 242, 243 und 244
der RQckstandslinie genaner entspricht, so denke man sich die gesamte Stoffmenge
alB Dampf, und daraus durch Druckvermehrnng folgewelse ijnbegrenzt kleine
FlQsslgkeitsmengen abgeschieden. Dann wird die Zusammensetzung der nach-
bleibenden D&mpfe darch den Verlanf der Destillatkurve dargestellt Diese ist
in solchem Sinne gleichfalls eine RQckstandskurve; sie bezieht sich aber nicht auf
den flQssigen Hackstand^ sondern auf den gasfCrmigen.
1012
II. Chemische Dyoamik.
sind diese drei Moglichkeiten der Isothermenflache nebst den y^Baadern"
und den Riickstandslinien dargestellt.
Hierzu ist folgendes zu bemerken. Von den Riickstandslinien,
\3
Fig. 248.
Fig. 242, yerlauft eine, vom Maximum ausgehende, geradlinig*) nacb
der gegeniiberliegenden Ecke, entsprecbend den S. 991 entwickelt^n
^) Schreinemakera zeichnet (Zeitschr. f. phys. Chemie 96, 423, 425, 426}
alle derartigen Linien gekrQmmt Ich babe inzwiscben in meinen Cberlegangeo
nocb keinen Febler finden kGnneD und muss sie daber als Gerade ansehen. Da-
gegen scbeint Scbreinemakers nicbt bemerkt zu baben, dass die £rzeagenden in der
N&be den Seiten diesen asymptotiscb parallel werden mftssen, denn es finden sich
a. a. 0. Fig. 5 (S. 423) Yerstdsse dagegen, w&brend die anderen Figuren in dieser
Beziebung ricbtig gezeicbnet siod.
Scbreinemakers bat bei diesen und sp&teren Arbeiten meine ▼orausgegangene
Untersucbung vom Januar 1900 nicbt erw&hnt, obwobl er Yielfacb zu den gleichen
Ergebnissen kommt und aucb den von mir aufgestellten Begriff der nnOberscbreit-
baren Linie (wenn aucb in etwas anderer Bedeutung) benutzt, und obwobl sie ibm
seit jener Zeit vorgelegen bat. Die Torliegenden Darlegungen der g-Flftche tisd
unter Benutzung von Scbreinemakers Arbeiten durcbgefQbrt worden, geben aber
in einigen Punkten Qber sie binaus.
Chemische Oleichgewichte dritter Ordnung. 1013
Verhaltuissen. Durch diese Gerade wird das Dreieck in zwei kleinere
Dreiecke geteilt, und in jeder dieser Abteilungen verlaufen die
Riickstandslinien wie in Fig. 241. Dasselbe gilt fiir die
9,Bander''. Immer beginnen die Riickstandslinien an dem Punkte
hocbsten Dampfdrnckes, und yerlaufen znm Punkte niedersten Druckes,
indem sie sich einerseits der geraden, andererseits der gebrochenen
Verbindung dieser beiden Punkte in den Dreieckseiten anschliessen.
Ebenso gehen die Bander im allgemeinen quer zu der Geraden, welche
die beiden Punkte bochsten und kloinsten Druckes miteinander ver-
bindet, und eines dieser Bander, namlich das dem mittleren Druck an
der dritten Ecke entsprechende, lauft dort spitz aus, wahrend alle
anderen Bander breit an den Dreieckseiten enden.
Der zweite Unterfall von I I II wird durcb Fig. 243 dargestellt.
Die starke Zusammendrangung der Banderenden an der linken
Dreieckseite riihrt daher, dass die kurze Strecke 1 4 deii hocbsten
und den niedrigsten Druck an ihren Enden hat.
Der dritte Unterfall findet die Darstellung Fig. 244.
Hier tritt als neue Erscheinung ein Band auf, welches sich im
Punkte 3 zur Breite Null zusammenschnlirt Es ist dies der Streifen,
welcher dem Dampfdrucke des binaren Maximalgemisches 3 aus 1 und
2 entspricht.
42. Die iraile I I UL Tritt zu den beiden einfachen Grenzlinien
noch eine mit einem Minimum, so entstehen ganz ahnliche Verhaltnisse, •
wie im vorigen Falle. Wir haben zunachst Fig. 245, femer Fig. 246
und schliesslich Fig. 247 S. 1014.
Bemerkenswert sind die eigentiimlichen Symmetrieyerhaltnisse der
Grundrisse gegen die drei vorigen Falle.
43. Die FftUe inn und I m m. Wegen der zwei Maximal-
bezw. Minimalpunkte sind fiinf durch Destination nicht trennbare Fliissig-
keiten (S. 996) vorhanden, und das Gesamtgebiet zerfallt in vier Drei-
ecke. Dies ergiebt folgende Gebilde, Figg. 248 und 249.
Erhebliches ist nicht zu bemerken.
Die beiden Figg. 248 und 249 sind sehr vollstandig reciprok.
44. Die FSlle n n n und ni m m. Die Grenzlinien mit je
einem Maximum geben Fig. 250.
Hier liegt der S. 997 bereits gekennzeichnete Umstand vor, dass
ein konstant siedendes ternares Gemenge vorhanden ist, dessen Dampf-
druck hoher ist, als der aller anderen Fliissigkeiten. Daraus ergiebt
sich eine Teilung in sechs Dreiecke mit sechs uniiberschreitbaren
I
■
1014
II. Chemische Dynamlk.
Linien. Die Bander der heterogenen Qleicfagewichte QmschlieasMi den
Maximalpankt, und zwar zuerst ToUstandig. Unter den folgenden giebt
Fig. 246.
V
^syJ )
3 /
/ * 2
Fig. 247.
es drei, welche den Drucken der drei biDaren Maximalgemisohe eat-
sprechen, und welche, da diese Drucke zwar niedriger 8ind« als die d»
Ghemische Gleichgewichte dritter Ordnung.
1015
ternaren Maximalgemisohes, aber hoher, als die der reincn FlUssig-
keiten, sich an den entsprechenden Punkten auf den Dreieckseiten zur
^ 2
Fig. 249.
/ ^
Breite Null zusammenschniiren; sie sind zunehmend unvoUstandiger.
Die Ruckstandslinien lanfen alle vom ternaren Mazimalgemisch zu den
1016
XL Ghemische Dynamik.
Ecken, bis auf die drei unuberschreitbaren Linien, welche zu den bi-
naren Maximalgemischen laufen.
Ganz ahnlich sieht der Fall III III III aus, Fig. 251.
Fig. 251.
Auch hier ist die Reciprocitat mit Fig. 249 voUstandig.
45. Die Fme n n IH tmd n m m. Den ersten dieser FSlle
stellt Fig. 252 dar:
Hier ist das Bemerkenswerteste die durch den Sattelpankt ge-
schaffene Gestaltung der heterogenen Bander. Er ist fiir die yier an-
7
Fig. 252.
grenzenden Dreiecksf elder ein mittlerer Punkt; in ihm schniiren sicfa
daher vier Bander zusammen, die dort parallel laufen^). Aus Fig. 252
ergiebt sich ferner, dass von den vier dort zusammentreffenden Rad[-
standslinien zwei in den Punkt hinein nnd zwei aus ihm herauslaufen.
Die physische Deutung hiervon ist nicht ganz leicht (yergl S. 999); die
^) Vergl. die analytiache Ableitung dieses Falles bei Schreinemakeny Zeitschr.
f. phys. Ghemie 36, 280 ff. 1901.
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnang.
1017
angemessenste Annahme scheint mir zu sein, dass im Sattelpunkt ein
in gewissem Sinne labiles Gemisch vorliegt. Hat es genau die Za-
sammensetzuDg dieses Punktes, so destilliert es (bei sorgfaltiger Ein-
haltung Yon Temperatur und Druck) auch unyerandert iiber. Eine Ab-
weichung von der richtigen Zusammensetzang, die nach den Seiten der
beiden zulaufenden RUckstandsiinien liegt, verbessert sich bei der Destil-
lation auch selbstthatig, indem der Riickstand in den Sattelpunkt rttckt
und dort verbieibt. Eine Ab weichung im Sinne der fortlaufenden
RUckstandsiinien verbessert sich aber nicht, sondern yerschlimmert sich.
Wahrend also der Sattelpunkt fiir Abweichungen der ersten Art stabil
ist, wird er fiir die der zweiten Art labil.
Bei Anderung des Druckes geht das Kreuz in zwei hyperbelahn-
liche Bander auseinander, und zwar liegt deren Axe bei Vermehrung
des Druckes senkrecht zu der fiir die Yerminderung, wie dies aus den
geometrischen Eigenschaften einer Sattelflache folgt
Fiir den Fall II III III gelten wieder fast wortlich dieselben Be-
7
Fig. 253.
trachtungen. Seine Symmetrie zu dem vorigen tritt in Fig. 253 deut-
lich hervor.
46. Der letste Fall I n m. Bei der Zusammenstellung der drei
Grenzkurven yerschiedener Typen kann man wieder verschiedene Unter-
^lle erortern, die beim Wechsel der gegenseitigen Hohe der Grenz-
kuryen entstehen. Ich habe mich mit der Darstellung eines einzigen
Falles begnQgt. In Fig. 254 erscheint ein neues Bild in Gestalt der
zweifachen Spitze im Sattclpunkte, die von einem geschweiften Bande
umgeben ist^).
47. Verblndungen zwischen den Bestandteilen. Die beschriebenen
Erscheinungen bleiben dieselben, ob zwischen den Bestandteilen des
^) Auch diesen Fall hat SchrelDemakers analytisch abgeleitet.
1018
II. Ghemiache Dynamik.
ternaren Gemisches chemischo Verbinduogen eiotreten oder nicht. Im
zweiten Falle werden beide Phasen, die fliissige wie die dampfformige,
neben den Bestandteilen die Verbindungen enthalten, und die Gresamt-
drucke in der letzteren haben eine viel verwickeltere Bedeutung. An
den allgemeinen Verhaltnissen andert dies nichts, Yorausgesetst, daas die
Geschwindigkeit, mit der sich das chemische Gleichgewicht her8teUt»
gross ist im Yerhaltnis zu der Geschwindigkeit, mit welcher man die
zu messenden Drucke andert.
Ist letzteres nicbt der Fall> so verhalt sich in Bezug auf den ge-
schwinden Vorgang, hier die Verdampfung, das Gebilde wie ein^
Fig. 254.
hoherer Ordnnng ans so viel Bestandteilen, als langsam reagierende
Stoffe nebeneinander bestehen, also im einfachsten Falle aus n -{- 1 Be-
standteilen.
Fiir die fliissige Phase herrscht das Massenwirkungsgesetz, nur mit
der Einschrankung, dass als wirksame Menge nicht nnmittelbar die (ge-
wohnliche oder molekulare) Konzentration einzufiihren ist, sondern eine
Funktion dieser, deren Gestalt im allgemeinen nicht bekannt ist, die aber
bei kleiner Konzentration in diese selbst iibergeht. Da der Druck bei
flussigen Phasen keinen grossen Einfluss auf diese Fnnktion hat« so ist es
praktisch meist gleichgultig, ob man die Gleichgewichte in Bezug auf den
konstanten Atmospharendruck bestimmt, oder ob man den Dampf als zweite
Phase dazunimmt; in beiden Fallen bleiben nooh drei Freiheiten iibrig.
Wir werden also Gleichgewichtsgleichungen von der Gestalt
bl°lb,°» ~^ '''''' ■ b^ ~~^
haben, je nach der Formel des Vorganges. Die Konstante k ist im all-
gemeinen eine Funktion der Temperatur.
Fiir die Gasphase werden ganz iibereinstimmende Gleichungeo
gelten, die wir mit griechischen Buchstaben kennzeichnen:
Ghemische Glaiehgewichte dritter Ordnung. 1019
Die BeibehaltuQg der £xponenteD m und n driickt die Annahme
aus, dass in beidon Phasen dieselben Stoffe, insbesondere von gleicher
Molekulargrosse gemeint sein sollen^).
Zwischen den Konzentrationen a und a, b und j9 bestehon nun
Beziehungen, die im einfacbsten Falle durch das Henrysche Gesetz ge-
regelt sind. Nennt man r und s die entsprechenden Gasloslichkeiten
Oder Konzentrationsverbaltnisse, so gelten die Formeln
ai = r,ai, «, = r,aj, a^ = r^H^; l3i=8ibi, i9, = 8,b„
welcbe mit den vorigeu ergeben
^ — - = -r und —^ — ~ — = i- •
8j°i8j°« k 8° k
Zwischen den Loslichkeiten der Gase und den Qleichgewichtskoeffi-
zienten in den beiden Phasen bestehen also bestimmte Beziehungen,
denen zufolge Ton den Loslichkeiten eines aus n Stoffen bestehenden
Gleichgewichts nur n — 1 unabhangig sind; die letzte kann auf Grund
der Kenntnis der anderen und der Gleichgewichtskoeffizienten berechnet
werden.
Dies ist eine allgemeinere Form des S. 603 erwahnten Satzes.
Ohne Beschrankung auf Gleichgewichte dritter Ordnung ISiSst sich der
Satz in der Gestalt
-T^'"" k"
allgemein schreiben, wo 2 ein Produkt darstellt. Auch ist es klar,
dass er nicht nur auf den Fall Anwendung findet, dass eine fliissige
und eine Gasphase im Gleichgewicht stehen. Vielmehr ist den ge-
maobten Voraussetzungen gemass der Satz fiir alle Gleichgewichte
zwischen Phasen von veranderlicher Konzentration giiltig, wenn nur ein
dem Henryschen Gesetz entsprechendes Gesetz iiber die Proportionalitat
der Konzentrationen der verscbiedenen Stoffe in den beiden betrachteten
Phasen giiltig ist').
^) Falls Stoffe in verscbiedenen Molekulargrdsa^n vorkommen, sind die Kon-
zentrationen der verscbiedenen Form en za einander durcb besondere Qleicbungen
erster Ordnung geregelt, und diese verscbiedenen Gleicbgewicbtsbeziebungen be-
steben nebeneinander. Dadurcb werden die oben gegebeoen Darlegungen nicht
uDgQltig gemacbt, nur wttrde die Einbeziehung dieser MOglichkeit die Betracbtong
verwickelter gestalten, obne etwas weseutlicbes binzazufOgen.
*) Nernst, Zeitscbr. f. pbys. Cbemie 8, 137. 1891.
1020 I'- Ohemische Dynamik.
Von dieser letzten Bemerkung wird zunachst bei Gelegenbeit
der ternaren Gleicbgewicbte mit zwei flussigen Phasen Gebraach za
machen sein.
48. Ldstmgen in gemischten Ldsungamitteln. 1st eio Stoff in ge-
ringer Menge zu zwei anderen gesetzt, so kann man eineo osmotischeo
Druck definieren^), wenn man sich diese beiden Losungsinittel durch
eiDe halbdurcblassige Scheidewand aus der LosuDg entfernt denkt. Zur
Berechnung dient am besten die Beeinflassung des Dampfdrackee durch
den gelosten Stoff. Das gemischte Losungsmittel enthalte aaf ein Mol
des Gelosten n| Mole des einen uud Dg Mole des anderen Bestandteils,
welcbe zusammen das Volum V einnebmen. Dann ergiebt sich der
osmotische Druck :^ aus der Gleichung
Pi I « DTI-. P«
jrV = niRTln-'^V + njRTln
Pi " P2' '
indem links die osmotische, rechts die aquivalente, durch die Dampf-
druckbeeinflussung bedingte Arbeit fiir die Abscheidung des zu einem
Mol des Gelosten gehorigeu Losungsmittels aus einer grossen Menge der
Losung steht Dabei sind P| und p^ die Dampfdrucke aiis dem Lo-
sungsmittelgemisch ohne Zusatz, p^' und p,' dieselben nach dem Zusatz.
Hierbei ist neben dem zweiten Hauptsatze die Giiltigkeit der Gasge-
setze fur die Dampfe vorausgesetzt. Nimmt man an, dass fiir x das
Gesetz von yan't Hoff gilt, so ist :?rV = RT, und es wird
n,ln A-+n,lnA-=l.
Pi Pi
Bei Priifung dieser Formel wurde von Roloff*) zuerst der Siede-
punkt und die Dampfzusammensetzung fiir das gemischte Losungsmittel,
und dann beides fiir die Losung im Beckmannschen Apparate bestimmt
Sind r^ und r^ die Zahlen der Mole des Losungsmittels im Dampf
(d. h. im Destillat), so sind die Teildrucke gleich pi = — -j- — P und p>
= — j P. Die entsprechenden Werte fiir die Losung sind pj =
^1 + Tj
r r
— / V~ — P'u'^<^P9'=— ' f ^ P- Beide lassen sich nicht unmittelbar
ri +ra *^' r^ + r,
vergleichcn, da sie sich auf zwei verschiedene Temperaturen, die Siede-
temperatur des Losungsmittels und die der Losung beziehen. Um die
ersten Werte auf die zweite Temperatur zu beziehen, benutzt man die
Beziehung - = , wo d P die Erhohung des Dampfdruokes be-
*) Nernst, Zeitschr. f. phys. Ghemie 11, 1. 1898.
*) Zeitschr. f. phys. Chemie 11, 17. 1893.
Ghemische Gleichgewickte dritter OrdDtuig. 1021
deutet, welche im reinen Losungsmittel darch die gleiche Tempera-
turerhohuDg eriahrt, welche im Siedeapparate beobachtet worden iat.
Die Formel ergiebt sich aus der von Clausius -3^ = --=-, wenn
a 1 y1
man die zulassige Anuahme macht, da^s die Mischungswarme der Lo-
suDgsmittelbestandteile gegen die Verdampfungswarme verschwindet ^).
Korrigiert man die Werte von p^ und p^' um die entsprechenden Be-
trage, so ist fiir p^ zu setzen PiflH — p^)» ebenso ist p, zu korri-
gieren. Dadorch entsteht die Gleicbung
p.(i+-f-) p.(.+";')
1 = n. In r— h Ho In > — - — •
Pi P»
Nun ergaben die Analysen der Dampfe, dass dnrch den Zusatz des
gelosten Stofifes die Zusammensetzung nicht erheblich geandert wxurde;
es konnte also annahernd Pi=p/ nnd Pi=Pa' gesetzt werden. Da-
durch vereinfacht sich die Gleichung zu
l = u,ln(l+i'A.) + „,ln(l + ^),
und entwickelt man die Klammerausdriioke nnd bleibt beim ersten
Gliedo steben, so folgt
1— p— +-?;-
An Stelle der Druckanderungen ist endlich die beobachtete Tem-
dP
peraturerhohung dT zu setzen. Ist r das Verhaltnis t = -jj=^ in der
' d 1
Nahe der beobachteten Temperatur, so folgt scbliesslich
n^FidT njTgdT
i>, ' p.
Die Formel wurde auf Gemische von Wasser und Essigsaure an-
gewendet; als Zusatz diente Borsaure. Die Molekulargrosse des Essig-
sauredampfes wurde fur die vorhandenen Temperaturen und Drucke
nach einer Formel von Gibbs berechnet. Es wurde in drei Versuchen
statt 1 erhalten 0-98, 0-97 und 0-92.
Die oben gemachte Annabme, dass durch den aufgelosten Stoff die
Teildracke bei den entsprechenden Siedetemperaturen unverandert bleiben,
darf indessen nicht als allgemein gultig angesehen werden. Vielmehr
zeigte Roloff selbst in weiteren Versuchen mit einem Zusatz von Ghlor-
') Nernst, a. a. 0. S. 4.
Ostwald, Chemle. 11,3. 2. Anil. 65
1022 n* Chemische Dynamik.
kaliam zii einem Gemisch von Wasser und Essigsaure, dass dadurch der
Anteil der letzteren yerhaltnismassig bedeutend yermehrt wird. Es wird
mit anderen Worten durch den Zusatz (der in Essigsaure unloslich ist)
die Loslichkeit der Essigsaure in Wasser yermindert
49. Mehrere fltisslge Phasen. Die bisher gemachto Voraussetzung,
dass die vorkommenden fliissigeu Stoffe samtlich miteinander in alien
Yerhaltnissen mischbar sind, trifFt im Falle der ternaren Gemische noch
weuiger allgemein zu, als im Falle binarer. Vielmehr wird die teilweise
Mischbarkeit bei weitem die baufigere Erscheinung sein, nnd wir haben
diesen Yerhaltnissen daber unsere Aufmerksamkeit eingehend zu widmen.
Wir konnten von dem Falle der yollstandigen Mischbarkeit aus-
gehen, und die Anderungen studieren, welche beim Eintreten teilweiser
Mischbarkeit sich voUziehen. Indessen wird es anschaulicher sein, den
umgekehrten Weg zu gehen, und zunachst den anderen Grenzfall in
Betracht zu ziehen, wo die Mischbarkeit so gering ist, dass sie sich der
Null nahert. YoUstandig unmischbare Fliissigkeiten anzunehmen ware
nicht angomessen, und liesse sich mit anderen Thatsachen nicht gut in
Einklang bringen; wohl aber ist es statthaft, eine beliebig kleine Misch-
barkeit als moglich yorauszusetzen.
. Der Fall zunachst, dass alle drei Bestandteile miteinander
nicht merklich mischbar sind, bringt koine Besonderheit mit sich.
Die Eigenschaften der Stoffe bleiben ungeandert, und die mit ihnen im
Gleichgewicht befindliche Gasphase enthalt ihre Dampfe bei demselben
Drucke, wie wenn die anderen Stoffe nicht zugegen waren. Nur wenn
die Dampfdrucke so bedeutend werden, dass fiir die Dampf phase die
Gasgesetze nicht mehr gelten, treten Abweichungen ein, fur die eine
allgemeine Theorie nicht bekannt ist.
Ausserdem kommt bei sehr hohen Drucken noch die Wirkung der
Pressung in Frage (S. 362 und 556), durch welche der Dampfdruck
der Stoffe, unabhangig yon etwaigen chemischen Wechselwirkungen er-
hoht wird. Doch tritt auch hier nichts auf, was sich nicht ohne
weiteres aus dem ableiten liesse, was bei Gelegenheit der Gleichgewichte
erster Oninung a. a. 0. iiber diesen Gegenstand gesagt worden isL
Bei messbar yorhandener aber beschrankter gegenseitiger Loslich-
keit ergiebt sich folgendes.
Wir gehen im dreiseitigen Diagramm, Fig. 255, yon den Stoffen A
und B aus, yon denen wir annehmen, dass sie ineinander uur wenig
loslich seien. Dann werden sie im Gleichgewicht sein, wenn A ein
wenig B aufgelost hat, und B ein wenig A. Die beiden Yerhaltuisse
werden durch die beiden Punkte a und b dargestellt.
Ghemische Gleichgewichte dritter Ordnung. 1023
Wird nun der dritte Stofif C hinzugefugt, so konneu verschiedene
Wirkungen eintreten. Ist seine Menge zunachst so gering, dass er sich
Yollstandig in den yorhandenen Fliissigkeiten auflost, so werden die
beiden Punkte a und b etwas in das Innere des Dreiecks treten,
welchen Weg sie dabei nehmen werden, hangt von der Natur der be-
teiligten Stoffe ab. Doch wird man allgemein sagen konnen, dass wenn
sich der dritte Stoff leicht in A nnd B lost, sein Zusatz auch die
gegenseitige Loslichkeit von diesen beiden vermehren wird; die Punkte
a und b werden sich dann nahern, indem sie in das Dreieck hinein-
treten. Ist umgekehrt der Stoff C auch in A und B wenig loslich, so
wird die entgegengesetzte Wirkung erfolgen, und die beiden Punkte
O/ b
Fig. 265. Fig. 256.;
gehen auseinander. Wir betrachten zunachst diesen Fall, {der auch iu
Fig. 255 angedeutet ist.
Nach der eben gemachten Voraussetzung wird sich A zu C und
B zu C ahnlich verhalten. Auch von diesen Seiten gehen Linien, die
das Gleichgewicht zweier Fliissigkeiten ternarer Losungen darstellen, in
das Innere des Dreiecks hinein. Diese Linien miissen alsbald zusammen*
treffen, und die Erscheinung wird durch Fig. 256 dargestellt sein.
Die Bedeutung dieser Zeichnung ergiebt sich aus folgendem.
Jedem Punkte auf der Linie a a ontspricht ein Punkt auf der Linio b/3y
d. h. wenn wir zu einem Gemenge von A und B etwas G zusetzen, so
eotstehen zwei ternare Gemische, deren Punkte im Inneren des Dreiecks
liegen und die miteinander im Gleichgewicht sind. Diese beiden Punkte
brauchon nicht in einer Paralleleu zu AB zu liegen, wenn auch ihre
Lage im allgemeinen nicht viel davon abweichen wird. Das heisst:
durch einen kleinen Zusatz von C wird das Verhaltnis der Konzentra*
tionen von A und B, bei dem sie im Gleichgewicht stehen, sich nicht
viel andern, aber es braucht nicht konstaut zu sein.
65*
10^4 II- Ghemiache DyBanik.
Verbinden wir nun die entspcecbendea Punkto durob Gerade, so
erhalteo wir einen Oberblick der ternaren Puakte, welche je zwei im
Gleichgewicbt befindlicbe Pbasen bilden konnan.
Es entBtoht nun die Frage, wie weit diese korrespondier^den
Pankte auf der Linie zu findea sind. Auf der ganzen Linie sicker
nicht; denn dann miissten auch a' und b entsprechende Ponkte seiii,
d. h. es miisste ein GemiHch aus A und G, das kein B enthalt» mit
eioem Gemisch aus B und C, das kein A enthalt, im Gleicbgewicht
sein, was offenbar unmoglich ist. Die Gleichgewichte werden also an
irgend einem mittleren Punkte a und j9 enden.
Fiibren wir dieselben Betrachtungen fiir die Stoffe A und C durch,
so kommen wir zu einer ganz entsprechenden Darstellung. Insbesondei^e
wird dem letzten Punkte a ein letzter Punkt 7 auf cc' entsprecben.
Nun ist die Losung a aber sowobl mit j3, wie mit 7 im Gleicb-
gewicht; es miissen also alle drei Losungen miteinander im Gleicbge-
wicht sein. Ausserdem liegen auf c'7 und b/3 wieder eine Reihe ent-
sprechender Losungen, die vorwiegend aus C und B bestehen. In der
Fig. 256 ist dies gleichfalls angedeutet.
Bringt man somit die drei Stoffe in Verhaltnissen zusammen, die
innerbalb eines der drei Dreiseite Aaa', Bbb', Ccc' liegen, so losen sie
sich zu einer homogenen Fliissigkeit.
Bringt man sie in Verhaltnissen zusammen , die durch einee der
Vierscite aa^V, bj97c\ C7aa' liegen, so scheidet sich das Gemenge in
zwei Anteile, von denen jcder alle drei Stoffe enthalt.
Bringt man endlich die drei Stoffe in einem Verbaltnis zusammen,
das innerbalb des Dreiecks a^y liegt, so scheidet sich das Gemenge in
drei Antcile von bestimmter Zusammensetzung, welche durch die
Punkte a, ^ und 7 dargestellt sind. Von dem gewahlten Verhaltnisse
der drei Stoffe hangen dann nur die Mengenverhaltnisse ab, in denen
diese drei konstanten Losungen erscheinen; ihre Zusammensetzung ist
von diesen Mengenverhaltnissen unabbangig.
Diese Ergebnisse entsprecben dem Phasengesetze. Da die Be-
trachtungen f&r konstante Temperatur und Gegenwart der Danapfphase
(bezw. konstanten Druck) gelten, so sind im ersten Falie, wo nur eine
Fliissigkeit entsteht, noch zwei Freiheiten beziiglich der Zasammen-
setzung vorhanden, d. h. die Losung ist innerbalb ibres Gebietas be-
liebig. Entstehen zwei Fliissigkeiten, so ist nur eine Freiheit vorbanden;
die Zusammensetzung muss sich auf der vorgescbriebenen Linie be-
wogen. Treten endlich drei Fliissigkeiten auf, so ist keine Freiheit
mehr moglich, die Zusammensetzung ist bestimmt.
Chemische Glekhgewichte dritter Ordnung. 1025
Andert man die Temperatur, so werden eich im allgemeinen die
Linien aa', bb', cc' gegen einander Terschieben. In grosser Entfernung
vom kritischen Pankte konnen die VerschiebangeQ bei stoigender Tern-
peratar in beiderlei Richtung gescheben; in der Nahe der kritischen
Temperataren wird aber die Tendenz vorwiegen, dass die drei Linien
sich einander nahem, d. b. dass die gegenseitige Loslichkeit der Fliissig-
keiten zunimmt
50. Zonehmende L5flli6hk6it. Wenn die gegenseitige Loslichkeit
der Stoffe grosser wird, so werden auch die drei homogenen Eck-
gebiete grosser, und fliessen endlich zusammen. Da nichts daf&r spricht,
dass alle drei gleichzeitig zusammenfliessen, so untersuchen wir die Vor-
gange, wenn dies mit zweien von ihnen gescbieht.
Man erbalt zunachst eine Gestalt, wie Fig. 257. Die Bedeutang
ist, dass sich die Stofife A und £ in alien Verhaltnissen vermiscben
lassen, wabrend G weder mit A, nocb mit B in alien Verhaltnissen
Losungen bildet. Infolge dessen ist zwiscben A und B kein Trennungs-
punkt Torbanden, wabrend solcbe auf den Linien AG und BC zu finden
sind. Die Punkte a und c stellen demgemass die Zusammensetzung
dar, welcbe die beiden Fliissigkeiten zeigen, die sich bei dem Zusammen-
bringen yon reinem A und C obne B bilden. Die Punkte c und b
baben dieselbe Bedeutung fur das Paar B und C.
FUgt man zu einem beliebigen Gemisch von A und B den Stoff G,
so wird dieser zunachst gelost. Hat seine Menge einen bestimmten
Betrag liberscbritten, so teilt sich die Fliissigkeit in zwei Phasen, deren
Zusammensetzung durch entsprecbende Punkte der beiden Linien ab
und cc' gegeben ist. Da jedenfalls die Punkte a und c, sowie b und
c entsprecbende sind, so ist die Beziebung der anderen entsprechenden
Punkte wie in der Fig. 257 durch die zwiscben beiden Kurven ver-
laufenden Geraden angedeutet.
Die Yerbaltnisse sind also zusammengefasst derart, dass eine Zu-
sammenstellung der drei Fliissigkeiten, die einem der Gebiete AabB und
Ccc' angehort, eine einbeitliche Losung ergiebt. Die erste ist wesent-
lich ein Gemisch von A und B mit wenig G, die andere wesentlich G
mit wenig A und B. Wird dagegen die Zusammenstellung der drei
Stoffe aus dem Gebiete abc'c genommeu, so zerfallt sie in zwei tcrnare
Losungen, die miteinander im Gleichgcwicht sind.
51. Andere Falle. Eritisoher Ponkt. Das in Fig. 257 darge-
stellte Verhalten derartiger Fliissigkeiten ist keineswegs das einzig mogliche.
Beispielsweise liegen in einem der bekanntesten Falle: Wasser, Alkohol
und Ather, die Yerbaltnisse so, dass zwar Wasser und Ather sich nur
1026 II* Ghemische DyDamik.
teilweise losen, dagegen Wasser und Alkohol 80wie Alkohol und Atber
in alien Verbaltnissen. Wir woUen dies Beispiel naher betracbten, da
es eine neue und wicbtige Erscheinung darbietet.
Wenn in Fig. 258 Wasser mit W, Alkobol mit A und Atber mit
E bezeicbnet ist so werden beterogene Grenzen nur zwischen W und
E, nicbt aber zwiscben W und A, oder E und A auftreten. Femer
wissen wir, dass ein beterogenes Atber-Wassergemenge durcb Alkohol
bomogen gemacbt werden kann. Hieraus ergiebt sicb folgende Darstellung.
Der Punkt a stcUe mit Atber gesattigtes Wasser, b mit Wasser
gesattigten Atber dar. Setzen wir Alkobol dazu, so nimmt die gegen-
Fig. 257.
seitige Loslicbkeit zu, und daber muss die Linie der beterogenen Za-
stande von a ab nacb recbts, von b ab nacb links geneigt sein. Beide
Linien nabern sicb beim Aufsteigen, d. b. bei Vermebrung des Alkobols
mebr und mebr, und fallen scbliesslicb in dem Punkte zusammen, wo
eine weitere Vermebrung des Alkobols das Gemenge bomogen macht
Wir erbalten also eine Darstellung wie akb in Fig. 258.
Das Gebiet akb ist wieder ein beterogenes Gebiet mit zwei fliissigen
Pbasen. Es ist daber wieder (vergl. S. 1024) von Geraden durchzogen,
welcbe zwei entsprecbende Punkte der Grenzlinien miteinander ver-
binden und so die Paare ternarer Gemiscbe angeben, welcbe miteinander
im Gleicbgewicbt sind. Wabrend aber im friiberen Falle diese Ge-
miscbe beim Zusatz des dritten Stoffes einander weniger abnlich wnrdeo,
tritt bier das Umgekebrte ein. Die entsprecbenden Punkte nabern sich
mebr und mebr, indem die verbindenden Geraden kiirzer werden, und
scbliesslicb fallen sie in einen Punkt k zusammen, indem die beiden
fliissigen Pbasen gleicbe Zusammensetzung annebmen.
Ein Punkt, in welcbem zwei Pbasen gleicb werden, beisst ein
kritiscber Punkt. Somit] tritt in Fallen wie der vorliegende in
ternaren Gemiscben ein kritiscber Punkt auf.
Chemische Gleichgewicht6 dritter Ordnung. 1027
Das Erscheinen eiues kritischen Punktes ist gleicbwertig dem Ver-
lust von zwei Freiheiten. Denn bei einem cinheitlichcn Stoff besteht
im kritiscben Punkte keine Freiheit mehr, bei binaren Fliissigkeitsge-
mischen eine Freiheit (S. 672). Es riihrt dies von der BedingUDg des
kritischen Punktes her, dass die spezifischen Werto von Volum und
Entropie fiir die beiden Phasen gleich werden mussen. Also werden
wir im ternaren kritiscben Punkte zwei Freiheiten antreffen, d. h. der
kritische Punkt wird durch Temperatur und Druck veranderlich sein.
Soil neben den Fliissigkeiten eine Dampfphase besteben^ so wird iiber
eine Freiheit verfiigt, und der kritische Punkt ist weiterhin von der
Temperatur abhangig. Im allgemeinen (wenn auch keineswegs immer)
nimmt die gegenseitige Loslichkeit mit steigender Temperatur zu, der
kritische Punkt wird also durch Temperaturerhobung nach der Seite
WE riicken und beim binaren kritischen Punkte Wasser-Ather ver-
schwinden. Dariiber hinaus sind alle Gemische homogen.
Man kann^ wie sich aus Fig. 258 ergiebt, durch Alkoholzusatz alle
heterogenen Gemenge von Ather und Wasser homogen machen. Denn
alle Gemenge, die man durch Zusatz von Alkohol zu irgend welchen
Ather-Wassergemengeu erhalt, liegen auf der Geraden, welche den Ge-
mengpunkt mit dem Alkobolpunkt A verbindet (S. 987) und diese Ge-
rade schneidet notwendig die Grenzlinie akb an irgend einer Stelle.
Da aber der Durchschnitt von der Wahl des binaren Gemenges ab-
hangig ist, so gelangt man auf solche Weise zwar sicher in das homo-
geno Gebiet, nicht aber notwendig in den kritischen Punkt.
Um diese zu gewinnen, muss man vielmehr folgendermassen verfahren.
Man geht von einem heterogenen Gemenge von Ather und Wasser aus
und setzt Alkohol hinzu. Hierdurch wird sich im allgemeinen eine der
beiden Schichten vermebren, die andere vermindern. Nun setzt man
Ather oder Wasser, je nach Bedarf hinzu, um diejenige Schicht, welche
sich vermindert hatte, wieder der anderen annahernd gleich zu machen,
und fiigt dann wieder Alkohol zu. Die dabei etwa eingetretene Ungleich-
heit der beiden Schichten wird wieder durch Ather oder Wasser aus-
geglichen, und so fahrt man fort, bis der letzte Tropfen Alkohol die beiden
annahernd gleichviel betragenden Schichten zur Vereinigung bringt.
Die Gesamtflache des Dreiecks WAE zerfallt demnach nur in zwei
verschiedene Anteile. Wabrend der eine Teil dieser Flache homogcno
Losungen der drei Fliissigkeiten darstellt, ist der Teil akb das Gebiet
der heterogenen Gleichgewichte mit zwei fliissigen Phasen. In diesera
letzteren Gebiote entsprechen sich wie friiher zwei Losungen, die an
den beiden Zweigen der Grenzlinie akb liegen.
1028 11- GhemiBche Dynamik.
Stellt man daher ein Gemenge der drei Stoffe dar, dessen Zu-
sammensetzung innerhalb der Flache akb liegt, so zerfallt es in zwei
Schichten, deren Zusammensetzung dnrch die Endpankte der Verbin-
dungslinie gegeben ist, welche durcb den fraglichen Punkt gelegt
werden kann.
Auch binare Gemenge zerfallen, wie S. 666 ff. dargelegt, oft in zwei
nicbt mischbare Schichten, und es ist wichtig, sich den Unterschied
dieses Falles gegen den der ternaren Gemenge, die zwei Schichten
bilden, festzustellen. Dieser Unterschied liegt darin, dass bei binaren
Gemengen die Zusammensetzung dieser Schichten eine ganz bestimmte
ist, wenn die Temperatur und der Druck (bezw. eine Dampfphase) ge-
geben ist. Bei ternaren Gemengen dieser Art ist dadurch die Zu-
sammensetzung der beiden Schichten nicht bestimmt, diese kann Tiel-
mehr innerhalb eines gewissen Umfanges, der durch die beiden Grenz-
kurven gegeben ist, wecbseln. Damit verschiedene Gemenge gleichzu-
sammengesetzte Schichten geben, miissen sie durch Punkte dai^estellt
sein, die auf einer und derselbeu Yerbindungslinie zweier entsprecheu-
der Punkte liegen. Aus solchen Gemengen entstehen immer Schichten
von gleicher Zusammensetzung, nur in verschiedenem Mengenyerh<nis.
Letzteres ergiebt sich aus den Abstanden des Punktes, der das Gemenge
darstellt, yon den Endpunkten der Verbindungsgeraden, die durch den
Punkt gelegt werden kann: die Anteile dor beiden Phasen Terhalten
sich wie diese Abstande.
Der Zusammenhang dieser Betrachtung mit dem Phasengesetz liegt
auf der Hand und braucht nicht entwickelt zu werden.
Der kritische Punkt, dem wir ebon begegneten, ist in einigen Be-
ziehungen yon einem binaren kritischen Punkte yerschieden. Sein
wesentlichstes Merkmal ist bereits kurz erwahnt worden: zwei Fliissig-
keitsschicbten , die dem kritischen Punkte nabe sind, konnen durch
oinen kleinen Zusatz des dritten Stoffes bei konstanter Temperatur
homogen gemacht werden. Der gleiche Erfolg wird auch durch oine
passendo Anderung (meist Erhobung) der Temperatur ohne Zusatz
eines StoiFes bewirkt, wobei die Grenzkurve sich zusammenzieht, so dass
derartige ternare kritische Punkte diesen Namen in zweifachem Sinne
verdienen.
Der Ubergang aus dem heterogenen Zustande in den homogenen
durch den Zusatz des Stoffes C in reinem Zustande ist nicht das einzige
Verfahren fiir diesen Zweck. Den gleichen Erfolg erreicht man offen-
bar auch mit einer Losung der drei Stoffe, wenn sie nur die G^samt-
zusammensetzung des Gebildes derart andert, dass der darstellende
Ghemische Gleichgewicfate dritter Ordnang.
1029
Puokt in das homogene Gebiet tritt. Dies kann nun, wenn man sich
auf kleine Mengen beschrankt, nur durch solche Gemische geschehen,
deren Zusammensetzung innerhalb des Dreiecks Cpq, Fig. 259, liegt,
welches durch die an den kritischen Punkt gelegte Tangente abge*
schnitten wird. Man sieht daraus, dass das Gebiet der „wirksamen''
Gemische urn so grosser wird, je naher der kritische Punkt an der
Seite AB liegt.
52. Betrograde Ldaliohkeit* Die zunehmende Mannigfaltigkeit,
welche mit dem Vorhandensein der drei Bestandteile Terbunden ist,
macht sich auch insofern geltend, als bei den kritischen Punkten
ternarer Gemische ahnliche Nebenetscheinungen auftreten, wie wir
sie bei den kritischen Punkten zwischen Fliissigkeit und Dampf bei
binaren kennen gelernt haben ^
(S. 653). Man kann hier Ver-
haltnisse feststellen, welche eine
grosse Ahnlichkeit mit denen ha-
ben, welche dort unter dem Na-
men der retrograden Eondensa-
tion erortert worden sind.
Seien A und B die Bestand-
teile, die fiir sich heterogene Lo-
sungen bilden, und durch den Zu-
satz des Stoffes C in alien Ver-
haltnissen loslich werden. Die
Punkte a und b stellen die Zu- ^
sammensetzung der binaren Ge-
mische dar, welche sich aus A und B bilden. Fiigt man etwas C hinzu,
so teilt sich dieses zwischen den beiden Losungen. Erfolgte diese Tei-
luDg in gleichem Verhaltnisse, so wiirden die beiden neuen entsprechen-
den Punkte auf einer Parallelen zu AB liegen. Sie erfolgt aber that-
sachlich nach dem Verhaltnis der Loslichkeiten von C in A und in B,
und daher liegt die Verbindungsgerade ab etwas gedreht gegen AB.
Diese Drehung wird um so betrachtlicher, je weiter sich die Punkte
entfernen, d. h. je mehr C zugefiigt wird, und die letzte dieser Ge-
raden, die Tangente am kritischen Punkte k, ist am starksten gegen
AB abgelenkt.
Daraus folgt, dass im kritischen Punkte keineswegs die Konzen-
tration von C die grosste ist, bei welcher noch Heterogenitat besteheu
kann; cs giebt vielmehr einen anderen Punkt m, dessen Tangente der
Axe AB parallel ist, welchem diese Eigenschaft zukommt. Zwischen k
Fig. 259.
1030
11. ChemiBche Dynamik.
UDd m sind nun Erscheinungen moglich, welcbc an die retrograde Kon-
densation eriunern.
Geht man vom kritischen Punkte k aus, so wird durch YermehruDg
des gemeinsamen LoBungsmittels C die Flussigkeit naturlich homogoD.
Die ZusammensetzuDg babe sich dabei etwa so geandert, dass sie durch
d dargestellt wird. Halt] man nunj C konstant; und andert das Yor-
haltnis nach der Ricbtung von AG, z. B. parallel zu AB, so wird,
trotzdem man die kritische Konzentration von C iiberschritten hat, die
Losung in e wieder heterogen, sie bleibt es bis f, undrdariiber hinaos
wird sie erst wieder homogen. Dies ist vergleicbbar mit den Verhalt-
nissen, wo bei Steigerung der Temperatur iiber die kritische hinaos
wieder Flussigkeit auftritt, die bei weiterer Temperaturerhohung ver-
schwindet.
Es lassen sich noch mannigfaltige Beispiele ahnlicher Art auf-
stellen, doch geniigt es bier, das Prinzip dieser Erscheinungen ange-
deutet zu haben.
53. Umwandlnng der Begelfl&ohen. Es entsteht nun die Aufgabe,
einen t)berblick iiber die moglichcn Falle zu gewinnen, die sich bei
der Entstehung heterogener Gleicbgewichte aus drei Bostandteilen aus-
bilden konnen. Ein solcher ergiebt sich
durch die Vereinigung der beiden bisher
botrachteten Falle.
Man kann sich die Form Fig. 257
aus Fig. 258, S. 1026 entstanden denken,
indem sich eines der heterogenea Seiten-
bander in seiner Mitte Ton rechts und
links zusammenschniirt» wobei nur der der
Seite anliegende Rest bestehen bleibt,
wahrend die anderen Gebiete homogen
werden. Wendet man diese Art der Um-
bildung auf alle drei Seiten an und lasst die entstandenen Gebilde
bestehen, so gewinnt man Fig. 260 als allgemeinsten FalH), aus dem
sich die iibrigen durch zunehmende Vereinfachung ergeben werden.
Fiir das Zustandekommen der Fig. 260 miissen die beteUigten
Flussigkeiten folgende Voraussetzungen erfiillen. Sie sind alle ineinander
Fig. 260.
^) Der Fall ist insofern noch nicht der allgemeinste, als nicht auf die M<^-
lichkeit Racksicht genommen ist, dass zwischen zwei Eckpankten mehrere
heterogODe Gebiete entstehen kCnnen. Bekannt sind derartige Erscheinangen nock
nicht, and es darf daher znr Zeit noch von ihrer BerUcksichtigang abgesehen
werden, zumal sie nichts wesentlich Neues zu dem Yorhandenen ergeben wftideo.
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnung.
1031
nur teilweise loslicb. Wird zu zweien yon ihnen die dritte gesetzt,
so werden sie loslicher und geben schliesslich in eine homogene Losung
iiber. Eine weitere Vermehrung der dritten Fltissigkeit lasst indessen
wieder das Gemisch beterogen werden; es bilden sicb zunacbst zwei
iliissige Phasen aus, und zu diesen gesellt sicb bei weiterem Zusatz
eine dritte Pbase.
54. Der kritisohe Doppelponkt. Jedesmal, wo zwei Grenzkurven
(die zwei fliisbigen Phasen entsprecben) im Inueren des Dreiecks zu-
sammentreffen, entstebt ein kritiscber Punkt, In dem vorliegenden
allgemeinsten Falle sind somit secbs kritiscbe Punkte a, d^ /}, /?', 7, /
Yorbanden, welcbe paarweise zusammengeboren. Denn nacb der ange-
nommenen Entstebungsweise baben je zwei gegeniiberliegende zwei-
pbasige Gebiete urspriinglicb eines gebildet und sind durcb einen stetigen
Ubergang (etwa mittelst Temperaturanderung) auseinander getreten. Die
einzelnen Stufen eines solcben tlberganges sind in Fig. 261 yeran-
scbaulicbt. Als Grundlinie ist bier eine Seite des Dreiecks gedacbt
Die gegeniiberliegende
Begrenzung kaun die
Seite eines Dreipbasen-
dreiecks wie in Fig. 260
sein; sie kann aber aucb
eine andere Seite des
Hauptdreiecks sein, wie
Fig. 262 erkennen lasst.
Bei dem tJbergange
der Form b in d tritt
nun ein durcb c yer-
anscbaulicbter Zustand
ein, in welcbem die bei-
1
f
i
a.
c
Fig. 261.
den spater auseinandertretenden kritiscben Punkte einen einzigen, einen
kritiscben Doppelpunkt bilden. Dieser unterscbeidet sicb yon einem
einfacben kritiscben Punkt zunacbst dadurcb, dass er nocb eine Frei-
beit weniger bat, iudem iiber diese durcb die Bedingung yerfiigt wird,
dass zwei kritiscbe Punkte zusammenfallen [sollen. Im yorliegenden
Falle wird der kritiscbe Doppelpunkt nocb eine (sebr geringe) Druck-
Temperaturyeranderlicbkeit aufweisen.
Pbysiscb unterscbeidet er sicb [yon einem einfacben kritiscben
Punkte dadurcb, dass die Gebiete, in denen das binare Gebilde bomo-
gen wird, sebr yiel bescbrankter sind. Wabrend bei letzterem ein
grosser Winkelraum fur das Homogenwerden freistebt, bat der Doppel-
1032
II. GhemiBche Dynaraik.
punkt Dur zwei beschraDkte seitliche Oebiete dafiir. Insbesondere giebt
es eine Anzahl Gemische, durch deren Zusatz das Zweiphasengebilde
erst homogen und alsbald hei weiterem Zusatz wieder beterogen wird.
Fig. 262.
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■A
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Fig. 263.
55. Au&ahlung der mdglichen EinzelfWe. Durch Anwenduiig des
S. 1030 angedeuteteu Variationspriuzips kann man die moglichen Feld-
tmlungen beterogener Fliissigkeitsgemiscbe entwickeln. £s wird geniigen,
Chemische Gleichgewichte dritter OrdnuDg. 1033
diee graphisch durchzufubren^ nnd die wenigen noch zu madienden Be-
merkungen nachzutragen. Zum leichteren Lesen der Diagramme, Fig. 263,
sind die homogenen Gebiete weiss gelassen, die zweipbasigen schraffiert
und die dreiphasigen schwarz bezeichnet.
Die Falle a bis k bediirfen nacb dem Gesagten keiner Eriauteruiig;
sie enthalten alle ein Mitteldreieck mit drei fliissigen Phasen and da-
neben binare wie bomogene Gebiete. Der Fall, dass sicb nur homogene
und teniare, keine binaren Gebiete ansbilden, ist ausgeschlossen.
Der Fall 1 entstebt aus k durcb Yerschwinden 'des ternaren
Dreiecks. Dies kann nur in solcher Weise stattfinden, dass eine Seite
dieses Dreiecks immer kiirzer wird, so dass die beiden anderen schliess-
lich zusammenfallen. Man darf nicbt annebmen, dass die alsdann ent-
stebeude gescblossene Figur aus zwei verscbiedenartigen Halften be-
stebt, die etwa unter Winkeln an der Nabt zusammentreffen; da die
Zusammensetzung sicb im runden Gebiet wie in der Umgebung stetig
andert und neue Pbasen nicbt auftreten, so muss auch die Grenzlinie
stetig yerlaufen.
Da das eingcschlossene Gebiet nacb der Entstehung ein binares
ist, so bestebt die Grenzlinie aus zwei Teilen, derart dass jeder Punkt
des einen Teils einem Punkte des anderen entspricbt, der die Zusam-
mensetzung der zweiten flussigen Pbsse angiebt. Diese beiden Teile
treffen in zwei kritischen Punkten zusammen, die einander gegeniiber
liegen.
Die eben dargelegte Entstehungsgeschichte des binaren Mittelge-
bietes giebt aucb Antwort auf die Frage, ob nicbt solche Mittelgebiete
mit drei kritischen Punkten moglich waren. Die Antwort muss natiir-
licb Terneinend lauten; auch die geometrische Unmoglicbkeit, die korre-
spondierenden Punkte fiir diesen Fall anzuordnen, fuhrt zu dem gleichen
Ergebnis.
Fig. 263, 0 und s enthalten endlich binare Gebiete, welche weder
kritische Punkte haben, noch an ternare grenzen, indem sie von der
einen Seite des Dreiecks zur anderen hiniibergehen. Besonderbeiten
sind sonst nicht zu erwahnen.
56. Die Fl&ohe der ohexAisohen Energie. Ganz ahnlich, wie im
Falle binarer Gemische das Auftreten zweier Phasen durch das Auf-
treten einer Einbiegung in der entsprechenden g-Linie (S. 889) ge-
kennzeichnet war, so treten bei ternaren Gemischen in der fiir den
homogenen Fall allseitig nacb unten konvexen g-Flache (S. 1004) Falten
auf, in denen die Flache konkav wird. Und wie bei der g-Linie die
Beruhruiigspunkte einer Doppeltangente die Zusammensetzung der im
1034
II. Chemische Dynamik.
Gleichgewicht befindlichen Phasen angaben, so erhalt man hier die ge-
suchten Punkte, indem man an die Falte eine Ebene legt. Diese
beriihrt die g-Flache gleichfalls nur in je zwei Pankten; es ist aber
eine unbegrenzte Zahl solcher Punkte Yorhanden, die man findet, wenn
man die Ebene langs der Falte abrollt. Denkt man sich die Ebene
mit einem Farbstoff iiberzogen, so binterbleibt auf der Flache eine
doppelte Spurlinie, deren Form von der Gestalt der Falte abhangt. Ans
bekannten Griinden (S. 883) stellen die von der Ebene iiberdeckteu kon-
kaven Gebiete der Flache unbe-
standige Zustande dar, und an ihrer
Stelle entstehen zweiphasige Gebilde.
Die Flache, welche die abrol-
lende Ebene an der g- Flache be-
schreibt, ist eine abwickelbare oder
Regelflache; eine solche ist daher
das Kennzeichen der Gleichgewidite
mit zwei fliissigen Phasen.
Es sei nun zunachst die Falte
wie in Fig. 264 gestaltet, und wir
rollen die Beriihrungsebene an ihr
ab. Dann kommen die beiden Be-
rtihrungspunkte sich immer naher
und vereinigen sich schliesslich in
einen, den Faltenpunkt F, von wo
ab die Flache allseitig konvex ist, und
die Ebene keine Fiihrung mehr findet
Die Deutung dieser Figur, deren
Projektion auf die Grundebene in
Fig. 264 unterhalb gegeben ist, er-
giebt sich folgendermassen. Wahrend
R' und R'' die beiden binaren Fliis-
sigkeiten darstellen, welche sich aus
A und B bilden, gehoren die inner-
halb des Dreiecks belegenen Punkte
zu den ternaren Gemischen. Wenn man also den Stoff C zu dem
heterogenen Gebilde A + B setzt, so werden die beiden Schichten fort-
bestehen, indem jede von ihnen etwas C aufnimmt. Durch das AbroUen
der Ebene entspricht jedem Punkte des Zweiges R'F einer des Zweiges
R''F,undjedesderartigePunktpaar stellt zwei nicht miteinander mischbare
ternare Gleichgewichtslosungen dar. Die beiden Punkte jedes Paares
Fig. 264.
Chemische Qleichgevrichte dritter Ordnung. 1035
kommeu sicb immer naher, je weiter die Ebene sich abrollt, d. h. die
beiden Losungen werden sich ia der Zusammensetzang und daher in alien
ihreti Eigonschaften immer ahnlicher. Schliesslich fallen sie im Falten-
puiikte F zusammen, d. h. die beiden Losnngen werden identisch.
Dies ist aber das Kennzoichen eines kritischen PiXnktes (S. 1025).
Wahrend bei binaren Gemischen also ein kritischer Punkt dnrch Ver-
andernng der Temperatur erreicht wird, kann bei temaren ein solcher
bei konstanter Temperatur durch Zusatz eines dritten Stoffes erzielt
werden. Und zwar muss dieser dritte Stoff von solcber Beschaffenheit
sein, dass er mit den beiden nur teilweise miscbbaren Bestandteilen
sich in gewissen Verhaltnissen homogen mischen las8t.|
Ein Faltenpunkt dor g-Flache stellt somit immer einen kritischen
Punkt dar.
Falten der geschilderten Art konnen nicht nur einmal, sondern
zweimal und dreimal auftreten. Die Voraussetzung hierfdr ist, dass die
drei Fliissigkeiten zwei oder drei Paare geben, welche nur teilweise
mischbar sind und durch den Zusatz der dritten Fllissigkeit zur voll-
standigen Mischung gebracht werden konnen. Der Fall zweier Falten
ist noch einigermassen wahrscheinlich, der letzte ist dagegen nur selten,
wenn iiberhaupt zu erwarten, denn er enthalt die Voraussetzung, dass
zwei unvollkommen mischbare Fliissigkeiten miteinander mischbar werden,
wenn man eine dritte hinzusetzt, welche mit den beiden ersten gleich-
falls sich nur unvollkommen mischen lasst. Indessen darf der Fall nicht
als unmoglich augesehen werden.
Die zugehorigen Formen der Flachen und der Grundrisse sind in
Fig. 265 und 266 zur Anschauung gebracht worden. Sie erfordem
keine weiteren Auseinandersetzuugon.
57. Znsammenh&ngende Falten. Bisher ist angenommen worden,
dass jedc Falte fiir sich in einem entsprechenden Faltenpunkt endet.
Dies ist nicht notwendig, vielmehr konnen zwei oder auch drei Falten
sich miteinander vereinigen, bevor sie sich in einem Faltenpunkte aus«
geglattet haben. Wir betrachten zuuachst den Fall, dass zwei zusam-
mengeflossene Falten vorhanden sind.
Lassen wir zunachst die Doppelberiihrungsebene sich an einer, z. B.
der in AB belegenen Falte abroUeu, so wird sie wie gewohnlich zwei
Spurlinien beschreiben. Bevor sich diese aber in einem Faltenpunkte
vereinigen, tritt die andere Falte dazu. Nun konnen zwei Falle ein-
treten. Entweder lasst' sich das AbroUen weiter fortsetzen und die
Spurlinien der ersten Falte gehen stetig in die der zweiten iiber.
Oder die Flache hat eine solche Gestalt, dass die eine (aussere) Spur-
1036 II- ChwUMlie DjiiBBtk.
tinie eiDe Einbiegung nach oben erfabren w&rde. Eine solche Spurliiiie
ist geometriscb nicht mSglich, denn die Ebeae kaon in einem solcbra
Falle nicbt wetter rollra. Viehnebr Ut die Fo^ daTon, dass in einer
bestimmten Lage die Ebene einen dritteu Pnnkt beriibrt; sie ist daun
feat^elegt and kann nicbt welter rollen.
In die gleicbe feste Lage gelangt die Beriibnm^ebene, wenn man
sie aaf der andereo Falte abrollt. Man siebt dies ein, wenn mao sicb
Fig. 266.
Fig. 866.
die Flacbe auf einen ebenen Tiecb gestellt deokt Dann kann sie axtt
aui eine Weise fest aafgestellt werden, nod es giebt nor drei beBtimmts
Punkte, ia denen sie von einer Ebene gleiobzeitig beriihrt werden kann.
Daraus folgt, dasB voii den beiden Spurlinien die eine maammeuh&ngend,
die andere unterbrochen verlaoft.
Dass beide Spurlinien unterbrochen werden, iat bei der aogeDom-
menen Gestalt der Flacbe aosgescblossen.
Chemische Gieichgewichte .dritter Ordnaag.
1037
Wir betrachtea zunachst den eiafacheren Fall naher, dass die
beiden Spurlinieii unaaterbrochen ausjder einea Falte ia die aadere
▼erlaufea. Die Grestalt der Plache ist dann darch Fig. 267, bezw. 268
gegebea^), uad der Grandriss zeigt eine Regelflache, welche sich iiber
die Mltte des Dreiecks voa der eiaea Seite zar anderen zieht. Die
Deatung dieser Flache ist die folgeade.
Von den drei Fiiissigkeiten sind zvei, B and C, in alien Verhalt-
nissen mischbar. Dagegen mischt sioh A nur teilweise sowohl mit B
C
Fig. 267. Fig. 268.
wie mit G. Doch kann durch Zusatz von C zu dem heterogenen 6e-
meuge von A und B, oder durch Znsatz von B zu dem heterogenen Ge-
menge AC eine vollstandige Vermischung hervorgebracht werden. Setzt
man zu einem beliebigen Gemenge von B und C, das immer homogen
ist, A hinzu, so tritt friiher oder spater eine Trennung in zwei Schich-
ten ein.
*) Urn die Auffassung der Formen zu erleichtern, ist in Fig. 267 die Fl&che
von Fig. 268 mit Schattierung gegeben.
Ostwnldi Cheime. 11,2. 2.Aufl.
66
1038 n. CbemiBche Djnamik.
Das gaDze Dreieck zerfallt daher in drei Telle, die homogenen Lo-
sungon mit vorwiegeDdem A im Dreieck Aaa', die homogenen Losungen
mit Yorwiegendem B und C im Viereck BbcC und die heterogenen Lo-
sungen im Viereck abea'. Kritische Punkte sind nicht yorhanden.
Beim Vergleich der Fig. 268 mit Fig. 265, S. 1036, wird man eine
einfache Beziehung zwischen beiden erkennen, denn die erste entsteht
ans der anderen, wenn die beiden Regelflachen sich so weit nahern,
dass sie zusammeufliessen. Dies ist ein Ausdruck fiir die Annahme,
dass die beiden Falten miteinander sich vereinigen. Umgekehrt kann
man Fig. 265 aus Fig. 268 entstehend denken, wenn das Band sich in
der Mitte infolge Verflachung der Falte verschmalert und schliesslich
zerreist. An den Trennungsstellen entstehen dann die kritischen Punkte
Oder Faltenpunkte.
Solche gegenseitige tJbergange werden durch die Anderung der
Temperatur hervorgebracht. In dem Augenblicke, wo sich das Band in
die beiden gesonderten Fiachen teilt, ist ein gemeinsamer kritischer
Punkt an der Trennungsstelle yorhanden, welcher den beiden Kuryen
angehort. die yon dort ah getrennt yerlaufen. Man erreicht bei dieser
einen Temperatur den gleichen kritischen Punkt, ob man yon AB oder
AC ausgeht, wahrend in Fig. 265 zwei yerschiedene kritische Punkte
gefuiiden werden. Dies ist der S. 1031 eingehender beschriebene kri-
tische Doppelpunkt.
58. Drei Sohiohten. Neue Erscheinungen treten auf, wenn Hie
g-Flache eine solche Gestalt hat, dass die eine Spurlinie unterbrochen
ist. Wie erwahnt, gewinnt dann die Beriihrungsebene schliesslich eine
Lage, in welcher sie drei Beriihrungspunkte mit der Flache hat, und
somit unbeweglich geworden ist Die Bcdeutung dieser Eigenschaft ist
die, dass alsdanu drei getrennte Phasen yorhanden sind, deren Zo-
sammcnsetznng durch die drei Beriihrungspunkte gegeben ist. Die
Fliissigkeit sondert sich mit anderen Worten in drei getrennte Schichten
yon bestimmter Zusammensetzung, die miteinander im Gleichgeyricht
sind. Fig. 269 giebt eine Anschauung yon der Gestalt der Flache und
lasst die Feldteilung im Grundriss erkennen. Das Dreieck der drei
Schichten ist durch a/S/ angegeben und jedes Gemenge aus den drei
Bestandteilen, dessen Zusammensetzung in dieses Dreieck fallt, acheidet
sich in drei nicht mischbare Schichten. Unabhangig yon der Stelle im
Dreieck, welche die Gesamtzusammensetzung darstellt, haben die Schicii-
tcn immer die gleiche Zusammensetzung, und nur ihre relatiyen Mengea
sind yerschieden. Letztere ergeben sich, wenn man yon dem Punkte,
der die Gesamtzusammensetzung darstellt, Normalen auf die Dreiecks*
Chemische Qleichgewichte dritter Ordnung.
1039
seiten fallt: jede dieser Normalen misst die Menge der Schicht, deren
Zusammensetzung durch die gegeniiberliegende Ecke angegeben wird.
In dem Grundrisse Fig. 269 ist noch das Gebiet /3 k/ angegeben*
Ein solches muss unter der vorausgesetzten Form der g-Flache immer
entsteben. Denn beriihrt eiiie Ebene die Flacbe in drei Pankten*
so kann jede Seite des entstebenden Dreiecks als Ausgang fiir das
Abrollen der Ebene benutzt werden. Die beiden Seiten a^ und ay
ergeben Spuren, die bis zum Rande gehen, wahrend fiir die dritte Seite,
den Fliissigkeiten B und G entsprechend,
angenommen wurde, dass sie sich in
alien Verhaltnissen losen. Die Spuren
konnen also hier nicbt zum Rande
gehen, und miissen daber in einen
Faltenpunkt auslaufen, in welchem ein
kritiscber Losungspunkt belegen ist.
Die Flacbe der drei flussigen Pha-
sen ist in der Fig. 269 dreifach scbraf-
fiert, wahrend die zweipbasigen Regel-
flachen durch Verbindungslinien ent-
eprecbender Punkte gekennzeichnet sind.
Die einphasigen Gebiete der homogenen
Losungen sind weiss gelassen. In glei-
cber Weise sind alle folgenden Figuren
gezeichnet, so dass man den verscbie-
denen Gharakter der Gebiete, in welche
das Dreieck zerfallt, unmittelbar er-
kennen kann. So ergiebt sich, dass
irgend welche Gemenge, deren Zusam-
mensetzung in einem der Gebiete a'c/a,
aaj3b und ^/k liegt, in je zwei Scbich-
ten zerfallen miissen, deren Zusammen-
setzung im allgemeinen yerschieden ist.
Gemenge in den Gebieten Aaaa' und Bbj^k/cC bilden homogene Lo-
sungen.
Von den Gemischen mit zweifacher Teilung unterscheiden sich die
hier auftretenden mit dreifacher dadurch, dass ihre Zusammensetzung
nur von der Natur der Fliissigkeiten und von der Temperatur abhangt,
nicht aber von den Mengenverbaltnissen der Bestandteile. In dieser
Beziehung entsprecben sie ganz den zweiteiligen binaren Gemengcn.
Dies ergiebt sich unmittelbar aus der Figur, da die Zusammensetzung
66*
Fig. 269.
1040 ^I- Ghemische Dynamik.
der drei moglichen Schichten nur durch Pankte, uicht durch Linien
angegeben wird, also bei bestimmter Temperatur nor je einen Wert
hat. Auch folgt es aus dem Phasengesetz, wenn man Dampf als vierte
Phase dazu nimmt Es bleibt daoD uur eine Freiheit ubrig, welche
durch die Temperatur in Anspruch genommen wird.
59. Drei Falten. Die eben angestellten Betrachtungeu lassen sich
unmittelbar auf den Fall erweitem, dass alle drei Flussigkeitspaare sich
nur teilweise mischeu und daher an alien drei Seiten der Flache Rand-
falten vorhanden sind, die sich in der Mitte vereinigen. Die zugehorige
Fig. 270 ergiebt sich aus der vorigen Fig. 269 einfach dadurch, dass
die dritte Falte, welche am Mitteldreieck ansetzt, bis zum Rande geht
und nicht vorher in einen Faltenpunkt auslauft.
Die Deutung der Fig. 270 macht nach dem Gesagten keine Schwierig-
koit; neuos tritt nicht auf.
60. Mittelfalten. In den vorangegangenen Betrachtungeu sind die
Hauptfalle erledigt, welche durch Randfalten entstehen konnen. Wir
betrachten nun die Mittelfalten.
Von solchen giebt es zwei wesentlich verschiedene Arteu. Es kauii
an einer Mittelfalte entweder eine Beriihrungsebene stetig abgewalzt
werden, s6 dass die ganze Falte von der fortlaufenden Spur umschlossen
ist, Oder es giebt eine Stelle (bez. mohrere), wo die Beriihrungsebeoe
einen dritten Punkt beriihrt und dadurch festgehalten wird. Daiin
wird durch diese drei Beriihrungspunkte ein Dreieck bestimmt, von
dessen drei Seiten aus die Ebene abgewalzt werden kann. Es entstehen
dadurch au den drei Seiten Regelflachen, die gemass der Annahme,
dass es sich um eine Mittelfalte handelt, in einen Faltenpunkt auslaufeu,
foevor sie den Rand erreichen.
Den ersten Fall stellt Fig. 271 dar. Aus der angenommenen
geometrischen Eigenschaft geht hervor, dass es sich in diesem Falle
um eine Regelflache handelt, innerhalb deren das ternare Gemenge in
je zwei Schichten von wechselnder Zusammensetzuug zerfallt. Die Falte
ist durch zwei Faltenpunkte k und k' geschlossen, welche kritische
Losungspunkte darstellen. Die entsprechenden physischen Eigenscbaften
sind folgende:
Die drei Bestandteile A, B und C mischen sich paarweise in alien
Verhaltnissen. Setzt man aber zu einem Gemenge von zweien innerhalb
eines gewissen mittleren Gebietes der Zusammensetzung den dritten
Stoff hinzu, so beginnt bei einer bestimmten Menge die bis dahin
homogene Losung in zwei Schichten auseinander zu gehen. Durcb
ChemiBche Gleichgewichte dritter Ordnung.
1041
weitere VermehniDg desselben Bestandteils kann man die Fliissigkcit
vrieder homogen macben.
Das Mengenverhaltnis, innerhalb dessen man eine Losung von zwei
Bestandteilen durch den Zusatz des dritten heterogen macben kann«
C
B ^
Fig. 270. Fig. 271.
^ird durch die Tangenten begrenzt, die man im Grundriss an die
Spurlinie von jeder der drei Ecken aus legen kann» Fig. 272.
Ein beliebiges heterogenes Gemisch kann durcb Zusatz jedes der
drei Bestandteile homogen gemacht werden. In einen kritiscben
Losungspunkt kann es auf zweierlei Art gebracbt werden; es gescbiebt
dies sowohl durcb Vermebrung des einen wie des anderen Bestandteils
unter passendem Zusatz des dritten.
61. Die MittelfiEdte zweiter Art. Wabrend man sicb eine Mittel-
falte der Art, wie sie eben bescbrieben worden ist» aus einer Randfalto
dadurcb bervorgegangen denken kann, dass diese sicb am Rande abflacht,
1042
II. Ghemisclie Dynamik.
i:
Iq der Mitte dagegen bestehen bleibt, so lasst sich die Entstehung der
nun zu beschreibenden Mittelfalte dadurcb denken, dass ein Gebilde
mit drei zusammenfliessenden Raudfalten (Fig. 270, S. 1041) eine Aus-
glattung dieser Falten am Rande erfahrt, wahrend sie in der Mitte be-
stehen bleiben. Es ergiebt sich dann die in Fig. 273 dai^estellte
Flache. Diese enthalt ein ebenes Dreieck, welches die Koexistenz dreier
fliissiger Phasen von unveranderlicher Zusamniensetzung anzeigt, und an
dessen drei Seiten drei Regelflachen
mit je zwei koexistierenden Phasen
und je einem Faltenpunkt oder kri-
tiscben Losungspunkt.
Die entsprechenden Erschei-
nungen sind, dass die drei Bestand-
teile A, B und C sich paarweise in
alien Verbaltnissen vermischen lassen,
dass aber der Zusatz des dritten
Bestandteils zu einem solchen Paare
innerhalb gewisser Verhaltnisse des
C
jB b
Fig. 272. Fig. 273.
letzteren Schichtenbildung hervorruft Insofern stimmt dieser Fall mit
dem Yorigen iiberein. £r unterscheidet sich von ihm durch die Mog-
lichkeit des Auftretens dreier Schichten. Und zwar hangt es toii
den Verhaltnissen der drei Bestandteile ab, ob zwei oder drei Schich-
ten entstehen. Durch einseitige Anderung der Zusammensetznng mittelst
Zusatzes eines der drei Bestandteile kann man immer aus dem 6e-
biete der drei Schichten in das der zwei Schichten und in das homo-
gene Gebiet gelangen.
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnung.
1043
62. Die aUgemeinste Fl&ohe. Lasst man schliesslich die bisher
betrachteten Mannigfaltigkeiten samtlich gleichzeitig an einer Flache
auftreten, 80 erbalt man einen allgemeinen Fall, der durch Fig. 274
dargestellt ist. £r enthalt drei Seitenfalten mit Faltenpankten und
aosserdem eine Mittelfalte ^
der zweiten Art Da-
durch entsteht ein zu-
sammenhangendes Gebiet
der homogenen Zustande,
daneben sechs Regelfla-
chen mit je einem kri-
tischen Punkte, welche
die Gebilde mit zwei
fliissigen Phasen darstel-
len, und schliesslich ein
Dreieck, welches die Ge-
bilde mit drei fliiseigen
Phasen umfasst.
Es ist wenig wahr-
scheinlichf dass man einen
Fall finden wird, in dem
alle diese Formen gleich-
zeitig Torhanden sind.
Diese allgemeine Flache
hat ihr wesentlichstes In-
teresse darin, dass aus - — v C
ihr die friiher erorterten
Einzelfalle durch Spezia-
lisierung abgeleitet wer-
den konnen, indem man
die Yorhandenen Felder
durch Zusammenziehung
verschwinden oder durch
Zusammenfliessen sich mit
benachbarten vereinigen
lasst Man erhalt dadurch ausser den friiher erwahnten noch einige
andere; doch ist die Aufstellung einer yollst&ndigeu Tabelle so
leicht, dass sie dem Leser iiberlassen werden kann. £s handelt sich
ja immer nur um die Zusammenstellung dreier Elemente: der homo*
genen Gebiete» die von den drei Ecken ausgehen, der Regelflachcn fiir
A
1044 II. Chemiscbe Dynamik.
die zweiphasigen und des Dreiecks fiir die dreiphasigen Gebilde. Die
grosste Mannigfaltigkeit ist bei den ersten vorhanden. Regelflachru
giebt es drei Arten: vierseitige mit zwei geraden Grenzlinien ohne
kritischen Losungspunkt, Fig. 275a, solche von der Form eines Kreis-
abschnittes mit einer geraden Grenzlinie und einem kritischen Pankte,
Fig. 275 b, und endlich durch eine geschlossene Kurve begrenzte,
ohne gerade Grenzlinie mit zwei kritischen Punkten, Fig. 275 c Von
den dreiphasigen Dreiecken giebt es nur eine Art mit lauter geraden
Grenzlinien. Wir gelangen auf die in Fig. 263, S. 1032 dargestellte
Mannigfaltigkeit zuriick.
Man kann fragen, ob hiermit die. ganze mogliche Mannigfaltigkeit
der Gleichgewichte zwiscben drei fliissigen Bestandteilen orschopft ist.
Die Antwort ist natiirlicb
nein; denn es konnen z. £.
zwischen zwei Eanten des
Prismas zwei oder mehr Fal-
ten auftreten, wahrend wir
nur auf eine Rucksicht ge-
nommen batten. Doch wird
durch eine solche Venneh-
rung der Falten nichts
wesentlich neues verursacht;
die eben beschriebenen Elemente treten nur in grosserer Zahl zu-
sammen. Da ausserdem noch kein Fall beobachtet worden ist, der das
Vorkommen derartiger Mannigfaltigkeiten wahrscheinlich gemacht hatte,
so darf von derartigen Betrachtungen abgesehen werden.
63. Bampfdmcke nichthonQOgener temarer Gemenge^). Aus den
vorangegangenen Darlegungen ergab sich, dass drei verschiedene Arten
der Felder im Dreieckschema auftreten, je nachdem eine, zwei oder drei
flussige Phasen vorhanden sind. Entsprechend dem Phasengcsetz wird
der Dampfdruck in jedem dieser Felder einen besonderen Charakter
zeigen.
Neben einer fliissigen Phase beansprucht die Dampfphase die zweite
Freiheit, Wird iiber die dritte durch die Temperatur verfiigt, so bleiben
fiir die Zusammensetzung noch zwei Freiheiten iibrig, und da zwei
Molenbriiche die Zusammensetzung der Fliissigkeit angeben, so folgt,
dass jedes homogeAe ternare Gemisch seine besonderen Werte fiir
Druck und Zusammensetzung seines Dampfes hat.
') Ostwald, Abb. d. Sftcbs. Ges. d. Wiss. 25, 433. 1900.
Ghemieche Gleichgewichte dritter Ordnung. 1045
Tragen vir daher iiber einem bomogenen Felde die zugehorigen
Dampfdrucke fur eine bestiromte Temperatur als Ordinaten auf, 80
werden diese eine gewolbte Flacbe doppelter Kriimmung bilden, die
sich yerhalten wird wie die Dampfdnickfiachen hoiuogener Gemiscbe,
welche S. 988 u. tf. behandelt worden sind.
Liegen zwci fliissige Phasen vor, so gilt das Gesetz, dass der
Dampfdruck langs der Verbinduugsgeraden zweier entsprecbender Punkte
konstant sein muss. Denn alle GemeDge, deren Zusammensetzung
irgendwo auf dieser Verbiudungsgeraden liegt, zerfallen in zwei Anteile,
deren Zusammensetzung von der Lage des Punktes auf der Geraden
unabbangig ist; diese bestimmt nur das Mengenverbaltnis der Fliissig-
keiten. Demgemass vird auch der Dampfdruck langs dieser. Geraden
konstant sein, und in der zugeborigen Dampfdruckflacbe wird sich eine
borizontale Gerade zieben lassen, welcbe der Verbinduugsgeraden im
Grundriss parallel lauft, und deren Hohe gleich diesem konstanten
Dampfdrucke ist.
Dies gilt fiir jedes Punktpaar der Grenzkurven; insgesamt wird
also die Dampfdruckfiache iiber einem zweiphasigen Felde durcb eine
Regelfiache dargestellt, die durcb Gleiten einer bestandig horizontal bleiben-
den Geraden an den beiden Dampfdrucklinien der Grenzkurven entsteht.
Aus dem Phasengesetz folgt noch eine Freiheit beziiglicb der Zu-
sammensetzung. Diese macht sich dahin geltend, dass die Zusammen-
setzung des Dampfes sich nicht algebraisch durch die der beiden
fiiissigen Phasen darstellen lasst oder m. a. W. an irgend einer Stelle
der Verbinduugsgeraden liegt, wie dies bei zwei Fliissigkeitsphasen aus
zwei Bestandteilen der Fall ist. Vielmehr liegt die Zusammensetzung
des Dampfes an irgend einem anderen Punkte. Daher siedet das Ge-
men^o auch nicht bei konstanter Temperatur, weil durch Entfernung
des Dampfes nicht nur das Mengenverhaltnis der fliissigen Phasen sich
andert, sondem auch ibre Zusammensetzung. Gemass dem allgemeinen
Gesetze, dass durch Fortnahme der Dampfe jeder veranderliche Dampf-
druck sinkt, bez. der Siedepunkt steigt, andert sich beim Destillieren die
Zusammensetzung der beiden fliissigen Phasen langs der Grenzkurven
im Sinne eines absteigenden Dampfdruckes.
Daraus folgt weiter, dass, wenn innerhalb der Dampfdruckfiache
ein naazimaler Druck vorkomrot, d. h. die Regelfiache einen erhohten
Riicken aufweist, das entsprechende zweiphasige Gemisch seine Zu-
sammensetzung nicht andem kann').
') Ein Minimum in der Regelfl&cbe des Dampfdruckes ist aus bald anzu-
gebendeu GrOnden ausgeschlosBen (tergl. S. 1047).
1046 n. Chemische Dynamik.
Es muss dann die Zusammensetzung des Dampfes auf der Ver-
binduDgsgeraden liegen, und das ternare Gemenge verhalt sich bei der
Destillatiou wie eines aus zwei Bestaudteilen ^).
Diese Erscheinung ist ganz vergleichbar dem Anftreten eioes
Dampfdruckmaximums bei homogenen binaren Fliissigkeitsgemischen;
solche Gemische verhalten sich bei der Destination wie einheitliche
Stoffe (S. 621). Die oben beschriebenen zweipbasigeu ternaren Gemische
verhalten sich dagegen wie homogene binare Gemenge.
Im dreiphasigen Gebiet endlich liegt keine Freiheit in Bezug aof
die Zusammensetzung mehr vor. Es wird daher von alien drei Flii^g-
keiten ein Dampf von konstanter Zusammensetzung und konstantem
Drucke entwickelt und die Dampfdruckflache stellt sich daher oberh&lb
des Dreiphasendreiecks als eine horizontale Ebene dar.
Bei der Destination verhalt sich ein derartiges Fliissigkeitsgemenge
ganz wie ein binares Gemenge mit zwei fliissigen Phasen. Durch die
Entfernung des Dampfes werden nur die Mengen der fliissigen Phasen
geandert, ihre Zusammensetzung bleibt aber dieselbe, und daher andert
sich auch der Dampfdruck, bez. Siedepunkt nicht, so lange noch drei
Schichten im Riickstande vorhauden sind. Ist endlich eine der drei
Schichten verschwunden, so tritt die Zusammensetzung des Ruckstaudes
in eines der Zweiphasenfelder, und sein weiteres Verhalten entspricht
dem friiher Dargelegten.
64. Die mOgliohen heterogenen Dampfdmokfl&ohen. Um zu einem
Uberblick der typischen Falle der Dampf druckisothermen im Falle
heterogener Gebilde zu gelangen, konnen wir denselben Weg gehen,
der uns fiir die homogenen zum Ziel gefiihrt hat. Wir haben also die
vorhandenen Falle binarer Dampf drucklinien fiir die Seiten des Dreiecks
auzunebmen, und die hier moglichen Kombinationen auf die S. 1032£
entwickelten Falle moglicher Feldteilung anzuwenden. Nun hatten wir
schon fiir die Kombination der Dampfdrucklinien homogener Losungen
10 Falle und 18 Falle der Feldteilung, so dass eine erschreckend grosse
Anzahl von Einzelfallen in Aussicht stcht Indessen brauchen sie nicht
alle erortert zu werden.
Als Dampfdrucklinien fiir die Seiten des Dreiecks kommen zunachst
wieder die drei homogenen Falle I II III (S. 989) in Betracht Femer
aber konnen (und werden meist) zwei fiiissige Phasen bereits am Raode
*) Dieeen Fall habe ich in meiner oben (S. 1044) erw&hnten Abhandlung w
bemerken und zu erdrtem vers&umt. Er iBt von F. Schreinemakers entvickott
worden.
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnung.
1047
auftreten, und wir haben una daber nach den typiscben Dampfdruck-
linien bei binaren heterogenen Gemiscben umzuseheu. Deren giebt es
nur zwei, die wir gemass Fig. 276 mit IV und V bezeicbnen.
Aus funf Elementen giebt es 35 Eombinationeu zu dreien; ebenso
yiole Falle der Randbegrenzung liegen also Yor. Diese lassen sich aber
bei weitem nicbt alle mit jeder Feldteiluug
kombinieren. So konnen z. B. Formeu,
deren Grenzen aus den Kurven I, II und
III gebildet sind, nur solche Feldteiluugen
baben, welcbe keine Heterogenitat am Raude
aufweisen, namlicb nur die Falle k und 1,
Fig. 263, S. 1032. Umgekehrt sind diese
Falle unmoglicb, wenn am Rande betero-
gene Dampfdrucklinien auftreten.
Ferner ist im Falle binarer Gemenge
gezeigt worden, dass eine beterogene Dampf-
idrucklinie, die dem bomogenen Falle III
entspricbt, bei der also der konstante Dampf-
druck im heterogenen Teil ein Minimum
ist, nicbt yorkommen kann. Auf gleicbe
Weise lasst sich zeigen, dass eine ternare
Dampfdruckflache, welcbe nach irgend einer Richtung einen derart ge-
formten Durchscbnitt ergiebt, nicht moglich ist. Wenn nun auch Grenz-
linien Yom Typus III nicht notwendig bei heterogenen Gebilden zu
einer derartigen unmoglicben Form fiihren mils sen, so werden sie es
iu den meisten Fallen thun, und wir.diirfen daber mit sebr grosser
Wahrscheinlichkeit Falle als ausgeschlossen ansehen, in denen zwei
Grenzen vom Typus III vorkommen. Falle mit einer Grenze III woUen
wir zulassen.
Auf solche Weise bleiben 30 Kombinationen von Grenzkurven iibrig..
Mit Riicksicht auf die oben erwahnten Einscbrankungen erhalten wir
folgende Zusammenstelluog:
7 Kombmationen homogener Grenxen mit k und 1 »» 14 F&lle
10 Kombinationen von zwei homogenen und einer heterogenen
Grenze mit f, i, m und r ==40
9 Kombinationen von einer homogenen und zwei heterogenen
Grenzen mit c, e, h, n, o, q = 54
4 Kombinationen von drei heterogenen Grenzen mit a, b, d,
g, p und 8 » 24
Fig. 276.
♦»
»♦
Insgesamt 132 F&Ue
I
1048 n. Chemische Dynaxnik.
65. Einige typisohe Fille. Als die haufigsten Formen fur die
Dampfdruckflachen heterogener Gemenge werden wir die ansehen konnen,
welche sich aus den Grenzlinien vom Typus II oder IV entwickeln, und
es sollen daher zunachst alle Dampfdruckflachen dargestellt werden,
welche sich bei der Anwendung aller Feldteilungen nacb S. 1032 auf
diese Form ergeben. Alle diese Flachen lassen sich als aus der Grund-
foma des allseitig nach oben konvexen Gewolbes Fig. 230, S. 997 ent-
standen auffassen, von der Teile durch (zweiphasige) Regelflachen oder
(dreiphasige) Ebenen abgeschnitten sind.
Die nachstehenden Figuren 277 — 288 erklaren sich selbst uud be-
anspruchen nur wenige Bemerkungen. Da sie alle aus Fig. 230 entstanden
sind, so enthalten sie die sechs uniiberschreitbaren Linien und den inneren
Punkt des konstant siedenden Gemenges. Soweit dieF.e Linien sich noch
auf den unverandert gebliebenen Teilen des Gewolbes befinden, behalten
sie ihren Charakter bei; sind aber die Teile durch. die neuen Flachen
verandert, so bediirfen sie besonderer Dcutung.
Wir erortern zu diesem Zweck Fig. 277, welches in gewissem Sinne
die typische Form ist.
An den drei homogenen Eckfeldern finden sich uniiberschreitbare
Linien vor, die von der untersten Spitze ausgehen, und in der obersien
enden. Dadurch zerfallen diese Eckfelder in je zwei Teile, die bei der
Destination verschiedene Fraktioneu ergeben. Und zwar wird als Ruck-
stand in beiden Feldern der reine Stoff abgeschieden; im Destillat
miissen daher die anderen Bestandteile gegen diesen Yermehrt sein, und
dieses gelangt entweder sofort oder nach einigen Wiederholungen der
Destination mit dem iibergegangenen Anteil in das angrenzende zwei-
phasige Feld. Hier tritt die Verschiedenheit der beiden durch die uo-
iiberschreitbare Linie gebildeten Teile des homogenen Feldes ein: der
rechte Teil giebt ein Destillat mit zwei fliissigen Phasen, das dem rechts
angrenzenden zweiphasigen Felde entspricht, und der linke Teil gebt
in das links angrenzende Feld iiber.
Den beiden oberen Punkten a und a, bezw. a' und a des homogenen
Feldes entsprechen also hier nicht konstant siedende Flussigkeiten,
wie dies bei den vollstandig homogenen Gemischen der Fall war, sondem
es handelt sich um gewissermassen zufallige oder fremdartige Be-
grenzungen des Feldes, die durch das Auftreten der zweiten fliissigen
Phase hervorgerufen worden sind.
Wahrend drei von den sechs uniiberschreitbaren Linien wenigstens
teilweise noch in homogenen Gebieten liegen, verlaufen die drei anderen
ganz in heterogenen. Doch finden sie auch dort ihre sachgemasse Deutung.
Chembche Oleicbgewicbte drittei OrdDung.
1049
Betracliteu wir die binare Grenzkurve des Damiifdnickes Cca'A,
so wissen wir aus friihereu Darlegungea (S. 694), Hubs die koiiatante
Zusamiueiisetzutig des Dampfes aus dem heterogenen Gebiet ca' durch
eineD Puokt iiinorhalb des mittlereo Teilu ca' im Gruudriss daiRestellt
wird; es sei dies der Punkt S. Wird nun etwas von dem dritteu StofE
B zugefiigt, so bewegt sich die Zusammuiisetzuiig der fliissigen Phaseii
die Grenzkurveu au und c/ eutlaiig, wahraud die des gemeiusamen
Dampfes sich liings Sz bewegen wird. Dabei wird der Damptpunkt
iiicht etwa in die VerbinduDgeliiiie der beideu Fliissigkeitspuukte fallen,
h
Kig. 277. Fig. 278.
fiondern wegeii des Aufsteigeus der Dampfdruckflacbe hoher hinauf.
Jedenfalls wird aber der Punkt S aaf der Begelfliicbe ca'a/ elne Linie
zuriicklegeii, welcbe Tiir beliebige Fliissigkuitspaare (bis zu eiser ge-
wisseii oboron Grenze) die ZusamoieiisetzuDg des zugehorigea Dampfes
ausdriickt. Setzt man daber zwei flussige Phasen in solchem Verhaltiiis
zusammen, dass die Gesamtzusammeiisetzung eiiieiii Puukte der Linie
yx cntspricht, so wird dies Gemenge wie eine binare Losung destillieren,
iiidcm die Zusummensctzung sowobi des Dampfes, wie aucih des (ge-
Mamteii) Riickstandes auf der Linie Sx verbleibL
n. Chemiache Djoamik.
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnung.
1051
Fig. 283.
C A
Fig. 285.
Fig. 286.
1052 II- Chemische Dynamik.
Es wurde eben angedeutet, da88 nicht alle Fliissigkeitspaare des
Kegelfeldes a'c/a zweiphasige Destillate geben. Von dem Paare ya
kann man mit Sicherheit sagen, dass es ein dreiphasiges geben muss.
Demi die Zusammensetzung seines Dampfes ist dieselbe, wie die der
Paare yi^ und a/?, und da von alien drei Seiten die Dampfdruckflache
gegen das mittlere Dreiphasendreieck ansteigt, so liegt fiir alle drei
Paare die Zusammensetzung des Dampfes iiacb dem Inneren des Drei-
ecks zu. Da ferner jede der Fliissigkeiten a, /3 und y den gleicben
Dampf aussendet, so ergeben alle auf dem Umfange des Dreiocks a/?/
lie^enden B'liissigkeitsgemenge den gleicben Dampf, dessen Zusammen-
setzung durcb X angegeben sei.
Das Verhalten der zweiphasigen Gemenge im Gebiete a'c/a wird
also folgendes sein. Liegt die Gesamtzusammensetzung auf der Liuie
Sx in der Nabe von S, so wird die Zusammensetzung des DestillaU
gleicbfalls auf Sx, nur naber nacli x liegen. 1st die Gesamtzusammen-
setzung der Fliissigkeit mebr und mehr nacb x bin belegen, so riickt
der Dampfpunkt scbneller vorwarts und tritt bei einem bestimmten
Werte in das dreipbasige Feld iiber, wabrend die Bliissigkeit sicb noch
im zweipbasigen befiudet. Ist endlicb der Eliissigkeitspunkt am oberen
Rande des letzteren, so ist der Dampfpunkt in x.
Ist die Fliissigkeit insgesamt anders zusammengesetzt, so dass ihr
Punkt nicht in die Linie Sx fallt, sondern an eine andere Stelle des
Kegelfeldes, so wird dennocb die Zusammensetzung des Dampfes dorch
einen Punkt in Sx dargestellt. Die Folge davon ist, dass wahrend der
Destination eine der beideii fliissigen Phasen verscbwindet, so dass der
Riickstand in eines der bomogenen Folder tritt. Und zwar gelangt er
in das A-Feld, wenn sicb die urspriingliche Zusammensetzung rechts
von Sx bofand, und in das G-Feld, wenn sie sicb links von Sx befand.
Wie man siebt, bleiben die wesentlicbsten Eigentiimlicbkeiten der
uniiberscbreitbaren Linien erbalten, indem jedes Gemenge, welches
einem Puukte einer solcben Linie entspricbt, auch beim wiederholten
Destillieren auf dioser Linie bleibt. Nur zerfallen bier die Gemenge in
inehrere Pbasen, was aber, wie wir gesehen baben, ihr GesamtTerhalten
nicht stort.
66. Das Dreiphasenfeld. Das Verhalten der Gemenge im drei-
phasigen Felde ist noch einfachcr, denn der Dampf hat inmier die Zu-
sammensetzung X. Daraus geht folgendes bervor. Nimmt man die drei
fliissigen Phasen a, j9, / in solchen Mengen, dass die Gesamtzusammen-
setzung X ist, so bleibt beim Destillieren der Punkt in Ruhe und iin
Destillat erscheinen (wenn es bei der Siedetemperatur verfliissigt wird)
ChemiBche Gleichgewichte dritter Ordnung. 1053
die drei Schicbten in gleicher Zusammensetzung a^ j3, y und in gleicbem
Mengenverhaltnis. Liegt die Gesamtzusammensetzung der Fliissigkeiten
auf einer der Linien Rx, Sx, Tx, so legt der Riickstand die ent-
sprechende Linie zuriick; das in der Nahe von x belegene Gemenge ist
aus drei Schicbten gebildet und gebt durch Verlust des Dampfes x die
Linie entlang nach dem Rande zu. Sei xS die Linie, auf der das Ge-
menge liegt, 80 vermindert sich bei der Destination die Phase ff
scbneller, als a und 7, und verschwindet endlich; dann tritt der Ruck-
stand in das zweiphasige Fold, und geht schliesslich nach S, wobei
stets zwei fliissige Phasen nacbbleiben.
Das Destillat ist anfangs dreipbasig und nach x zusammengesetzt.
Doch vermebren sich die beiden Phasen a und 7 scbneller als j3, und
schliesslich bildet der Dampf beim Verfliissigen nur zwei Phasen, deren
Zusammensetzung nicbt mehr konstant ist, sondern sich langs aa' uud
7c andert.
Wahlt man dagegen die Zusammensetzung der Fliissigkeit auf einer
der Linien xA, xB, xC, so tritt folgendes Verhalten ein. Die Zusam-
mensetzung liege auf xA in der Nahe von x. Dann wird wieder das
Destillat nach x zusammengesetzt sein, und der Riickstand schreitet
nacb a. In diesem Augenblicke verschwinden die beiden Phasen fi und
7 im Rtickstande gleichzeitig, und die Zusammensetzung des Dampfes
verlasst den Punkt x. Beim weiteren Destillieren vermindern sich die
beiden Phasen |9 und 7 im Destillat, und an einer bestimmten Stelle
der Linie aA hat das Destillat die Zusammensetzung a und wird ein-
phasig. Weiterhin geht die Destination beiderseits homogeo zu Ende.
Ist endlich die Zusammensetzung der Fliissigkeit durch irgend
einen anderen Punkt des Feldes affy dargestellt, so erfolgt die Destil-
lation als Resultierende der beiden angrenzenden uniiberschreitbaren
Linien. Liegt der Punkt beispielsweise innerhalb atx, so hat das
Destillat die Zusammensetzung x und der Riickstand iiberschreitet
zwischen a und t das ternare Feld, indem die Phase 7 verschwindet.
Von dort ah liefert der Dampf noch einige Zeit die drei Phases a, ^
und 7, aber in stets wechselndem Verhaltnis. Aus dem Destillat ver-
schwindet dann die Phase 7, und es entstehen wechselnde zwcipbnsige
Gemenge langs den Linien aa und /9b'. Hierbei hangt es von der
urspriinglichen Lage des Punktes ab, ob die Grenze aa iiberschritten
wird, so dass der Riickstand und spater auch das Destillat einphasig
werden, oder ob zwei Phasen bis zuletzt bestohen, oder ob endlich der
Riickstand einphasig wird, wahrend der Riickstand zweiphasig bleibt.
Insgesamt erhalt man die eben bescbriebonen Resultate iibersichtlich,
Ostwaldi Chemie. 11,1. 2.Aufl. 67
1054 n. Chemische Dynamik.
wenn man die Feldteilung Fig. 277 auf die Darstellungen Fig. 250
S. 1015 eingetragen denkt, und wahrend des Durcblaufens einer be-
stimmten Riickstandslinie, bezw. bei der Betracbtung eines bestimmten
„Bande8*' auf die Bedeutung der entsprecbenden Felder acbtet.
Es verdient vielleicbt noch erwahnt zu werden, das8 man darch
wiederboltes Destillieren, wenn man die in den Destillaten entstandenen
Scbicbten getrennt behandelt, jedes Gemenge in die drei Bestandteile
A, B, C sondern kann. Dies entspricbt der Tbatsacbe, dass man auch
jedes binare FlUssigkeitsgemenge bei Trennung der Scbicbten in seine
Bestandteile fraktionieren kann.
67. Die anderen FSUe. Wenn die bisber angenommenen binaren
Grenzlinien der Dampfdruckfiacbe vom Typus II, bezw, IV teilweise
Oder ganz durch solche vom Typus I bezw. Ill ersetzt werden, so ent-
steben Gebilde, die in einigen Punkten von den bisber betracbteten
yerschieden sind. Die besonderen Eigentiimlicbkeiten, welcbe bier er-
scbeinen, sollen zunacbst an der Hand der Fig. 287 erortert werden,
welcho den Fall VI V V darstellt. Aucb bier wird die allgemeine Feld-
teilung der Fig. 277 angewendet.
Uber die drei homogenen Eckflacbeu ist nur zu sagen, dass nor
eine von ihnen eine uniiberschreitbare Linie enthalt, namlich die, welche
der Gienzlinie vom Typus II gegeniiberliegt; in Fig. 287 ist es die
Eckflacbe A.
Dagegen treten neuc Verbaltnisse bei den Regelfiacben auf. Die
beiden Flacben aa/3b' und aa'cy sind zwar den friiberen insofem ahn-
licb, als sie gleicbfalls nacb dcm Inneren zu ansteigen; sie unterscheiden
sicb aber von ibnen dadurcb, dass sie seitlicb von einer an- uud einer
abstcigenden bomogenen Flacbe begrenzt sind. Dadurcb verbalten sich
die entsprecbenden Gemenge abnlicb den binaren vom Typus III
(S. 694), in dem jdie Zusammensetzung der Dampfe nicbt inncrhalb
der Zusammensetzung der beiden fliissigen Pbasen liegt, sondern ausser-
balb, und zwar nacb der Seite der ansteigenden Flacbe. In unserem
Falle sendet z. B. jedes Gemenge innerbalb aajSb' Dampfe aus, die
rechls von b'jS (eventuell auch oberhalb bis zur Linie AR) liegen*
Das Destillat wird also jedenfalls nicbt die Pbasen von aa enthalteo,
sondern entweder bomogen in Bbj9b' sein oder zweipbasig in j}bR*).
Wahrend so das Destillat nacb rechts geht, geht der Riickstand
') Ob es dreiphasig in a^y sein kann, mOchte ich nicht entscheiden. Mir
scheint es nicht wahrscheinlich zu sein, da dann die Phase a auftreten mttsste,
doch empfinde ich diesen GruDd nicht als ganz Uberzeagend.
Chemischo GlelchKewichtti drittei OrJnuDg.
1055
b'jS Ter-
Dach links aad geUiigt bald, indem die flilsaige Pha
scbwindet, in das homogene Feld A.
Aucb die RegelBache bc'}-^ zeigt einige neae Eigenschafteo. Da
sie nach inneo abfallt, so hat der Dampf eine mehr zum Rande be'
li^ende ZusammoDi^etzung, die auf der uniiberschreitbaren Liiiie AR
za finden ist, uni der Riickstand bewegt sich nach innen zu. Er mnss
daher scbliesslicb iiber den Rand fiy in das Dreieck affy gelangen.
d. b. wiihrend der Destillation tritt in einem gewissen Stadium zu den
C
Fig. 287.
Fig. 288.
zwei vorhandenen die dritte Phase a auf. Beim weiteren Destillieren
TerBchwiodet dann eine der nrsprlinglichen Phasen, uiid zwar y, wenn
die arsprnngliche ZuBammensetzung rechts voo R lag, uud der Ruck-
stand geht in daa Regelfeld ab'jSa iiber.
Damit ist aucb bereits eine wesentliche Verschiedenheit in dem
Verhalteo des dreiphasigen Fliissigkeitsgemischos gekennzoichuet Wah-
rend man im vorigen Fallc ein Bolcbes von passender Zusammen-
setzung z (S. 1053] zu Ende destillieren konnte, oboe dass sich der
Drack (bezT. die Temperatur) andert, so giebt ee bier kein derartiges
fi7'
1056 U- Chemieche Dynamik.
Gemenge. Denn die ZusammensetzuDg der Dampfe aus dem Gebiete
a^y liegt ausserhalb desselben im Regelfelde bc'/jS auf der Linie AR,
und deshalb muss die Destination den Riickstand notwendig aus deui
mittleren Felde herausfuhren, indem je nach der Lage des Anfangs-
punktes die Phase y oder |9 zuerst verschwindet; spater verscbwindet
auch die andere, nacbdem sie ihre Zusammensetzuu^ entlaog a a odcr
a a' geandert hatte.
Man wird auch hier die grosse Ahnlichkeit dieses Falles mit dem
homogenen Falle Fig. 242, S. 1011 und Fig. 244, S. 1012 nicht ver-
kennen. Alle die geschilderten Eigenschaften riihren daher, dass nur
eine uniiberschreitbare Linie und kein inneres Dampfdruckmaximuoj
vorhanden ist.
68. Die PSlle IV IV IV und IV IV V. Die beiden noch iibrigen
Falle lassen sich an der Hand des oben Dargelegten obne Schwiehg-
keit verstehen. Der Fall IV IV IV ist dadurch gekennzeichnet, dass
er keine uuiiberschreitbare Linie hat. Daher liegt sowohl bei den zwei-
phasigen Fliissigkeitsgemengen wie bei dem dreiphasigen die Zusammen-
setzung ganz ausserhalb des betreffenden Fliissigkeitsfeldes. Bei der
Destination kann daher der Riickstand sowohl aus dem homogenen Zu-
stand in den zwei- und dreiphasigen Ubergehen, wie auch umgekehrt.
Insbesondere konnen die Riickstandslinien so verlaufen, dass diese Ober-
gauge einmal vorwarts, und hernach wieder rtickwarts stattfinden, so
dass man nacheinander 1, 2, 3, 2, 1 Phasen im Riickstande hat Gegen
Ende der Destination wird jedes beliebige Gemenge homogen.
Im Falle IV IV V, Fig. 288, macht die Bestimmung des Verlaufes
der uniiberschreitbaren Linien einige Bedenken. Die unmittelbare Gber-
tragung des Schemas aus Fig. 248, S. 1015 ist nicht angangig, weil sie
im Regelfelde bj3/c' zwei derartige Linien ergeben wiirde, was nicht
moglich erscheint.
69. Naohlese. Wir haben endlich noch s6lche Falle zu unter-
suchen, in denen durch andere Feldteilungen neue Vorgange entstehen.
Ich habe keinen anderen Fall finden konnen, als den S. 1046 er-
wahnten, dass die Grenzkurven einer zweiphasigen Regelflache durch
ein Maximum gehen. Da die Erzeugenden immer horizontal sind, so
geht notwendig die ganze Regelflache gleichzeitig durch ein Maximum,
indem sie einen horizontalen Riicken erhalt. Die Eigenschaften dies^es
Falles sind S. 1046 bereits dargelegt Er wird im aligemeinen nur auf-
treten konnen, wenn das dreiphasige Mittelfeld fehlt und durch eiu
zweiphasiges ersetzt ist, also in den fallen 1, m, n, p, s der Fig. 263,
S. 1032. Auch kann er bei r erscheinen, weun sich das Zweipbasenfeld
Cbemische Gleichgewicbte dritter Ordnung. 1057
weit in das Dreieck hinein erstreckt. Bei p und q ist er unwahr-
scheinlich, weni) auch nicht aasgeschlossen. Eine Dotwendige 6e-
dingung (bei der hier stets eingehaltenen Voraussetzung, dass die Grenz-
kurven bestimmend fur den Cbarakter der Flaohe sind) fiir das Auf-
treten dieses Falies ist, dass wenigstens eine Grenzkurve vom Typus V
vorhanden ist.
70. Ldsliohkeitsvermindening. Neue und wichtige Verhaltnisse
treten wieder ein, wenn man die Stoffe so wahlt, dass ihre Loslich-
keitsverhaltnisse sich an beiden Grenzen befinden. Dann treten statt
einer oder dreier fliissiger Phasen zwei flussige Phasen auf, und
man kann ausserdem zwei Falle unterscbeiden. Nennen wir die beiden
Fliissigkeiten, die sicb nur wenig ineinander losen, A und B, so
kann der dritte StofF G entweder in einem der beiden ersten Stoffe
allein, oder in beiden loslich sein. Dadurch entstehen zwei wesentlich
verschiedene Falle, die beide experimentell untersucht worden sind.
Wir betrachtcn zunachst den ersten Fall.
Die wenig ineinander loslichen Fliissigkeiten A und B werden sich
im Gleichgewicht befinden, wenn A sich in B und B sich in A zu einer
gewissen, geringen Konzentration gelost haben. Dieselbe Konzentration
wird erreicht werden, wenn A und B nicht unmittelbar miteinander in
Beriihrung gebracht worden sind, sondern nur mittelst ihrer Dampfe
verkebren. Es sind daher die Konzentrationen , in welchen die beiden
Stoffe sich im anderen losen, bestimmt durch die Absorptionskoeffizien-
ten der Dampfe des einen Stoffes in dem anderen als dem fliissigen
Losungsmittel.
Nun werde der Stoff C hinzugefugt, welcher sich praktisch nur in
A, nicht in B losen soli. Thatsachlich wird er sich auch in B losen;
wir machen aber die Voraussetzung, dass der Betrag dieser Loslichkeit
so gering ist, dass er vernachlassigt werden kann.
Durch die Auflosung von C in A wird der Dampfdruck von A
entsprechend dem Molenbruch A/(A + C) vermindert, und nach dem
Henryschen Gesetze muss dadurch auch die Konzentration von A in B
in gleichem Verhaltnisse zuriickgehen. Durch Zufugung des dritten
Stoffes C, der nur in A loslich ist, wird die Loslichkeit von A in B in
demselben Masse vermindert, wie der Dampfdruck von A durch Auf-
losen von G vermindert wird. Diese Loslichkeitsverminderung folgt
somit ganz denselben Gesetzen, wie die Dampfdruckverminderung von
A, und kann demnach zur Bestimmung des Molekulargewichts sowohl
von A, wie von C benutzt werden.
1058 IL GhemiBche Dynamik.
Diese Uberlegungen sind zuerst von Nernst') mitgeteilt worden.
71. Szperimentelle PrfUtmgen. Die erfabrungsmassigen Belege
fiir diese Betrachtung und ein aus ihr sich ergebendes Ver£ELhren der
Molekulargewichtsbestimmung wurden von Nernst gleichzeitig mit der
Theorie in der erwahnten Abhandlung mitgeteilt Sie baben noch vor-
laufigen Charakter, geniigen aber, um die Richtigkeit der tbeoretischen
Ablcitung ausser Zweifel zu setzen.
Eine erste Versuchsreihe wurde mit Valeriansaure ausgefiihrt,
welche sich in Wasser zu etwa 5 ^/^ lost. Die Konzentration der wasse-
rigen Losung lasst sich leicht durch acidimetriscbe Titrieriing ermitteln.
Auf die jedesmal herausgenommenen 2 ccm der wasserigen Losang
warden zar Neutralisation 1048 ccm ^/jo-Normalalkali verbraucht. Als
zu dem Gemisch andere Stoffe zugefiigt wurden, die sich vorwiegend in
der Saure und nicbt in Wasser losen, wurden stets geringere Konzen-
trationen erhalten, welche die erwarteten Beziehungen aufwiesen. Die
nachstehende Tabelle lasst diese Ergebnisse ubersehen. Sie enthalt
unter N den Namen des Stoffes, unter M dessen Molekulargewicht»
unter z die Menge desselben in g, welche auf die konstante Menge
4*64 g Valeriansaure und 10 g Wasser verwendet wurden, unter L die
ccm Zehntelalkali, die zur Titration von 2 ccm der wasserigen Losang
gebraucbt warden. Die fiinfte Spalte enthalt die ^Verminderungskon-
stante*' K, deren Berechnung alsbald angegeben werden soil, and die
letzte unter M ber. die aus dem Mittelwert der Verminderungskonstan-
ten berecbneten Molekulargewichte der gelosten Stoffe. Beim Vergleich
der Zahlen der vorigen Spalte untereinander, oder der Werte der letz-
ten Spalte mit denen der zweiten ergiebt sich, wieweit die Theorie mit
dem Versucbe stimmt.
N
M
X
L
K
U\m.
Benzol
78
0*182
9*90
25-2
lb
n
78
0418
9-39
20-9
89
Chloroform
1195
0450
1017
242
118
Menthol
156
0-246
10-11
23-6
161
Eampher
152
0460
10-18
27-9
132
>i
152
0970
8-81
297
123
Xylol
106
0-376
9.76
20-9
122
Stearins&ure
284
0-165
10-84
28-4
291
Die Verminderungskonstante ergiebt sich aus folgenden Uber-
legungen. Das Verhaltnis der Konzentrationen der wasserigen Valerian*
saurelosung vor und nach dem Zusatze, L^zL, ist nach der Theorie
') ZeitBcbr. f. phys. Ghemie 6, 16. 1890.
GhemiBche Gleichgewichte dritter Ordnang. 1059
gleich dem Molenbruch des Losongsmittels in der Valeriansauro, (A -|-«C)/ A.
Daher ist (L^ — L)/L = C/A, gleich dem Verhaltuis der Mole des Zu-
satzes zu denen des Losungsmittels. Nun ist C = x/M uud A = 4*13/102.
Der letztero Ausdruck ergiebt sich daraus, dass von den zu jedem Ver*
such verwendeten 4-64 g Valeriansaure 0*51 g an das Wasser abgegeben
wurden^); 102 ist das Molekulargowicht der Valeriansaure. Setzt man
diese Werte ein, so folgt (L^ — L)/L = 24*5x/M.' Hieraus folgt die
Emiedrigungskonstante theoretisch zu 24-5; ihre Werte, die aus den
einzelnen Versuchen nach K = — ^ • — berechnet worden sind, be-
L X
finden sich in der fiinften Spalte.
Benutzt man den Mittelwert dieser Zahlen, 24, so folgt fiir die
xL
Berechnung der Molekulargewichte die Formel M = 24-= r-, nach
1*0 — ^
welcher die Zahlen M ber. der letzten Spalte erhalten worden sind. Die
Ubereiustimmung ist massig, doch gewahrt die Ubereinstimmuiig der
theoretischen Konstanten mit der empirischen eine hinreichende Gewahr
fiir die allgemeine Richtigkeit der Formel.
Ahnliche Versuche mit Ather und Wasser, wobei als Mass des ge-
losten Athers die Dichte der Losung diente, ergaben ganz ahnliche
Resultate.
Umgekehrt konnen derartige Versuche auch zur Bestimmuug des
Molekulargewichts des Losungsmittels benutzt werden. Doch ist zu be-
achten, dass man nicht das des reinen, sondem des in der zweiten
Fliissigkeit gelosten Losungsmittels erhalt. In dem hier untersuchten
Falle kann man also durch Auflosen bekannter Sto£Ee in der Valerian-
saure, bezw. im Ather die Molekulargewichte der Valeriansaure oder
des Athers in wasseriger Losung finden, und nicht etwa das der reinen
Stoffe. Der Grund ist derselbe, aus welchem man durch Messungen der
Dampfdruckverminderung bei bekanntem gelosten Stofif das Molekular-
gowicht des dampfformigen, nicht des fliissigen Losungsmittels erhalt
and ergiebt sich, wenn man die Ableitung unter diesem Gesichtspunkte
priift, aus den Torausgesetzten Gleichgewichtsbeziehungen.
Im Interesse einer praktischen Verwertung der eben erorterten Gesetz-
massigkeit zu Molekulargewichtsbestimmungen hat zunachst F. Kiister^
als gegenseitig schwerl5sliche Fliissigkeiten Phenol und Kochsalzlosung
') Richtiger Weise ist nicht 0-51 abzuziehen, sondem 0-51 L/L«, da dies der
Betrag der in das Wasser Hbergehenden S&ure ist.
*) Ber. 27, 324. 1894.
1060 II. Chemische Dynamik.
benutzt Die in die letztere Fliissigkeit libergegangene Menge des
Phenols wurde durch Titration bestimmt, indem dieses darch ein an-
gesauertes Gemengo von Natriumbromid und -bromat in Tribromid
iibergefiihrt, und das unverbrauchte Brom durch Jodkalium und Thio-
sulfat gemessen wurde.
Zunachst ergab sich, dass bei grosseren Eonzentrationen die Ver-
minderungskonstante nicht konstant blieb. Wohl aber wurde Konstanz
erzielt., als dem Ausdrucke noch der Faktor V/Vg zugefugt wurde, wo
Vq das urspriingliche Volum des Phenols und V das des Phenols nach
Aufnahme des Losungsmittels bedeutet. Eine theoretische Deutnng fur
diesen Zusatz ist nicht gegeben worden.
Mit Hilfe dieses empirischen Ausdruckos wurde das Molekularge-
wicht des Benzols beispielsweise zu 80-1, 76-8, 74-7, 76-6, 78-1, 75-2,
80-0, 80*1 statt 78 gefunden. Doch traten gelegentlich auch Abwei-
chungeu ein, die viel grosser wareu, und fiir welche sich keine Ei-
klarung finden liess.
In anderer Weise versuchte S. Tollozko^) dasselbe Piinzip fiir
Molekulargewichtsbestimmungen anzuwenden, indem er die Loslichkeits-
anderuug durch die Anderung des Wasservolums bestimmte. Seiii
Apparat bestand in einem Kolbchen mit langem, eingeteiltem Haise,
dessen Temperatur durch ein grosses Wasserbad konstant erbalten
wurde. Es wurde mit Wasser und daruber mit Ather so geflillt, dass
iiach eingetretenem Gleichgewicht (das durch Schiitteln im Bade unter
Mitwirkung einer im Kolbchen befindiichen Quecksilbermenge erreicfat
wurde) die Trenuungsflache zwischen Ather und Wasser im eingeteilten
Gebiete des Ualses erschieu. Dann wurde der zu untersuchende Stoff
dem Ather zugefiigt, und von neuem geschuttelt. Dadurch trat aus der
wasserigen Losuug ein Teil des Athers in den oberen Anteil uber, und
die Tronnungsfiache der beiden Fliissigkeiten wanderte nach unten.
Werden bei den verschiedenen Versuchen stets dieselben Mengen Ather
und Wasser verwendet, so ist die Verschiebung der zugefiigten Molen-
menge unmittelbar proportional, und hat man die Koustante fur ein
Mol bestimmt, so kann man umgekehrt aus der beobachteten Verschie-
bung die Molenmeuge, und bei bekanntem Gewicht auch das Mole-
kulargewicht des eingetragenen Sto£fes bestimmen.
Bei der theoretischen Berechuung ist hier noch eine Verbessening
angebracht worden, die in der Beriicksichtigung der Loslichkeit dee
Wasseis in Ather liegt. Dadurch wird die Molenzahl in der entstehen-
') ZeiUchr. f. phys. Ghemie 20, 389. 1896.
Chemisclie Gleichgewichte dritter Ordnung. 1061
den Losung grosser, als bei alleimger Berucksichtigung des vorhandenen
Athers, and der Molenbnich wird in demselben Verhaltnisse kleiner.
Durch diesen Umstand fallt also die Losungsverininderung kleiner aus,
als sie nach der einfacheren Formel sollte. Statt der Gleichung
(Lo — L)/L = C/A haben wir zu schreiben =C/(A + a), wo a die vom
Ather aufgenommeue Wassermenge in Molen ist. Der Betrag ist bei
dem kleinen Molekulargewicht des Wassers trotz der geringen Loslich-
keit des Wasers in Ather nicht unbedeutend; er ist Ton der Temperatur
abhangig und schwankt um 0*1 Mol.
Bei dem Vergleicfa der fttr bestimmte Verhaltnisse berechneten
„molekularen Verschiebung" mit dem theoretisch erforderten Werte er-
gab sich der letztere zu 585» wahrend der Mittelwert der empirischen
Messungen dieser Konstanten 555 betragt. Die Ursache dieses immer-
bin betrachtliohen Unterscfaiedes ist nicht aufgeklart worden.
Die Ergebnisse der Molekulargewichtsbestimmungen nach diesem
Verfahren unter Benutzung eines Kolbchens von 150 ccm und einer
Teilung in 0*5 ccm zeigen^ dass man auf eine Genauigkeit von +5^/^
im Mittel rechnen kann; doch sind Abweichungen bis 10^/^ auch bei
,,normalen*' Versuchen vorhanden. Einzelne Stoffe zeigten viel grossere
Abweichungen, die teils auf Veranderlichkeit der Molekulargrossen, teils
auf Nichterfullung der Voraussetzungen, insbesondere der Unloslichkeit
in Wasser zuriickzufuhren sind.
72. IJmgekebrte Iidalichkeitabeeinfiusaung. In dem eben be-
trachteten Fallo wurde die Verminderung untersucht, welche die Los-
lichkeit einer FlUssigkeit erfahrt, wenn sie selbst fremde Sto£fe auflost.
Es tritt aber auch eine Loslicbkeitsbeeinflussung ein, wenn dem Lo«
sungsmittel ein dritter Stoff zugesetzt wird, welcher nicht in die zu
losende Fliissigkeit iibergeht. Dieser Fall schliesst sich im wesentlichen
der S. 970 botrachteten Beeinflussung der Gasloslichkeit durch die An-
wosenheit fremder Stoffe im Losungsmittel an und folgt ahnlichen Ge-
setzen. Da indessen der Zusatz nie vollkommen unloslicb in der zu
losenden FlUssigkeit ist, und nach den eben beschriebenen Verhaltnissen
auch auf den Gehalt des Losuugsmittels in der anderen Fliissigkeit
eiuen verminderndeu Einfluss iibt, so entstehen etwas verwickeltere Ver-
haltnisse als sie bei der Losung von Gasen und den spater zu er-
wahuenden festen Stoffen vorhanden sind.
Ein Fall, in welchem diese Nachteile moglichst vermieden worden
sind, ist von Euler^) untersucht worden; es wurde die Loslichkeit von
M Zeitschr. f phys. Chemie 31. 360. 1899.
1062 11. Chemische Dynamik.
Athylacetat in Wasser and wa88erigen Salzlosungen bestimmt Wasser
geht allerdings in nicht uiibedeutender Menge in den Ester iiber« da-
gegen die Salze fast gar nicht. Dadurch nimmt beim Gleichgewicht
der Ester fast die gleiche Menge Wasser auf, and als Storung bleibt
nur dessen Loslichkeitsverminderung durch das zugesetzte Salz iibrig.
Eine Korrektur hierfiir wurde nicht angebracht.
Die Analyse erfolgte durch Verseifen mit iiberschfissigem Alkali
und Messung der neutralisierten Menge mit Normalsaure. Die Berech-
nung der relati?en aquiyalenten Loslichkeitsemiedrigung (S. 970) zeigt,
dass dieser Koeffizient, statt wie in den friiheren Fallen konstant zu
bleiben, mit steigender Verdiinnung zunimmt. Ob dies von den eben
erwahnten sekandaren Wirkungen herriihrt, kann nicht entschieden
werden, da die erforderlichen Messungen der Loslichkeit des Wassers
in Athylacetat nicht gemacht sind; der Sinn der Abweichung wiirde
mit einer solchen Annahme stimmen.
Vergleicht man diese Ergebnisse mit den bei Gasen erhalteuen,
so findet man eine ziemlich weitgehende Obereinstimmung. Diese
bleibt auch bestchen, wenn man an Stelle der Fliissigkeit einen festen
Stoff zur Sattigung auflost. An entsprechender Stelle wird der Ver-
gleich aller in dieser Richtung erhaltenen Ergebnisse durcbgefuhrt
werden.
73. Gleiohzeitige Iidsliohkeit. Geben wir die Voraussetzung auf,
daibs der zugesetzte Stoff in der zweiten Fliissigkeit unloslich ist, so ge-
langen wir uber den yerwickelteren mittleren Fall der teilweisen Los-
lichkeit wieder zu einem einfachen Grenzfall: dass sich dieser Stoff in
beiden Fliissigkeiten frei losen kann. Auch hier stellen sich wieder
einfache Beziehungen ein, welche wichtige theoretische und praktische
Anwendung gefunden haben.
Die hier auftretende Erscheinung besteht darin, dass sich der
dritte Stoff in den beiden anderen Fliissigkeiten (die sich nach der
Voraussetzung nicht merklich mischen) verteilt, d. h. dass sich in
beiden Fliissigkeiten bestimmte Mengen des dritten Stoffes ansanuneln
werden. Das Gesetz, nach welchem die Verteilung erfolgt, ist lange
▼or der Aufstellung der allgemeinen Theorie von Berthelot und Jung-
fleisch durch den Versuch gefunden worden^), und lautet dahin, dass
die Konzentrationen des dritten Stoffes in den beiden Lo-
sungen in einem konstanten Verhaltnis stehen.
Dies Verhaltnis ist unabhangig von dem absoluten Betrage der
<) Add. Chim. Phys. (4) 26, 417. 1872.
Chemische Oleichgewichte dritter Ordnung. 1063
beiden Koiizentrationen and auch unabhangig von den absoluten und
relativen Mengen der beiden fliissigen Phasen. Es hangt dagegen Yon
der Natur der beteiligten Stoffe ab, und ist ausserdem eine Funktion
der Temperatur. Auch vom Drucke muss es, theoretisch gesprochen,
abhangig sein; doch ist wegen der sefar kleinen Volumanderungen bei
diesen Losungsvorgangen der Einfluss des Druckes sicher so gering,
dass er unter gowohnlichen Umstanden keinen irgend messbaren Betrag
erreicht. Versuche ihn nacbzuweisen, sind noch nicht angestellt worden.
Man kann dieses Gesetz als einen besonderen Fall des Henryschen
Gesetzes ansehen, wenn der geloste Stoff eine Gasphase bildet. Dann
besteht Gleichgewicht zwischen dem Gase und dem ersten Losungs-
mittel, nachdem dieses das Gas zu einer einem bestimmten Drucke pro-
portionalen Konzentration gelost hat. Dasselbe gilt fur das zweite Lo-
sungsmittel. Wenn also beide Flussigkeiten ausser Beriihrung miteinander
sich ins Gleichgewicht mit dem Gase setzen, miissen ihre Eonzentra-
tionen auch untereinander proportional sein. Die Frage, ob sie auch
proportional bleiben, wenn man beide Losungsmittel miteinander in Be-
riihrung setzt, ist mit Ja zu beantworten, denn was auf eine Weise im
Gleichgewicht ist, muss es auf alle Weise sein. Man konnte mit anderen
Worten ein Perpetuum mobile zweiter Art herstellen, wenn diese Be-
ziehung nicht stattfande. Voraussetzung ist dabei, dass die beiden
Losungsmittel einander nicht beeinflussen.
Der Teilungskoeffizient des Stoffes zwischen den beiden Losungs-
mitteln ergiebt sich auf Grund der eben angestellten Betrachtungen
gleich dem Verhaltnis der beiden Absorptionskoeffizienten des gas-
formigeu gelosten Sto£Ees.
Angesichts der Analogic zwischen Losungen und Gasen kann man
den vorliegenden Fall geradezu auch als unmittelbare Analogic des
Henryschen Gesetzes betrachten, indem eines der beiden Losungsmittel
die RoUe des Gasraumes spielt. Nur ist dabei zu beachten, was in
Bezug auf diese Analogic schon friiher bemerkt worden ist: die Kon-
zentrationen im Losungsmittel sind kein unmittelbares Mass der wirk-
samen Menge, sondern werden dies erst nach Multiplikation mit einem
bestimmten Faktor, welcher yon der Natur des gelosten Sto£fes und des
Losungsmittels abhangt.
Die Frage, ob die hier fiir einen gasformigen Stoff entwickelten
Beziehungen auch fiir andere nicht gasformige gelten werden, muss mit
Ja beantwortet werden. Auch solche haben einen endlichen, wenn auch
sehr geringen Dampfdruck und soweit iiberhaupt die Gasgesetze auf
diese Dampfe anwendbar sind, gelten auch jene Bezichungon. Es ist dies
1064 n. Ghemische Dynamik.
dieselbe Frage» wie die nach der unteren Grenze des Gesetzes der
Massenwirkung. Es ist bisher noch kein Fall bekannt geworden, welcher
daraaf hinged eutet hatte, dass bei sehr geringeo Konzentrationen das
Massenwirkungsgesetz eine Abanderung erleiden miisse. Im Gegenteil,
es baben ausserordentlich weitgehende Anwendungen dieses Gesetzes
nach der Seite der kleinen Konzentrationen, insbesondere im elektro-
chemischen Gebiete stattgefunden , und die immer eingetretene Ober-
einstimmung zwischen Beobachtung and Rechnung lasst eine Ausdeh-
nung des Gesetzes in dieser Richtung als zur Zeit ganz unbedenklich
erscheinen').
74. Belege. Das Beobacfatungsmaterial, auf welches Berthelot and
Jungfleisch ihr Gesetz begriindet haben, ist nicht sehr umfassend, und
auch vom gegenwartigen Standpunkte darchaus nicht einwandfrei. Deno
sie haben meist mit organischen Sauren in Wasser und einem anderen
Losungsmittel, fast nur Atber gearbeitet. Diese Sauren sind aber in
wasseriger Losung durchaus keine einheitlichen Stoffe, sondem je nach
der Verdiinnung mehr oder weniger in ihre lonen dissociiert Da die
lonen nicht messbar in den Ather tibergehen, so teilt sich nicht die
gesamte Sauremenge, sondern nur der nicbtdissociierte Anteil, ond
dieser ist mit der Verdiinnung wechselnd.
Dass aber auch in solchen Fallen das Gesetz gtiltig ist, wenn nur
die Konzentrationen aller gegenwartigen Sto£Parten, ob Verbindangeo
oder Dissociationsprodukte in Botracbt gezogen werden und fur jede
von ihnen das Teilungsgesetz besonders angesetzt werden muss, hat
Nernst ausgesprocheu') und experimontell erwiesen'). Wir betrachten
erst die einfacheren und dann die verwickelteren Falle.
Was zunachst die Priifung des einfachen Verteilungsgesctzes an-
langt, so liegen die sorgfaltigsten Messungen hieriiber yon A. Jakowkin^)
^) Es ist gelegentlich (z. B von Lehfeld, Zeitschr. f. phys. Chemie 32, 360. 1900*
darauf hiogewiesen worden, dass bei solchen Anwendungen die von der Moleku-
larhypothese gezogenen Grenzen fQr die Stoffmengen welt unterschritten worden
seien, indem in den errechneten geringen Konzentrationen nur Brachteile tod
Mplekeln auf erhebliche Flttssigkeitsmengen k&men. Dieser Einwand itt ganx
beianglos; denn abgesehen, dass er thats&chlich nur ein Einwand gegen die
Brauchbarkeit der Molekularfaypothese w&re^ kann man auch auf dem Boden der-
seiben Betrachtungen anstellen (vergl. II, 1, 88 1\ welche die Yereinbarkeit jener
Hypothese mit der Thatsache zeigen, dass das Massenwirkungsgcsetz his zo »o
kleinen Konzentrationen noch als gdltig befunden worden ist.
*) Zeitschr. f. phys. Chemie 6, 86. 1890.
") Zeitschr. f. phys. Chemie 8, 110. 1891.
') Zeitschr. f. phys. Chemie 18, 585. 1895.
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnung. 1065
vor, der eine solche zum Zwecke aDalytischer Verwendung derselben
fur das Studium von Gleichgewichtserscheinungen darchfuhrte. Es ergab
sich, dass fur Jod und Brom in wasserigcn Losungen Tetrachlormethan
die besten Resultato gab. Bei 25^ wurden fiir Jod in Wasser folgende
Teilungskoeffizienten erhalten:
Konzentr. in Wasser
in CCl,
Verh&Itnis
02913
25-61
87-91
04934
16-54
85-51
0-1276
10-88
85-30
00818
6-966
85-13
00516
4-412
85-77
Bis auf die erste Zahl stimmen die Koeffizienten Torziiglich. In
anderen Losungsmitteln war das Verhaltnis weniger konstant. So ergab
Schwefelkohlenstoff bei 25^ for die Konzentrationen von 0-257 bis 0*0518
in Wasser den Koeffizienten von 652 bis 586 abnehmend; Bromoform
zwischen ungefahr denselben Grenzen 528 bis 429.
Noch weniger konstant sind die Werte fiir Brom. Schwefelkohlen-
stoff gab bei Bromgehalten in Wasser yon 7*5 bis 0*50 Koeffizienten
von 91-7 bis 78-4; Bromoform fiir 5-4 bis 0-37 Bromgehalt 68-9 bis
64-9, Tetrachlormethan fur 144 bis 0-25 Gehalt 378 bis 27-0. In
alien Fallen nimmt also der Koeffizient mit steigender Verdiinnung ab,
d. h. das Halogen wird in Wasser relativ loslicher. Ob dies von einer
Polymerisierung in den konzentrierteren Losungen mit organischem Lo-
sungsmittel herriihrt, oder von einer chemischen Reaktion des Halogens
mit Wasser, ist nicht ausgemacht worden.
75. Verwiokeltere F£Ule. Andererseits hat Nernst, um den allge-
meineren Fall zu eilautern, solche Losungsmittel gewahlt, in denen der
geloste Stoff verschiedene Zustande hat. Ein solcher Fall ist Essig-
sauro in Benzol und Wasser. In ersterem ist sie zum grossten Teile
bimolekular, im Wasser dagegen monomolekular. Genauer gesagt be-
steht in beiden Losungsmitteln zwischen beiden Formen chemisches
Gleichgewicht; nur haben die Koeffizienten solche Werte, dass im ersten
Fallo die eine, im anderen Falle die andere Form weit Uberwiegt.
Sei nun die Konzentration der gesamten Essigsaure im Benzol q und
X die der bimolekularen, so lautet die Gleichgewichtsgleichung
kiX = (Ci — x)»
und entsprcchend fiir die wasserige Losung
ki(c, — y) = y*,
wo y die bimolekulare Essigsaure in Wasser bedeutet. Nach dem
1066 U. Ghemische Dynamik.
Teilungssatz muss — ^— = const, und — = const, sein. Ist z
^ y y
klein gegen Cj und y gegen c^, so wird Cj'/c^ = const.
In Worten lautet die Cberlegung: Das Konzentrationsverhaltnis der
bimolekularen Saure muss in beiden Losungen konstant sein. Da in
der wasserigen Losung die sehr geringe vorbandene Menge der bimole-
kularen Saure der Quadratwurzel aus der Konzentration der monomole-
kularen, oder nahezu der gesamten Saure proportional ist, so mu83 das
Verbal tnis der Konzentration im Benzol zur Quadratwurzel aus der
Konzentration in Wasser konstant sein, oder das Quadrat der ersten
muss proportional der ersten Potenz der zweiten Konzentration sein^).
Zur Priifung dieser Beziebung ermittelte Nemst') die Konzentration
der in das Benzol iibergehenden Essigsaure aus der Gefrierpuoktser-
niedrigung der Losung, indem er gewogene Mengen Benzol und Wasser
in den Beckmaimschen Apparat brachte, den Gefrierpunkt des Benzols
bestimmte, und nun bekannte Essigsauremengen zusetzte und von neaem
die Erstarrungstemperatur mass. Die Konzentration der Esssigsaure in
Wasser ergab sich aus der Dififerenz. So wurde folgende Tabelle er-
balten:
0043 0-245 57 140
0071 0-314 44 1-39
0094 0-375 4-0 1-49
0-149 0-500 3.4 1-67
Wabrend c^/Cj you 5*7 auf 34 abnimmt, ist c,'/C| yiel konstanter
und steigt nur bei der grossten Konzentration etwas an.
Eine entsprecbende Versuchsreibe mit Pbenol gab:
Cl
Ca
Cf/Cx
C,VCt
0-017
0-038
224
0085
0-051
0077
151
0116
0423
0-159
1.30
0-205
0327
0-253
0-77
0*196
0-75
0-39
052
0-203
Hier ist die Konstanz des Ausdruckes C2'/C| nur bei grossereo
Konzentrationen von 0-12 bis 0-75 vorbanden; bei geringeren werdoi
^) Auf die elektroJytische Dissociation der EsBigs&are in der w&sserigen L6-
sung ist wegen ihres nicht grossen Betrages keine RQcksicht genommen wordes.
Grunds&tzlich macht die EinfQhrung dieses weiteren Qleichgewichts in den Aosatt
keine Schwierigkeiten.
•)) Zeitschr. f. phys. Chemie 8, 110. 1891.
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnung. 1067
die Quotienten erheblich kleiner. Dies riibrt daber, dass, wie auch aus
den kryoskopischen Messungen Beckmanns hervorgeht, Pbenol in Benzol
bei geriDgerer Konzentration zwar zum grosseren Teil bimolekular ist,
jedoch erbeblicbe Spaltung erkennen lasst Sogar eine annahernde
Giiltigkeit des Maseenwirkungsgesetzes fiir dieseii Vorgang konnte nach-
gewiesen werden.
Weitere von Nernst untersuchte Falle, bei denen elektrolytische
Dissociation in Fiage kommt, konnen erst an spaterer Stelle mitgeteilt
werden.
Oleichgewichte mit festen Phasen.
76. Feste Fbasen. Das Auftreten fester Pbasen ergiebt wie immer
im Gegensatze zu den fliissiger Pbasen einfacbere Verbaltnisse, welche
durcb die Unveranderlicbkeit ibrer Zusammensetzung bedingt sind.
Von den obwaltenden Verbaltnissen eriangen wir an der Hand des
Pbasengesetzes eine erste, allgemeine Auskunft Eine feste Pbase neben
Fliissigkeit und Dampf lasst nocb zwei Freibeiten iibrig. Verfiigt man
durcb die Temperatur iiber eine von ibnen, so bleibt eine einfache
Mannigfaltigkeit von Zusammensetzungen iibrig, welcbe Gleicbge-
wichte Oder Sattigung mit dem festen Stoffe ergeben. Anf unserem
Dreiecksfelde wird daber eine Linie gezogen werden konnen, welcbe die
unendlicb vielen Losungen angiebt, welcbe jede in Bezug auf den festen
Stoff bei bestimmter Temperatur gesattigt sind. Verzichtet man auf die
Daropipbase, so ergiebt die so erbaltene Freibeit eine (geringe) Ver-
scbiebbarkeit dieser Linie mit dem Druck in solcbem Sinne, dass bei
hoberem Drucke das Gebilde mit dem kleineren Gesamtvolum entstebt.
Treten zwei fliissige Pbasen auf, so bleibt nur ein Sattigungspunkt
an Stelle der Sattigungslinie iibrig, der mit der Temperatur verander-
lich ist. Mit dieser verandert sicb dann aucb das Verbaltnis aller drei
Bestandteile in den beiden Fliissigkeiten. Drei fliissige Pbasen und
Dampf konnen neben einer festen Pbase nur bei einer bestimmten
Temperatur im Gleicbgewicbt sein, da das Gebilde non variant ist.
Bleibt der Dampf fort, so entstebt eine (geringe) Veranderlicbkeit dieses
Punktes mit dem Druck.
Zwei feste Stoffe zeigen gegeniiber einer Fliissigkoitspbase einen
mit der Temperatur veranderlicben Sattigungspunkt, wabrend sie mit
zwei flUssigen Pbasen und Dampf einen nonvariantcn Punkt ergeben.
Drei feste Stoffe bilden bereits mit einer Fliissigkeit und Dampf
einen nonvarianten Punkt, obne Dampf einen wenig veranderlicben.
1068 II* Ghemische Dynamik.
Diese Beziehungen golten wie alle uDmittelbaren Folgeningen aus
dem Phasengesetz anabhangig davon, ob zwischen den drei Bdstand-
teilen chemischc Vorgaoge stattfinden oder nicht, und ob die festen
Phasen Bestandteile oder Verbindungen sind.
EingeheDdere Schliisse lassen sich aus Betrachtungen zieben, welche
sich aaf die Flache der chemischen Energio oder die g-Flacbe stiitzeiL
77. Feste Phasen an der Fl&che der ohemisohen Bneigie. Die
Behandlung der Falle, in denen feste Phasen bei den Gleichgewichten
zwischen drei Bestandteilen auftreten, schliesst sich ganz der an, welche
in dem einfacheren Falle des Gleichgewichts zweier Bestandteile (S. 285)
stattgefunden hatte. Die chemische Energie fester Phasen wird durch
einen Punkt im Raume dargestellt, dessen Ordinate in dem Punkte des
Grundrisses errichtet wird, der die Zusammensetzung des festen Stoffes
angiebt. So liegen die Punkte fiir die festen Bestandteile A, B und
C in den drei Kanten des Prismas; Verbindungen aus zwei Be-
standteilen kommen in die Seitenflachen zu liegen, solche aus drei
Bestandteilen finden sich im Raume des Prismas. Diese Punkte liogen
fiir alle Temperaturen unterhalb des Schmelzpunkts niedriger, als der
entsprechende Punkt der Fliissigkeitsflache; beim Schmelzpunkt fallen
beide zusammen, und oberhalb des Schmelzpunktes wiirde die chemische
Energie der festen Form grosser sein, als die der fliissigen.
Legt man von dem Punkte einer festen Form eine Tangcnte an
die Fliissigkeitsflache, so stellt der Beriihrungspunkt die Zusammen-
setzung einer Fliissigkeit dar, die mit dieser fe&ten Form im Glcich-
gewicfat ist. Alle Punkte auf der Fliissigkeitsflache, die durch eine
Tangente vom Punkte des festen Korpers erreicht werden konnen, baben
diese Eigenschaft; es wird dahcr im allgemeinen eine unbegrenzte Anzahl
verschiedener Zusammensetzungen fiir die Fliissigkeiten geben, die mit der
festen Phase im Gleichgewicht sind. Die Gesamtheit solcher Tangenten
bildet einen Kegel, in dessen Scheitel der Punkt des festen Korpers
liegt, und die Beriihrungspunkte auf der Fliissigkeitsflache bilden eine
stetige Kurve, die Grenzkurve, deren Projektion im Grundriss die
Zusammensetzung aller dieser fiir den festen Stoff gesattigten Fliissig-
keiten darstellt, Fig. 289.
Mit den zweiphasigen Gleichgewichten, bei denen zwei Fliissigkeiten
vorhanden sind, haben die hier beschriebenen zwischen Fliissigkeit und
festem Stoff die Ahnlichkeit, dass auch die hier entstehenden Flachen
sich ohne Verzerrung ebnen lassen, also Regelflachen sind. Sie unter-
scheiden sich darin, dass nicht je zwei Punkte auf zwei Grenzkur?en ein-
ander paarweise entsprechen, sondern dass nur eine Grenzkurve vorhanden
Chemische Gleichgewichte dritter Ordoung.
1069
ist, und alle Punkte derselben einem uad demselben zweiten Puukte,
dem des festen Stoffes zugeordnet sind, sie siud also Kegel. Die eine
Form geht also in die andere darch ZusammeDziehung der einen GreDZ-
kurye in einen Punkt Uber: dies ist der geometrische Ausdruck fur
die unverauderliche Zusammensetzung der festen Phase.
Solange die Fliissigkeitsfiache stetig ist, bleibt der Kegel zusammen-
hangend. Wenu sich aber Falten in der Flache bilden und demont-
sprechend zwei oder drei fliissige Phasen auftreten, so erleidet der
Kegel Unterbrecbungen und beginnt erst wieder dort, wo die stetige
Flache einer bomogenen Fliissigkeit von der Tangente erreicht
werden kann. Dies kann mehr als ein-
mal geschehen; alle die so entstehenden
Kegel gehoren grundsatzlich zusammen,
und die Torhandonen Unterbrecbungen
riihren von dem Zwischentreten unstabiler
Zustande her. Sie treten daher nur auf,
wenn mehrere fliissige Phasen sich bilden
konnen.
Ferner ergeben sich verschiedene Falle,
jo nachdem der feste Stoff einer der Be-
standteile eine binare oder eine ternare
Verbindung ist. Der in einer Prismen-
kante liegende Punkt eines Bestandteils
ergiebt einen Kegel, dessen Grundriss hoch-
stens 60® umfasst. Da der Punkt fiir eine
binare Verbindung auf einer Dreiecksseite^^
liegt, so kann man yon ihm aus eine
Kegelflache an die g-Flache legen, deren
Erzeugende im Grundriss einen Winkel von
180® umfasst Eine ternare feste Ver-
bindung endlich ergiebt (soweit nicht andere Verhaltnisse dazwischen-
treten) einen geschlossenen Kegel von 360®. Fig, 290 und 291 stellen
die entsprechenden Verhaltnisse an der g-Fiache dar.J
Experimentell ergeben die Figureu folgende naheliegenden Satze.
Sei im ersten Falle A der feste Bestandteil, so wandelt ihn der Zusatz
von B oder C in eine (gesattigte oder ungesattigte) binare Losung um,
wahrend eine ternare erst durch glcichzeitigen Zusatz beider anderer
Bestandteile entstuht. Eine feste Verbindung AB wird durch den Be-
sLandteil A oder B in eine binare, durch C in eine ternare Losung
OstwRld, Cbemie. 11,1. 2.Aufl. $8
Fig. 289.
1070
II. Ghemiflche Dynamik.
iibergefubrt. Eine feste VerbioduDg ABC endlich wird durch jedeii
Bestandteil in eine teroare Losung yerwandelt
Diese Satze dienen dazu, urn die Ezistenz bestimmter Verbinduogen
nacbzuweisen, welche mit fliissigen Schmelzen im Gleichgewicbt sein
Oder sich aus ibnen beim Abkiihlen ansscbeiden konnen. Fiir binare
Verbindungen ist dieser Punkt bereits (vergl. S. 813) erledigt; der Fall
ternarer Verbindungen ist jenem ganz analog. Denkt man Bich namlicb
die Temperatur erboht, so riickt der Ponkt der festen Verbindung der
fliissigen Oberflacbe immer naher, die Beriihrungslinie dos Kegels wird
Fig. 290.
immer enger und zieht sich schliesslich in den Punkt zusammen, welcher
die cbemische Eneigie der festen Veibirdung darstellt. Die Tempera-
tur, bei welcher dies eintritt, ist der Schmelzpunkt der ternaren Ver-
bindung, und gloichzeitig die hochste Temperatur, bei welcher noch die
feste Phase bestehen kann. Wird bei dieser Temperatur za der festen
Verbindung etwas von einem der Bestandteile (oder ein Gemeoge der-
selben, dessen Zusanimensetzung von der der Verbindung verschieden
ist) gesetzt, so wird die Masse fliissig, und zwar bei um so niedrigerer
Chemische Gleichgewlchte dritter Ordnung. 1071
Temperatur, je mehr die Gesamtzusammensetzung des Gebildes Yon der
der Verbindung abweicht.
Bestimmt man umgekehrt die Sohmelzpuukte yerschiedener Ge-
menge, und sucht die Zusammensetzung auf, welche dem hochsten ent-
spricfat, so iet dadorch die Zusammensetzung der Verbindung festgestelit^).
78. Beobachtungen. Einen solchen Fall haben Roozeboom und
Scbreinemakers *) beispielsweise an| der Verbindung von Eisenchlorid
und Chlorwasserstoflf, FeCl3.4H,0.HCl beobachtet, welche bei — 3®
schmilzt, und deren Scbmelzpunkt durch irgend welche Zusatze von
Eisenchlorid, Wasser oder Chlorwasserstoff immer herabgedriickt wird.
Ausserdem sind Untersuchungen iiber die Loslichkeit fester Stoffe
in gemischten Losungsmittein friiher nur wenige ausgefiihrt, und diese
meist mit dem ungeeignetstcn Material zur Auffindung allgemeiner Be-
ziehungen: mit Salzen in wasserig-alkoholischen Losungen. An friiherer
Stelle (I, 1081) sind die vorhandenen Arbeiten liber diesen Gegenstand
zusammengestellt, aus denen sich allgemeines kaum entnehmen lasst.
Sucht man nach Gesichtspunkten, die Andeutungen iiber die Be-
schaffenheit der hier zu erwartenden Beziehungen geben konnten, so
hat man zunachst die Erfahrungen iiber die Loslichkeit von Gasen in
Fliissigkeitsgemischen (S. 967) heranzuziehcn. Feste Stoffe yerhalten *
sich in der hier in Betracht kommcnden Beziehung wie Gase bei ge-
gebenem Drucke, denn sie sind Phasen von konstanter wirksamer Menge.
Es werden also fur die Loslichkeiten fester Stoffe ahnliche Bezieh-
ungen zu erwarten sein, wie sie fur die Absorptionskoeffizientcn der
Gase sich ergeben batten.
Hier ist zuerst die ziemlich haufige Thatsache zu erwahnen, dass
durch Vermischung zweier Stoffe die Loslichkeit geringer wird, als die
proportionale Summe der beiden Einzelwirkungen betragt. Die experi-
mentelle Bestatigung dieses Satzes liegt in der Erscheinung des Aus-
fallens eines gelosten Stoffes durch den Zusatz einer anderen Fliissig-
keit. Behiolte jede Fliissigkeit ihre Losefahigkeit nach Massgabe ihrer
Menge genau bei, so miisste durch die Vermischung zweier gesattigter
Losungen aus yerschiedenen Losungsmittein wieder eine gesattigte Lo-
sung erhalten werden. Dies gilt auch fUr den Grenzfall, dass die eine
Fliissigkeit den festen Stoff (praktisch) gar nicht lost.
*) Dies gilt nar fQr den Fall, dass die Verbindung freiwillig aus der Schmelze
entsteht Urn in dieser Beziehung sicher zu sein, ist es am besten, eine Spur der
Yerbindang im festen Zustande der Schmelze zuzufftgen.
>) Zeitschr. f. phys. Ghemie 15, 608. 1894.
68*
1072 11- GhemiBche Dynamik.
Die Haufigkeit solcher Vorgange der Ausfallung zeigt^ dass dieser
Sinn der gegenseitigen Beeinflussung die Regel ist. Damit ist natiirlich
die entgegengesetzte Moglichkeit nicht ausgeschlossen, wie denn auch
Angaben iiber Vermehrung der Loslichkeit von Stoffen durch die Gegen-
wart dritter in der Losung vielfach anzutreffen sind, und una auch
spater begegnen werden.
Auf einen anderen Punkt, der durch die Erfahrungen bei der Los-
lichkeit der Gase nahegelegt ist, ist bei einer Untersuchung dieser
Frage besonders Riicksicht zu nehmen. Es hat sich dort (S. 974)
herausgestellt, dass die Veranderung der Losefahigkeit in erster Lioie
7on der Natur der gemischten Losungsmittel abhangig ist, und erst in
zweiter von der Natur des gelosten Stoffes. Es ware also zu priifen,
ob die relative Aiiderung der Loslichkeit bei Veranderung des gelosten
Stofifes wesentlich die gleiche bliebe, oder ob, mit anderen Worten, die
Losungslinien yerschiedener Stoffe in Gemischen derselben Losungsmittel
proportional verlaufen *).
Diese Fragen sind in neuerer Zcit durch V. Rothmund') experi-
mentell bearbeitet worden. Als zu losender fester Stoff diente Phenyl-
thioharnstoff, welcher in Wasser geniigend schwerloslich ist, am Ver-
wickelungen durch zu grosse Konzentration der Losungen auszuschliessen;
auch lasst er sich durch Entschwefeln mit ammoniakalischer Silberlosung,
die in gemessener Menge benutzt wird, genau messen.
Es ergab sich, dass fast alle zugesetzten Saize die Loslichkeit dieses
Stoffes vermindern. Nur Barjumnitrat und noch starker Ammonium-
nitrat wirken Yermehrend, wahrend Lithiumnitrat die Loslichkeit unver-
andert lasst. Sei Ig die Loslichkeit in reinem Wasser, 1 die in der
Salzlosung, deren Aquivalentgehalt im Liter durch n bezeichnet sei, so
ist (Iq — l)/nlo die relative aquivalente Loslichkeitserniedrigung, die ein
Mass fiir den Einfluss des aufgelosten Salzes bildet. Die nachsteheode
Trtbelle giebt die beobachteten Werte wieder.
n = l
n«V.
n«V4
n-V,
Mittel
V, K,SO,
037
041
0-42
0-40
0«39
V, Na,SO,
041
0-44
046
0-43
042
V, (NH,),SO,
028
0-31
032
025
0-30
V, MgSO,
032
034
033
031
0^
V, Na,CO.
0-38
042
0.41
0-37
0-4U
^) Dies war im Herbst 1899 geschrieben worden. Ganz die gleichen Gt-
danken sind dann vdllig unabh&ngig und gleichzeitig von Y. Rothmand entwickelt
worden, aber dessen Untersuchung im Text berichtet wird.
^) Zeitscbr. f. phys. Chemie 33, 401 1900.
Cbemische 01«ichgewichte dritter Ordnung.
1073
n»l
n«V,
n-V*
B-Vb
KNO,
0-08
0-06
003
0-03
NaNO,
010
0-09
0-10
0-00
NH4NO3
0-07
-0^8
0.13
-0.13
Li NO,
001
0-00
0.00
000
V, Ba(NO,),
—
001
002
-0-04
KC^HaO,
023
026
028
0.31
Mittel
Ns^iro^
LiWO.
0.25
Bei den stark vermindernden Salzen ist der Verminderungskoeffi-
zient nahezu unabhangig voq der Konzentration, so dass die in der
letzten Spalte angegebenen
Mittelwerte gebildet wer-
den konnen. Bei den an-
deren Salzen nimmt da-
gegen der Koeffizient deut-
lich mit abnehmender
Konzentration zu und ein
Mittelwert kaun nicht ge-
bildet werden.
Demgemass sind die
in Fig. 292 wiederge-
gebenen Loslichkeiten im
ersten Falle Gerade, die
mit der Konzentration ab-
fallen, im anderen Falle
ansteigende, nach der Kon-
zentrationsaxe konkave
Kurven.
Die Beeinflussung ist
im librigen ziemlich er-
heblich und iibersteigt bei
Normallo8ungen40®/o. Der
Betrag scheint sich wesent-
lich additiv aus den Ein-
fliissen der beiden lonen
zusammenzusetzen, doch haben die Anionen einen viel grosseren Ein-
fluss, als die Kationen. Die Reihe ist, nach abnehmendem Einflasse
geordneti SO/', CO,", NO9' und Na*, K-, NH^-.
Die erwartete Beziehung zu der Beeinflussung der Gasloslichkeit
(S. 970) ist Yorbanden; unabhangig yon der Natur des gelosten Stoffes
ordnet sie sich in gleicher Weise der Grosse nach und auch der absolute
Betrag ist yon gleicher Grossenordnung. Dies ergiebt sich aus der
^^I^J^S
CFS^/^SO^
8 ♦
HanzerUratum
Fig. 292.
1074 IL Chemische Dynamik.
nachstehenden Tabelle, welche eine ZusammensteUang der friiher er-
wahnten Arbeiten enthalt
Relative
Loslichkeitserniedrigungen :
Wasser-
Stickstoff-
Kohlen-
Athyl-
Phenylthio-
stoff
ozydul
dioxyd
acetat
karbamid
15»
Ib^
152 »
28 •
20»
V, Na,SO,
0-27
030
032
0.43
0-41
V.Na,CO,
029
—
—
—
0^38
V.ZnSO^
0-23
—
0-30
0.39
V.MgSO,
0-23
029
0.30
039
032
NaCl
021
0-24
021
034
V.CaCl,
0-21
023
—
—
—
EGl
0-20
0.22
Li CI
016
0-21
0-17
NaNO,
020
—
010
—
0.10
KNO,
049
—
0.09
012
0.06
NH4NO,
—
—
003
0-07
Weiter untersuchte Rothmund, welchen Einfluss die Temperator
aof den Erniedrigungskoeffizienten hat. Trotz des grossen Temperatur-
koeffizienten der Loslichkeit des Phenylthioharnstoffes (0-04) wurde
zwischen 0 und 40^ kein erheblicher Unterschied gefdnden; die Zahlen
fiir Kaliumralfat sind von 10 zu 10® 0.33, 0-38, 0-39, 0-39, 040. Da-
raus lasst sich mittelst der bekannten Formel von van't Hoff ab-
leiten, dass die Losungswarme durch den Zusatz des fremden Stofies
nicht geandert wird. Auch dieser Umstand spricht dafur, dass die
Anderung der Loslichkeit wesentlich durch den Einfluss des Zusatses
auf das Losungsmittel, nicht durch einen solchen auf den gelosten Stoff
verursacht wird. Welcher Art dieser Einfluss ist, hat sich noch nicht
ermitteln lassen, doch mahnt der erhebliche Wert dieses Einflusses zu
grosser Yorsicht in der Benutzung der Annahme, dass bei dor gleich-
zeitigen Losung mehrerer Stoffe in demselben Losungsmittel die gelosten
Stoffe sich so verhalten, als seien sie allein vorhanden. Es sind im
Gegenteil fast immer Beeinflussungen vorhanden, deren Betrag auch bei
recht verdiinnten Losungen noch sehr merklich ist; eine zehntelnormale
Losung von Kaliumsulfat vermindert die Loslichkeit noch um 4 ^/^ und
erst etwa bei ^/gQ-normalen Losungen wird man sich mit einiger Wahr-
scheinlichkeit innerhalb eines Prozentes sicher fiihlen diirfen.
Vielleicht lassen sich hierzu auch die Versuche von Bodlander^)
erwahnen, welche sich auf die Verminderung der Loslichkeit von Rohr-
') ZeitBGhr. f. phys. Ghemie^7, 308. 1891.
GhemiBche Gleichgewichte dritter Ordnung. 1075
zucker, Traubenzucker und yerschiedenen Salzen in Wasser darch den
Zasatz von Athylalkohol beziehen. Es stellte sich faeraus, dass wenn
W die in der Volumeinbeit der Losung enthaltene Wassermenge und
S die Menge des gelosten Stoffes ist, die Beziehung W/S'^s nahezu kon-
stant bleibt. In einzelnen Fallen sind allerdings Ausnahmen vorhanden,
welche durch besondere Hypotbesen zn beseitigen versucbt warden.
Von HoIIemann und Antuscb') ist diese Beziehung gepriift und un-
giiltig befunden worden. Bodlander') hat dann ihre Einwande zu be-
seitigen geeuchty doch auch betont, dass die Konstanz von W/S^/s nur
„in erster Annaherung*' giltig sei.
79. Der Grenz&lL Ebenso, wie aus den Betrachtungen von
S. 786 sich ergeben hatie, dass im Grenzfalle sehr grosser Konzentra-
tionen die Loslicbkeit eines festen Stoffes unabhangig von der Natur
des Losungsmittels ist und nur von dem Molenbruch abhangt, lasst sich
ein entsprechender Schluss fiir die gemeinsame Wirkung zweier Lo-
sungsmittel ziehen. Jener Satz war nichts als eine andere Formulierung
des Gesetzes, dass die Erniedrigung des Schmelzpunktes eines festen
Stoffes durch Zusatze, welche in der fliissigen Form loslicb sind, im
Yerhaltnis dos Molenbruchs erfolgt. Durch den bereits von Blagdon')
erbrachten Nachweis, dass diese Erniedrigung bei der Anwendung
mehrerer Salze gleich der Summe der Teilerniedrigungen ist, wird von
unserem Gesichtspunkte aus festgestellt, dass die Loslicbkeit in einem
gemischten Losungsmittel (der Summe der beiden Zusatze) sich additiv
aus den Loslichkeiten der Bestandteile dieses Gemisches zusammensetzt.
Der Satz ist iibrigens eine unmittelbare Folgerung des vorher ausge-
sprochenen; denn wenn die Loslicbkeit nur vom Molenbruch abhangt,
und von der Natur des Zusatzes unabhangig ist, so kann es auch keine
Anderung bewirken, wenn der Zusatz aus yerschiedenen Stoffen besteht.
Die Frage, wie ein Gemisch mehrerer Zusatze auf den Schmelz-
punkt wirkt, ist in der Folge mehrfach erortert worden.
80. Chemisohe Wirkung in der Losung. Wenn der geloste Stoff
in der Losung eine Veranderung erfahrt, so dass ein neuer Stoff aus
ihm entsteht, so ist fur die Sattigung nicht die Gesamtmenge des festen
Stoffes, die in Losung gegangen ist, massgebend, sondern nur die un-
verandert gebliebene.
Der erste Ausspruch dieses Grundsatzes ist wohl auf Fernet (1, 626)
^) Rec. Fays-Bas 13, 273. 1894.
«) Zeitschr. f. phys. Chemie 16, 729. 1895.
*) Phil. Trans. 1788, S. 299. Klassiker Nr. 56, S. 37.
1076 n. Ghemische Dynamik.
zurtickzufuhren ; seine Fruchtbarkeit fur Fragen des chemischen Gleich-
gewichts hat in allgemeinerer Weise Nernst gezeigt
In seinen einfacheren und aiiffalligereu Anwendongen ist dieser
Grundsatz jedem Chemiker gelaufig, wenn er z. B. die Auflosung der
Kreide in Salzsaure auf die Bildung von Cfalorcalcium zaruckfiihrt
Weil aber in solchen Fallen die eigene Loslichkeit des betreflTendou
festen StoflFes sebr klein ist, spricht man meist nicht von einer Ver-
mehrung der Loslichkeit, sondern von ihrer Entstehung dnrch den
chemischen Vorgang. Doch ist der Fall, dass ein Stoff von endlicher
und leicht zu beobachtender Loslichkeit diese Loslichkeit durch solche
EinfliiQse vermehrt, von dem ersterwahnten nicht verschieden. Auch
solche Falle sind dem praktischen Chemiker gelaufig; ein Beispiel ist
die Loslichkeitsvermehrung des Weinsteins durch Sauren.
Das Gesetz, welches diese Vorgange regelt, giebt liber den Znstand
geloster Sto£Fe manche wichtige Auskunft. Wenn es auch nicht zu be-
stimmen gestattet, was aus dem gelosten Stoffe geworden ist, so ge-
stattet es doch in solchen Fallen, wo der chemische Vorgang bekannt
ist, quantitative Bestimmungen seines Betrages vorzunehmen. Femer
giebt das Massenwirkungsgesetz ein Mittel, zwischen verschiedenen Mog-
lichkeiten zu entscheiden, wenn diese zu verschiedenen Ausdriicken far
den Einfluss der Konzentration ftihren.
81. Zwei feste Stoffe und eine FltLssigkeit. Wenn die beiden
festen Stoffe und die Fliissigkeit keine neucn Produkte miteinander
bilden, so ist das Gleichgewicht, welches sich zwischen ihnen herstellt,
von der einfachsten Art. Sind die beiden festen Stoffe sehr wenig
loslich, so wird man erwarten, dass sie ihre Loslichkeit auch bei gleich-
zeitiger Anwesenheit beibehalten, d. h. jeder von ihnen wird siph losen,
als ware der andere nicht vorhanden. Doch sind schon bei recht ge-
ringen Konzentrationen Beeinflussungen der S. 1072 geschilderten Art
zu erwarten.
Ist die Loslichkeit grosser, so werden diese Wirkungen starker
eintreten. Das heisst, es wird in den meisten Fallen die Loslichkeit
bei Gegenwart des anderen festen Stoffes geringer werden, als sie im
reinen Losungsmittel ist
Anders wird sich die gegenseitige Beeinflussung gestalten, wenn
die beiden festen Stoffe solche Beschaffenheit haben, dass ein jedes vod
ihnen im fliissigen Zustande dem anderen im festen gegeniiber als eia
gutes Losungsmittel angesehen werden kann. Dies tritt z. B. bei che-
misch ahnlichen Stoffen, Homologen oder nahverwandten Substitutions-
Ghemische Gleicbgewichte dritter Ordnung. 1077
produkten eiD. Dann wird die lo8ende Wirkung dieser anderen Stoffe
zur Geltang komraen, und die gemeinsame Loslichkeit wird zunehmen.
Treten chemiscbe Vorgange zwischen den beteiligten Sto£Fen ein,
80 kommt wieder der Grundsatz zur Geltung, dass das Losungsgleich-
gewicht sich imraer nur mit den unveranderten Anteilen herstellt, uod
dass die Anteile, welcbe irgend eine iLnderung in der Losaug erfahren
haben, fiir die Sattigung nicbt in Frage kommen.
Die Zabl der Freiheiten ist, wenn man die Dampfpbase einrecbnet,
eine. Daher wird es auch in diesem Falle eine einfache Losungslinie
geben, indem zu jeder Temperatar je ein Wert der Loslichkeit fiir jeden
festen Stoff gebort. Dies Verhalten bleibt dasselbe, ob chemiscbe
Vorgange in der fliissigen Phase eintreten oder nicht.
82. Darstellung an der g-Fl&ohe. Sind zwei feste Phasen vor-
handen, so wird deren Koexistenz wie friiber durch eine Gerade aus-
gedriickt, w^elcbe die beiden zugehorigen Punkte yerbindet. SoUen beide
feste Phasen mit einer Fliissigkeit im Gleichgewicht sein, so miissen
Yon beiden Punkten an einen und denselben Punkt der Fltlssigkeits-
filache Tangenten gelegt sein. Man lost diese Aufgabe, indem man eine
Ebene um die Verbindungslinie der beiden festen Stoffe als Axe dreht,
bis sie die Flache beiiihrt. Der Beriihrungspunkt hat dann die Eigen-
schaft, dass seine Verbindungslinien mitjden Punkten der beiden festen
Stoffe Tangenten der Flache sind.
Im allgemeinen giebt es nur einen solchen Beriihrungspunkt; es
giebt also nur eine Losung, die mit zwei festen Phasen gleichzeitig im
Gleichgewicht steht. Dies folgt auch aus dem Phasengesetz, wenn man
die Dampfpbase und die Temperaturfreiheit beriicksichtigt. Doch ist
68 moglich, dass bei einer bestimmten Temperatur die Ebene gleich-
zeitig zwei Beriihrungspunkte in der Flussigkeitsflache infolge einer
Yorhandenen Falte hat Dies ist dann bei Anwesenheit einer Dampf-
pbase ein fiinffacher Punkt ohne Freiheit, da zwei Fliissigkeiten aoftreten.
Fiihrt man die entuprechende Konstruktion an der £- Flache aus,
80 entsteht eine etwas reichere Gestaltung, wie sich aus Fig. 293 er-
giebt. Es ist bier angenommen, dass zwei von den Bestandteilen in
fester Gestalt anwesend sind. Dann geht von jedem dieser beiden
Punkte ein Beriihrungskegel aus, und dort, wo die beiden Kegel zum
Schnitt kommen, ist der Punkt, durch den beide Tangenten gehen.
Hierdurch verschwinden die noch ubrigen Teile der beiden Kegel, da
sie oberhalb der Beriihrungsebene zu liegen kommen; die anderen
bleibcn aber erhalten. Die ganze Figur ergiebt daher folgende Deutung.
1078
II. Chemische Dyoamik.
Im Gebiete ay^ bez. A/B bilden die beiden fasten Stoffe mit der
Flussigkeit homogene flussige Losungen. Vermehrt man den Bestandteil A,
so bleibt ein Teil dayon ungelost, und es entsteht eine Sattigangalinie
ay in Bezug auf festes A und im Gebiete kay sondert sicb das Ge-
bilde in eine flussige Losung und den festen Stoff A. Das gleiche gilt
fur den festen Stoff B und das Gebiet B/?/. Im Gebiete AB/ endlich
entstebt eine konstante fliissige Losung /, welcher in wechselnden Ver-
haltnissen die beiden festen Stoffe A und B beigemengt sind.
Fig. 293.
Fig. 294.
Diese Konstruktion gilt, so weit sie moglich ist, d. h. nur, wenn
die dreiphasige Beriibrungsebene unterhalb der Flache zu liegen kommi
Dazu ist erforderlicb, dass die Verbindungsgerade der beiden festen
Punkte sich gleichfalls unterhalb der Flacho befindet Schneidet diese
Gerado dagegen die Flache, bezw. ihre Grenzlinie, so geht sie durch
unbestandige Gebiete und tritt daher nicht in die Erscheinung. Dann
kommen die beiden Kegel A und B uberhaupt nicht zum Schnitt und
es giebt (bei der gewahlten Temperatur) keine Losung, neben welcher
gleichzeitig festes A und B anwesend ist
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnang.
1079
Dies riihrt dann daher, dass auf der Grenzlinie AB bereits ein fluBsiges
Gebiet Yorhanden ist, d. h. dass beide feste Sto£Fe bei gegenseitiger
Beriihrung sich verfliissigen. So Yerhalten sich die im fliissigen Zu-
stande mischbaren Stoffe bei alien Temperaturen oberhalb der eutek-
tischeD, wo jedenfalls eine der festen Phasen verschwindet. Hierbei
entsteht noch die Frage nach den Erscheinungen im eutektischen
Punkte Yon A und B. Die Sattigungskegel beriihren sicb dann cben
auf der Linie AB, ihr Beriihrungspunkt R tritt in diese Linie, wobei
das Dreiphasendreieck in eine Gerade
zusammengeht, Fig. 294. Alsdann
kann nicht nur durch eine geringe
Temperaturerhohung das Gemeuge
Yon festem A und B zum Schmelzen
gebracht werden, sondern auch durch
einen kleinen Zusatz des Stoffes C
(oder einer Losuug, welche G enthalt).
Die oben erwahnte konstante
Losung 7 hat eine besondere Eigen-
schaft. Denkt man sich aus ihr den
Bestandteil C entfemt (etwa durch
Verdunsten, wenn A und B nicht-
fliichtige Sto£Fe sind und C ein
fliichtiges Losungsmittel), so erhalt
man ein Gemenge, welches durch
Krystallisation aus C nicht zu trennen
ist. Denn alle Zustandsanderungen,
welche durch Vermehrung oderVer-
minderung von C herYorgerufen wer-
den konnen, andern das Verhaltnis
Yon A und B nicht, da sie auf einer
durch Cy gelegten Geraden Yerlaufen,
wo stets die Proportion (A):(B)
= A7:B7 besteht, wenn mit (A)
und (B) die relativen Mengen dieser beiden StofiFe bezeichnet werden.
Dieses Gemenge Yerhalt sich also gegen das Losungsmittel C, wie
sich ein eutektisches Gcmisch beim Schmelzen oder ein binares Fliissig-
keitsgemenge mit maximalem oder minimalem Dampfdruck beim Des-
tillieren Yerhalt. Man hat nicht selten in der praparativen Chemie
solche Gemenge (namentlich wenn die Stoffe nicht grossere Krystalle
bilden) fiir einheitliche Stoffe angesehen, ebenso wie es in jenen anderen
Fig. 295.
1080
II. GhemiBcbe DyDamik.
I^llon geschah. Auch das Mittol, sie von reinen StofiFen zu unter-
scheiden, ist ahnlich. Anderung der Temperatur und noch sicbercr
Andening des Losungsmittels bringt auch eine andere ZusammenBetzuDg
des koDstanten Krystallisationsgemisches herror.
Wenig veraiiderte Verhaltnisse werden durch den Dmstand ein-
gefiihrt, dass eiDer der festen Stoffe eine V^rbindnng ist Sein Be-
riihrungskegel bat dann seine Spitze in einer Prismenseite, und es konnen
zunachst ganz die gleicben Erscheinungen auftreten, wie im vorigen Falle.
Nun kann aber auch, was bisher
nicht moglich war, der eine Kegel den
anderen zum grosseren Teil (iberdecken,
und es entstebt dann der Grundriss
Fig. 295. Hier ist A/v das Gebiet,
wo die beiden festen Stoffe, der Bestand-
teil A und die Verbindung V, mit der
konstanten Losung / im Gleicbgewichte
sind. Der Kegel von A ist zum grossten
Teil Yorhanden, der von V dagegen
grosstenteils verschwunden und es giebt
nur noch ein kleines Gebiet, wo V neben
fi gesattigter Losung bestehen kann. Ins-
besondere hat ein Zusatz der Fliissigkeit
zu der festen Verbindung V eine auf-
fallende Wirkung, die man erkennt, wenn
man von v eine Gerade nach G zieht
Sie tritt erst in das Dreiphasenfeld t/A,
dann in den Kegel A und schliesslich
in das Fliissigkeitsfeld G. Das heisst: durch den Zusatz der Fliissig-
keit G wird aus V zunachst festes A abgescbieden, wahrend die ge-
sattigte Losung 7 entsteht. Dann verschwindet V, wahrend A iibrig
bleibt, und es entstehen verschiedene gesattigte Losungen von A, deren
Zusammensetzung sich von 7 nach a andert, und schliesslich geht auch
A in Losung.
Erscheinungen solcher Art sind bekannt; sie treten auf bei Ver-
bindungen, die durch das Losungsmittel „zersetzt^' werden. Ein scboo
friihzeitig untersuchtes Beispiel ist die durch Wasser zersetzbare Ver-
bindung von Bleijodid mit Jodkalium^), deren Verhaltnisse bald ein-
gehend beschricben werden sollen.
Fig. 296.
') Scbreinemakers, Zeitschr. f. ph. Gh. 9, 57. 18d2.
Chemiscbe Gleichgewichte dritter Ordnung.
1081
Eine andere Art des Schnittes tritt ein, wenn neben der Ver-
binduug V nicht wie bisher angenomoien einer ihrer Bestaiidteile A
Oder B als feste Phase anwesend ist, sondern der diitte Stoff C.
Hierdurch schneiden sich die Grenzlinien der Losungskegel nicht mehr
in einem einzigen Punkte me bisher, sondern in zweien. Fig. 296
giebt eine Vorstellung hiervon.
Das Neue, was hier auf tritt, sind die beiden umgekehrt dachformig
nebeneinauder liegenden Dreiphasendreiecke an der Linie vC. In beiden
sind die gleichen festen Phaseu V und G vorhande'n; diese konnen aber
Fig. 297.
Fig. 298.
nicht nur mit einer bestimmten Losung im Gleichgewicht sein, sondern
es giebt deren zwei, von denen die eine Torwiegend den Stoff A, die
andere B enthalt. Demgemass entsteht auch die eine Losung, wenn
man zu einem Gemenge der beiden festen Phasen (die sich gegenseitig
nicht verfliissigen) etwas A setzt, und es entsteht die andere beim Zu-
satz von B.
83. Zwei feste bin&re Verbindungen. Als zweiten Fall bei
biuaren Verbindungen haben wir die Moglichkeit ins Auge zu fassen,
dass deren zwei Y| und Yq so auftreten, dass ihre Kegel sich schneiden.
1082 n. Ghemische Dynamik.
Das Ergebnis sieht wie Fig. 297 aus und ergiebt somit einen Fall,
der dem eben besprochenen ahnlich ist. An die ^-Flache lassen sich
wieder zwei Ebenen so legen, dass sie durch die Punkte Yj and t,
gehen und die g-Flache beriihren. Dadurch kommen wieder zwei
Dreiphasendreiecke ▼iV2r und yiVjS zu Stande, welcfae beide zwar
diesdben festen Phasen y^ und Vs, aber verschiedene fliissige, einmal r
und das andere Mai s enthalten. Gleichzeitig zerfallen die beideu Lo-
sungskegel der Verbindungen v^ und Y2 in je zwei getrennte Stiicke.
Insgesamt finden wir also folgende Felder vor. Zunachst an BC
liegt das der homogenen Losungen ohne feste Phase. Dann baben wir
die Teile des Losungskegels von v^, namlich y^j^r und y^ as, und ebenso
die des Losungskegels yon yg, namlich yg/r und Vsa s. Endlich habea
wir die zwei Dreiphasendreiecke yiy2r und yiVzS, wo neben den beidea
festen Verbindungen y^ und Ys entweder die konstante Losung r oder
die konstante Losung s anwesend ist.
Der letzte Umstand wird uns spater noch mehrfach begegnen. Bei
A liegt schliesslich wieder ein Gebiet homogener Losungen.
Die recht mannigfaltigen Anderungen, welche eintreten, wenn man
zu irgend einem bestimmten Gemenge yon B und C mehr und mehr A
setzt, lassen sich ablesen, wenn man in Fig. 297 yon einem ent-
sprechenden Punkte des Randes BG aus eine Gerade nach A zieht and
die durchschnittenen Felder der Reihe nach betrachtet.
84. Eine feste temare Verbindung. Ganz ahnliche Erscheinongen
bringt das Auftreten einer ternaren Verbindung als feste Phase mit
sich. Es kann eine solche mit einem Bestandteil, einer binaren, und
einer anderen ternaren Verbindung gleichzeitig auftreten und dabei
ergiebt sich folgendes.
Kommt der Eckkegel des festen Bestandteils mit dem VoUkegel der
Verbindung y zum Schnitt, Fig 298, so kann man durch die beiden Punkte
A und y wieder nicht nur eine, sondern zwei Ebenen legen, yon denen
eine die ^-Flache rechts, und die andere links beriihrt. Diese Beriih-
rungspunkte sind wie friiher identisch mit den Durchschnittspunkten der
Grenzkuryen fur die Loslichkeit der beiden festen Stoffe. Im Gnind-
riss entstehen die beiden nebeneinander liegenden Dreiecke Ary und
Asy, und der Kegel A zerfallt in zwei getrennte StUcke A/Jr und A7S.
Wir haben demnach zunachst das homogene fliissige Gebiet BC,
femer das der fiir y gesattigten Losungen neben festem y in dem
Rest des y-Kegels. Weiter die fiir A gesattigten Losungen ^r und 7s
neben festem A. Endlich liegen im Dreieck Ayr die Grebilde mit
festem A und v und mit der konstanten Losung r, und im Dreieck
ChemJBche Oleic bgevicbte dritter Ordnnng.
1083
Av8 die Gobilde mit den gleichen featan Phason und der ton r ver-
schiedenen koiistanten LoBung a.
Wir finden hier somit eiuen ganz ahnlicben Fall wieder, wie er
aich UU8 ebon bei zwei bJnaren Verbindungeit gezeigt batte.
Lassen wir nan eine binare und eine ternare Verbindang gleicb>
zeitig anwesend aein, so finden wir Verhaltiiisse , die nicbt Ton denen
dee vorigen Falles verachieden sind. Der Grundrias Fig. 299 iat dem-
gemaaa obne eingebende Analyae TerBtandlich. Ebenso goDiigtjein Blick
auf Fig. 300, um erkenaen zu lassen, dass aucb das^Zusammentreten
zweier ternarer Verbindungen nicbU erheblich neueB bringt. In alien
diesen Fallen treten die zwoi yoneinander verscbiedenen Losungen auf,
welcbe mit densalben festen Phasen iiu Gleicbgowicht sein konnen>
Fig. 299.
Fig. 300,
Sie baben atcta die Eigenscbaft, dass aie die beiden festen Stoffc ab-
scheiden, wenn man aie einzeln herstellt und dann Termischt.
85. Belapiele. Bei weitem die meisten Fiille, in welchen die eben
besprochenen VerhaltniBse gepri^ft und angewendot worden eind, be-
zieben aicb auf Gleicbgewicbte, bei denen lonen beteiligt sind. Da
fur Bolche Gleicbgewicbte ein besonderer Abscbnitt dieses Werkes vor-
behalten iat, aollen sie bier nicht erSrtert werden. Ein Fall, der sich
auf Nicbtelektrol;te bezieht, ist zueret von R. Behrend im Licbte des
Massenwirknngsgesetzes untersucbt worden. Seine erstea*) Beobacb-
tungen bezogen sicb auf oiue Verbindung v, welche beim Zusammen-
krystalliaieren des bei 118* scbmelzenden Benzyl^Ltbers des Isoparanitro-
<) Zeitachr. f. ph;s. Chen!« 9, 40t.
1084 II* Ghemische Dyoamik.
benzaldoxims (A.) mit dem isomerea p-Nitrobenzylather des Isobenzald-
oxims (B), der bei 106^ schmilzt. Der Schmeizpunkt der DoppeUer-
biiidung (V) liegt bei 94o.
MolekulargewichtsbestimmungeQ ergaben^ dass die Verbinduiig in
alkoholischer Losung grossenteils dissociiert ist Dass indessen iioch
ein Tail intierbalb der Losung im verbundenen Zustande bestehi, worde
dadurch sehr wahrscheinlicb gemacht, dass der (scbwerloslichste) Stoff A
in Gestalt dor Doppekorbindang leichter loslich erachien, als in reinem
Zustande. Wurde die Anuahme gemachti dass die wirklicbe Loslichkeit
uiiverandert blieb, und dass die Vermehrung durch das Eutstehen einer
eiitsprechenden Menge der Doppelverbindung verursacht war, so konnte
deren Konzentration in der gesattigten Losung bestimmt werden.
Auf solche Weise liessen sich veroiittelst der Analyse der Lo-
sungen die Gesamtmengen der beiden Stoffe A und B, und (da stets
feste Verbindung V anwesend war) durch Abzug von deren Loslichkeit
die wahre Konzentration von A und B berechnen. Wurden die so ge-
fundenen Zahlen im Sinne des Massenwirkungsgesetzes berechnet, so
ergab sich eine leidlich gute Ubereinstimmung.
Auf die Angabe der Zahlenwerte soil hier verzichtet werden, da
Behrend spater neue Versuchsreihen unter giinstigeren ezperimenteiloD
Bedingungen beigebracht hat.
Zunachst^) arbeitete er mit Phenantrenpikrat in Alkohol. Die mit
dem Pikrat allein gesattigte Losung ist etwa zu 0*9 zerfallen, denn
eine mit Pikrinsaure, bezw. mit Phonantren gesattigte Losung niiomt
in Beriihrung mit dem Pikrat etwa zehnmal weniger davon auf, als
reiner Alkohol.
Es wurde nun die Loslichkeit des Pikrats in verschiedenen Lo-
sungen bestimmt, welche Phenantren, bezw. Pikrinsaure nicht bis zor
Sattigung enthielten, so dass nur die Phasen Pikrat, Losung und Dampf
anwesend waren. Wahrend die Ergebnisse mit dem Gesetz der Massea-
wirkung iibereinstimmten, so lange Pikrinsaure im veranderlichen Ober-
schussu war, ging die Konstaute mit wachsender Konzentration des
Phenautrens stark in die Hohe. Dies lasst darauf schliessen, dass die
wirksame Menge des Phenantrens nicht der Konzentration proportional
wiichst, sondern langsamer, und die Deutung hiervon ist am ehesten in
der Anuahme zu suchen, dass das Phenantren in der Losung teilweise
iiu polytnolekulareu Zustande vorhanden ist.
Unter dieser Voraussetzung und unter Annahme des liassen-
^) Zeitechr. f. pbys. Cbemie 10, 265. 1892.
Chemische Gleicbgewichte dritter Ordnung 1085
wirkungsgesetzes kann man uragekebrt die wirksame Menge des Phenan-
trens in den hierfiir konzeotrierteren Losungen berechnen, wenn man
die weitere Annahme macht, dass die verdiinntesten Losungen keine
merklicben Mengen des kondensierten Stoffes entbalten. Diese Annahme
wird dadarch gestiitzt, dass in diesem Gebiete die Konntante keine
Anderungen erfabrt.
Da bei den angestellten Versucben stets Pikrat als feste Pbase
zugegen war, so ist die Konzentration des nicbtzerfallenen Pikrats in
der Losung konstant. Bezeicbnet man die Konzentrationen des Pbenan-
trenSy der Pikrinsanre und des Pikrats mit p, s und d, so ist in der
Gleicbung ps = kd die Grosse d konstant, und somit miisste aucb das
Produkt p8 = K konstant sein; es nimmt aber mit wacbsendem p zu.
Urn nun die wirksame Menge p' des Pbenantrens zu erbalten, ist nur
K fiir eine kleine Konzentration dieses Sto£Fes zu berechnen; nach
)/ = K/s erhalt man dann die gesucbten Grossen fur die konzentrierteren
Losungen. Aus p — p' = c endlicb ergiebt sich die Konzentration des
kondensierten Pbenantrens. Bei der Ausrecbnung etellte sich beraus,
dass zwischen c und p' die Beziehung besteht c/p'^=: const, so dass
weiter geschlossen werden darf, dass das kondensierte Phenantren tri-
molekular ist
Dieser Scbluss wurde durcb Molekulargewicbtsbestimmungen in
siedendem Alkobol bestatigt. Wabrend Pikrinsaure bis zu 0*12 Gebalt
nur eine geringe Erbobung des Molekulargewicbtes erkennen liess
(5-7 ®/o), betrug diese 27 ^j^ bei Phenantren. Hier lasst sich wieder
eine Gleicbgewichtskonstante berechnen, wenn man annimmt, dass nur
trimolekulares Phenantren neben dem einfacben yorbanden ist; sei M
das gefundene Molekulargewicht, m und 3 m das der beiden Formen
und X der Bruchteil des einfacben Pbenantrens, der sich polymerisiert
• hat, so ist M/m = 1 — x + 3x=l + ^x- Darnach lasst sich x be-
rechnen, und es muss wie fruher die Beziehung c^/p = const, oder
x^
-= const besteben. Bis auf die verdiinntesten Losungen, bei
denen die Versuchsfehler einen Uberwiegenden Wert annehmen, wurde
die Beziehung bestatigt.
Einen einfacheren Fall, bei welchem ausserdcm eine Loslichkeit
der unzersetzten Doppelverbindung nicht vorbanden ist, untersuchte
Behrend ') scbliesslicb am Antbraconpikrat Hierbei wurden Losungen
mit den Bestandteilen als feste Phasen hergestellt, so dass man in
^) ZeiUchr. f. pbys. Chemie 15, 183. 1894.
■
Ostwald, Chemie. 11,2. 2. Aufl. 69
1086
II. Chemische Dynitmik.
ihnen fiir diese je eine konstante Konzentration des unverbandeneD
Teils annehmen durfte. Der Uberschuss der in der Losung gefundenen
Konzentration war dann anf Rechnung der entstandenen Verbindang m
setzen.
Die nachstehende Tabelle giebt die erhaltenen Ergebnisse wieder:
Vers.-Nr. 1234567 8 9 10 11 12
Aothracen 0*176 0190 0-206 0-215 0228 0236 0-202 0180 0162 0*151 0-149 —
PJkriDSfture — 1*017 2071 2-673 3-233 3-469 3-994 5-087 5-843 6-727 7*511 7-452
— 0176 0176 0-176 0176 0-183 0149 0127 0-109 0-098 0*096 —
— 0-999 2032 2623 3166 3-401 3926 5-019 5-773 6659 7-445 —
— 0032 0069 0-089 0*119 0121 0121 0121 0121 0121 0*121 —
a
8
d
as
d
55 52 5-2 47 51 4-8 5-3 5-2 5-4 5-9 —
Unter a, s und d stehen die nach Abzug der Loslichkeit der
festen Phase sich ergebenden Kouzen-
trationen der unverbundenen Anteile
Anthracen, Pikrinsaure und Dc^pelver-
bindung. Bei den Versuchen 2 bis 5
war festes Antbracen zagegen» bei 7
bis 11 feste DoppeWerbindung, so dass
im erstereu Falle a, im letzteren d
konstant war. Bei 6 waren beide feste
Phasen anwesend und .die Konzentra-
tion des wirksamen Anthracens hatte
0176 statt 0-183 betragen sollen. Dw
Unterschied beruht auf Versuchsfehiem.
Um die Loslichkeit des Pikrats,
welche unmittelbar wegen der Zer-
setzung nicht bestimmt werden konnte,
zu erfahren, dienen die Versuche 1 1 and
12, da bei 11 neben Pikrat noch Pi-
krinsaure als feste Phase anwesend war,
wahrend 12 die Loslichkeit der reinen
Pikrinsaure angiebt Der Unterschied
der Gehalte an Pikrinsaure giebt die
als Pikrat geloste Menge 0-059 » welche
0*105 Pikrat entspricht. Zu gleichem Zwecke dienen die Versuche 1 and
6, aus denen sich das gebundene Antbracen zu 0*060 , entsprechend
0*137 Pikrat ergiebt. Beide Zahlen soUten gleich sein; ihr Unter-
schied weist auf einen einseitigen Febler des analytischen Verfahrens. Zor
Rechnung diente der Mittelwert 0*121.
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnung.
1087
Bei dem grossen Einfluss der Versuchsfehler kann man die Kon-
stanz der untersten Reihe fur as/d aU geniigend ansehen, zumal die
Abweichungen keinen Gang zeigen.
86. Drei feste Fhasen. Drei feste Stofife hestimmen im g-Diagramm
eine Ebene. So lange diese ganz anterhalb der g-FIache fiir den fliissigen
Zustand liegt, ist dieser unbestandig. Darch passende Anderang (im
allgemeinen Erhohung) der Temperatur kommt schliesslich diese Ebene
in einem Punkte mit der Flache in Beriihrung, so dass bei dieser Tern**
peratur alle drei festen Sto£Fe mit einer
Flussigkeit, ihrer gemeinsamen Scbmelze,
in Beriihrung sind. Nehmen wir noch
Dampf dazu, so haben wir einen Quin-
tupelpunkt, da wegen der fiinf vorhan-
denen Phasen keine Freiheit mehr besteht.
Steigt die Temperatur noch hoher,
so durcbschneidet die Ebene die g- Flache
und stellt alsdann nicbt mehr die be-
standigsten Zustande dar. Vielmehr kann
man jetzt aus den drei Punkten der
festen Stoffe Beriihrungskegel an die
Fliissigkeitsflache legen, die tiefer liegen
als die Ebene und daher bestandigere Zu-
stande darstellen. Diese Kegel schneiden
sich paarweise und lassen drei dreiphasige
Dreiecke entstehen, in denen je zwei 'a/
feste Stoffe mit einer Flussigkeit im
Gleichgewicht sind; und zwar ist f^r
jedes Paar fester Stoffe die Flussigkeit
anders zusammengesetzt.
Fig. 301 giebt einen tiberblick der
g-Flache und der Feldteilung. Das
Mittelgebiet a^y stellt eine homogene Flussigkeit dar; A//}, Ba/»
Ca^ sind Kegel, in denen je eine feste Phase mit einer Flussigkeit im
Gleichgewicht ist, deren Zusammensetzung von a bis /}, bezw. bis 7 und
/ bis a variieren kann. In den Feldern AB/, BGa, GAj9 endlich
stehen je zwei feste Phasen mit einer konstanten Flussigkeit im Gleich-
gewicht.
Dieser letzte Fall ist, wie man leicht einsieht, nichts als eine
Amplifikation des Falles Fig. 293, S. 1078, indem die dort Torhandenen
Verhaltnisse sich an der dritten Ecke des Dreiecks wiederholen; ersterer
69*
B(b>
Fig. 302.
1088
II. Ghemische Dynamik.
geht auch bei Temperatarerhohung in letzteren iiber. Obwohl drei
teste Phasen unter den angenommen Bedingungen moglich sind, treten
sie docb nie gleichzeitig auf» sondern es sind bochstens zwei davon
anwesend.
Andert man die Temperatur ' in solcbem Sinne, dasa die Stoffe in
einander loslicher werden (was meist bei Erhohung <^.intreten wird),
so vergrossert sich das homogene Mittelfeld anf Eosten der hetero-
genen Gebiete. Fig. 302 und 303 stellen zwei Stufen dieser Ent-
wicklung dar, die wohl ohne Erklarung verstandlicb sein werden.
87. Vier foste Phasen. Vier beliebige
Punkte liegen im allgemeinen nicht in
einer Ebene, sondern bestimmen eine kor-
perliche Ecke, in welcher sich drei Ebenen
schneiden, von denen jede drei der Tor-
handenen Punkte enthalt Diese geome-
trische Eigenschftt der g-FIache von Tier
festen Phasen entspricht der Thatsache,
dass bei gegebenem Druck und gegebener
Temperatur nur noch drei Freiheiten
moglich sind, also die vierte feste Phase
eine Uberbestimmung enthalt. Es wird
somit das gsuize Dreieck in geradlinig be-
grenzte Felder zerfallen, von denen jedes
ein C^l^ichgewicht mit dreien von den
vier Phasen darstellt Drei von den festen
Phasen konnen immer als Bestandteile
angesehen werden; ihre Punkte Uegen da-
her in den Ecken. Der vierte Punkt kann
als binare Verbindung in einer Seite oder
als temare in der Mitte liegen; demgemass entstehen zwei oder Tier Felder.
Unter Umstanden kann man durch passende Wahl der Temperatur
(der Druck hat wenig Einfluss) die Tier Punkte in eine Ebene bnngen.
Dann haben wir, wenn eine Dampfphase angenommen wird, einen non-
varianten Quintupelpunkt; andemfalls kann diese Obergangstemperatur
durch den Druck noch etwas verschoben werden.
Fiinf feste Phasen bilden einen nonvarianten Punkt, der sehr
schwierig zu realisieren sein wird.
88. Zwei flfissige Phasen und eine feste. Zwei miteinander ia
Beriihrung stehende, wenig mischbare Losungsmittel mogen Ton einem
bei der Versuchstemperatur festen Stoffe zunachst eine so kleine Menge
Fig. 303.
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnung. 1089
enthalten, dass keine SattiguDg vorhaDden ist. Dann wird sich der ge-
lodte Stoff nach dem Gesetz Yon Bertbelot und Jungfleisch derart
zwischen den beiden Losungsmitteln teilen, dass das Verhaltnis ihrer
KonzeDtrationen oder der Teilangskoeffizient koostant ist.
Setzt man nun mehr and mehr von dem festen Stoffe da2u, so ge-
langt man an einen Pnnkt, wo eines der Losangsmittel gesattigt ist und
nichts mehr von dem festen Stoffe* aufnehmen kann.
Man muss nun behaupten, dass in diesem Augenblicke auch die
Sattigung des anderen Losungsmittels mit dem Stoffe eingetreten ist.
Daraus folgt, dass der Teilungskoeffizient gleich dem Verhaltnis der
Loslichkeit des festen Stoffes in den beiden Losungsmitteln ist.
Der Beweis dieses Satzes^) beruht darauf, dass, wenn er nicht
Geltung hatte, ein Perpetuum mobile zweiter Art moglich ware. Es
muss mit anderen Worten was auf eine Art im Gleichgewicht ist, auf
alle Art im Gleichgewicht sein.
Der Satz gilt streng fiir den eben beschriebenen Zustand, in
welchem beide Losungsmittel miteinander und mit der festen Phase in
Beriihrung sind. Dabei kann noch der Teilungskoeffizient eine Funk-
tion der Konzentration sein, und ferner kann die Loslichkeit in jedem
der reinen Losungsmittel durch die Aufnahme des anderen Losungs-
mittels sich andem. Wenn man also unter Loslichkeit des festen
Stoffes die in den reinen Losungsmitteln versteht, so gilt der Satz nur
angenahert, und zwar um so genauer, je weniger die beiden Losungs-
mittel ineinander loslich sind. Ebenso wird der bei der Sattigung be-
. obachtete Teilungskoeffizient mit dem fiir verdiinntere Losungen ge-
fundenen um so naher iibereinstimmen, je weniger der feste Stoff los-
lich ist.
Spater ist der Satz. von Jakowkin^) auch ezperimentell bewiesen
worden, indem er einerseits die Loslichkeit des Jods in verschiedenen
Losungsmitteln unmittelbar bestimmte, andererseits die Teilungskoeffi-
zienten, welche mit der Konzentration etwas veranderlich gefunden
warden, auf die der gesattigten Losungen extrapolierte. Das Ergebnis
ist aus der nachstehendeu Tabelle ersichtlich.
Loslichkeit des Jods bei 25^ . ,
get. ber.
in Wasser 0-3387 —
in Schwefelkohlenstoff 2300 679 685
in Bromoform 189-6 559 585*5
in Tetrachlormethan 30-33 89-6 89*7
*) Ostwald, Lehrb., 1. Aufl. I, 402. 1885.
*) Zeitschr. f. phys. Chemie 18, 590. 1895.
1090
II. Chemische Dynamik.
Die Obereinstimnuing ist in den beiden letzten Reiben ausgezeich-
net Den kleinen Unterschied beim Scbwefelkohlenstoff fiihrt Jakowkin
aiif die m^klicbe gegenseitige Losliohkeit von Schwefelkohlenstoff uad
Wasser zuriick, da die Loslichkeit des Jods in den reinen Losungs-
mitteln beBtimmt worden war.
89. Betraehtung der g-Flftohe. Es bestehe in der Flache der
cbemischen Energie fur den flussigen Zustand der ternaren Gemeage
ekie Falte, deren Spurlinie bka (Fig. 304) eei. Femer sei F der
g*Wert fiur den featen BeBtandteil A. Man bewege zur Erzeugung des
Eokkegels die Tangente an der g- Flache
entlang. Dann wird man bei a auf die
Falte 8tos8en> und es schneiden aich dort
die beiden Geradeu Fa and ab, die
Verbindungslinie der beiden enteprecben-
den Spurpunkte, und bestimnien die
Ebene Fab*. In a ist die feste Phase
F mit der Losung a im Gleichgewicht;
ferner ist a mit b im Gleix^hgewicht
Folglich muss auch F mit b im Gleich-
gewicht sein und die Linie Fb moss die
g-FIache in b gleichfalls beriihren. Von
dort ab kann man also den Beriihroiigs-
kegel F weiter fiihren, bis er an der Seite
BC endet
Im Grundriss haben wir in Fig. 304
die gleichen Verhaltnisse, nur ubersicht-
licher. Von dem zweiphasigen Fliissig-
keitsfelde ist par der Teil akb ubrig-
geblieben; ebenso ist der mittlere Teil
des Kegels verloreii gegangen. Deren
Stelle nimmt das Dreiphasendreieck Aab ein, in welchem der feste Stoff
gleichzeitig mit den beiden mischbaren Losungen a und b im Gleich-
gewicht ist. Dies ist die allgemeine Darstellung des im vorigen Ab*
schnitt erorterten Falles.
Die beiden Losungen a und b sind konstant fiir alle Gemenge
innerbalb des Dreiecks Aab und andem sich nur noch mit der Tempe-
ratur und dem Drucke. Wie aus der Entwicklung herrorgeht, sind
a, b immer entsprechende Punkte auf der Spurlinie der zweiphasigen
Fliissigkeiten.
Setzt man also zunebmende Meugeu des festen Stoffes A zu einem
Fig. 304.
Chemische Oleichgewichte dritter Ordnung.
1091
Fig. 305.
Gemenge von B nnd G, das sich in zwei flUssige Phasen geschieden
hat, 80 bilden sich zunachst Losungen, die fiir A ungesattigt sind: A
„verteilt'* sich zwischen B und G. Bei zunehmender Menge von A
bleibt dieses endlich ungelost und die Losungen haben die Zusammen-
setzong a and b. Weiteres A lasst diesen Zustand ungeandert.
Bei der vorangegangenen
Darstellung war angenommen
worden, dass die vorhandene
Falte eine Mittelfalte sei, die
nirgend an eine der Grenz-
linien heranreicht. Geben wir
diese Einschrankung auf, so
konnen zwei Moglichkeiten
eintreten. Entweder geht die
Falte an den gegeniiberlie-
genden Rand, oder an einen
anliegendeo. Der erste Fall
wird durch den Grundriss A
Fig. 305 dargestelltjQndunter-
scheidet sichoffenbar nicht er-
heblich von den friiher eror-
terten. Der dem zweiten Falle
entsprechende Grundriss ist
in Fig. 306 angegeben. Die
Deutung ist ganz der friiheren
ahnlich und wir haben die-
selben Bestandteile des Feldes,
iiur etwas anders geordnet.
Deragemass treten abgean*
derte Reihenfolgen der ver-
schiedenen Phasen beim Zu-
satz des einen oder anderen A
Bestandteils auf, welche der ^^*f* ^^•
Leser aus Fig. 306 unmittelbar ablesen kann.
Beziiglich der experimentellen Bedeutung der besprochenen Falle
ist noch folgendes zu bemerken.
Der ersterwahnte Fall, Fig. 304, ist ein Ausdruck der Voraus-
setzung, dass von den drei Bestandteilen zwei, namlich B und G fliissig
sind, wahrend A fest ist. B und G losen sich in alien Verhaltnissen,
werden aber durch Zusatz von A dahin gebracht, sich teilweise zu
1092 n. Ghemische Dynamik.
entmischeD. Derartige Falle sind seit langer Zeit bekannt; so weiss man,
class die Losungen Yon Alkohol in Wasser zwar in alien Verhaltnissen
erfolgen kann, dass aber durch Zusatz gewisser Salze, z. B. Kalium-
karbonat, eine Bildung zweier Fliissigkeitsschichten eintritt In gleicber
Weise wirken Amnionium- and Mangansalfat u. s. w. In alien diesen Fallen
kommt es somit nur zor Bildung einer Mittelfalte and die aicht mischbaren
Losungen gehen durch einen kritisohenLosungspunkt in die mischbaren iiber.
Auch im dritten Falle, Fig. 306, ist die Voraussetzung gemacht,
dass die beiden Flussigkeiten B und C sich in alien Verhaltnissen loseo.
Wahrend aber der feste Stoff A mit C eine gewohnliche gesattigte Lo-
sung giebt, so tritt dies mit B zwar ein, wenn wenig B vorhanden ist;
mit mehr B entsteht aber ein zweiphasiges FlUssigkeitsgebilde, das erst
bei viel B wieder in eine Losung ubergeht. Diese Verhaltnisse wetden
etwa durch die Eombination A = Phenol, B = Wasser, C = Alkohol
dargestellt.
Im zweiten Falle, Fig. 305, endlich sind die beiden Flussigkeiten
B und C als nur teilweise ineinander loslich angenommen, wahrend der
feste Bestandteil C in jeder der Flussigkeiten loslich sein soU. Dieser
Fall ist offenbar sehr haufig, da man jedem Paare teilweise miscbbarer
Flussigkeiten unbegrenzt viele festen Stoffe Yon der geforderten Eigen-
schaft zuordnen kann.
Man kann ferner nach den Fallen fragen, wo nicht wie bisher
einer der Bestandteile als feste Phase auftritt, sondern eine binare oder
ternare Verbindung. Indessen ergeben diese Voraussetzungen so wenig
Besonderes, dass die Zeichnung der entsprechenden Grundrisse dem
Leser iiberlassen werden kann.
90. Bin GrensfiUL Wir konnen wieder nach den einfachen Gesetzeu
fragen, welche auftreten, wenn einer der Stoffe in so geringem Verbalt-
nis vorhanden ist, dass man ihn als in verdiinnter Losung befindlich an-
sehen darf. Es sollen die Flussigkeiten A und B, welche einander nur
teilweise losen, soweit abgekiihlt werden , bis eine von ihnen (es sei A)
in fester Gestalt sich ausscheidet. Wir haben dann ein binares Gleich-
gewicht aus zwei fliissigen und einer festen Phase neben Dampf
(S. 864), also einen uonvarianten Punkt.
Setzen wir nun einen dritten Stoff C in geringer Menge hinzu, so
wird sein Einfluss davon abhangen, wie er sich zwischen den beiden
Flussigkeiten verteilt Geht er ganz in A fiber, so muss die Tempera-
tur erniedrigt werden, damit festes A neben der Losung im Gleich-
gewicht ist, und zwar betragt diese Erniedrigung (annahemd) ebenso-
viel, als ware B gar nicht vorhanden, da sich die Einfliisse der beiden
in A gelosten Stoffe B nod C addierea, &Ub
beider KonzeDtration gering iBt
Geht dagegeo C ganz in B iiber, so mm
peratar e r^ 6 h t werden. Denn durcb die
ist der Dampfdruck von B im Verhaltnis des I
und damit ist die Notwendigkeit gegebeii, <j
keit Ton B in alien LoBangsmitteln in gleicfa
wird ').
Dieser ScfaluBB ist von Kerost*) gezogen
statigt worden. Er brachte io das Gefass ein
frierapi>arate8 gewogene Mengen von reiDem ii
beetimmte die Erstarrnngstemperatur. Oann \
die nicht in Wasser, aber leicht in Ather loBlicb
der Gefrierpunkt wurde neu bestimmt; die erwar
Zur Berecliuung kann die Konzentration det
Temperatnferniedrigung proportional gesetzt werd
verminderung aber ist proportional dem Molenbi
des Stoffes in N Molen Atber gelost, nnd ist die
reinem Ather gleich tg, bei der Losung gleick t,
— = -rr-i — Oder angenahert = ^r^- • Eraetzl
t, N + n " N
die Gewicbte g und die Molekulargevichte m
M G t — to g M , , ,
N = -jTj- , woraus — --^ ^^ TT """ daher
knlargewicbt des gelosten Stoffes
__ gMt,
G{t — to)
folgt Die Gleicbung ist der gewohnlichen Gefrie |
ahnlicb, nur dass hier etae Erhohnng statt der I
1094 II- Chemiscbe Dyoamik.
Um die erforderliche Korrektur za berechnen, setzen wir die
lichkeit des Athers aus der Losung bei der Gefriertemperator gleich
p' und die des reinen Athers bei derselben Temperatar gleich p. Der
GefrierpuQkt der gesattigten AtherlosuDg sei t^, die Gefrierpnoktserhohang
J. Nun konnen wir zwisohen t^ und t^ 4~ ^ einen Kreisprozess aos-
fuhren, bei welchem die Konzentration des Athers umkehrbar von p'
auf p gebracht wird; die dazu erforderliche Arbeit ist fur ein Mol Atber
gleich — RT uud die bethatigte Warmemenge werde Q genannt;
Mr
dann ist nach dem zweiten Hauptsatze — ^RT:Q = J:Tq.
Um nun Q zu berechnen, bedenken wir, dass beim Heraosschaffen
des Wassers fiir die Eonzentrationsvermehrung im Gleichgewicht mit
Eis dies Wasser in £is umgewandelt wird; gleichzeitig wird eia Mol
Ather aus seiner Losung entfernt. Sind auf ein Mol Aiher s g Wasser
▼orhanden, und ist Z die Schmelzwarme von 1 g Wasser, so ist die £r-
starrungswarme des Wassers gleich Zs. Diese muss noch um die
Losungswarme 1 Yon einem Mol Ather vermindert ¥rerden, so dass
die Gleichung lautet:
P:=P^RT. = (28-1)4-
P ^0
RT *
Nun ist (I, 760) X= — ; eliminiert man RT^* und vemach-
toS
lassigt das Glied zweiter Ordnung - - - , so folgt
p — p' n J t^ — t
Oder m
N to — i4 t
g Mto 8^
{^-^)
G t — 1<, sX — \
Bei der Anwendung der Formel hat man darauf zu achten, dass
ein Teil des Athers in das Wasser geht, und nur der Rest als Lo-
sungsmittel wirkt; es sind in 100 ccm Losung 144 g Ather enthalten.
Aus den Versuchen ergab sich die Konstante der „molekulai'en** Gefirier-
punktserhohung zu .306, wahrend aus der Formel ohne Korrektions-
glied 285 folgt. Der Unterschied wurde durch eine Losungswarme des
Athers von 15 K erklart werden.
Da durch die Ausscheidung des Eises nur Gefrierpunktsanderungen
zweiter Ordnung entstehen (die dem Eise entsprechende geringe Menge
Ather wird der Hauptmenge zugefiihrt), so stellen sich die Tempera-
turen sehr scharf ein und bleiben lange konstant Die Versuche er-
gaben daher recht gute Werte fiir die Molekulargewichte, so fiir
Gheniische Gleichgewichte dritter Ordnung. 1095
Benzol (M = 78) 78, 82, 82; fiir Naphtalin (M = 128) 130, 131; fur
Jod indessen (M = 254) 239, 280.
Ahnlich fielcn Versucbe mit Athylacetat aus, doch ist dieser Stoff
viel schwerer rein darzustellen.
In einer spateren Notiz^) wird eine fur die praktische Anwendung
zweckmassige Ausfiihrungsform des Verfahrens beschrieben; man
nimmt ziemlich yiel Ather (20 com) und wenig Wasser (5 ccm);
der Atber wird yorher vielfach mit kleinen. Mengen Wasser ausge-
schiittelt, urn ihn von leichter loslicben Beimengungen zu befreien. Die
Gefriertemperatur des Wassers bei Gegenwart von Ather ist — 3-82^
Der Apparat ist gegen die Verdunstung des Athers zu schiitzen, indem
man fiir den Riihrer eine Rohre als Fiihrung vorsieht. Die auf solcbe
Weise zu erbaltenden Zahlen sind etwa von gleicber Ordnung der Ge-
nauigkeit, wie unmittelbare Molekulargewichtsbestimmungen aus Gefrier-
punkten, da der geringere Betrag der Temperaturanderungen durch die
grossere Scbarfe der Einstellung ausgeglichen wird.
91. Zwei flussige und zwei feste Fhasen. Wenn die Ebene des
Dreiphasendreiecks, welcbes zwei fliissige Phasen neben einer festen
darstellt, infolge passender Wabl von Temperatur und Druck den Punkt
einer zweiten festen Phase in sich aufnimmt, so ist ein entsprechendes
Gleicbgewiebt moglich, das durch Zulassung einer Dampfpbase non-
variant wird. Da von diesem Dreieck keine Seite und nur eine Ecke
an den Rand des Grundrisses gelangen kann, so muss eine von den
beiden festen Phasen notweudig eine ternare Verbindung sein.
92. Drei flussige Phasen und eine feste. Wenn der Punkt, der
die chemische Energie eines festen Stoffes darstellt, in die Ebene fallt,
welche durch die drei Punkte eines dreiphasigen Fliissigkeitsgemenges
gebt, 80 besteht zwischen beiden Gleicbgewiebt, und man erhalt (unter
Mitwirkung einer Dampfpbase) einen nonvarianten Punkt. Dies ist im
allgemeinen durch passende Wabl der Temperatur ausftihrbar.
Indessen ergiebt sich aus dieser Betrachtung die Notwendigkeit,
dass die feste Phase, um mit dem Dreieck in Beriihrung zu kommen,
jedenfalls eine ternare Verbindung sein muss. Denn da sich das
Dreiphasendreieck nicht bis zum Rande oder gar bis in eine Ecke
erstrecken kann, so sind Bestaudteile oder binare Verbindungen aus-
gescblossen.
Vier fliissige Phasen kommen erfabrungsgemass nicht vor. Ver-
sucht man einen Grundriss zu entwerfen, in welchem sie auftreten, so
») Zeitschr. f. phys. Chemie 6, 573. 1890.
HjHb 11. i;tieiDi8ciie uynkmiic.
gelangt, man entweder auf die Voraussetzung binarer Gemeoge mit
drei fliissigeu Phasen oder auf geometrische Unmoglichkeiten.
AuBser diesem Falle kann man nocli den eiafacberen betrachten,
wo die feste Phase nictit gteiohzeitig mit alien drei fliissigen im Gleicb-
gewicht ist, sondem mit einer oder bochetens zweieo. Es baDdelt sich
daun nicbt mehr urn einen oonTarianten Pnakt, Bondern am Lostm^-
liaien, die tod der Temperatur ond der Zusammensetzong abbangeQ.
Die Eigentiimlichkoitoii dieses Falles scblieEsen sicb nnmittelbiu' an
die S. 1090 gescbilderten mit zwei fliissigen Phascn. Wie dort durcb
das Aaftreten einer zweiten Fluesigkeit der Losungskegel der festea
Phase in zwei getrennte Stiicke gespalten wird, so erfolgt bier eine
Spaltnng in drei Stiicke, indem der Ldsnngskegel das Droieck der
drei fiiissigen Pbasen gleicbsam vor sicb her scbiebt Fig. 307 lasst
sich imter diesem Geaicblapankte leicht verstehen; a^/ sind die drei
fliissigen Pbasen, A a, a,, Abjb, , Ac,Ci die drei Stiicke vom LdsnngS'
kegel des festen Bestandteils^A.
Die verwickelteren F^e,
dass mebrere feste Pbasen aof-
treten, oder daes statt eines
Bestandteils eine bioare oder
ternare Verbindung in fester
Form erscheint, aollen hicr
nicbt erortert werden.
93. Ol)eTBioht Versacht
man, ans der Gesamtbeit der
bisberigen Ergebnisse das All-
gemeine zu eotnehmen, so
ergiebt sicb folgeude Cbarak-
teristik dor moglichen Felder,
Fig. 307. io welche der Gnmdriss zer-
fallen kann.
A. Einpbasige Felder') konnen nur Flussigkeitsfelder seio. Denn
feste StofTe sind nacb der Voraussetzuag von bestimmter Zusammeii-
setzung und konnen daher nur durcb Punkte, nicbt durcb Felder dar-
gestellt sein. Solcbe einpbasige Fliissigkeitsfelder enden entweder an
deu Seiten des Gruudrisses, oder sie sind durcb Grenzkurven gegen
audere Felder ahgescblosseo. Geradlinige Begreozungen gegeo andere
Felder sind nicbt moglich.
B. Zweiphasige Felder stellen entweder die Eoexistcnz zveier
') Die Dampfpbase iai hier wie frQher nicht eingereebnet
Cbemische Gleichgewichte dritter Ordnung. 1097
Reiben von FlUssigkeiten oder die eines festen Stoffes mit einer Reihe
von Fliissigkeiten dar. Zwei feste Phasen konnen nur durch eine
Gerade dargestellt sein, welche die beiden Punkte verbindet, die ihre
Zusammensetzung ausdriicken.
a. Felder, welcbe zwei Fliissigkeiten darstellen, sind durch zwei
Grenzkorven abgeschlossen. Diese Grenzkurven konnen sich entweder
uumittelbar vereinigen. S4IO44, Fig. 275a, oder durch eine Gerade begrenzt
sein, b. oder endlich durch zwei Gerade begrenzt sein. c. Im ersten
Falle enthalten sie zwei kritische Punkte, im zweiten einen, im dritten
keinen. Kritische Punkte treten dort auf, wo sich zwei Grenzkurven
uumittelbar vereinigen, daher ist die Summe der Grenzgeraden und
der kritischen Punkte immer zwei.
Die beiden Grenzkurven haben die Beschaffenheit, dass jedem
Punkte der einen ein Punkt der anderen entspricht, indem die durch
entsprechende Punkte dargestellten Losungen mit einander im Gleich*
gewicht sind. AUe Felder, welche zwei Fliissigkeiten darstellen, lassen
sich daher mit stetig auf einander folgenden Verbindungslinien je zweier
entsprechender Punkte erfiillen.
Die beiden Grenzkurven miissen ihrer Natur nach im Inneren
des Grundrisses liegen. Dagegen konnen die vorhandenen Geraden mit
Seiten des Grundrisses zusammenfallen, miissen es aber nicht. Ein
Feld vom Typus Fig. 275a kann natiirlich nur im Inneren des Grund-
risses liegen.
b. Felder, welche einen festen Stoff im Gleichgewicht mit einer
Reihe von Fliissigkeiten darstellen, sind durch zwei sich schneidende
Gerade und eine Grenzkurve abgeschlossen. Die beiden Geraden
schneiden sich in dem Punkte, der den festen Stoff darstellt, und
konnen alle Winkel bis 360® bilden. 1st der feste Stoff einer der
Bestandteile, so ist der grosste Wert des Winkels 60®, ist er eine
binare Verbindung 180® und ist er eine ternare 360^. Jede Gerade,
welche von dem Punkte des festen Stoffes zu einem Punkte der Grenz-
kurve gezogen wird, stellt ein mogliches Gleichgewicht zwischem dem
festen Stoffe und einer Losung dar. Ein solches Feld ist daher von
einem Biischel Gerader erfiillt, dessen Mittelpunkt durch den festen
Stoff gegeben ist. Man kann es sich aus einem Zweifliissigkeitsfelde
der Form Fig. 275 c entstanden denken, indem eine der Grenzkurven
auf einen Punkt zusammenscbrumpft.
Man kann es daher einem binaren Felde alsbald ansehen, ob es
zwei Fliissigkeiten oder eine Fliissigkeit und einen festen Stoff darstellt;
im ersten Falle enthalt es zwei Grenzkurven, im anderen nur eine.
1098 n. Ghemisehe Dynamik.
G. Dreiphasige Felder sind immer durch drei Gerade begrenzt*
werden also durch geradseitige Dreiecke gebildet and enthalten keine
Grenzkurve.
Da die dreiphasigen Felder das Gleichgewicht dreier Phasen tod
bestimmter Zusammensetzung darstellen, so kann es sich sowohl um
drei feste Phasen, wie um zwei feste und eine fliissige, zwei fliissige
und eine feste oder endlich drei fliissige handdn.
Die Deutung der Ecken eines solchen Dreiecks ergiebt sidi ans
den Linien, die ausserdem daselbst zusammentreffen. Sind es lauter
Gerade, so stellt der Punkt eine feste Phase vor. Nach dem stochio-
metrischen Grundgesetz miissen sich die zugehorigen Molenbriiche dann
immer durch ganze Zahlen ausdriicken lassen. Wird dagegen der Punkt
durch den Durchschnitt zweier Grenzkurven bestimmt, so handelt es
sich um eine Flussigkeit. Die ersten Punkte sind unabhangig von der
Temperatur, die anderen verandem sich mit ihr.
94. Die Temperatnrftftchen imd -linien. Die bisherigen Er-
wahnungen des Temperatureinflusses beschrankten sich darauf, den Zu-
sammenhang der verschiedenen Formen klar zu machen, in welche die
Felder durch stetige Ubergange gelangen konnen, da solcfae Ubergange
durch Veranderung der Temperatur in einem oder dem anderen Sinne
bewirkt werden. Wir treten nun an die Aufgabe heran, den gesamten
Einfluss der Temperatur auf die ternaren Gleichgewichte in ahnlicher
Weise zu untersuchen, wie dies bei den binaren vermittelst der Losun^
linien geschehen war.
Setzen wir zu solchem Zwecke eine Reihe von Grundrissen nacb
einer senkrecht zu ihrer Ebene stehenden Temporaturaxe zusammen,
so werden sich die verschiedenen Feldgrenzen zu Flachen entwickeln,
welche innerhalb des entstehenden dreiseitigen Prismas Platz finden,
und dercn Gesamtheit den Einfluss der Temperatur auf die vorhandetien
Gleichgewichte darstellt.
Was zunachst den Einfluss der Temperatur auf die festen Phasen
anlangt, so ist deren Zusammensetzung unabhangig fon ihr, und die
Punkte solcher Phasen gehen daher einfach in Gerade uber, welche
den Prismenaxen parallel sind.
Alle Grenzkurven dagegen, welche die Zusammensetzung fliissiger
Phasen darstellen, die mit anderen (festen oder fliissigen) im Gleich-
gewichte stehen, werden durch die Temperatur beeinflusst. Sie bild^
daher im „Temperaturprisma" doppelt gekriimmte Flachen, welche sich
zwar hauptsachlich in der Richtung der Temperaturaxe erstrecken,
aber im iibrigen sehr mannigfaltige Formen haben konnen.
Chemische Gleichgewichte diitter Oi
Die geraden Greozlinien der Felder, welch(
yerbiuden, miissen auch bei Veranderung der Tem
Au3 ihuen entstehen also Regelflachen, deren I
rissebene immer parallel bleiben.
Die durch den Dorchschnitt der Grenzkni
mit Geraden entstehenden Punkte, welche Phasi
sammensetzung in dreiphasigen Gleichgewichten
Koordinaten somit gleichfalls im allgemeinen mit
verandern. Dies driickt sich in unserem Prisma
aus den Grenzkurven entstandenen „Grenzflachei
nicht in senkrechten Geraden schneiden, sonderi
gekriimmte Durchschnittslinien geben werden.
Durch die bisher geschilderten Verandemi
Feldteilungen des Grundrisses gegen einander ye
aber keine neuen Felder. Wir konnen aber fe
fiir das Erscheinen und Verschwinden von Phas<
anderung fragen. Da wir die Betracbtung
der Dampfphase zunachst ausschliessen
woUen, so haben wir nur zwei Arten solcher
&.nderangen: Schmelzen und Erstarren, und
Trennung und Vereiuigung fliissiger Phasen.
Die Scbmelzung einer fliissigen Phase,
die nur aus einem Bestandteile besteht,
deren Punkt also in einer Ecke des Grund-
risses liegt, erfolgt, nachdem sich das Feld
fest^fliissig, welches diesen Punkt umgiebt,
immer enger zusammengezogen hat, im
Augenblicke wo es verschwindet. Dies ist
ein Ausdruck dafdr, dass der Stoff A bei
der Annaherung an seinen Schmelzpunkt
immer loslicher in der fliissigen Phase wird, un<
selbst sich mit ihr homogen mischt.
Im Temperaturprisma Fig. 308 stellt si :
durch eine Flache dar, die sich der Eante AT
und sie endlich schneidet. Das Schneiden erfol^
lichen Winkel, der durch die molekulare Eri
starrungspunktes des Stoffes, d. h. durch seinen
seine Schmelzwarme gegeben ist. Da diese Erni:
Mengen des zugesetzten Stoffes von seiner Na;
so folgt, dass in der Nahe des Schmelzpunki
\
1100
II. Ghemifiche Dynamik.
eioe Gerade ist, die der Gegenseite des Grundrisses (hier der
Seite BC) parallel laaft. Denn in jedem Punkte einer solchen Geraden
ist die Summe der Molenbriiche der beiden fremden Stoffe B und
C konstant, und daher die Schmelzpunkterniedrigung gleich gross ^).
Somit ist die „Schme1zflache'' in der Nahe des Schmelzpunktes
nahezu eine Ebene und lauft in eine Spitze aus, deren Form man
erhalt, wenn man durch eine Kante eines dreiseitigen Prismas sym-
metrisch eine Schnittebene legt
Die Schmelzflache einer binaren Verbindung (AB) ergiebt sich
aus folgeuden Betrachtungen. Das annabernd halbkreisformige Losungs-
feld einer solchen Verbindung zieht sich bei steigender Temperatur so
Fig. 309.
zusammen, dass an der Prismenflache ABT die Fig. 146, S. 815 ent-
steht, welche fur das Schmelzen einer binaren Verbindung typisch ist.
£s nahern sich also die beiden Sattigungspunkto auf der Linie AB der-
gestalt, dass die von ihnen bescbriebenen Linien im Schmelzpunkte
stetig in einander Ubergebon, Fig. 309.
Uber die weitere Gestalt der Flache giebt die Uberlegung Aus-
kunft, dass durch Zusatz des fremden Stoffes G zu der Verbindung eine
Schmelzpunkterniedrigung hervorgebracht werden muss, die den gewohn-
lichen Gesetzen folgt. Die entsprechende Linie ist also (annahernd)
eine Gerade, welche im Schmelzpunkte die 6 -Ebene uuter einem be-
stimmten Winkel schneidet. Daraus ergiebt sich, dass die Gesamtgestalt
^) Ausnahmen kOanen eintreten, wenn sich in der Flassigkeit Verbindungen
bilden.
Chemische Gleichgewicbte dritter Ordnung. 1101
*
dieser Schmelzflache UDgefahr erhalten wird, wenn man von einem Kegel
ein Stiick durch eine Ebene, die nicht durch die Spitze des Kegels
geht, abschneidet.
Haben wir schliesslich eine ternare Verbindnng^ so liegt der Schmelz-
punkt innerhalb des Prismas. Die Form der Schmelzflache ist ungefahr
die eines Rotationsparaboloids, Fig. 310. Dies ergiebt sich einerseits aus
dem Umstande, dass die isothermen Grenzkurven den Punkt der festen Ver-
bindung umkreisen. Andererseits kann der Gipfel der Temperatnrflache
nicht spitz sein, sondern muss etwa eine Form haben, wie ein Pol eines
EieS) weil die reine Schmelze der Verbindung aus den drei Bestand-
teilen A, B und C besteht, und daher jeder mogliche Zusatz kein
„fremder^' Stoff ist. Es miissen mit anderen Worten alle Vertikal-
schnitte durch die Temperaturflache die Gestalt haben, wie die Schmelz-
punktslinie einer biuaren Verbindung (S. 815).
Die geschilderten Flachen stellen nun die voUstandigen Temperatur-
flachen fiir die Gleichgewicbte fest-fliissig nach der Seite der hoheren
Temporaturen dar. Nach unten werden diese Flachen im allgemeinen
dadurch abgegrenzt, dass sie sich gegenseitig durchschneiden. Dadurch
gelangen die eingeschlossenen Teile der Flachen in das Gebiet der Un-
bestandigkeit und kommen fur stabile Gleichgewicbte nicht mehr in
Betracht. Werden die vorhandenen Verschiedenheiten in der Art dieses
gegenseitigen Durcbschnittes untersucht, so sind damit die Elemente
gegebeu, aus denen sich die ternaren Gleichgewicbte zwischen festen
uod fliissigen Phasen zusammensetzen.
Um aber die vorhandenen Moglichkeiten zu erschopfen, miissen erst
noch die Temperaturflachen fiir die Gleichgewicbte mit zwei fliissigen
Phasen erortert werden.
95. Die TemperaturfiHohe llussig - flussig. Die Grenzkurven fiir
das Gleichgewicht zweier fliissigor Phasen liessen sich auf drei ver-
schiedene Typen zuriickfiihren, deren stetiger Zusammenhang sich
aber bei der Betrachtung der Temperaturflache herausstellt. Gehen wir
von einer Temperatur vollkommener Mischbarkeit der drei Bestandteile
abwarts, so ist die allgemeinste Annabme die, dass innerhalb des Prismas
bei einer bestimmten Temperatur, der kritischen, die Scheidung in zwei
fliissige Phasen eintritt. Die spateren Isothermen haben dann die Ge-
stalt Fig. 263 1, S. 1032, d. h. sie bilden geschlossene Linien, die die
Projektion des kritischen Punktes umkreisen, und sich zunachst um so
mehr erweitern, je tiefer die Temperatur sinkt.
Die tjpische Gestalt der Temperaturflache fliissig-fliissig ist dem-
nach ganz ahnlich der der Schmelzflache einer ternaren Verbindung,
Osiwald, Chemle. 11,2. a.Aufl. 70
1102
II. Chemische Djnamik.
Fig. 310, S. 1100. Sie unterscheidet sich von dieser wesentlich dadurdi,
da88 sie dnrch zwei Meridianlinien in zwei Teile gespalten wird, welche
sich Punkt fiir Punkt entsprechen. Die Meridianlinien stellen den Ort
der beiden kritischen Punkte dar, welche an geschlossenen Grenzkarren
auftreten.
Diese paraboloidformige Flache wird durch das dreiseitige Coordina-
tenprisma begrenzt, und jede parallel der Basis gelegte Ebene ergiebt
einen Grundriss mit der zugehorigen isotbermen Grenzkurve. Man
uberzeugt sich leicht, dass je nach der Lage des Paraboloids im Prisma
und der Isothermenebene die verschiedenen Typen der Grenzkorve fiir
die Gleichgewichte fliissig-fliissig erhalten werden. Die ZeichDungen
Fig. 311 und Fig. 312 machen diese Verbal tnisse alsbald ohne Worte klar.
Fig. 311.
Fig. 312.
Es ist zu betonen, dass bei abnebmender Temperatur die ge-
schlossenen Grenzkurven zwar zunachst die Proj^ktion des hochsten
kritiscben Punktes umkreisen werden, dass aber spater Verschiebongen
eintreten konnen, so dass nicht nur eine teilweise Durchschneidung der
verschiedenen auf die gleiche Ebene projicierten Isotbermen eintreten
kann, sondern sogar eine allgemeine Verkleinerung der Grenzkurven,
die zu der Entstehung eines unteren kritiscben Punktes fuhrt. Die
Gesamtflache hat dann etwa die Gestalt eines Ellipsoids, von dem oft
ein Teil ausserhalb des Coordinatenprismas liegen kann, der dann keine
physiscbe Bedeutung hat.
Auch wird es niitzlich sein, einen Unterschied zu bemerken, der
sich ergiebt, je nachdem der obere, bez. untere kritische Punkt innerhalb
des Coordinatenprismas liegt, also reell ist, oder ausserhalb desselben, d. h.
nicht existiert. Im zweiten Falle ist das Gemisch, an dem bei der hochstai»
Chembche Qleicligewicbte dritter OrdDong 1103
bez. tiefeten Temperatur die kritischeo EtscheinungeD beobacfatet werdea
konneD, ein binares, denn der DnrchBchnitt der Temperaturflache mit
der betreffonden Priamenseite stellt nichts dar, als die binare Loaungs-
liDie der beiden entsprechenden fiestandteile, and in diesem Darch-
schnitte findet Bich die hochste kritisclie Temperatur.
In dem ersten Falte dagegen haben wir es mit oinem hocfasten
kritiachen Funkte an einem ternaron Gemisch oder einem kritiachen
Punkte dritter Ordnung zu thun, der fiir die ternaren Gleichgewichte
dieBelbe Bedeutung hat, wie der kritiscbe LosnngBpunkt fiir die binaren.
Ein solcher Fall wurde von Schreioemakers') bei Phenol, Wasser
und Aceton beobachtet Bei Temperaturen oberbalb 92" sind diese drei
Stoffa in alien VerhaltniBsen miscbbar; bei 92° liegt ein kritiacber
Punkt dritter Ordnung mit der Zusammeasetzung 0-59 Wasser, 0-12
Aceton und 0-29 Phenol.
Unterbalb dieser Temperatur tti,
umkreisen die Isothermen der Zwei- ^''\
fiiissigkeitBgebtete diesen Punkt, bis / . \
aifl achlieeslich bei 68", der kritischon \
Temperatur Waaser-Pheno!, die Seite \
WPh beriihren. Von dort ab sind \
die Isothermen ungeschlossen , \
Fig. 313. \
Von dem kritiachen Punkte drit- \
ter Ordnung gehen zwei kritiscbe ^"' -^''■
Linien aus,welchediekritischenPunk- '"'B- 3'3-
te zweiter Ordnung dar Isothermen
zuBammenfassen. Da der eine kritiscbe Punkt der Isothermen, welche
die Seite WPh beriibrt, in diesem Berubrungapunkt liegt, indem er mit
dem des Paares Wasser-Phenol zusammenfatlt, so ist der ungefabre
Verlauf der einen kritischen Linie gegeben. Ober den der andereo
lasst aich nichts atlgemeines aagen.
Die allgemeine Gestalt der Temperaturflache ist in dem eben be-
Bprochenen eraten Falle wie erwahnt der Schmelzflache einer ternaren
festen Verbindung ahnlich, wahrend im anderen Falle eine iLhnlichkeit
mit der Schmelztemperaturflache einer binaren Verbindung besteht.
Aus naheliegenden Grunden hat die Schmelztemperaturflache eines
festen Bestandteils im Falle fliissig-fliissig kein Analogon.
96. Drei fl&BBlgs Phasen bei Toranderliolier Temperator. Als
einfachsten Fall der Isotherme fiir drei fliiaaige Phaaen kann man die
') Ztschr. f. ph, Ch. 83, 78. 1900.
70*
1104
II. Chemische Dynamik.
kleeblattabnliche Figur 273, S. 1042 antiehmen, deren einspringende
Winkel die Zusammensetzung der drei koexistierenden fliissigen Phasen
angeben. Bei steigender Temperatur wird wegeu zunehmender Loslich-
keit der Bestandteile in einander im allgemeiuen eine Verkleinening das
Eeldes eintreten. Schliesslicb werden aber nicht notwendig alle drei Phasen
gleicbzeitig sich zu einer vereinigen, sondern es kann zanachst eine der
Phasen verschwinden, so dass ein Gcbilde mit zwei Flussigkeiten nach-
bleibt, und dieses wird dann bei irgend einer hoheren Temperatur iu
das eiuphasige Gebilde iibergebeu.
Hieraus folgt, dass die entsprechende Temperatarflache nach oben
«benso ausgehen wird, wie die Flacbe mit zwei fliissigen Phasen, nam*
lich in Gestalt eines Gewolbes mit runder Euppel, Fig. 311, S. 1102.
Dagegen wird dies Gewolbe in seinem unteren Teile den oben erwahnten
kleeblattformigen Durchschnitt haben. Das heisst: es sind hier in der
Gewolbewand Falten ausgebildet, die im wesentlichen nach oben gerichtet
verlaufen und sich dort, wo die dritte fliissige Phase verschwindet, iu
•bestiinrntcr Weis(! ausglatten.
Diese Ausglattung kann nuu
auf zweierlei Weise erfolgen. Der
Cbergang ist namlichdadurchgekenu-
zeichnet, dass das Dreieck, welches
die Eoexistenz der drei Phasen dar-
stellt, in eine Gerade iibergeht, welche
die gleichzeitigen zwei Phasen an-
giebt. Eine solche Umwandlung kano
aber entwedcr so erfolgen, dass
beim Schmalerwerden des Dreiecks
eine der Ecken innerhalb der Gegen-
seite verschwiudet, oder so, dass
zwei Eckcii zusammenfallen. Den ersten Fall stellt Fig. 314 dar; die
drei Falten miissen, urn die gemachte Voraussetzung zu erfullen, gleicb-
zeitig enden und zwar miissen die drei Faltenpunkte nicht nur iu
gleicher Hohe, sondern ausserdem in einer Geraden liegen, so dass die
Temperaturflache an dieser Stelle in eine Regelflache mit horizontaler
Erzeugendeu iibergeht. Gleicbzeitig muss das Temperaturgewolbe in
dieser Hohe euden, weil die Temperatur ein Maximum (bez. Biinimum)
wird, wenn eine Phase sich als Summe zweier anderer koexistenter
Phasen darstellen lasst (S. 128). Ich bin nicht gaoz sicher, ob ein
dorartiger Fall physisch moglich ist.
Im zweiten Falle miissen zwei von den drei Falten in einem
Fig. 314.
Chemiscbe Gfeichgewichte dritter Ordnung.
1105
gemeiDsamen Faltenpunkte zusammentreffen, Fig. 315, wahrend diedrittc
Falte frei in gleicher Hohe endet. Dieser Fall scbeint der typiscbe
zu 8eiD.
Die in die Gewolbe hineingezeicbneten Dreipbasendreiecke werden
die eintretendeh Ubergange deutlicb macben.
Solange drei fiiissige Pbaseu bcsteben, sind auch drei kritiscbc
Linien vorbanden, die den geometriscben Ort der drei kritiscben Punkte-
auf der Temperaturflacbe darstellen. Bei der gleicben Temperatur, wo
die dritte Pbase Terscbwindet, und mit ibr die Falte, endet aucb eine der
kritiscben Linien, da fernerbin nur zwei kritiscbe Punkte in der ge-
schlossenen Isotberme der zweipbasigen Gebilde vorbanden sind.
97. Feste Fhasen. Es bleibt
nocb iibrig, die Temperaturflacben der
Gleichgewicbte zwiscben lauter festen
Pbasen anzugeben. Da die Tempera-
turlinien der einzelnen foaten Stofife
Gerade sind, die der Temperaturaxe
parallel laofen, und die Koexistenz
jo zweier fester Pbasen durcb dieVer-
bindungslinie der betrefifenden Punkte
im Grundriss dargestellt wird, so sind
die Temperaturflacben fiir die Koexis-
tenz zweier fester Pbasen recbteckige
Ebenen, die auf dem Grundriss senk-
recbt steben. Besteben drei feste Pbasen
iieben einander, so bilden die Temperaturflacben ein dreiseitiges gerades
Prisma.
98. Zosammengesetzte Temperaturfl&chen. Aus den gescbilderten
Elementen baucn sicb nun die Temperaturflacben der Gebilde aus drei
Bestandteilen auf, indem sicb je nacb den vorbandenen Yerbaltnissen
solcbe Flacben in mannigfaltigen Znsammenstellungen ausbilden. Nacb
der Seite der niedrigen Temperaturen enden diese Flacben immer in
Gestalt prismatiscber Zellen, die nur gelcgentlicb durcb das Auftreten
cines Umwandlungspunktes eine Anderung erleiden. Diese bestebt darin,
dass zwei neben einander liegende dreiseitige Prismen durcb eine dem
Grundriss parallele Ebene mit vier festen Pbasen abgescblossen werden,
worauf die bisberige gemeinsame Grenzebene verscbwindet, und durcb
eine andere ersetzt wird, welcbe die anderen Kan ten des durcb die
beiden dreiseitigen Prismen gebildeten vierseitigen Prismas verbindet.
Nacb oben entwickeln sicb die verscbiedenen Flacben fcst-fliissi^
Fig. 815.
1106 II- ChemiBche Dynamik.
und flussig-fliissig, deren Gestalt im allgemeineD die von Gewolben ist
Liegt deren oberster Punkt innerbalb des Prismas, so sind sie allseitig
ausgebildet; ausserdem laufen halbe Gewolbe iiacb den Seitenflachen
und Sechstelgewolbe nach den Eanten des Hauptprismas aus. Diese Ge-
wolbe scheidet die warmeren Gebiete, in denen das Gebilde eine homo-
gene Flussigkeit ist, Ton den kalteren, in denen mehrere Phasen vor-
kommen.
. Da jedes Gewolbe die Koexistenz je zweier Phasen, yon denen we-
nigstens eine fliissig ist, darstellt, so sind die Durcbschnittslinien je
zweier Gewolbe der Ausdruck fur die Koexistenz je dreier Phasen, da
zwei benacbbarte Gewolbe je eine libereinstimmende Phase enthalten. Auch
hier ist wenigstens eine Phase fliissig. Diese Durcbschnittslinien sind
im allgemeinen Linien doppelter Eriimmung, die je nach der Geatalt
der Gewolbe und der Weise des Durchschuittes sehr verschieden laufen
konnen. Es giebt nach den beteiligten Phasen drei Arten, namlich fest-
fest-fliissig, fest-fliissig-fliissig und fliissig-fliissig-fliissig.
Die Linien fest-fest-fliissig entstehen durch den Durchsohnitt zweier
Schmelzflachen und konnen nach Analogie der Verhaltnisse bei binaren
Gleichgewichten (S. 876) in eutektische Linien und Enicklinien unter-
schieden werden. Ihre Eigentbiimlichkeiten gehen aus folgendem hervor.
Die eutektischen Linien entstehen, wenn sich zwei Gewolbe so
schneiden, dass sich zwischen ihnen ein Tbal bildet, dessen Seitenwande
beiderseits ansteigen. Wahrend die Thalwande die Gleichgewichte je
einer festen Phase mit der Fliissigkeit bei verschiedener Temperator
und Zusammensetzung zeigen, giebt die Thalsohle oder eutektische Liuie
die tiefsten Temperaturen an, bei welchen jede dieser festen Phaseu
neben Fliissigkeit von einem gewissen Gehalt am dritten BestandieiP) be-
stehen kann.
Die einfachsten Verhaltnisse erhalten wir, wenn die festen Phasen
aus den reinen Bestandteilen bestehen, und sich im fliissigen Zu-
stande in alien Verhaltnissen mischen. Dann sind die Temperatur-
flachen annahernd Ebenen, welche die Eanten nach innen absteigend
durchscbneiden. Sie bilden paarweise je eine eutektische Linie und die
drei eutektischen Linien laufen nach der Mitte zu einem ternaren
eutektischen Punkte zusammen, der die tiefste Temperatur darstellt,
bei welcher die drei festen Stoffe mit Fliissigkeit in Beriihrung stehen
^) Der dritte Bestandteil ist der, welcher zu einem Gemenge der beiden festen
Phasen zugefUgt werden muss, damit die Zusammensetzung der FiOssigkeit er-
reicht wird.
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnung. 1107
konnen. Fig. 316 giebt eine schematische Darstellung dieser Verhalt-
nisse.
Zunachst bildet jedes der drei Paare der Be&tandteile A, B und C
Gleichgewichte, die zu je eincm binaren eutektischen Ponkte fuhren;i
sie seien im Dreieck Fig. 316 durch K^, K,, K, bezeichnet. Setzt maa
Dun zu dem eutektischen Gemisch AB etwas G hinzu, so wird die Tern-
peratur weiter sinken und etwas festes A und B in Losung gehen. Dies
braucht nicht in demselben Verhaltnis zu sein, wie die Stoffe im eutek->
tischen Gemisch enthalten sind; doch wird die Zusammensetzung in Be-
zug auf diese Bestandteile um so weniger von der des eutektischen Ge-
misches abweichen, je weniger C
zugefiigt worden ist. Geht man in
solcher Weise durch Zuftigung von C
weiter und tragt Serge, dass immer
festes A und B anwesend ist, so wird
die Reihe der ternaren fur A und
B gesattigteu Losungen durch die
eutektische Linie KgK dargestellt
sein. Dies geht solange weiter, bis die
Losung auch in Bezug auf festes C
gesattigt ist; daun ist der dreifache
eutektische Puukt K erreicht. ^'
Von der Linie AG und dem eutektischen Punkte K, des binaren
Gleichgewichts AG aus kann man ganz die gleiche Reihe von Zustands-
anderungen durch Zusatz von B vornehmen. Man erhalt gleichfalls eine
eutektische Linie K,K fiir die Gleichgewichte mit festem A und G, die
in einem eutektischen Punkte enden, wo auch der zugefiigte Stoff B im
fasten Zustande neben der Fliissigkeit bestehen kann. Dieser Punkt muss
mit dem zuerst gefundenen notwendig iibereinstimmen, denn es handelt
sich um dasselbe Gleichgewicht von festem A, B und G mit einer ter-
naren Fliissigkeit. Dasselbe gilt fiir den dritten StofiP.
Lasst man eine ternare Fliissigkeit von irgend welcher Zusammen-
setzung erkalten, so wird sich zunachst der Bestandteil ausscheideu, der
in Bezug auf die Zusammensetzung im eutektischen Punkte im grosseren
Uberschuss ist. Da in der nachbleibenden Fliissigkeit die beiden anderen
Bestandteile ihr Verhaltnis beibehalten, so bewegt sich der Puukt langs
einer Geraden weiter, die durch die Ek;ke des Dreiecks gelegt ist, welche den
sich ausscheidenden Stoff darstellt Dadurch gelangt die Zusammensetzung
auf eine der eutektischen Linien. Ist diese erreicht und wird Uber-
kaltung durch Keime vermieden, so scheiden sich nunmehr zwei Bestand-
llOlj IL (Jbemuciie UfDamlk.
telle im feeteu Zustande aue, nod die Zosammensetzung der FlQssigkeit
Terfolgt bei weiterer, langsamerTerlaufenderAbkuhlung die enteprechende
entektischfl Linie, velcbe im teroareQ eutektischen Punkte eodet, wo
die Temperatnr veiterhin konstaut wird.
Die VerhaltDisse dreifacher eatektiscber GemiBcbe sind bereits tod
Guthrie richtig eingesehen worden, nacbdem er fiir die binaren die an-
gemeesene Au&ssuDg angeuomnieD batta InsbesoDdere hat er sich
iiberzeiigt, daas ein dreifacher eutektischer Punkt immer niedriger liegt,
ak jeder der binaren eutektischen Puukte zwiscbeu den Bestandteilea.
bie Ton ibm Tersprocheue') eingehende Uitteilung Jst indeasen ausge-
blieben.
-W
Fig. 317.
Einen Tollstandig durchgearbeiteteten Fall hat spater G. Charpy*)
geliefert, der die Legierungen von Wigmut, Blei und Zinn antersuchte.
Seine Ergebnisse Bind in Fig. 317 iibersichtlich dargestellt Die Zeicb-
nung giebt die Projektion dee Temperaturprismas auf seine Basis. Um
die wirkliche Lage derFlacben imRaume erkennen zu lassen, eind gleich-
zeitig die Projektionen der LosnngsiBotbermen fiir Abstande von je
20" cingetragen. Man erkennt die drei eutektischen Linieo K,K,
■) PhiJ. Mag. 17, 466. 18U.
■; Compt. rend. 126, 1569. 1898.
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnung.
1109
K,K iiDd E3K, die sich von den binaren eutektisohen Punkten Ej, K^
und E3 nach dem ternaren eutektischen Punkt E begeben. Die Schmelz-
punkte und die Zasammensetzung der binaren und der tertiaren eutek-
tischen Legierungen sind:
Reine Metalle. BiD&re eut. Leg. Tern&re eut. Leg.
Sn 232« Bi : Pb 0-55 : 0-45 127« Bi : Pb : Sn 052 : 082 : 0-16 96^
Bi 268« Pb : Sq 0375 : 0-625 182*
Pb 325« Sn : Bi 04 1 5 : 0585 133*
Die Zahien stellen Gewichtsverhaltnisse dar, nicht Molenbriiche.
Aus dem Verlauf der Isothermen sieht man, dass die Loslichkeit
des Wismuts und Bleis in den Gemengen der beiden anderen Metalle
kleiner ist, als sich unter der Annahme proportionaler Beeinflussung bo-
rechnet, denn die Isothermen sind gegen die entsprechende Ecke convex.
Dagegen konnen Gemenge von Wismut und Blei mehr Zinn losen, als
die beiden Metalle einzelngenommen.
99. Butektisohe Uziien bei Ver-
bindungen. Der eben beschriebene
Typus der eutektischen Linienkommt
immer zustande, wenn es sich um
die Durchschnitte der Schmelzflachen
fester Bestandteile handelt; er
kann sich aber andern, wenn Ver-
bindungen als feste Phasen auf-
treten. Die zugehorigen halben, bez.
ganzen Gewolbe ermoglichen Schnitt-
linien, die ein Maximum haben, und
dadurch werden die Verhaltnisse et-
was verwickelter. Sei EE^E, eine derartige eutektische Linie* Fig. 318t, so
sieht man, dass sie die allgemeine Gestalt der Losungslinie einer Verbin-
dung in einem binaren Gleichgewicht (Fig. 146, S. 815) hat. Wahrend
sie fiir die benachbarten Thalseiten immer noch ein relatives Minimum
darstellt, verlauft sie nicht in einem Sinno auf- oder absteigend, son-
dern erreicht einen hocbsten Punkt E, von dem aus sie wieder abfallt.
Dieser hochste Punkt der eutektischen Linie ist dadurch gekenn-
zeichnet, dass in ihm die Schmelze durch den Schmelz- oder Erstarrungs-
vorgang nicht in ihrer Zusammensetzung geandert werden kann. Es
miissen also beim Schmelzen die beiden festen Phasen in solchem Ver-
haltnis fliissig werden, dass dadurch gerade die Zusammensetzung der
Fliissigkeit erzeugt wird, oder es muss umgekehrt die Fliissigkeit gerade
zu den beiden festen Phasen erstarren, ohne eine anders zusammenge-
uio
II. ChemiBche Dynamik.
fietzte Mutterlauge za hinterlassen. Daraus folgt, dass dieser Ponkt im
Grundriss auf der Geraden gelegen sein muss, welche die beiden Pankte
der festen Phasen mit einander yerbindet
Der Beweis fur den eben ausgesprocbenen Satz, welcher von W. Gibbs*)
herriihrt, ist derselbe, wie der fiir den entsprecbenden Satz der Destil-
lation von Flussigkeitsgemiscben, dass bei einem Maximum oder Minimum
des Dampfdrucks Dampf und Fliissigkeit gleiche Zusammensetzung haben
miissen.
lOO. Aussere und innere Dorohsohnitte. Zwei Temperaturflacben
braucben sicb nicht notwendig so zu scbneiden, dass zwischen iboen
ein Tbal entsteht; sie konnen sicb aucb so scbneiden, dass sicb beide
in gleicbem Sinne senken, wie etwa sicb eine Scbuttbalde an ein Berg-
massiv scbliesst. Fig. 319 veranscbaulicbt diese Art des Durchschnittes.
Sie stcbt zu der eutektiscben Linie in dem-
selben Verbaltnis, wie bei binaren Gleich-
gewicbten der Knickpunkt (S. 876) zum
eutektiscben Punkt und soil daher eine
Knicklinie beissen.
Wabrend eine eutektiscbe Linie zu-
stande kommt, weun zwei Temperatur-
flacben gegen einander zusammenriicken, bis
sie sicb scbneiden, kommt eine Knicklinie
zustande, wenn eine Flacbe zuerst sicb ganz
im Inneren der auderen befunden hat und
berauszutreten beginnt. Roozeboom bat da-
ber die erste Art des Durcbscbnittes die
aussere, die zweite die innere genaunt.
£ine Knicklinie ist wie eine eutektiscbe der Ort des Gleicbgewichts
zweier konstanter fester Pbasen mit einer fliissigen Pbase von wecbselnder
Zusammensetzung. Wabrend aber bei Temperaturerniedrigung in der
eutektiscben Linie alles erstarrt und bei Erwarmung sicb alles ver-
fliissigt, wecbseln bier die beiden festen Phasen auf Kosten eines Teils
der Fliissigkeit. £s ist ganz derselbe Unterschied, wie zwischen eutek-
tiscben Pnnkten und Knickpunkteu (S. 859).
Aus der Fntstebungsbedingung einer Knicklinie ergiebt sich, dass
sie nie zwischen zwei unabhangigen Bestandteilen zustande kommen
kann, sondern dass mindestens eine der beiden festen Phasen eine Yer-
bindung sein muss. Sonst besteht koine Moglicbkeit, die Voraussetzung
Fig. 319.
') Theimodyn. Studien S. 119. Leipzig, 1892.
Chemise he Gleichgewichte dritter
2U erfulleii, dass bei gewiBBen Temperaturen d
von der aoderen umschlossen ist. Aucb dies ati
Falle bei binaren Gleichgewicbten.
Wabreud beim DurchBcbnitt einer der Scb
BestandteilB uod einer Verbindang Knicklinien
Btets senken, bezw. beben, so kdnnen sich die
Verbindungen aus gleichen BestandteileD so act
linie ein Maximum oder Minimum erbalt. Dai
Betzmassigkeiten ein, wie sie fiir die Maximal]
Liuien ausgesprochen worden sind. Nur lasst
Phase nicbt aus beiden festen zuBammensetzen, a
aus der anderen und der Flussigkeit.
k
1112
II. Chemische Dynamik.
Figur der Knickpunkte (bb) entsteht Zwischen beiden giebt es eine
Stelle, wo die eine DurchschnittsliDie parallel der Basis verlauft (cc),
so dass weder ein eutektischer Punkt noch ein gewohnlicber Enick vorliegi
DieserFall ist dadurch gekennzeichiiet,das8 bei Warmezufuhr auch nach dem
Yerschwinden der einen festeu Phase die Temperatur Doch eine gewisse
Zeit konstant bleibt, weil die Gleichgewicbtstemperatur nicbt dadurch
verandert wird, dass die Zusammensetzung der Schmelze wegen der
Yerfliissigung eines Teils der anderen festen Phase eine Andening er-
leidet. Denn dass die Linie seokrecht zur Temperaturachse verlauft, be-
sagt, dass bei den durch sie ausgedriickten Andernngen die Temperatur
konstant bleibt.
Weil indesscn die betrachteten Linien nicht Gerade sin&, so besteht
dieser Zustand nur innerhalb eines mehr oder weniger engen Gebietea
zunacht dem Umwandlungspunkte.
Fig. 321.
Fig. 322.
1st die schneidende Flache stark gekriimmt, so konnen mehrere
Maxima und Minima der Dorchschnittslinie auftreten. Sie ergeben nur
Wiederholungen der beschriebenen Yerhaltnisse.
102. Sohnitte an TemperaturfL&ohen mit 8wel fliisaigen Phasen.
Wenn eine Temperaturflache fest-fliissig in eine Flache fliissig-flussig
Yon der allgemeinen, S. 1102 geschilderten Gestalt eindringt, so ent-
spricht jedem Punkte des entstehenden Durchschnittes auf der anderen
Seite der letzteren Flache ein anderer Punkt gleicher Temperatur, an
welchem die eingedrungene Flache wieder austreten muss. Dies ist ein
Ausdruck dafiir, dass wenn mit einer der beiden im Gleichgewicfat
stehcndcn Fliissigkeiten eine feste Phase koexistieren kann, diese aucfa
mit der anderen Fliissigkeit muss koexistieren konnen. Die entsprechen-
den Punkte nahern sich auf der Seite des Ourohschnittes mehr und mehr
und fallen schliesslich in dem dortigen kritischen Punkte zusammen.
Fig. 322 zeigt einen solchen Fall unter der Annahme, dass eine
Chemische Gleichgewichce dritter Ordnang. 1113
Temperaturflache von der Gestalt Fig. 312, S. 1102 fiir die Gleichge-
wichte fliissig-fliissig vorliegt. Die grosse Ahnlichkeit mit dem wohl-
bekaunten Diagramm fur den kritischen Punkt Dampf-Fliissigkoit ist so-
fort ersichtlich.
1st eine vollstandig ausgebildete Temperaturflache der beiden flussigen
Phasen vorhanden, so wiederholen sich die gleichen Verhaltnisse auch
nach der anderen Seite, da zwei kritische Punkte vorhanden sind.
Die Durchschnittslinie der beiden Flachen liegt nicht in einer
Ebene, sondem weist im allgemeinen Maxima und Minima auf.
Diese fallen im allgemeinen mit den kritischen Punkten zusammen,
wie man aus folgender Uberlegung einsieht. Die Durchschnittslinie
umschliesst eine Flache, die notwendig eine Regelflache sein muss, dereii
Erzeugende horizontale Gerade sind. Wenn also die durchschneidende
Flache in diesem Gebiete selbst keinen Riicken oder Thai hat, so hat
auch die Durchschnittslinie kein daher rlibrendes Maximum oder Minimum.
Entstehen ausserdem aber noch wegen der Gestalt der durch-
schneidenden Flache fest-fliissig Maxima oder Minima in der Durch-
schnittslinie, so miissen zunachst die beiden entsprechenden Punkte
gleichzeitig im Maximum oder Minimum sein, was schou aus dem
Gharakter der Durchschnittslinie als Rand einer Regelflache hervorgeht.
Ferner miissen aber zwei zusammengehorige ausgezeichnete Punkte
dieser Art so zusammengcsetzt sein, dass ihre Projektionen auf die
Basis in einer Geraden mit dem Punkte liegen, welcher die Zusammen-
setzung der festen Phase darstellt. Denn die fraglichen Punkte be-
deuten, dass bei diesen hochsten, bez. tiefsten Temperaturen die beiden
Losungen mit der festen Phase im Gleichgewicht sind; dies kann aber
nur eintreten, wenn durch die Verfliissigung oder Erstarrung sich die
Zusammensetzung der flUssigen Pbasen nicht andert, d. h. die eine
Phase sich als Summe der beiden anderen darstellen lasst. Dies be-
dingt aber die geradlinige Anordnung der drei Punkte (S. 128).
Wird das Gewolbe fliissig-fliissig von mehreren Flachen fest-fliissig
geschnitten, so gilt fiir jede der durchschneidendeu Flachen zunachst
das Gesetz, dass sie sich auf der anderen Seite des Gewolbes in dem
entsprechenden Punkte wieder fortsetzt. Dies wird also auch insbe-
sondere fiir die Kante gelten, in welcher die beiden Flachen fest-fliissig
cinander schneideu. In dieser Kante sind zwei feste Phasen mit
einer fliissigen im Gleichgewicht; trifft also die Kante auf die Flache
fliissig-fliissig, so kommt (unter Einrechnung der Dampfphase) ein non-
varianter Punkt mit zwei festen und zwei fliissigen Phasen zustande. Die
^weite fliissige Pbasc ist durch den entsprechenden Punkt an der anderen
1114 IL Chemische Djnamik.
Seite des Gewolbes bestimmt, und dort muss sich also die Eante
fortsetzen.
103. Das vollst&ndige Temperaturdiagramm. In den YoraDge-
gangenen Abschnitten sind die Elemente bescbrieben worden, aus denen
sich die Darstellung der ternaren Gleicbgewichtserscheinungen bei festcn
and flUssigen Gebilden aufbaut Die unzahligen verscbiedenen FaUe
der Wirklichkeit unterscbeiden sich nur durch die Zahl und Anordnang
dieser Bestandteile, wie durch quantitative Verschiedenheiten unter ein-
ander; doch so, dass es im allgemeinea nicbt schwierig ist, die Deutang
der yorhandenen Mannigfaltigkeiten mit Hilfe der gewonnenen Begriffe
durchzufuhren.
Die allgemeine Gestalt des Diagramms ergiebt sich aus folgendenu
Da bei sehr niedrigen Temperaturen alle Stoffe fest sind, so besteht
der untere Teil aus den S. 1105 beschriebenen dreiseitigen Prismen,
vergleichbar den Gefassbiindeln des Holzes, die an einzeben Stellen
durch Querwande geteilt werden, die den Umwandlungspunkten der
Yorhandenen festen Stoffe entsprechen.
Dariiber lagern sich dann die Gewolbe fest-fltissig und fliissig-
fliissig. Und zwar finden die Aufiagerungen solchergestalt statt, dass
einzelne der dreiseitigen Prismen sich durch eine Querwand abschliessen.
Auf dieser Querwand sitzt innerhalb ihres Dreiecks ein eutektischer
Punkt, von dem drei Flachen fest-flussig auseinander streben, die sich in
drei eutektischen Linien schneiden. Die drei Ecken des Dreiecks und
der eutektische Punkt bezeichnen die Zusammensetzung der drei festen
Phasen und der fliissigen, welche bei der eutektischen Temperatur im
Gleichgewicht sind.
Die Temperaturflachen fest-fliissig enden in den Schmelzpunkten und
laufen entweder gegen die Kan ten des Prismas aus, wenn nur Bestand-
teile als feste Phasen vorhanden sind, oder sie bilden halbe, bez. ganze
Gewolbe, wenn es sich um binare oder ternare Verbindungen handelt Da
deren Anzahl unbeschrankt ist, konnen solche Gewolbe in beliebiger
Zahl auftreten und sich durchschneidcn; auch ist es nicht notwendig,
dass jedes derartige Gewolbe seinen Gipfel oder Schmelzpunkt im sta-
bilen Gebiete hat.
Endlich konnen aus den Temperaturflachen fest-fliissig noch Tern-
peraturflachen fliissig-fliissig hervortreten. Sie setzen immer oberhalb
der eutektischen Punkte an und haben ihre Durchschnittslinie notwendig
innerhalb einer einzigen Flache fest-fliissig.
Die Temperaturflachen fliissig-fliissig enden mit steigender Tempera*
tur im allgemeinen in kritischen Punkten, die den Schmelzpunkten
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnung. 1115
vergleichbar sind, und dariiber liegt das bomogene Gebiet der inallen
Verhaltnissen mischbareu Fliissigkeiten.
Experlmentelle Untersachangen zusammengesetzter FSlle.
104. Ezperimentaluntersuchungen. Wie im Falle der binaren
Gleicbgewichte soil am Schlusse der tbeoretiscben Entwickiungen eine
Ubersicbt der auf diesem Gebiete geleisteten experimentellen Arbeiten
gegeben werden. Die grossere Verwickelung dieses Gebietes hat es mil
sich gebracht, dass einerseits seia Verstandnis erst spater sich ausge-
bildet und dass andererseits auch seine experimentelle Durchforschung
sehr onvoUstandig geblieben ist Insbesondere fehlt es noch sehr an eigent-
lich quantitativen Forschungen, wabrend die qualitativ-formale Seite in
der letzten Zeit eine lebhaftere Pflege erfahren bat
Auch bier ist ein grosser Teil der Arbeit an wasserigen Salz-
losungen gemacbt worden, deren besondere, durch die lonenbildung
hervorgerufene Verbaltnisse eine mebrfache Verwicklung hervorgerufen
liaben. Ich will von den Arbeiten dieser Gruppe nur das Allgemeine
berichten, da die elektrolytiscben Gleichgewichte gemeinsam in einein
spateren Telle behandelt werden sollen.
Nach der allgemeinen Grnndlegung durch W. Gibbs war B. Roozo-
boom der erste, welcher die Gleichgewichte dritter Ordnung vom Staud-
punkte der Phasenlehre betrachtet hat. Er kniipfte zuerst an die von
van't Hoff und seinen Schulern untersuchten Erscheinungen bei der
Bildung und Umwandlung von Doppelsalzen an, und stellte^) die Be-
ziehung zwischen dem von ersterem eingefuhrten Begriff des Umwand-
lungspunktes und dem nonvarianten Quintupelpunkt der Phasenlehre ins
Licht, indem er zeigte, dass dieser entsprechend den Verhaltnissen bei
Gleichgewichten erster und zweiter Ordnung sich als Durchschnittspunkt
von fuuf univarianten Zustandslinien darstellt. Er hat gleichzeitig einige
dieser Linien (Sattigungslinicn mit zwei festen Phasen) gemessen und
ihr Zusammentrejffeu im funffachen Punkte nachgewiesen. Es war dies
zu einer Zeit, wo ausserhalb des von van der Waals beeinflussten Kreises
die Phasenlehre noch nirgend Boden gefunden hatte. Etwas spater
zeigte Meyerhoffer^) die Moglichkeit, dass beim Auftreten verschiedener
fester Verbindungen (zwischen Kaliumchlorid und Kupferchlorid) auch
mehrere fUnffacbe Punkte auftreten konnen, welche mit einander durch
die Zustandslinien gemeinsamer Phasen verbunden sind und erorterte
den Begriff der Phasen und Bestandteile.
>j Zeitschr. f. phys.Chemie 2, 513. 1888; ausfahrlich Rec. Pays-Bas 6, 333. 1887.
«) Zeitschr. f. phys. Chemie 5, 122. 1890.
1116
II. Chemische Dynamik.
Eine weitere Vertiefung erfuhr diese letztcre Arbeit durch eioe
Messung der Dampf drucke der verschiedenen Phasengebilde, welcbe Vriens ^)
ausfdhrte, and in welcber er gleicbfalls das Identiscbwerden der ge-
sattigten Losungen im funffacben Pankte an der Gleicbbeit der Dampf-
drucke nacbwies.
Von Trevor*) warden die auf die Loslicbkeit beziiglicben Ei^eb-
nisse an einem anderen Beispiele (Kaliumkupfersalfat) bestatigt, nod
gleiebzeitig nacbgewiesen, dass wirklicb ein beliebiger Uberscbuss der
einen oder anderen festen Pbase das Gleicbgewicbt nicbt andert. Dieser
Nacbweis war insofern von Interesse, als gerade fiir diesen Fall Ton
Riidorfif in seinen verdienstlicbeii alteren Untersacbangen iiber das
gleicbe Salzpaar eine stetige Yeranderang dos einen Salzes darcb das
andere bebaaptet worden war.
Von F. Scbreinemakers^) warden diese Untersacbangen in solcbem
Sinne erweitert, dass er fiir ein moglicbst aasgedebntes Temperaturge-
biet (bis 200^) die anivarianten Gleicbgewicbte mit zwei festen Phasen
and Losang bestimmte and seine Ergebnisse darcb eine raumlicbe Dar-
stellang nacb Art der S. 1098 and ff. benutzten iibersicbtlicb macbte.
Er benutzte bierfiir die Salze Jodkalium and Bleijodid^) welcbe ein
Doppelsalz bilden, das beim Bebandeln mit Wasser zersetzt wird. Die
Deutang der erbaltenen Beobacbtungen ging anfangs einigermassen in
die Irre, da Scbreinemakers obne
Prlifangdie Angabe von Ditto be-
natzte, dass beide Salze sicb im
Verbaltnis Pb J, : 2K J zum Doppel-
salz verbinden. Spater worde er
aafmerksam gemacbt, dass das
Salz nacb der Formel PbJj.KJ.
2H2O zasammengesetzt ist, and
die Umrecbnung seiner Versacbs-
ergebnisse fiibrte dann zn weit
einfacberen Boziebungen, als sie
friiber angenommen worden
Fig. 823.
waren.
Fig. 323 zeigt scbematiscb die erbaltenen Ergebnisse fur mittlere
Temperatar. Als Bestandteile sind recbts Jodkalium (A), links Jodblei
*) Zeitschr. f. phys. Chemie 7, 194. 1892.
«) Zeitschr. f. phys. Chemie 7, 468. 1891.
8) Zeitschr. f. phys. Chemie 9, 56. 1892.
*) Zeitschr. f. phys. Chemie 10, 467. 1892.
Chemische Glelchgewichte dritter Oi
(B) nnd oben Wasser (C) eiDgetragen; das Dc
zeichnet und liegt, da es wasserhaltig ist, im Ii
Das Gebiet ABD stelit das Nebeneinander
Jodblei, Jodkalium nnd Doppelsalz dar, welcbe e
beliebige Meogen KJ und PbJ^ hochstens sovi
auf ein Mol des in geringerer Menge anwesenden
In E ist die Loslichkeit des Jodbleis, in F
reinem Wasser angegeben. EG ist die Linie di
ten Losungen, wenn zunehmende Mengen Jodkaliui
befinden. Bei 6 beginnt durch weiteren Zusatz
Doppelsalz anszuscbeiden. Wir baben hier erst
welchem festes Jodblei und festes Doppelsalz nc
6 im Gleichgewicht sind. Ferner ist das Feld
ist die Sattigungslinie des Doppelsalzes bei zunel
lostem Jodkalium. Bei H beginnt dieser Stofif
und wir haben das Dreiphasenfeld ADH, in wel
Jodkalium und der konstanten Losung H vorhani
die Losungslinie des Jodkalinms bei abnehmend
welcbe in F endet, welcbes die Loslicbkeit des i
Btellt.
Das Feld CE6HE ist das der ungesattigten
Zieht man die Linie DC, so erfabrt man das
salzes zu reinem Wasser. Wie man sieht, gelang
BDG, d. h. das Doppelsalz wird zersetzt, es scbi
and es bildet sich die konstante Losung G neben ( I
Wird mehr Wasser zugesetzt, so wird die Grenzliii
damit verschwindet das Doppelsalz und nur Jc
Phase iibrig. Weiteres Wasser bringt auch dii
and es entsteht eine ungesattigte Losung.
Stelit man weiter die Frage, untcr welcbe
Doppelsalz ohne Zersetzung mit wasserigen Fliissig
80 ergiebt sich die Antwort folgendermassen: Vi
rade DG bis zum Durchschnitt g mit AC, und
stellen die beiden Punkte g und h zwei ungesatti
kalium in Wasser dar. Wird das Doppelsalz mit
kalium in Beriihrung gebracht, deren Zusammensi
h liegt^ so liegen alle entstehenden Gebilde im <
wird nur die Sattigungslinie des reinen Doppelsi
d. h. mit alien diesen Losungen kann das Doppe
bracht werden, ohne dass sich Jodblei oder Jodli
Ostwald, Chemle. 11,2. 2.Aiifl.
1118 n. Chemische Dynamik.
In ahnlicber Weise lassen sich noch allerlei weitere Fragen beant-
worten, doch sind solche Betrachtungen einfach genug, um sie dem Lieeer
zu iiberlassen.
Der Einfluss der Temperatur ist im vorliegenden Falle nicht erheb-
lich, indem bei steigender Temperatur die Grenzlinien, zunehmender
Loslichkeit entsprechend, nach iDnen riicken, wobei die Jodbleilinie sich
schneller bewegt. Neue Verbaltnisse entstehen hierbei nicht. Bei etwa
190® scheint ein Doppelsalz mit weniger Wasser zu entstehen, doch sind
die Untersuchungen iiber diesen Punkt nicht weit genug gefuhrt worden.
105. Das Umwandlungsintervall. Der Umstand, dass die gegen-
seitige Lage der Linien DC und GH bei Anderung der Temperatur sich
nicht wesentlich andert, ist nicht notwendig, und es war schon friiher
bei der S. 1115 erwahnten Uutersuchung des Kaliumkupferchlorids von
Meyerhoffer ein Fall gefundcn worden, wo diese beiden Linien bei er-
hohter Temperatur zum Schnitt gelangen. Dann wird also das Doppel-
salz durcb reines Wasser bei niederen Temperaturen zersetzt, und es
giebt beim Ansteigcn eincn Temperaturpunkt, oberhalb dessen die Zer-
setzuug nicht niehr erfolgt Meyerhoffer^) hat das Gebiet zwischen dem
Umwandlungpunkt der festen Phasen und der eben definierten Tempe-
ratur das Umwandlungsintervall genannt. Eine besondere weitere
Bedeutung kommt diesem Gebiete nicht zu.
FUr eine Anzahl ahnlicher Aufgaben hat dann Schreinemakers^) die
moglichen Falle erortert. Wir werden auf einzelne von ihnen spat^
nach Bedarf zuriickkommen.
Auf ahnlichem Gebiete bewegt sich die um die gleiche Zeit yod
Boozeboom^) ausgefiihrte Untersuchung iiber die Verbindungen vonEisen-
chlorid mit Salmiak. Nur yerwickeln sich hier die Verbaltnisse noch
weiter dadurch, dass Mischkrystalle von wechselnden Verhaltnissen ans
Salmiak mit wenig Eisenchlorid entstehen, mit denen besondere Gleich-
gewichte sich ausbilden. Dadurch liegt der Schwerpunkt dieser Unter-
suchungen an anderer StcUe.
Eine von Meyerhoffer^j durchgefiihrte Untersuchung des Doppelsalzes
CuGl2.LiCl.2H2O ergab ganz ahnliche Verbaltnisse, wie das Kaliumsalz.
Eine weitere Doppelsalzuntersucbung an Kaliumsulfat und Magnesium-
sulfat^; von J. K. van der Heide ergab zwar eine Anzahl neuer Einzel-
») Zeitachr. f. phys. Chemie 5, 97. 1890 und 9, 641. 1892.
«) Zeitschr. f. phys. Chemie 11, 75. 1893.
») Zeitschr. f. phys. Chemie 10, 145. 1892.
*) Wien. Ak. Ber. 101, Juli 1892.
*j Zeitschr. f. phys. Chemie 12, 416. 1893.
Chemische Gleichgewichte dritter Oi
falle, aber keine grundsatzlich neaen Ergebnisse.
Hinzanahme des ChlorioDS von R. Lowenherz^) er
nisse wird an anderer Stelle eiuzugehen sein, eb
reichen anderen Untersuchungen in gleicher Ri<
and seine Schuler ausgefuhrt haben.
106. Eutektisohe Punkte bei mehreren
den bisher berichteten Arbeiten auf die Moglicli
als feste Phase auftreten kann, keine Rucksich
Schreinemakers *) 1893 die kryohydratischen £
paaren erortert und die typischen Erscheinungen a
zeigte er, dass wirklich eine bestimmte kryohydn
beiden Salzen her erreicht wird, wenn man das
lange zufiigt, bis beide Salze als feste Phasen ni
(was Yon Guthrie nicht klar eingesehen war), ui
kryohydratische Punkt stets niedriger liegen muss
Punkte der einzelnen Salze, da er die niedrigstc
bei weleher FlUssigkeit mit den festen Stoffen :
kann. Fiir hohere Temperaturen nimmt der *
Fig. 301, S. 1086 an, und indem mit steigender
Sattigungsisothermen mehr und mehr auseinand
ein Diagramm von der Gestalt Fig. 302 und 30
Wenn die beiden Salze sich zu einem Doppels
entstehen Verhaltnisse, welche sich mittelst gleichci
sehen lassen. Wenn sich das Doppelsalz obne A
standtheils in Wasser lost, so giebt es zunachsl
einen gewohnlichen kryohydratischen Punkt, und
oder dem anderen Einzelsalze zu einem ternare
treten, in welchem es die Rolle eines festen Ben
Gesamtfeld zerfallt dadurch einfach in zwei n<i
Dreiecke, Ton denen jedes eine Wiederholung des
isty d. h. seinen ternaren kryohydratischen Punkt hii
binaren durch „kryohydratische Linien*' verbunden
Punkte liegen naturlich niedriger, als die je drei
Hieraus ergiebt sich folgendes Verhalten. Be
die Erstarrungstemperatur einer gesattigten Losuii
1) Zeitschr. f. phys. Ghemie 13, 459. 1894.
*) Zeitschr. f. phys. Ghemie 12, 73. 1893.
') Die allgemelDe fietrachtuDg lehrt, dass noch eine
zum entektischen SchmelzpuDkt der beiden Salze yorhand
lich bei den Salz-Wassergleichgewichten flbersehen word<
1120 ^' Ghemische Dynamik.
setzt dann B hinzu, so scheidet sich Doppelsalz aus und die Temperar
tur steigt. Sie steigt bei weiterem Zusatz Yon B solange, bis in der
LosuDg A und B in gleicbem Verhaltnis anwesend sind^ wie im Doppel-
fialze. Hier ist die Temperatur am hochsten, and wird noch mehr B
zugesetzty so fallt die Erstarrungstemperatur wieder bis zu dem krjo-
hydratischen Punkte von B. Schreinemakers hat dies am Amoioniam-
kupfersulfat bestatigt £r ging vom Kupfersulfat mit dem kryohydra-
tischen Punkte — 2-5^ aus und fand durch Zusatze von Ammoniumsul-
fat — 24S — 2.3«, — 2-1 «, — 1.9S — l-S*, — l-T^ (Maximum), — l-S*,
— 1-9^ — 2•3^ -- 4.3S — 80^ Der kryohydratische Punkt von Ammo-
niumsulfat ist — 19®.
Ist das Doppelsalz von der Art, dass es durch reines Wasser zer-
setzt wird, so werden die Verhaltnisse ein wenig anders. Es giebt jetzt
keinen binaren kiyohydratischen Punkt mit reinem Doppelsalz mehr,
wobl aber wie fruher zwei ternare mit Doppelsalz und einem der Be-
standteile. Wahrend aber im ersten Falle sich an beiden ternaren kryo-
hydratischen Punkten alle drci kryobydratischen Linien zu diesen Punktoi
absenkten, da der kryohydratische Punkt des reinen Doppelsalzes ein
relatives Temperaturmaximum ist (denn der Erstarrungspunkt der reinen
Doppelsalzlosung wird durch jedes der Einzelsalze herabgedruckt), so
ist jetzt bei einem der ternaren Punkte eine der kryobydratischen
Linien aufsteigend. Und zwar ist dies die Sattigungslinie mit festem Doppel-
salz und veranderlichen Mengen desjenigen Bestandteils, der nicht ab-
geschieden wird. Deiin auf dieser Linie nimmt die Konzentration eben
dieses Bestandteils (der in der Losung in Oberschuss ist) von dem
Punkt, wo er eben als feste Phase verschwindet, bis zu dem Punkt, wo
der andere auftritt, stark ab, wahrend die des anderen (schwerer los-
lichen) Bestandteils schwach zunimmt; der Gefrierpunkt muss also langs
dieser ganzen kryobydratischen Linie steigeu. Die Folge ist, dass der
ternare kyrohydratische Punkt, bei welchem der schwerlosliche Bestand-
teil neben Doppelsalz vorhanden ist, zwar eine konstante, aber keine
niedrigste Temperatur darstellt.
Schreinemakers hat dies experimentell am Kaliumbleijodid erprobt
Die kryohydratischen Temperaturen waren:
I mit PbJg 0«
II mit KJ — 224<>
III mit PbJ + D (Doppelsalz) — 2-8^
IV mit KJ +D —24.8^
Wahrend also die Temperatur IV thatsachlich die tiefste ist, ist III zwar
tiefer als I, aber weit hoher als II.
Ghemische Gleichgewichte dritter
Ahnliche Erorteruugen gab gleichzeitig lU
Allgemeinere und mannigfaltigere Betracb
bald darauf*) an, indem er ein zweckmasm
in Gestalt eines recbtwinkligen Dreiecks ben
sind bei den friiheren allgemeinen Entwicklung
Einfluss der Temperatar, yielfach benutzt wur<
107. Doppelsalse in Ldsiingen. Das add
punktserniedriguDg lasst sich benutzen, urn
Wechselwirkung der beiden gelosten Stoffe, d
konzentration sicb yermindert, Kenntnis zu e
ist zuerst yon Riidorff^) angewendet worden, am
ob Doppelsaize in ibren Losungen unzersetzt
and hat in der That in mebreren Fallen Entschc
mit den auf anderen Wegen gefandenen ubereinb
Pickering das gleiche Verfahren, um zu ermi
and Wasser sich yerbinden, wenn sie nebenein<
sind. Es ergab sich in der That eine Vermind€
zentration, indem die gemeinsame Erniedrigung
fiely als die Summe der Einzelerniedrigungen w
Pickering hatte seine Versuche wesentlich zi
um einen Beweis gegen die Dissoziationstheorie f
Da diese Theorie die Moglichkeit yon Verbindui
saure und Wasser unter don genannten Um
Frage stellt, so wurde dies Ziel allerdings nich
Die Frage, ob man irgendwelche bestimmte
Weise erkennen konnte, wurde dann yon H.
positiy beantwortet. Nimmt man yerhaltnisma
3OH2O aaf ein H3SO4, so besteht die Verbin(
HeOeS, denn es yerschwinden zwei Mole auf
Schwefelsaure. Wird umgekehrt ein Oberscbusi
nommen, so ergiebt sich die Verbindung HsSC
sondere wasserreichere Verbindungen lassen sic
Als ahnliche Versuche mit Athylalkohol ui
angestellt wurden, konnte keine Verbindung na
Es ist rationell anzunehmen, dass die S
>) WieD. Ak. Ber. Marz 1893.
*) Zeitschr. f. phys. Chemie 12, 359. 1893.
•) Ber. 28, 1846. 1890.
*) Ber. 24, 1579. 1891.
'^) Zeitschr. f. phys. Chemie 13, 419. 1894.
1122 n. Chemische Dynftmik.
binduDg in der Essigsaurelosung teilweise dissoziiert ist, 121
<xrad der Zeisetzung mit der Konzentration nach dera Af &88<
gesetz yeranderlich ist. Indessen waren die Versache zo vi<
umstaiiden ausgesetzt, als dass man sie in solchem Sixine
konnte.
Ein elektrolytische Dissoziation war in den Ldsangen. m
tiscber Leitfahigkeit nachweisbar, sie betrug aber schwerlicli
ein Oder zwei Prozent und verschwand daher in ihrem JEinfliu
Gefrierpunkt
108. Eisenchlorid, Chlorwasserstoff tind 'Waaser. f
mannigfaltige Reihe von Gleicbgewichten ist von Roozeboozn und
makers^) an den Verbindungen von Eisenchlorid, Salzsaure un«
«tudiert worden. Wir haben in dieser Arbeit wobl die volls
Untersuchung in diesem Gebiete der temaren Gleichgewichte.
Die Bestandteile bilden zunachst folgende feste Pbasen: £18,
freiea Eisenchlorid (Bezeichnung Feo).
Ferner die binaren Verbindangen
Hydrate des Eisenchlorids Bezeichnung
2FeCl,.4H,0 Fe^
2FeCl,.5H,0 Fe^
2FeCl,.7H,0 Fe^
2FeCl,.12H,0 Fe,,
Hydrate des Chlorwasserstoffs
HC1.3H,0 CI,
HC1.2HjO Cl«
HCl . H,0 Cli
Zwischen Eisenchlorid und Cblorwasserstoff (ohne Wasser)
keine Verbindungen bekannt.
Endlich die ternaren Verbindungen
2FeCl,.2HC1.4H,0 D,
2FeCl,.2HC1.8H,0 D,
2FeCl,.2HC1.12H,0 D„
Die Gleichgewichte, welche sich zwischen diesen festen Pbasen
den Losungen herstellen konnen, sind in ihrer Abhaogigkeit too
Temperatur durch das Modell Fig. 324 dargestellt, in welchem die Te
peratur nach vom, der Gehalt an Eisenchlorid nach rechts und der
Cblorwasserstoff nach oben zunimmt Hierbei sind anch die beid
letzteren Achsen rechtwinklig zu einander und nicht wie bisher uot
60® zu einander gestellt; die Menge des Wassers ist konstant ges^
Dadurch andert sich das Dreieckschema in solcher Weise, da^s di
») Zeitschr. f. phys. Chemie 15, 588. 1894.
Cbemiiclifl Qleicbgewichte dritter Ordnung. 1123
b«iden Scbenkel FeClj — H,0 und HCl — HjO eich rechtwinUig zu
eiuaoder stellen, wahrend
det Scbenkel FeCI, — HCI
gleichzeitig mit den Punk-
ten fttr beide ins Unend-
licbe ruckt Da die Unter-
sucbuDg der Gleicbge-
wicbte aber nicbt bis
zum Auftreten dieser Be-
staiidteile im reinen Zu-
stande gefUbrt ist , so
gebt trotzdem die Dar-
steltung nicht ioB Unbe-
greozte '). Von der Dar-
stellung im Dreieck unter-
scheidet sich die be-
nutzte dadnrcb, dass die
Form gegen ihre ausaeren
Grenzen mehr auseinan-
dergezogen ist; die Haupt-
formen bleiben die glei-
cben. Fig. 324.
Zum Verstandnis des Modells betracbton wir Fig. 325, welche in
derEbeneXOT die biniiren Gleich-
gewichte zviscben EiBencblorid und
Wasser darstellt; diese Ebeue ist
die untera Grenzebene des Modells.
Die andere Ebene YOT stellt
die biniiren Gleichgewicbte zwischen
Cblorwasseratoff und Wasser dar.
Sie kommt im Modell nicht vor,
weil dieses Gebiet (mit Zusatz von
Eisencfalorid) nicht studiert wor-
den ist.
') £e ist die von den Verfaasern ge-
wUilteDftrBtelluDg.undicliiDussbetcuneii,
daas icb die groBse Arbeit gescbeut hnbe, sic
und eiD ent«prechendes Model! berzuetelleo.
Autoren nachtrftglich dazu.
ill DreieckskoordiDBten zu flliersetceo
Vielleicht entschlieast sicb eiaer der
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26.
1126 II- Chemische Dynamik.
Die in XOT liegenden Earyen sind die Loslichkeiten der verschie*
denen Hydrate, Uber welcbe S. 927 das Erforderliche mitgeteilt worden
ist. Hier ist nur zu erinnena, dass jeder Kurvengipfel B, D, F» H den
Schmelzpunkt eines Hydrate oder die Temperatur, bei welcber es mit
seiner Losung gleiche Zusammensetzung bat, darstellt, wabrend jeder
Scbnittpunkt A, C, £, G, J einen kryobjdratiscben Punkt fiir zwei be-
nacbbarte Hydrate bedeutet Knickpunkte kommen nicht vor, weil alle
Hydrate Scbmelzpunkte besitzen.
Wird nun zu den Losungen dieser Hydrate Cblorwasserstoff gesetzt,
so emiedrigen sicb die Gleicbgewicbtstemperaturen zunebmend mit zu-
nebmendem Gebalt daran. Im Modell Fig. 324 entsteben dadurcb die
gewolbten Flacben I, II, III, IV, V. Die Durcbscbnittslinien, welche
dabei zwiscben ibnen entsteben, sind die Fortsetzungen jener kryobydrar
tiscben Punkte und stellen je zwei feste Eisencbloridbydrate im Gleicb-
gewicbt mit Losungen wacbsenden Gebalts an Cblorwasserstoff dar.
Sie werden ibrerseits von drei weiteren Gewolben VI, VII und VIII
begrenzt, welcbe den ternaren festen Verbindungen D4, Dg und D12 ent-
sprecben.
Genauere Eiuzelbeiten ergeben sicb aus Fig.326,S. 1124 — 1125, welcbe
eine Projektion des Modells auf die Hinterflacbe darstellt; es ist also die
Temperaturacbse eingegangen. Die scbwacben Linien stellen die Isotbermen
fur die beigescbriebenen Temperaturen dar; die starken sind die Pro-
jektionen der „kryobydratiscben Linien'' mit zwei festen Pbasen. Wo
diese sicb scbneiden, liegen ternare kryobydratiscbe Punkte mit drei
festen Pbasen neben Losung yor. Aus der Reibenfolge der Temperaturen,
die man von diesen Punkten aus auf den Linien findet, ergiebt sicb, ob
diese Punkte niederste oder toils niederste, toils bocbste Temperaturen
in Bezug auf die Umgebung (S. 1110) sind.
Wir betracbten zunacbst die Gleicbgewicbte der binaren festen Ver-
bindungen, d. b. der Eisencbloridbydrate. Ein jedes dieser Hydrate bat
seine bocbste Existenztemperatur in seinem Scbmelzpunkt. Diese Tem-
peratur wird sowobl durcb Wasser, wie aucb Eisencblorid und Cblor-
wasserstoff erniedrigt, so dass die Isotbermen fur jede niedrigere Tem-
peratur immer weiter und weiter etwa balbkreisformig um den Punkt
verlaufen, der das Hydrat darstellt. Diese Form kommt nur darum zu-
stande, dass bier die binaren Verbindungen samtlicb Scbmelzpunkte be-
sitzen, was ja nicbt oft bei gewobnlicbem Druck erreicbbar ist
Aus der Gestalt der Isotbermen lassen sicb mancberlei Scblusse far
das Verbalten der Gebilde beim Zusatz des einen oder anderen Beetand-
Chemische Gleichgewichte dritter O
teils Ziehen. Da sie nach den allgemeinen Gr
abzuleiten sind, sei ihretwegen auf die Abhandli
Die ternaren Verbindungen gestatten durch
Feldes die Ausbildung geschlossener Losungsli
setzung der flussigen Phase von der der festen
dern allseitig abweichen kann. Ob es zur Aiii
konimt, ist nur davon abhangig, ob die entsprech<
formige Flache im Raum yon angrenzenden Losun
wird, dass die Spitze des Domes ausserhalb (d.
standigen Zustande) liegt, oder innerhalb der an
stabil wird). Das erstere ist insbesondere bei (
FaU. Im Modell Fig. 324 wurden die Gleichgew
Flache VII dargestellt, welche einen freien Gipfe
riss Fig. 326 ist der Gipfel mit Q bezeichnet.
bei — 3®, und jede Anderung in der Zusamme
gegen die der festen Phase bewirkt eine Ernie
Fig. 326 ist die Isotherme fiir — 4-5® noch vol
— 6® kommt bereits mit angrenzenden zweiphas
Schnitty d. h. hier sind bereits andere Losungsfla<
gedrungen.
Viel weniger ausgedehnt sind die stabilen T<
ternaren Verbindungen. D^, hat einen bei —
punkt, doch ist die Schmelze metastabil in Bez i
die Ausscheidung dieses Salzes sich leicht verm;
nicht nur der bei R (Fig. 326) liegende Schmel
eine Yollstandig im metastabilen Gebiete liegende i
fiir — 10® bestimmt werden. Diese und einig
thermen sind, soweit sie metastabil sind, in Fig.
Linien angegeben. Das bestandige Gebiet von I
Feld WVXY beschrankt.
Ganz unYoUstandig endlich ist der im stabile!
der Flache fur D^, wie aus Fig. 324 (VI) und
sicbtlich ist. Es liegt dies daran, dass ein Scli
dem untersuchten Gebiete, wo der Druck den de
iiberschreitet, nicht realisierbar ist; zudem liegt
stalt der Isothermen in Fig. 326 sich abnehmeii
tief im unbestandigen Felde.
Was nun die Losungslinien mit je zwei i
welche als Durchschnitte je zweier Losungsflachen c
so unterscheidet Roozeboom zwei Arten. Die eii
1128
II. Chemische Dynamik.
feste Phasen gekennzeichnet, welche aus den gleichen Bestandteilen be-
stehen, und beginoen daher von der entsprechenden Seite des Diagramm&
Dies sisd in nnserem Falle die Linien, deren feste Phasen zwei ^er-
schiedene Hydrate des Eisenchlorids sind. Beide gebeir zanachst ohne
Ghlorwasserstoff einen eutektischen Punkt; durcb Zusatz yon Chlorwasser*
stoff wird die Temperatur notwendig erniedrigt, und so laufen diese
Randlinien (Seitenkurven nacb Roozeboom) vom Rande ein warts inimer
nach tieferen Temperaturen.
Solcbe Randlinien sind in Fig. 326 10 zwischen Fe^ und Fe4, GN
fur Fe^Feg, EM fur Fe^Fe^, CL fur Fe^ Fe,,. Durcb Ablesen der
Isothermen kann man sich Uberzeugen, das fur alle die Temperatur mil
der Entfernung von der Eisenchlorid-Wasser-Acbse fallt.
Anders verbalten sicb die Mittellinien. Sie entstehen, wenn in
den beiden zusammentretenden festen Pbasen alle drei Bestandteile ent-
halten sind, und miissen aus diesem Grunde notwendig innerbalb des
Feldes verlaufen, obne an den Rand zu gelangen. Hier konnen wieder
drei Falle eintreten, indem entweder ein fester Bestandteil mit einer
binaren festen Verbindung aus den beiden anderen Bestandteilen zu-
sammentritt — oder zwei bin are feste Phasen AB und AC mit einem
gleichen und einem verscbiedenen Bestandteil zusammentreten — oder
eine temare feste Verbindung vorbanden ist. Im letzteren Falle ist es
gleichgUltig, ob die andere feste Phase ein Bestandteil oder eine binare;,
bez. temare Verbindung ist.
Solcher Mittellinien sind 9 beobachtet worden, namlicb in Fig. 326:
OZ for die festen Phasen D^Feo
OS
SN
NM
MUL
LV
VXY
ST
VW
fj
»
»
>9
>»
»>
it
9i
>»
J>
•J
»
>»
a
»t
>»
M
>l
91
>»
»
>>
»♦
»
D,Fe,
D«Fe^
DgFe^
DgFe,
D,Fe,,
D„Fe,,
Wie man sieht, sind alle beobachteten Mittellinien von der dritten
Art; solcbe der ersten Art (etwa zwischen einem Hydrat von Ghlor-
wasserstoff und wasserfreiem Eisenchlorid) oder der zweiten Art (zwischen
Chlorwasserstoffhydrat und Eisencbloridhydrat) sind nicbt ermittelt
worden.
Bei Mittellinien ist es nun nicbt notwendig, dass sie immer in einem
Sinne mit der Temperatur verlaufen. Sie konnen yielmehr auch inner-
halb ibrer Erstreckung eine Maximaltemperatur haben, von der aus sie
ChemiBche Gleichgewichte dritter C i
sich Dach beiden Seiten senken. Und zwar trii
die VerbinduDgslinie der beiden festen Fhasen <
AUdann las8t sich die ZusammensetzuDg der Lo
Summe passender Mengen der beiden festen ¥ i
allgemeine, von Gibbs (S. 128) aufgestellte B
treten eines ausgezeichneten Temperaturpunktes.
Ein solcher Punkt findet sich beispielsweii :
weiche den Phasen Dg und Fe^ zugehort and < !
schnitt mit der Verbindungslinie QE liegt. Mai
des Temperaturmaximums bei M alsbald daran,
punkt Q von Dg umkreisende Isotherme — 4-1
beriihrt. Die folgenden niedrigeren Isothermen
zwei Punkten rechts und links von N Schneider
Da die fliissige Phase am Maximalpunkte sic
Phasen zusammensetzen lasst, so lasst sie sich als
betrachten, und es leach tet unmittelbar ein, da i
die Temperatur erniedrigen muss. Im Lichte i
scheinen die Randlinien, weiche mit der Schmel:
beginnen, als ein besonderer Fall der Mittellini
moglichkeit gekennzeichnet ist, dass der auf der anc i
punktes gelegene Zweig zur Ausbildung gelangt
Weitere Mittellinien mit einem Temperaturn
ST zwischen Dg und D4, da auch diese durch 1
PQ geschnitten wird. Einerseits ist aber der An
S bereits endet; doch besteht ein Temperaturuni
schen beiden, da der Quintupelpunkt S die Te
wahrend ein Gemenge von D4 und Dg bei — 2(
Noch kiirzer, namlich unbestimmbar kurz, in
TV fiir Dg und Fei^i da das Maximum dicht b(
Ahnliches triflft bei OS (fUr D4 und Fe4) zii
genau auf der Verbindungsgeraden JP liegt.
Die anderen Mittellinien verlaufen einseitig.
Da indessen sich MN (fiir Dg und F5) I
ins metastabile Gebiet hinein verlangern lasst, sc<
den Durchschnitt mit der Verbindungsgeraden Q]l
den gemeinsamen Schmelzpunkt dieser beiden Pb
peratur dieser Linie bei — 5^ Ebenso kann
leicht liber V hinaus verlangert werden. In V ist 1
der gemeinsame Schmelzpunkt der beiden fester
1130 H- Chemische Dyoamik.
Eine Besonderheit bietet die Linie VXT zwischen den Phasen
D|2 und Feij. Wahrend alle friiheren Linien sich im Modell als yer-
tiefte Rinnen darstellten, die durch Zusammentreten zweier Flachen yon
aussen entstanden (entsprechend einem eutektischen Durchschnitt bei
binaren Gebilden), so tritt hier das Gewolbe VIII aus dem InDoren von
I beraus (vgl. Fig. 324), (entsprecbend den Knicklinien binarer Ge-
bilde). Es entstebt trotzdem eine Sattigungslinie mit zwei festen Pbasen,
VY, die ein Maximum bei X aufweist. Der Punkt X liegt aber nicbt
zwischen den beiden festen . Pbasen B und R» sondern ausserbalb der-
selben in X auf der Verbindungsgeraden BR. Hieraus geht herYor»
dass man zwar R aus X und B zusammensetzen kann, nicbt aber X
aus R und B. Vielmehr zerfallt R beim Erwarmen auf die entsprecbende
Temperatur — 12*5^ in die Losung X und das feste Hydrat Fe^a. Die
Erscheinung hat ibr binaies Analogon im MScbmelzen'* des Glauber-
salzes, welches eine gesattigte Losung und eine andere feste Phase
ergiebt.
Wir gehen schliesslich zu den nonvarianten funffachen Punktea
iiber, in denen drei feste Phasen neben einer fliissigen und Dampf be-
steben. Andere (z. B. mit zwei oder drei fliissigen Phasen) sind bei
diesen Bestandteilen nicht aufgetreten. Sie erscheinen als die Durch-
schnitte je zweier Losungslinien und aus nabeliegenden Griinden endet
stets auch eine dritte Losungslinie in ihnen. Denn schneiden sich
etwa die Losungslinien, in denen die festen Phasen A -{- B und B -f- G
im Gleichgewicht mit Fliissigkeit sind» so sind in diesem Punkte die
festen Phasen A -|- B 4- C mit der gleichen Losung im GIeicbgewicht»
und er muss daher auch ein Punkt der Losungslinie von A -|~ C sein.
Die Betrachtung von Fig. 326 lasst erkennen, dass dies allgemein
zutrifft.
Von derartigen Punkten sind bier sechs, uamlich 0, S, N, M, L,
V in Fig. 326 beobachtet worden. Auch sind unter ihnen die friiher
erwahnten mehreren Arten solcher Punkte vertreten. S and L sind
rein eutektische Punkte, da sie die niedrigste Temperatur fiir alle Losungs-
linien darstellen, die bei ihnen einmiinden. Daher ist die entsprecbende
Losung derart zusammengesetzt, dass sie durch gleichzeitiges Schmeken
aller drei festen Phasen entstebt, die neben ibr bestehen konnen, and
der darstellende Punkt liegt somit innerhalb des Dreiecks aus den drei
Phasen, S in PQH und L in QBD.
Die anderen Punkte sind unvollkommen eutektische Punkte, in
denen zwei Losungslinien ibre tiefste Temperatur haben und eine ihre
Chemische Qletcligewichte dritter 0
kochfite hat. Demgemass gehea in ihnen bei Ws
zeitig drei feste Pbasen iu eine fliiesige iiber, so i
dritte feste und eine flussige. Der fiitiffache Pti
demgeoiass auch ausserhalb des Dreiecks der di :
die Zosammensetzung einer Fliiesigkeit daratell
Stoffen durch Abscheidung, also nnter Abzug d( i
ontatebt Die Tier Punkte (drei feste Stoffe und :
die Ecken aines Vierecks, nnd stehen in solcher
Erwarmeii oder Abktiblen jedesmal zwei diagoni
in die beiden anderen Tcrwandeln.
Dies tritt bei folgenden Zusammenstelliingei
D, + Fe, 7^ Fe, + LOsnng C
D, + Fe« :p: Fe, + „ H
Dg + Fe, ^ Fe, + „ K
Dg + D„ ^ Fe„+ „ T
Die gegeoseitig sbgeschnittenen Stiicke der C
zeitig die erforderlicben Mengenyerhaltnisse der
die GeBamtzuBammensetzung des Gebildes anf eia
Bchviodea bei Warmeza-, bez. -abfuhr zwei Pba
sie auf dem Durchschnitt der Diagonalen, so
beiderseits ein. Da in dieseu DOnTariaDten Pui i
1132
II. GhemiBche Dynaxnik.
Zusammensetzungen der gesattigten Losangen: HCl und FeCl^
in Molen auf 100 Mole H^O.
(Die eingeklammerten Nammern steUen labile LCsaogen dar; die LOsungen, welche
nicht mit einer Nammer versehen sind, Bind nicht bestimmt, sondern nur gesch&tzt)
Tabelle 1.
Feste Phase: Fe^Cl^A2H^0.
ii8
1
2
3
33*
n
If
0
5-92
0
12-70
16-07
29-90
4
5
(6)
25
if
0
223
0
10-90
23-72
2450
7
8
(9)
20
0
5-60
0
10-20
23-60
2570
10
U
12
13
10
0
8-75
1670
13-80
9-10
8-00
16-65
23-35
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
0
»>
19
>l
ly
V
j»
91
0
7-52
13-37
1680
l«-45
20-40
2010
19-95
19-00
18-05
8.25
6-51
6-33
8-70
10-23
1540
16-00
1770
2275
2340
24
25
26
(27)
-10
If
11
19
0
19-46
20-48
2025
740
1037
20-54
2156
— 12-5
2214
16-69
29
15
0
6-98
30
»»
12-30
9-65
31
-20
0
6-56
32
11
7-50
490
33
91
15-30
5-09
34
11
2056
7-08
Tabelle 2.
Feste Phase: Fe^Cl^.lH^O,
35
36
37
30'
11
«»
0
425
0
2520
27-80
30-24
Nr.
t
HCl
FeCl,
(38)
5
39
(40)
25 •
19
>»
»»
0
2-33
7-50
0
23-72
23-72
29-75
31-50
(41)
5
39
(43)
20
11
91
»9
0
5-60
11-05
0
22-50
23-60
29-20
32-00
44
45
1075
14-90
2350
28-35
13
46
10
13-80
17-80
23-35
27-75
23
47
0
91
1805
19-50
23-40
25-93
Tabelle 3.
Feste Phase: Fe^Cl^.bH^O.
48
49
11
0
325
3500
39-95
50
51
52
53
54
44
If
91
91
91
0
304
1062
11-50
10-70
33-50
3380
34-61
36-60
38-00
55
56
40 0 32-4U
1340 37-45
57 ; 33
58 ! „
0 3100
15-70 3706
59
60
61
30
19
11
0 30-24
17-20 34-00
17-15 36-75
(62)
39
63
25
If
11
0
750
1950
29-00
29-75
35-25
(64)
42
65
66
20
11
91
9*
0
1105
15-80
2125
2790
29-20
30*68
34.25
45
67
15
11
14-90
1640
2835
29-32
46
68
69
10
})
1*
17-80
18-80
2450
27-75
28-70
3276
ChemiBcfae Oleic bgewlcbt« drltter Oi
N.
t
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70
71
0
2412 ' 30-04
26-00 1 32-16
(72)
73
74
— 10
24-95 2960
26*B 30-60
27^ 32-05
TabeUe 4.
7B
70"
0
44-00
+ e-76
50-00
76
„
0
65-80
77
60
0
42-50
+10-26
+ 5000
+ 8-76
+ 67-25
(78)
»
0
69-00
79
60
0
41-40
+14-25
+ 60-00
80
1070
55-25
(81)
0
61-00
83
50
0
40-64
83
19-00
50-7a
84
16.71
53-60
(85)
0
62-00
(86)
55
0
3992
49
325
39-95
87
2124
49-88
88
„
20-04
52-50
(89)
44
0
39-00
54
10-70
3800
90
14-80
88-70
91
„ -
24-14
5010
40
13-40
37-45
92
27.00
60-80
58
33
1570
37-06
2920
42-70
3108
46-85
95
30'81
47 65
96
3045
4870
61
30
17-16
36-76
97
31-20
4349
33-80
47-80
99
..
3-2-60
49-93
Nr.
105
106
2(
107
108
It
69
109
;;
71
110
(
74
111
-It
112
113
-2C
114
4!
116
116
„
114
V
92
117
„
114
31
118
119
114
3r
99
120
121
4C
117
122
35
119
„
123
30
124
126
120
„
126
m
127
128
1134
II. Cbemische DyDamik.
Nr.
HCl
FeCl
8
133
110
0*
37.27
3460
36-60
3811
134
135
111
— 10
37-32
3454
33-56
3532
3600
26-25
136
137
113
— 20
37-80
34-10
3-i-65
3450
34-84
35-44
Tabelle 7.
Feste Phase: Fe^a^.2HCl.^H^0.
138
4-5^
20-50
24-50
139
yy
20-66
25-74
140
*>
23-42
27-40
141
— 6
29-10
24-73
142
n
2618
2175
143
9f
24 41
21-50
144
1}
23-25
21-35
145
•»
21-73
2184
(146)
1>
3973
25-50
147
1»
2442
28-45
148
»»
28-20
2704
26
— 10
20-48
2054
149
n
24-90
1894
150
»>
28-75
2034
151
))
3142
2853
152
IT
28-25
30-25
73
•>
2605
30-50
153
— 15
24-50
15.«3
154
j»
28-40
31-89
(155)
(156)
— 20
19-44
12-10
>9
22-83
11-63
157
>»
SJ5.20
11-60
158
yy
2723
1131
159
1*
31-08
1151
160
}»
3413
1290
161
})
3393
31-77
112
>»
3008
3276
(162)
yi
28-70
32-88
Tabelle 8.
Feste Phase: Fe^t\.2HCl.l2H^O.
(163)
(164)
(165)
(166)
(167)
(168)_
"28
— 10
yy
?>
>»
— 125
30
153
— 15
»>
1201
19.78
20-95
20-25
1773
1544^
"22.14
'21.30'
2450
11-99
1402
16-20
2020
2070
19-65^
~i6'69
9-65
15-83
Nr.
i t
HCl
FeCl^
(169)
— 20«
9-96
994
(170)
»i
1332
8-57
(171)
j»
1690
735
(172)
yy
18-97
7-16
34
yy
20-56
7-08
173
t»
^23-40
720
174
yy
2485
9-88
157
yy
25-20
1160
(175)
tf
2540
12-37
(176)
*9
25-59
13-39
Tabelle 9.
Kurve HL,
Feste Phasen: JPc^+Fe,.
177
178
5
8
44
13
23
179
182
49
54
56
58
61
63
66
69
71
74
154
27-4 «
26-5
25
20
15
10
0
— 7-5
0
026
2-33
5-60
10-75
13-80
1805
19-22
2430
2422
2372
23-60
23-50
23-35
23-40
23-72
Tabelle 10.
Kurye EM,
Feste Phasen: Fe^+Fe.
180
30 «
0
30-24
39
25
7-50
2975
42
20
1105
29-20
45
15
1490
28-35
46
10
1780
2775
181
— 7-3
2308
2755
Tabelle 11.
Kurve GN.
Feste Phasen: Fe^-^-Fe^,
55*
50
44
40
83
30
25
20
10
0
10
16
0
3-25
10-70
13-40
1570
1715
19-50
21-25
24-50
26-00
27-30
28-40
40-64
39-95
3800
37-45
37-06
36-95
35-25
34-25
3275
3-216
32-05
31-89
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnung.
1135
Nr.
t
HCl
FeCl^
Nr.
t
HCl
FeCl^
Tabelle 12.
TabeUe 18.
Kurye JO.
Kurye LV.
Feste Phasen: Fe^+Fe^,
Feste Phasen: D^ + ^^is-
183
66« 0
58-40
179
— 7.5«
19-22
2372
80
60 ' 1070
5525
26
— 70
20-48
20-54
84
55
1671
53-60
187
— 13
22-40
18-00
88
50
20-04
52-50
~ 1 1
92
40
27-00
5080
Tabelle 19.
99
184
30
29
32-60
33-71
49-93
49.84
Kurye VXY.
I — ~- 1 — —
Feste Phasen: D^^ + Fe^^,
Tabelle 13.
187
— 13"
22-40
18-00
Kurye OZ.
28
125
2214
16-69
Feste Phasen: D^ + Fe^.
30
34
— 15
— 20
21-30
20-56
9-65
7-08
184
29 •
33-71
49-84
+ —60
+ 19
+ 3-7
120
30
34.40
49-72
— I —
119
35
87.04
4920
Tabelle 20.
117
40
42-01
48-64
Kurve ST.
Tabelle 14.
Feste Phasen: D^+D,.
Kurve OS,
185
27.5«
32-23
84-21
F
este Phasen: D.A-Fe..
188
—26-5
33-75
33.75
184
29 «
25
33.71
+35-20
49-84
+ 4590
189
—29-5
+-65
3700
+55
33-40
+ 28-5
106
109
20
10
35-40
3504
43-16
89.95
Tabelle 21.
110
0
34.60
38-11
Kurve VW,
111
— 10
33-56
86-25
Feste Phasen: I>a + A«-
113
-20
32-65
35-44
187
— 13«
2240
18-00
185
— 275
32-23
34-21
153
— 15
24-50
15-83
157
— 20
25-20
11-60
Tabelle 15.
+—40
+25-3
+ 6-0
Kurye SN,
1
'este Phasen. D^ + Ftf^.
Tabelle 22.
185
— 27.5*
8223
34-21
Kurve AG' (hypothetisch).
112
-20
30-08
32-76
Feste Phasen: Eis+JFcj,.
154
16
28-40
31-89
Am
—
+— 55V 0
+ 5.5
Tabelle 16.
—
+ — 100 1 +15
+ 145
Kurve NM.
I
'este Phasen: D^-\-Fe..
Tabelle 23.
154
— 16«
28-40
31-89
Kurve A'O' (hypothetisch).
73
— 10
2605
30-50
Feste Phasen: Eh + HCISH^O.
181
73
22-08
2855
^ _^^
+ — 90«
+ 16
0
(186)
— 5
2141
2710
—
+ — 100
+ 15.
+ 145
Tabelle 17.
Kurye MUL.
Tabelle 24.
I
J'este Phasen: D^-{-Fe..
Kurve G'Y (hypothetisch).
181
7.3° 2308
28-55
Feste Phasen: Fe^^ + HCISH^O.
139
— 4.5 , 2066
25-74
—
+ 100 »
+ 15
i + 1-45
179
— 7.5
1922
23-72
—
+ 60
+ 19
+ 3-7
72*
1136
11. Ghemische Dynamik.
Tabelle 25.
Eorve TW (hypothetisch).
Feste Phasen: Dj^ + HCISH^O.
±— 60«
+—40
±19
+ *25-3
±8.7
+ 6^0
Tabelle 29.
Eorve E'K' (hypothetisch).
Feste Phasen: RCl.2H^0 + HCLRfi.
Tabelle 26.
Kurye TFff' (hypothetisch).
Feste Phasen: D^+JE[Cl,^H^O.
±— 20»
+—55
±55
+ 48
0
+ 14
+— 40*
+—45
±253
+ 34.7
+ 6-0
+ 7.0
Tabelle 30.
Kupve K'T (hypothetisch).
Feste Phasen: D^ + HCl,H^O.
Tabelle 27.
Kurye CjBT (hypothetisch).
Feste Phasen: HCIJ^H^O + Ea.2H^0.
±— 55*
+ — 65
+ 48
+ 55
±14
+ 28-5
—
+ -35»
+ 28
0
—
±—45
+ 34.7
+ 7.0
Tabelle 28.
Eurve JETK! (hypothetisch).
Feste Phasen: D^ + HCl.2H^0.
+— 45»
+ 34.7
+ 7.0
—
+ 55
+ 48
+ 14
Tabelle 31.
Schmelzpunkte einzelner fester Phasen.
Fe^Ck^HClAR^O
+ 45.7«
Fe^Cl^.2HGlAH^0
- 3
Fe^a^,2HCll2H^O
— 6 (labil)
Tabelle 32. Scbmelz- oder Umwandiangspunkte zweier festen Phasen.
1
ZuBammensetEang der LSsong L
TemperatttT
HCl FeCl^
anf 100 U^O
Art der Umwandlang
— 26.5«
33.75
33.75
D^+D, -i
— 10.5
20.37
2037
I>» + A. = i (1»M1)
+ 29
33 50
50-00
D« +Fet—L
- 5
21-40
2716
Dg + F«j — i (labil)
4.5
20.50
25-64
D, + JFe, = i
- 7.5
1930
2310
Db + J^«.,- L
125
22.10
16-67
Ai- *'«..+ -t-
Tabelle 33
— 27.5«
— 7.5
+ 29
— 16
— 7.3
— 13
Schmelz- oder Umwandlungspunkte dreier festen Phasen.
32-23
19-22
3371
28-40
2308
22-40
100 «
i 15
45
35
55
48
65
55
60
19
40
25
34-21
2372
49.84
31-89
2855
18-00
Vermutlich :
1.5
7
14
28-5
3.5
6
D« + Fe,
D, + Fe,
Dh + Fe,
Ds + Ai
-{-Fe^^L
+ Fe,^^ L
— Fco + Ir
^Fe,+L
^Fe,+L
-= Fe,^+ L
Eis + Fe,, + H(Jl.3H^0 =- L
De + HCLSH^O + HCl.2mO^L
Da + HCim^O + Ha.H^O — L
B^ + B^-^ HCIH^O ^ L
F«ia + HCl/dH^O — l>,j + L
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnung.
1137
So ausgedehnt die vorstehend geschilderte Untersuchung auch ist,
so stellt sie doch nur einen Toil (und zwar nach Ausdehnung des
Feldes gemessen, einen kl einen Teil) der aus den Bestandteilen her-
stellbaren Gleichgewichte dar. Urn dies zur Anschauung zu bringen,
haben Roozeboom und Schreinemakers in das iibliche Dreiecksdiagramm
die beobachteten Losungslinien eingetragen. Wie Fig. 327 erkennen
lasst, deckt der bearbeitete Teil nur etwa ein Viertel des Gebietes.
Nichtsdestoweniger haben wir in dieser Untersuchung die grundlegende
Arbeit fiir die Kenntniss der ternaren Gleichgewichte mit einer fliissigen
und mehreren festen Pbasen anzuerkennen.
Ka
Fea.
2S2O
CLSHgO
Fig. 327.
109. Nichtelektrolyte. Eine ahnliche Untersuchung iiber /3-Naph-
tol, Pikrinsaure und Benzol fiihrte B. Kurilow^) aus. Hier sind die
Verhaltnisse nicht sehr verwickelt, da wieder nur eine fliissige Phase
Yorhanden ist, und zwischen ddn Bestandteilen nur zwei Verbindungen
auftreten, namlich Benzolpikrat mit dem Schmelzpunkt 84*3^ und Naph-
tolpikrat mit dem Schmelzpunkt 157^. Die Temperatur, bei welcher
festes Benzolpikrat mit fester Pikrinsaure und Losung im Gleichgewicht
ist, fallt sehr nahe mit dem Schmelzpunkt zusammen (S. 931); beim
Naphtolpikrat ist der vierfache Punkt mit festem Naphtol bei 111^ mit
fester Pikrinsaure bei 116^ belegen (S. 931).
Die Ausfiihrung der Experimente machte eiuige Schwierigkeiten,
da wegen der Fliichtigkeit des Benzols in geschlossenen Rohren ge-
arbeitet werden musste; die Beobachtung des Verschwindens des letzten
») Ztschr. f. phyB. Chemie 24, 441. 1897.
1138
11. Ghemische Dynamik.
Anteils fester Substaoz war hierbei die gegebene Methode, doch war
ihre ADwendung durch die dunkle Farbe der Losang erschwert.
Die Gesamtheit der Ergebnisse ist in der raamlichen Figor 328
dargestellt, wo die Zeichen B = Benzol, N = /3-Naphtol, P=Pikrin8aure,
PB und NP die beiden VerbinduDgen kennzeichnen, und zwar in ihren
Schmelzpunkten.
Das Verstandnis der Fig. 328 ergiebt sich aus den folgenden Er-
lauteningen. Die Temperatur nimmt nach vom zu; Benzol liegt oben,
yp
Fig. d2i»»
Naphtol recbts, Pikrinsaure links. Der Punkt a ist der eatektisdM>
Punkt von Benzolpikrat in Benzol; er liegt nur ganz wenig unter dem
Schmelzpunkt des letzteren. E ist der Punkt, wo Benzolpikrat and Naph-
tolpikrat neben Losung bestehen; EcE' ist die Losungslinie des Naph-
tolpikrats; in c ist das Verhaltnis der beiden Bestandteile in der Ldsung
dasselbe, wie in der festen Verbindung, Bei E' ist das Pikrat neben
festem Naphtol mit der Losung im Gleicbgewicht; E'b stellt endlich die
Gleichgewichte des Naphtols in den ternaren Losungen bis zu reinem
Benzol dar.
Diese Formen bleiben von 4^ bis 78-5® bestehen, wo bei 0 das
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnung. 1139
Benzolpikrat in den an Naphtol reichereii Losungcn verschwindet. lu
daran axmeren Losungen kann es noch bis 84*3^ bestehen, wo im Punkt
PB bei Abwesenheit von Naphtol die Zersetzung unter Abscheidung
von PikrJDsaure erfolgt. Es ist also a bis PB die Losungslinie des
Benzolpikrats in Benzol allein, E bis 0 die von Benzolpikrat nebeu
Naphtolpikrat und ternarer Losung. Von PB bis P geht die Losungs-
linie der Pikrinsaure in Benzol allein bis zum Schmelzpunkt P der
ersteren. Von 0 bis D geht die ternare Losungslinie Pikrinsaure plus
Naphtolpikrat neben ternarer Losung. In D verschwindet die feste
Pikrinsaure, und es bleibt in der Prismenseite PN nur noch die Linie
D — NP — Q iibrig, welche die Gleichgewichte des festen Naphtolpikrats
mit den flUssigen Schmelzen aus diesen beiden Bestandteilen darstellt.
NP ist der Schmelzpunkt des reinen Pikrats.
Viel einfacher ist die andere Seite. Von b nach N geht die Losungs-
linie des Naphtols in Benzol allein, von R' nach Q die des Naphtols
und Naphtolpikrats, wo sie mit der eben erwahnten binaren Linie zu-
sammentrifft. QN ist die Losungslinie des Naphtols in Pikrinsaure,
bez. Naphtolpikrat.
Die ganze Darstellung setzt sich somit aus vierGewolben zusammen,
von denen das des Naphtolpikrats bei weitem die grosste Ausdebnung
hat; es ist ein iiber 180^ reichendes, da es einer binaren Verbindung
angehort (S. 1100). Bei P und N setzen zwei Gewolbe von 60® an
welche den Bestandteilen Pikrinsaure und Naphtol zukommen; ersteres
wird bei tieferer Temperatur von einem binaren Gewolbe iiberdeckt,
das dem Benzolpikrat zukommt, das aber nur eine geringe Ausdebnung hat.
110. Mehrere flussige Fhasen. Nachdem durch die eben mitge-
teilten Untersuchungen fiir die Verhaltnisse ternarer Gemenge mit einer
fliissigen Phase eine anschauliche Kenntnis gewonnen worden war,
wendete sich F. Schreinemakers den Gleichgewichten mit mehreren
fliissigen Phasen zu, von denen er zunachst*) einige mogliche Falle theo-
retisch bearbeitete. Experimentelle Forschungen begann er etwas spater
zu veroffentlichen.
Die erste dieser Arbeiten^) bezieht sich auf die Gleichgewichte
zwischen Wasser, Chlornatrium und Bernsteinsaurenitril. Die Gleich-
gewichte des Wassers mit Chlornatrium siud bekanut; das mit dem
Nitril ist S. 870 geschildert worden. Chlornatrium und Nitril siud ohne
erhebliche Einwirkung auf einander; ersteres lost sich etwas im fliissigen
>) ZeiUchr. f. phys. Chemie 22, 93 und 515. 1897.
•) Zeitschr. f. phys. Chemie 23, 417. 1897.
1140
II. Chemische Dynamik.
Nitril. Die Gleicbgewichte der drei Bestandteile andern sich erheblich
mit der Temperatur.
Wenn wir die Gleichgewichte bei sehr tiefen Temperataren (unter
— 22^), wo Eis als Phase auftreten kano, ausser Betracht lassen, so
haben wir zunacbst bis -j~ 1^*^^ ^^ ^^^^ ^iS- 329, wo Wasscr, Sals
und Nitril durch die Bucbstaben W, S uod N bezeichnet sind. S uod
N sind fest, und wir haben daher die gesattigten Losungen yon Salz
in nitrilhaltigem Wasser von 1 bis b, und die gesattigten Losungen Ton
Nitril in salzhaltigem Wasser von P bis b. In NbS ist festes Salz
und festes Nitril mit der Losung b im Gleichgewicht
Oberhalb 18-5^ bildet sich eine zweite fliissige Schicht mit vor>
waltendem Nitril aus und von der Seite WN aus entwickelt sich daher
die Projektion einer entsprechenden Regelflache. Bei Temperaturen bis
JT
Fig. 329.
Fig. 330.
N
29^ kann aber auch noch festes Nitril mit gewisseii Losungen bestebeo,
und daraus ergiebt sich ein ziemlich verwickeltes Bild, Fig. 330. Setzt
man Wasser zum festen Nitril, so entsteht zunachst eine Losung z mit
vorwiegendem Nitril. Setzt man mehr Wasser zu, so vermehrt sich
die fliissige Phase; liberschreitet man die Menge z, so entsteht zunachst
eine homogene Losung, die aber bei geringer Zunahme des Wassers,
von y' ab, eine zweite fliissige Phase yi ausscheidet. Vermehrung des
Wassers fiber y^ hinaus ergiebt wieder eine homogene Losung von Nitril,
diesmal mit vorwiegendem Wasser.
Ein Zusatz von Salz andert zunachst diese Verhaltnisse nicht, ver-
kiirzt aber das Gebiet z y' zwischen der Sattigung mit festem Nitril und
der Bildung zweier Fliissigkeiten, bis schliesslich beide Punkte zusammen-
treffen. Es entsteht ein erstes Dreiphasendreieck NIL'IL,, in welchem
festes Nitril neben zwei fliissigen Phasen besteht
Noch mehr Kochsalz lasst die nitrilreichere Losung verschwinden;
es bleibt nur die wasserreichere iibrig, und das Feld NIL|II stellt ge-
Ghemische Gleichgewichte dritter Ordnung.
1141
sattigte LosuDgen von festem Nitril in salzhaltigem Wasser dar, woran
sich wieder das Feld NIIS schliesst, welches Gleichgewichte beider
fester Bestandteile mit Losung II darstellt. II LS endlich sind wieder
Losungen neben festem Salz allein.
Wir baben es also hier mit dem S. 1091 erwahnten ungewohn-
licheren Falle zu thun, der durch die Mitwirkuog einer anderen festen
J7 r '
Fig. 331.
N
Phase (S) etwas compliziert worden ist. Die grosse chemische Unahn*
lichkeit zwischen Kochsalz und Athylencyanid ist wohl die Ursache dafiir.
Bei steigender Temperatur wird das Gebiet ILjIIN immer schmaler,
bis es bei 29® verschwindet Es tritt dann
Fig. 331 eiD. Wir haben im Gebiet Nc'ciS
einen iionvarianten Punkt erhalten, in
welchem zwei feste Phasen S und N neben
zwei fliissigen c' und c^ und Dampf be-
stehen.
Wird diese Temperatur tiber-
schritten, so muss das Vierphasenfeld W^^ ,\ 7?^— — ^ iV
zerfallen, aber in anderem Sinne, als
es vorher zusammengetreten war. Es
geschieht dies, indem der Punkt c' in eine Linie auseinandergeht,
wodurch Fig. 332 entsteht. Es kann nun nicht mehr festes Nitril im
Gleichgewicht mit zwei fliissigen Phasen sein, wohl aber festes Salz.
Hierdurch entstehen folgende Feider. Setzt man zu Nitril und Salz
Wasser, so entsteht wie friiher eine mit beiden gesattigte (nur viel kon-
zentriertere, Losung IV, indem der Punkt IV in Fig. 332 dem Punkt
b in Fig. 329 entspricht. Von IV aus verlaufen die beiden Sattigungs-
linien IV z fur N und IV III L' fiir S. Wird nun die Wassermenge
vermehrt, so dass man nach S III L, III L' gelangt, so haben wir festes
Fig. 333.
Salzi
linte
flnssi;
Ghemische Gleichgewichte dritter Ordnung.
1143
Weitere Steigerung der Temperatur bewirkt ein Zusammentreteu
der Punkte yi und y\ da beide Fliissigkeiten zunehmend loslicher in
eioander ^erden. Im kritischen Losungspunkte Wasser/Nitril bei 55-5^
fallen sie zusammen, und dariiber hinaus lost sich die Regelfiache von
der Seite WN los, Fig. 334, indem sie den kritischen Punkt a mit-
nimmt.
Weitere Erhohung der Temperatur bewirkt endlich auch das Ver-
schwinden der RegelflUche, die sich derart zusammenzieht, dass die
Punkte III Lj und III L' mit dem kritischen Losungspunkte a zusammen-
fallen. Dies tritt bei 145-5® ein. Von da ab sind alle Losungen homogeu
und man kann nicht mehr, wie zwischen 55® und 145*5® gewisse homo-
gene Losungen von Wasser und Nitril durch Zusatz von Kochsalz in
zwei fliissige Pbasen zerfallen lassen. Das entsprechende Bild ist
Fig. 335.
Eine Ubersicht a^er dieser Verhaltnisse gewahrt Fig. 336, wo die Tem-
peraturachse nicht nach oben, sondern nach hinten genommen ist Man
vrird die Bedeutung der verschiedenen Flachen an der Hand der Figuren
329 bis 335 leicht erkennen, da sie iibereinstimmend bezeichnet sind.
Die schraffierte Flache ist die der zwei fliissigen Phasen. Die quer ver-
laufenden Linien sind Isothermen.
In einer darauf folgenden foo%
Abhandlung ^)berechnetSchreine-
makers eine Anzahl alterer und
neuerer Beobachtungen anderer
Forscher, so weit die iiberall
unvollstandigen Angaben es zu-
lassen. Besondere Verhaltnisse
ergeben sich dabei nicht Eben-
so enthalt die Untersuchung,
welche E. H. Klobbie^) unter
Schreiuemakers Leituug liber das
Gebilde Wasser, Ather, Malon-
saure anstellte, ausser den Losungslinien der Malonsauro fiir Wasser
und Ather, Fig. 337, die beim Schmelzpunkt der Malonsaure, 132®,
mit volliger Mischbarkeit enden, und der Losungslinie Ather-Wasser
(Fig. 338), nur eine Isotherme des ternaren Gebildes fiir 15®.
Fig. 339 zeigt die Verhaltnisse; Wasser, Ather, Saure sind mit W, £,
Temperatur'
Fig. 337.
A72"
1) Zeitschr. f. phys. Chemie 23, 649. 1897.
*) Zeitschr. f. phys. Ghemie 24, 615. 1895.
1144
II. Ghemische Dynamik.
S bezeichnet. In cd liegt die Losungslinie der festen Malonsaore in
Ather-Wasser yor, wahrend ab die Grenzlinie der zweiteu flussigen
Phase ist. Wahrend also jedes Gemenge aus Scd in gesattigte Losung
and feste Saure zerfallt, trennt sich jedes Gemenge im Raum ab in
zwei nicht mischbare Fliissigkeiten, wahrend endlich Gemenge im Felde
WcdEab sich homogen losen. Zwischen a mid b liegt auf der Grenz-
linie ein kritischer Punkt.
111. Drei fluBsige Schiohten. Das erste eingehend untersachte
Beispiel, wo neben festen Phasen drei fliissige Schiohten anftreten, ist
too.
system Wasser-Aether
20
•o
60 80 too
Temperatur
Fig. 338.
KO
Fig. 339.
gleichfalls von Schreinemakers') geliefert worden. £s bezieht sich auf
die Stoffe Wasser, Ather und Bernsteinsaurenitril, und die auftreten-
den, ziemlich verwickelten Verhaltnisse li^sen
sich am besten mittelst der Isothermen iiber-
sehen.
Fig, 340 gilt fiir Teraperaturen unter — 4-5 *.
Bei dieser Temperatur sind Wasser (W) und
Nitril (N) fest, wahrend Ather (E) fliissig bleibt
Es giebt daher die beiden Losungslinien ylmid
xl, welche in 1 zusammentreffen, wo beide feste
Phasen gleichzeitig neben einer bestimmten Losung bestehen konnen.
Bei — 4-5^ spaltet sich die bis dahin einheitliche Losung in zwei
nicht mischbare Fliissigkeiten; die neu auftrctende hat die Zusammen-
setzung Kg und es entsteht eine entsprechende Verbindungslinie K,l, za
der sich die Linien NK^ und WK, als fest-fliissige Gleichgewichte ge-
seUen. Fig. 341 zeigt die Erscheinung.
Wenn nun die Temperatur steigt, so gehen die Linien NK, und
Fig. 340.
^) Zeitscbr. f. phys. Chemie 25, 543. 1898.
CbflmiBcfae Gleichgewicfato drittar Ordnuog.
1145
WK, in Kegel (bez. deren Projektionen) auseinander, indem sich von
dort aus Ewei Sattigungslhiien ausbildea. Die Linie K,!, deren beide
Endea fluesige Phasen daretellen, moBS sich dagegen in die Projektion
einer Regelfiacbe ansbreiteD. Wahrend also K, in ein Dreieck ausein-
andei^eht, verlangert sich 1 nur in eine Linie und das Ergebniss wird
durch Fig. 342 dargestellt.
Man kann as einfach &\b die Folge davon auffassen, dass inmitten
des Gesamtfeldes eine RegelSache, zwei fliisaige Phaaen darstellend, auf-
Fig. 313.
Fig. 844.
tritt, enteprecbend einer Mittolfalte in dei g-Flache (S. 1040). Hier-
durch werdeu die beiden von N und W ausgebendeti Kegel in je zwei
Stiicke gespalten, und zwiscben ibnen bleibt der Rest der Regelflacbe
stuT besteben.
Hierdurch eutstebeu zanachst drei Dieiphasendreiecke, natnlicb Nst
uod Wtu fiir jedeu der beiden festen Stoffe mit je zwei L5aungen, und
WNr fiir eine Losung neben beiden festen Stoffen Eis and Kitril.
Ferner eind vier Gebiete mit einer festen und einer fliissigen Phase
Torbanden, namlich Nrs, Nvx, Wrt und Wuy.
Ghemische Gleichgewichte dritter Ordnung.
1147
Kig. 263a, S. 1032, fiir drei fliissige Phasen, welche durch das Eindringen
eines Kegels fest-fliissig, der von einem der Bestandteile ausgeht, gestort
wird (S. 1096).
Die weitere Steigerung der Temperatur lasst die Stiicke des N-Kegels
nach einander verschwinden, indem die Punkte e und h sich dem ent-
sprechenden Rande nahern. Zuerst geschieht dies mit e bei 18-5^ und
es entsteht bei hoberen Temperaturen Fig. 346. Bei 36® tritt h (und
xiatiirliob gleichzeitig g) in die Seite NE, und weiterhin entsteht Fig. 347,
indem beide in g endende Felder sich von einander zuriickziehen. Der
N- Kegel ist dadurch wieder einheitlich geworden.
Er wird bei steigender Temperatur immer kleiner und verschwindet
bei dessen Schmelzpunkt ganz. Dann bleibt nur die typische Fig. 263a,
S. 1032 iibrig.
Fig. 346.
Fig. 347.
Dercn Verhalten bei weiterer Temperatursteigerung ist durch die
Verkleinerung desFeldes rr'ngna gekennzeichnet, welche schneller erfolgt,
als die der anderen Felder. Bei der kritischen Losungstemperatur des
Nitrils in Wasser ist das ganzeFeldin einenPunkt zusammengeschrumpft;
die Linien UiUj und n^n, fallen zusammen und wir haben nur noch
zwei Schichten iibrig, welche weiterhin eine Feldteilung wie Fig. 263, o
S. 1032 ergeben, indem gleichzeitig der aus rr'usns entstandene Punkt
sich ins Innere des Feldcs zuriickzieht.
Das weitere Schicksal dieses Gemenges ist nicht untersucht worden,
doch lasst es sich absehen. Das Zweiphasenband, welches zwischcn den
Seiten EW und EN verlauft, wird sich schliesslich von einer der beiden
Seiten (wahrscheinlich EN) ablosen, indem die beiden Fliissigkeitcn voll-
standig loslich werden. Es entsteht dann die Form Fig. 263 r, S. 1032,
in welcher Gestalt das Regelfeld der zwei fliissigen Phascu zulotzt
Chemische Gleichgewlchte drltter Ordnung.
1149
Verschiebung des Gleichgewicbts mit dem Druck darstellt. £s bleiben
also die drei Linien B N L^, B L^ Lc und N L^ Le iibrig.
Von diesen yerlautt BNL^ bis zum eutektischen Punkte BN mit
steigender Temperatur. Vorber batten wir die Linie B N L, welche die
gleicben festeu Pbasen entbielt, and im zweiten nonyarianten Punkte
springt die Losung yon der Zusammensetzung L^, die sie dort erreicht, in
die Zusammensetzung Lc der zweiten fliissigen Phase iiber. Die Gesamt-
linie zeigt also ein ganz abnlicbes Verbalten, wie ein binares Gemenge
mit einer festen Pbase, die unter der gesattigten Losung schmilzt.
Auch bier (z. B. bei Benzoesaure und Wasser) bat man erst die wasserigen
Liosungen neben fester Saure; bei 95^ schmilzt diese, und ibre Losungs-
linie springt in die Gleichgewichte mit fliissiger, wasserarmer Schmeize fiber.
Die Linie NL^Lc stellt die Gleichgewichte des festen Nitrils mit
den beiden Schichten dar. Sie yerlauft gleichfalls nuch ansteigenden
\v ^
Fig. 348.
Fig. 349.
Temperaturen und endet bereits bei 18-5^, dem Punkte, wo Wasser
und Nitril ohne Benzoesaure zwei fiiussige Schichten geben. Der Schmelz-
punkt des Nitrils unter Wasser wird also durch Benzoesaure erniedrigt;
dies geschieht, weil sich diese yorwiegend in die Schicht Le begiebt
Sebr merkwiirdig yerhalt sich die letzte Linie L^LcBD. Sie yer-
lauft gleichfalls nach ansteigender Temperatur und endet bei 5P. Bei
87^ tritt sie aber wieder auf, um endgiiltig bei 95^ zu yer-
schwinden.
Dies riihrt daher, dass bei 51^ die beiden FlUssigkeiten L^ und Lq
identisch werden und einen kritiscben Losungspunkt aufweisen. Bei 87^
erscheint ein neuer, unterer kritischer Losungspunkt.
Der t)berblick liber diese yerwickelten Erscheinungen wird am
besten mittelst der aufeinanderfolgenden Isothermen gewonnen, zu deren
Betrachtung wir uns wenden.
Fig. 348 zeigt die Isothermen bei etwa 12^ der Temperatur des
funffachen Punktes. Die mit festem Nitril im Gleicbgewicbt stehenden
Oitwald, Chemie. II, 9. 2. Aufl.
73
1150
II. Chemische Dynamik.
Losungeu sind zy, die mit Benzoesaure sind xy; in y sind die beiden
fasten Phasen mit der Losung y im Gleichgewicht Gleichzeitig bildet
sich die zweite fliissige Phase aus, die durch den Punkt f^ darge-
fitellt wird.
Bei hoherer Temperatur entsteht die Form Fig. 349, indem der
Punkt f| der zweiten Fiiissigkeit in das Dreieck fif^fj auseinander
geht. AuBser der Losungslinie xy^ mit L^ zeigt die Benzoesaure nur
die Losungslinie f^f) mit der Fiiissigkeit Lc uud dazwischen liegt das
Dreiphasendreieck By^f^, in welchem feste Benzoesaure mit beiden
Fliissigkeiten im Gleichgewicht ist. Ganz gleiche Verhaltnisse treten
mit dem Nitril ein und wir haben gleichfalls die beiden Losungslinien
zy^ und f^f,, und dazwischen das Dreiphasenfeld Ny, fg.- In dem
Gebiete yijaf^fi zerfallt dagegen jedes Gemenge in zwei Fliissigkeiten
Fig. 350.
ohne feste Phase, indem jedem Punkte Yon j^j^ ein Punkt von f^f^
entspricht. Das Feld fif2f8 endlich stellt homogene Fliissigkeiten dar.
Steigt die Temperatur, so nahert sich das Dreieck f^ f^ f, der Seite
WN und bei 18*5^, der kritischen Losungstemperatur von Wasser und
Nitril, fallt fj in die Seite WN. Weitere Steigerung der Temperatur
bringt Fig. 350 hervor.
Wahrend hier die Gleichgewichte mit fester Benzoesaure wesent-
lich unverandert geblieben, treten neue beim Nitril auf. Das untere
Dreieck N z yj ist verschwunden, d. h. es giebt keine Losungen L^ neben
festem Nitril, sondern nur solche mit Lc. Die friihere Regelfiache
jijafafi ist an den Rand WN getreten und erscheint als yyiZ^z, und
das homogene Dreiseit fif^fs ist in das Vierseit zZiV, v iibergegangen.
Die Fig. 350 gilt etwa fur 24^
Bei woiterer Erhohung der Temperatur riicken y und z zusammen
und vN verkiirzt sich. Dadurch dehnt sich Gesamtfeld Bxv immer
weiter aus und geht schliesslich iiber das ganze Dreieck fort Fig. 351
Cfaemfsche Oleicbgewichto dritter On
stellt dec Znstand bei 51" dar, wo dieser Voi^
indem die beiden Punkte jz der Regelflache jij:
Punkt zusammeDgetreteu sind. Da die Tempen
dem Schmeliponkt dee NitriU liegt, ist desBen 1
gewordeD. SteJgert man die Tdmpeiatur noch
die Regelflache ab und man hat Fig. 352, wo i
noch mit je einer Losung, nicbt aber laebr i
Schichtet) im Gleichgewicbt ist Inzwiecben ist
Fltissigkeitsfeld an dea RaDd getreten (bei 44" liegt
BN) und der Pankt v, Fig. 350, ist in zwei Pai
treten. Beim Schmelzpunkt des Nitrils, 54-5'', vei
das kleine Feld t Vj M und das ganze Oreieck
heterogeneu Loaaogkegel der Benzoesaure, der toi
liomogenen Losungen aus drei Bestandteilen, die
1152 II. CbemUche Dynamik.
kritischen Losungspunkt hat Das DreJeck yzB entbalt zwei Fliiasig-
keiten nebon fester Benzoesaure.
Die Vorgange bei weiterer Tempeniturerhobung lassen sieh ann
leicht ubersehen. Zunacbst tritt y in die Seite WB, dann z, uad danc
treDDt sich die Regelflache jnz ron der Losuugslioie der festcn Benzoe-
saure ab. Dies geschieht bei 95", der Temperatur, wo feste Beazoe-
saure unter reiiiem Wassor schmilzt Fig. 354 stellt diesen Zastand dar.
Gebt man weiter, so erreicht man zuDacbst den kritischen Losungspankt
der Benzoesaure, wo die Regelflache yuz Terschnindet, und endlich
den Schmelzpunkt der Benzoesaure, \2(f, wo aucb der Losungskegel Bzw
verschwindet. Hieriibcr giebt es nur nocb bomogeno Flussigkeiten in
alien mogliuhen MischungsverbaltDiesen.
113. Zwel Wendepunkte. Die eben erwahnte ErBcheinang des
Auftretena von Wendepunkten in der Losungslinie und des damit zn-
Fig. 354. Fig. 355.
Bammenhangenden Auftretens der Entmischung bei steigendcr Tempe-
ratur ist offonbar eine Folge des Umstaudes, dass der fragtiche feste
Stoff, die Benzoesaure, bei steigender Temperatur unter dem
Losungsmittel schmilzt Wendet man zwei Losungsmittel an, die
sich aboUch dem Wasser verhalten, so gewinnt man zwei derartige
Wendepunkte. Der Fall ist von Schreinemakers an Bernsteinsaurenitril
aeben Wasser und AlkohoP) nachgewieson worden.
Wir tibersehen die Verhaltnisse wieder am bcsten an den IsothenneD.
Seben wir von den niederen Temperaturen ab, bei denea Eis als feete
Phase besteht (sie gehen wegcn des sebr tiefen Erstarruoppunktes des
Alkohols bis in die Nahe des absolnten Nullpunktes), so haben wir zu-
nacbst ein sehr einfachea Bild. Vom Punkte N (Nitril) aus goht ein
Losungskegel in das dreieckige Feld hinein, dessen Grenzlinie io der
Nabe der Seite WA (Wasser -Alkohol) vertauft Es zeigt sich, dass
') Zeitschr. f. phys. Chemie 27, 95. 1898.
Chemtsche Oleic hgewichte dritter Ordunog. 1153
Gemenge von beiden starker losend auf das Nitril wirken, als jeder Be-
standteil fur sicb; die Linie zeigt ftlao in der Mitte eine gegea die Ecke
N gerichtete Ausbucbtung. ' Dies irt der Znstand bei etwa + 2".
Bereis bei 4-5° ist diese Ausbuchtuog so stark geworden. Fig. 355,
dasa zwei Wendepunkte auftreten*) und die Tangeote des recbten Wende-
pnnktes c darcb die Ecke N gebt Dies ist das Signal fur dae Auf-
treten ..uDmoglicbHr** Zustande, und bei etwas eteigender Temperatur
zerfallt dann auch hier die Losungslinie in zwei getrennte Stiicke, dem
Anftreten zweier fliissiger Phasen entsprechond. Fig. 356 zeigt die Iso-
thennen fur 5".
Das Gebiet s,s,a ist das der beiden fliissigen Pbasen mit dem kri-
tiscben Loeungsponkt a.
Gebt man mit der Temperatur iiocb etwas aufwarts, so entstebt
aucb an der Wasserseite ein Gebiet mit zwei Siissigen Phasen. Fig. 357
Fig. 356. Fig. 357.
stellt den Zustand bei o-S" dar. Die Transversale lA laast nocb ver-
wickeltere Anderungen erkennen, als im Torigen Fa]le. Dena von dem
Gemenge aus viel Nitril neben gesattigter wasseriger Losuug aus ge-
langt man durcb Zusatz vod mebr und mehr Alkobol durcb folgendo
Andemngen bindurcb:
') Die in Fig. 367 gezogene Gerode Al lehrt folgende EigeDtQmlichkeit dieseB
GebildeB erkennen.. Stellt man ein Gemenge &U8 gleicheu Molen Nitril uod Waaser
her, BO erh< man eine ges&ttigte Lssung nebat vielem festen Nitril. Wird hierzu
Alkohol gesetzt, BO gehl sebnell mehr und mehr Nitril in LSsong, und man erreicht
bald den Punkt p, wo alles gelOst ist. Weiterer Alkobol l&sst die FlDsaigkeit tuent
homogen, hringt aber bei n elnen Niederechlag von teatem Nitril bervor (falls Uber-
8&ttigung lermieden mrd\ der sich erst vermehrt und dann lermindert, bis er be!
0 wieder Terachwnnden ist. Von dort bia zu reinem Alkohol bleibt die LOaung
wieder homogen. Wir kdnnen also durch bloasen Alkoholzusatz nachoinander an
denselben Stofibn LOsung, Fftllong and wieder LOsung hervorrufen.
1154
II. Chemische Dynamik.
Zuerst wird nur die Loslichkeit des NitriU etwas vermehrt. Dann
entsteht eine zweite fliissige Schicht, und bei weiterem Alkoholzusatz
vermindert sich die Menge des Nitrils bis-zum Verschwinden, wabrend
Fig. 368.
Fig. 358 b.
A
Fig. 359.
zwar die Zusammensetzung, nicht aber die relative Menge beider Schichten
unverandert bleibt. 1st das feste Nitril verschwnnden, so andem beide
Scbicbten aucb ihre Zusammensetzung and schliesslicb ist nur die an
Chemische Oleichgewichte dritter Ordnang. 11 55
•
Nitril reichere iibrig. Weiterer Zusatz von Alkohol las8t zunachst die
Fliissigkeit homogen; dann tritt aber wieder eine Scheidung in zwei
Flussigkeiten ein, deren Znsammensetzung zuerst yeranderlich ist. Dann
scheidet sicb wieder festes Nitril aus und die beiden Flussigkeiten werden
konstant in der Zusammensetzung, bleiben aber in den relativen An-
teilen veranderlich. Dann verschwindet die an Nitril reichere Schicht
und wir haben wieder festes Nitril neben gesattigter Losung. Die Menge
des ersteren nimmt dann mehr und mebr ab und wir enden mit einer
ungesattigten Losung von Nitril in fast reinem Alkohol.
Bei weiterer Erhohung der Temperatur nahern sich die beiden
Regelflachen den Dreiecksseiten, und zwar miissen notwendig zwei ent-
sprechende Punkte, etwa s^ und s,, gleichzeitig in die Dreiecksseite
eintreten, da eine ternar zusammengesetzte fiiiissige Phase nicht mit einer
binar zusammengesetzten im Gleichgewicht sein kann. Dies geschieht
zunachst an der Seite NA, und es entsteht Fig. 858 bei 13^. Gleiches
geht mit der anderen Eegelflache vor, und bei 18^ entsteht Fig. 358b.
Die Deutung dieser Isothermen macht gar keine Schwierigkeiten.
Eine weitere Steigerung der Temperatur lasst die Regelflachen
immer kleiner werden, wabrend sich gleichzeitig der Kegel des festen
Nitrils, entsprechend seiner zunehmenden Loslichkeit, gegen den Punkt
N zuriickzieht. Bei 3P verschwindet die rechte Regelflache, bei 54»5®,
dem Schmelzpunkte des Nitrils der Kegel, bei 55*5^ endlich auch die
linke Regelflache und das ganze Gebiet ist homogen geworden.
Fig. 359 giebt eine raumliche Darstellung dieser Verhaltnisse, in-
dem die aufeinanderfolgenden Isothermen nach einer horizontalen Tem-
peraturaxe aneinander gereiht worden sind. Nach den vorangegangenen
Darlegungen wird das Verstandnis dieser Figur keine Schwierigkeiten
machen, zumal eine Anzahl von Isothermen durch starke Linien her-
vorgehoben ist.
114. Wasser, Phenol and AnlHn. Diese Combination verhalt sich
nach den Untersuchungen von Schreinemakers^) folgendermassen. Wab-
rend bekanntlich Wasser sowohl mit Phenol wie mit Anilin bei niederen
Temperaturen koexistente Fliissigkeitspaare bildet, welche bei 68^, bez.
167^ kritische Punkte haben, mischen sich Phenol und Anilin in alien
Verhaltnissen. Hiernach befinden sich an zwei Seiten des darstellenden
Dreiecks unter 68^ je zwei entsprechende Fliissigkeitspunkte und es gehen
von ihnen Regelflachen aus, wabrend die dritte Seite (Phenol- Anilin)
») Zeitschr. f. phys. Chemie 29, 577. 1899.
1156
II. Ghemische Dynamik.
koine Teilung aufweist. Es ist also von Fig. 263, S. 1032 entweder
der Fall o oder g moglicb. Der Versuch ergab, dass der Fall o ein-
tritt. Demgemass kann weder ein Zweifliissigkeitsgemenge Phenol- Wasser
durch Anilin, noch auch Anilin- Wasser durch Phenol homogen gemacht
werden^ sondern jedes beliebige Gemisch von Phenol und Anilin zerfallt
durch Zusatz einer geniigenden Wassermenge in zwei nicht mischbare
ternare Losungen. Fig. 360 zeigt diese Verhaltnisse.
Erhoht man die Temperatur, so tritt bei 68^ der kritische Pankt
Phenol-Wasser ein; die Punkte a und b fallen zusammen, und bei
weiterer Temperaturerhohung lost sich die Regelflache von der Seite
Wasser -Phenol ab und nimmt die Gestalt Fig. 263 , r (S. 1032) an.
Die Flache wird bei weiterer Erwarmung immer kleiner, und ver-
schwindet bei 167^, der kritischen Temperatur des Paares Wasser- Anilin,
in einen Punkt der Seite WAn.
Ph
An
Fig. 360.
Von dem Augenblicke an, wo sich die Regelflache von der Seite
WPh loslosty erhalt sie einen ternaren kritischen Punkt, und die Ge-
samtheit dieser Punkte bildet bei steigender Temperatur eine ^kritische
Linie", welche die beiden binaren kritischen Punkte stetig verbindet
In Fig. 361 sind einige der folgeweisen Grenzen der Regelflache an-
gegeben; sl^sl^bl^q^ stellt die kritische Linie dar.
Daneben ist noch eine andere Linie agK^K^ag angegeben, deren
Punkte K fiir die zugehorigen Temperaturen die grosten Werte des Ver-
haltuisses Anilin: Phenol angeben, bei welchem noch durch Wasserzu-
satz eine Tiiibung infolge der Bildung zwcier Schichten stattfindet Man
erhalt diese Punkte, indem man von W Tangenten Wfj, Wf^ an die
Grenzkurven legt. Wie ersichtlich fallen diese Punkte nicht mit den
kritischen zusammen: ein Verhalten, das den eutsprecheuden Eigen-
schaften binarer Gemenge bei deren kritischen Temperaturen fliissig*
dampfformig an die Seite zu stellen ist.
Cbemische Gleichgewichte dritter OrdnuDg.
1157
Die kritischen Punkte a,, a^, welche sich zu der kritiscben Linie
Tereinigen, kennzeichnen somit das Verhaltcn der Gemengo bei Tem-
peraturerhohung, wahrend die Punkte der K-Linie gewissermasseu
kritische Punkte fiir den Wasserzusatz darstellen.
Scbreinemakers, welcher diese Linien einer eingebenderen Betrach-
tung^) unterzogen hat, nennt die erste die Linie der kritischen Tempera-
turen, d^e zweite die der kritischen Losungen.
Man iibersiebt alsbald, dass die raumliche Gestalt dieser Linien im
Temperaturprisma eine sehr verschiedenai'tige sein kaiin. Neben dem
einfach aufsteigenden Verlauf ist das Auftreten von Maximal- oder Mini-
malpunkten moglich; auch konuen Wendepunkte auftreten. Schreine-
makers fiihrt a. a. 0. die damals bekannten Beispiele fiir die yerschiedenen
Moglicbkeiten an.
115. Feste binare Verbindung.
Einen Fall, in welchem eine binare
Verbindung in fester Gestalt auf-
tritt,hatSchreinemakers^)unter8Ucbt.
Es handelt sich um das Gebilde
Wasser-Anilin-Phenol; die beiden
letztgenannten Stoffe geben eine
leicht zerfallende Verbindung zu
gleichen Molen, welche bei 17*3®
schmilzt. Unterhalb dieserXempera-
tur haben die Isotbermen eineGestalt,
wie sie schematisch in Fig. 362 fiir
eine Temperatur zwischen 15® und
IV dargestellt ist
Um P (Phenol) liegt zunachst ein Losungskegel, der nirgendwo
unterbrochen ist. Anilin ist fliissig, hat also keinen Losungskegel,
ebenso Wasser. An der Seite PW liegen die beiden Punkte c und d,
welche die beiden koexistenten Losungen von Phenol und Wasser dar-
stellen; e und f sind die entsprechenden Punkte fiir Anilin und Wasser;
von beiden Paaren ab erstrecken sich die zugehorigen ZweiflUssigkeits-
gebiete ins Innere.
Die feste Verbindung V hat einen mehrfach unterbrochenen Losungs-
kegel. Mit reinem Phenol bildet sie zuniichst die gesattigte Losung h,
welche beim Zusatz von Wasser sich langs der Linie h LI andert. In
1"
Fig. 362.
M Zeitschr. f. phys. Chemie 29, 592. 1899.
«) Zeitschr. f. phys. Chemie 30, 460. 1899.
1158 II* Chemiscbe Dynamik.
Lc spaltet sich die bis dahin homogene Losung in die beiden fliissigen
Lc und Ld und wir haben das Dreiphasendreieck VLgL^, in welchem
die beiden Losungen konstant bleiben.
Durch VeraDderungen der Mengenverhaltnisse (Zusatz von Anilin)
kann die Fliissigkeit Lc zum Verschwinden gebracht werden. Wir er-
halten dann eine andere Reihe L^W vod Losungen, die ia Beziig auf
festes V gesattigt sind. Weiteres Anilin giebt dann ein zweites Flussig-
keitspaar, L'^ and L'^* im Gleichgewicht mit V, und endlich wieder die
SattignngBlinie L'cg von V mit Losungen, die zunehmend weniger Wasser
enthalten, bis in g die Losung wasserfrei ist
Bei steigender Temperatur sind zwei Moglichkeiten vorbanden. Es
konnen entweder die beiden Punkte L^ und L'^ einander naher riicken,
bis sie zusammenfallen. Dann verschwindet der mittlere Tell des
Losungskegels und es liegen zwei Dreiphasendreiecke (V und je zwei
Losungen) nebeneinander wie das in Fig. 296, S. 1080 dargestellt isL
Weitere Temperaturerhobung lasst dann erst eines und dann das andere
dieser Dreiecke verscbwinden, indem je zwei ibrer Eckpunkte zusammen-
fallen.
Oder es wird zunacbst eines der Dreiecke immer scbmaler, indem sich
z. B. Lq der Linie L^V nabert und bei einer bestimmten Temperatar
in sie hineinfallt. Dann liegen die drei Punkte L^, Le und V in einer
Geraden, d. h. Lc lasst sich aus L^ und V additiv zusammensetzen.
Da Lc zwischen L^ und V liegt, so heisst dies, dass Lc in die beiden
anderen Phasen zerfallt. Beira Erwarmen auf diese Temperatar wird
also die Phase Lc immer geringer werden und schliesslich, unabhangig
von der Zusammensetzung, verschwinden.
Da allgemein, wenn eine Phase die Zusammensetzung zweier anderer,
koexistenter Phasen hat, die zugehorige Temperatur ein Maximum oder
ein Minimum sein muss (S. 128), so folgt, dass diese Temperatur
gleichzeitig die hochste ist, bei welcber die Verbindung V neben fliissigen
Phasen bestehen kann^).
116. Alkoholisch-wSsserige Salzlosungen. Zahlreiche Beispiele
fur den Fall, dass mehrere fliissige Phasen erst im ternaren Gebiete
entsteben, wahrend die binaren Zusammenstellungen keine geben, hat
R. R. de Brujn^) untersucht. Den Typus dieser Erscbeinungen stellen
die „Schicbtbildungen" dar, welche in wasserigem Alkohol durch gewisse
Salze entsteben. Diese sind seit sehr langer Zeit bekannt, da schon
^) Ein anderer Beweis findet sich bei Schreinemakers, Zeitscbr. f. phys. Chemie
30, 465. 1899.
«) Zeitscbr. f. pbys. Chemie 32, 63, 1900.
Cbemiscbe Gleicbgewicht« dritter Drdnmig. 1169
friih die Versucbe, wasserigeo Alkobol durch Zosatz wasserbindender
SalzQ zu konzentriereD, zu derartigen Beobachtungen gefiihrt haben. Anch
haben Terhaltnismassif^ friih (vgl. 6d. I) mesaende Untersuchiingen
an dieser Stelle eiogesetzt, doch war die FragestelluDg Dicht sehr all-
gemein, und demgemasB waren aucb die Ergebniese begrenzt Hier
hat wieder einmal erst die PbaeeDlehre eine eotscbeidende Forderung
durch VerallgemeineruDg der Anffassung hewirkt.
Einen der einfachsten FUlIe dieser Art ergiebt AmmoDiamsulfat,
Wasser, Alkohol. Fig. 363 stellt die Verbaltnisse aaterbalb 8" dar;
Z bedeutet Salz, W Wasser, A Alkohol. Hier ist nocb keine Scbicht-
bildoDg Torbanden, sondern das Salz ist in Wasser raicblidi (Pankt R),
in Alkohol sparlicb (Fuiikt Q) loslich, und beide Punkte sind durch
Fig. 3G3. Fig. 364.
eiDQ stetjge Sattigungslinie verbunden. Die inbezug auf Z konveze
Gestalt dieser Linie tehrt, dass beim Vermischan zweier gesattigter
Losungen von verscbiedenem Alkohol- und Wassergefaalt jedesmal Aus-
scheidung festen Salzes eintreten muBS, denu alle Verbindungageraden
irgend zweier Punkte der Sattigunplinie liegen innerbalb des Losanga-
kegels, zerfallen also in festes Salz neben gesattigter Losung.
Bei 8" tritt bei der Zusammensetinng W = 0-6, A = 0-2, Z = 02
eine Trenuung der Sattigungslinie ein und es bildet sich das Zwei-
fluasigkeitengebiet OBP mit dem kritischen Punkte p, Fig. 364. Wahrend
in 9on Ubriggebliebenen Teilen dea Losungskegels I festes Salz neben
einer gesattigtea Ldsung tod Teranderlicher Zusammensetzung besteht,
haben wir in 2 zwei fliissige Phasen ohne festes Satz, in 3 zwei konstante
Losungen neben festem Salz und in 4 endlicb homogene ungesattigte
Losungen. Die Zeichnung gilt fiir 15". Die Untersochung wurde bis 50"
fortgefuhrt, ei^ab aber nur eine zunehmende Ansdehnung des Gebietes
1160 II. Chemische Dynsmik.
2. In Fig. 365 sind die erhalteocn Beobacbtungen raumlich nach der
Temperaturaxe dargeetellt. Die in der Abhandlung reichlich mitgeteilten
WMssr
Fig. 366.
analjtisehea Oaten kounen hier iibergangen werden. BemerkenBwert
ist, d&BB fur ein konstaiiteB Verhaltnis zwischen A.lkohol uad Wasser
der Salzgehalt, bei welchem die Scbicht-
bildung eiatritt , ganz Terscbiedeae
TemperaturbeziehoDg zeigt. Bei alko-
bolreichen Geinengen steigt Tempera*
tur nnil Salzgebalt gleichzeitig (KnrTe
7 und 6 der Fig. 366; der Alkoholge-
halt ist beigescbrieben) ; in derGegead
von 30*/, Alkohol treten Maxima aof
(Kurve 5 und 4), and wasserreichere
Gemenge zeigen abnebmende Ent-
miscbungstemperatur mit steigeodeia
Salzgehalt').
Etwas verwickelter gestatten sicb
die Verhaltnisse beim Kalinmkarbonat,
weil dieses ein Hydrat mit l*/i oder
2 H,0 bildet Fig. 367 Btellt etwas
( ,
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20- 30- tO' JO- 60
Fig. 366.
') Die Figiir ist nur scbemeitisch oiid gi
illt die Verh<Diue nicfat quantitatir di
Chemische Gleichgewicbte driller Ordnung. 1161
scbematisch die Isothermen mit Wasser uiid Metbylalkohol bei Zimmer-
temperatur dar; H ist der PuDkt, welcber dem Hydrat eutspricbL Die
Ahalichkeit mit Fig. 364 ist sehr gross. Da« ZweiflussigkeitenfeldjOFB
Terscbwindet bei — 35*. Aucb bier wird durch Erhohung der Tempera-
tur die Schichtbildung bewirkt und befordert. Vollig entsprechcnd ver-
halt sich die Zueammeustellung Kaliumkarbonat, Wasser, Athy lalkobol.
Bei Natriumsulfat, Wasser uiid Athylalkobol konoeu gleichfalls
znei Schicbten erbalten irerden; diese sirtd aber metastabU und zer-
fallen in festes Glaubersalz uoben gesaltigter Losuog. Fig. 368 stellt
znnschst die stabilen Zustaude dar; H ist Glaubersalz, Z wasserfreies
Snlfat. Im Gebiete Z H S zerfallt das Gebilde in eiD Gemenge der beiden
feeteu Phasen nebcn der koustanten Losung S: QS ist die Sattigungs-
linie fur wasserfreies S&lz, SR fur Glaubersalz mit lOHaO.
Fig. 36T. Fig. 368.
Innerbalb des Gebietes liegt zunacbst die metastabite oder labile
Linie MN. Sie stellt sine Reihe entsprecheader Punkte von je zwei
koezistenten Fliissigkeiten dar, zwischea denen ein kritischer Puukt liegt,
dessen Lage nicbt bekannt ist; ebeusowenig ist der ganze Verlauf der
Linie bekannt. Sie entspricbt ganz der Linie OPB in Fig. 367. Fine
genauere Unteraucbung wurde dadurch vereitelt, dass ausserst leicbt
festes Salz auskrjstallisierte und eine Losung aus der Reihe R S
entstand.
Ausserdem findet sicb nocb die metastabile Linie LU. Diese iBt
eine S att i gun gs linie fiir eine feste Pbaae, namlicb das Salz NajSO^.THjO,
welches freiwillig nus stark iibereattigten GlaubersalzloBungen auskryg-
tallisiert (S. 718). Ebenso wio die fiir das Salz Na,SO,.7HiO gesattigte
rein vasserige Losung L konzentriorter ist, als die fiir Glaubersalz ge-
9attigte,80 verhalten sich aucb die alkoholhaltigen Losungen. Docb deutet die
1162
II. Chemische Dynamik.
AnnaheruDg der beiden Kuryen auf die Moglichkeit bin, dass zwiscben
U und S bei gewissen Temperaturen das Heptabydrat gegeuiiber alko-
bolreicberen Flussigkeiten stabil warden konnte.
Erbobt man die Temperatur, so riickt der Punkt zunebmend nacb
der Seite ZW, und bei 32^ dem Umwaudlungspunkte des Glaubersakes,
fallt er in sie binein. Dariiber haben dann die Isotbermen die ein-
facbe Gestalt wie Fig. 363. Docb lasst sicb aucb bier die metastabile
Linie MN, d. b. die Bildung je zweier Fliissigkeitsscbicbten verfolgen.
117. li'atriiimkarbODat, Wasser, AlkohoL Eine weitere Verwickelung
durcb das Auftreten mebi*erer fester Verbinduugen liegt in einer Untcr-
sucbung von G. H. Ketner^) iiber wassserig-alkoboliscbe Losuugen von
iCK)
B
Temperatur
Fig. 369.
Natriumkarbonat vor. Was zunacbst die moglicben Hydrate anlangt.
so ist scbon von Andrea') festgestellt worden, dass ausser den Hydraten
mit 10 H^O, 7 H2O und 1 HjO andere nicbt nacbgewiesen werden konnen,
und Ketner bat dies bestatigt Diese Hydrate sind in der Folge mit
Zio» Z7 und Z| bezeicbnet. Von Z^ batte bereits Lowel^) gefunden, dass
es in zwei Formen, a und j3, auftreten kann, von denen er ^ als nicbt
stabil angeseben batte. Die eingebendere Untersucbung ergab folgende
Verbaltnisse, die in Fig. 369 anscbaulicb gemacbt sind, wo die ver-
scbiedenen Loslicbkeitslinien mit den entsprecbenden Bezeichnungen
^) Zeitschr. f. phys. Ghemie Z% 641. 1902.
>) ZeitBchr. f. phys. Ghemie 7, 241. 1891.
•) Ann. chim. phys. (3) 3a, 327. 1851 und 44, 327. 1855.
ChemiBche 61eichge?richte dritter Orduung. 1163
Terseheu siud. Die niedrigsten Linien geben, wie bekaiint, die be-
standigen Formen an.
Hiernach ist bei niederen Temperaturen Z^qs bei boheren Z, be-
standig. Dazwischen, zwischen 31-9 und 35*1^ ist aber im Gegensatz
zu Lowels Angaben Z?^ bestandig, wabrend Z^a im ganzen Gebiet un-
bestandig neben wasseriger Losung ist^).
Somit giebt es zwei stabile Umwandlungspunkte, namlich Ziq, Z;^
bei 31-8^ und Z^^j Z^ bei 34* 1^ Ausserdem sind iioch zwei im metasta-
bilen Gebiete liegende Umwandlungspunkte vorzusehen, namlich Z^a* Z,
Fig. 370.
(in der Fig. 369 mit X bezeichnet) und Z^q) ^i 0^ ^^^ Figur nicht an-
gegeben). Zwei weitere mogliche Umwandlungspunkte, namlich Z^o) Z^a'i
*) Zur Ei'kl&rang Ton L^^wels Irrthum weist Eetner darauf hin, dass beim
AbkQhlen einer mit festem Zj in Bertthrung steheDden LOsung die Linle Z^SR
eingehalten wird; da Z^p sich unter der LOsung nicht freiwillig in Z^^ verwandelt,
80 bleibt das Gebilde auf der Linie SR(L) und wird metastabil. Eb scheidet sich
somit Zf/} aas den konzentrierteren L<(sungen ab. EUhlt man weniger ab, so
kann man auch auf der metastabilen Liuie SX fttr Z, bleiben, und dann kaun,
aber schwieriger, hinter X das Salz Z,^ sich ausscheiden. Wird dagegen eine
verddnntere LOsuug abgekdhlt, etwa der Linie AB entsprechend, neben der
kein festes Z, befindlich ist, so geht die Fldssigkeit in die metastabilen Gebiete
uDd dort tritt im allgemeinen nach dem bekannten Prinzip zuerst freiwillig die
wenigst best&udige Form, hier Z,^ auf.
1164 n. Chemische Dynamik.
Z^a* Z^^ scheinen im ganz instabilen Gebiete zu liegen, da Kctner sie
nicht erwahnt.
Die Beeinflussung dieser Yerhaltnisse durch Zusatz von Alkohol,
in welchem das Salz sehr schwer loslich ist, lasst sich voraussehen. Die
Isothermen im Dreick werden von Losungslinien gebildet warden, welche
die Yon den Punkten Z (Anhydrit), Z^, Z, and Z,o ausgehenden Losungs-
kegel begrenzen und mit einander in der Reihenfolge des Wassergehaltes
zum Schnitt kommen. Alle diese Hydrate bilden bei niederen Tempera-
turen keine stabilen Zweifliissigkeitsgebiete. Wohl treten solche bei
hoheren Temperaturen auf.
In Fig. 370 sind (etwas schematisch) die Isothermen for die
Temperatur 2P dargestellt; man erkennt alsbald die von Z, Z„ Z, und
Z,o ausgehenden Losungskegel mit den zugehorigen Sattigungslinien.
Ferner sind aber noch zwei metastabile Kurven punktiert einge-
tragen. Die von W, ausgehende Linie ist die Fortsetzung des Losungs-
kegels Z7 und stellt die Sattigungslinie des Salzes Z,^^ in wasserigem
Alkohol aller Starken von Q,,! bis zu reinem Wasser dar^). Beim
Anschluss von Zio-Keimen lassen sich die Gebilde leicht herstellen.
Ferner ist aber noch eine metastabile Linie mit dem Punkte a ange-
geben. Diese ist ein Ausdruck der Thatsache, dass man wasserige
Sodalosungen durch Alkoholzusatz in zwei nicht mischbare Flussigkeiten
iibergehen lassen kann. Es liegt also hier ein Zweifliissigkeitsgebiet
vor; dieses ist aber metastabil in Bezug auf Z,o, und wird daher beim
Eintragen eines entsprechenden Keimes festes Hydrat Z^o ausscheiden,
indem eine einzige Fliissigkcit nachbleibt. In a liegt der krittsche
Punkt, in welchem beide Flussigkeiten gleich werden.
Da diese Linie oberhalb W7 Qjo)? liegt, so sind die Zweiflusaig-
keitsgebilde nicht nur instabil fiir Z]o, sondern auch fiir Z7.
Bei steigender Temperatur nahem sich die beiden metastabileo
Linien, und bei 21*8^ beriihren sie sich im kritischen Punkte. Steigt
die Temperatur weiter, so tritt die Zweifliissigkeitslinie durch die
Sattigungslinie von Z7 hindurch, und einige der Gebilde aas zwei
nicht mischbaren Losungen werden stabil gegen Z,, wahrend sie gegpn
Zio metastabil bleiben.
Bei 27*7^ endlich ist der kritische Pankt a bis zur Losungslinie
von Zio vorgeschritten, Fig. 371.
Dariiber hinaus werden die Zweiflussigkeitsgebilde in zunehmendem
M Id der Zeichnung ist bei Q^q,, in der Linie W, Qt,i ein Knick angedeatet,
der nicht vorhanden sein kann, vielmehr muss die Linie stetig verlaufen.
Chemische Gleichgewichte dritter Ordntuig. 1165
Umfange stabil; Fig. 372 stellt die Verhaltnisse bei 29® dar. Wie man
sieht, unterscheidet sich die Zeichnung von Fig. 370 nur durch das Er-
scheinen des stabilen Zweifliissigkeitsgebietes Ly^aL^^ welches den
Liosungskegel von Z^o spaltet Im Dreieck ZiqL^L^ zerfallt das 6e-
bilde in festes Z^o neben den konstanten Losungen L^ and L^, wahrend
die Phase Z^o in L^aL^ fortfallty und die Losungen demgemass yon
▼erschiedener Zasammensetzang sein konnen.
Weiteres Erwarmen bewirkt zunachst eine Verkiirzung der Linie
LaQio.ti ^^^ ^^^ 3M^ in einen Punkt zusammengeschrumpft ist In-
folgedessen sind die beiden Losungen L^ und L^ nicht nur mit Z|09
sondern auch mit Z, im Gleichgewichte , und wir haben (mit Einrecb-
W7,
A
Fig. 371.
nung der Dampfphase) einen nonvarianten oder Quintupelpunkt. Die
durch den Durchschnittspunkt s der beiden Diagonalen gegebene Zu-
sammensetzung hat die Eigentiimlichkeit, dass sie die Moglichkeit der
vollstandigen Umwandlung der Phasenpaare Z^qL^ und Z^L^ in einander
ergiebt; alle anderen Punkte des Vierecks Z^ZjoL^L^^ lassen bei der
Umwandlung einen Oberschuss einer dritten Phase.
Die Steigerung dor Temperatur uber diesen nonvarianten Punkt wirkt
in gleichem Sinne weiter. Die Folge davon ist, dass das ZweifiUssig-
keitsgebiet nunmehr nicht den Losungskegel Zio» sondern den Losungs-
kegel Z7 spaltet Die Verhaltnisse werden durch Fig. 371 dargestellt
und bediirfen keiner besonderen Erlauterung.
Ostwald, Chemle. n,S. 2. Aufl. 1^4
1166 U. Ghemische Dynamik.
Der Losungskegel Zjo ist in Fig. 373 bereits sehr klein geworden;
Fig. 373.
bei 31*8^ verschwindet er ganz, weil da die Loslichkeit yon Zjo und Z,
gleich geworden ist.
Chemiache Olelcbgewiehte dritter t
WeiterhiD nSbert sich der Pankt L^ den
mit ihm bei 34-6" easaoimen. Wir haben also wi
Pnnkt, ID welchem zwei Fliissigkeiten mit zwei
1168
II. Chemische Dynamik.
ao%
l^'Vb
Setzt man die beschriebenen Isothermen nach einer Temperatur-
axe an einander, so erhalt man Fig. 374, welche nach dem Gesagten
yerstandlich sein wird.
Endlich sind far eine Anzahl von Losangen die Dampfdrucke unter-
flucht worden. Wahrend bei einheitlichen Losungsmitteln durch den Zu-
satz eines nichtfluchtigen Stoffes stets der Dampfdruck vermindert wird»
konnen bei zusammengesetzten Losongsmitteln alle denkbaren Falle,
namlich Erhohung, Yerminderung und Konstanz eintreten, je nachdem
die Zusammensetzung des
Dampfes durch den auf-
gelosten Stoff beeinflusst
wird. Und zwar lasst sich
ubersehen (S. 1021), dass
wenn der feste Stoff keinen
Einfluss auf die Zusammen-
setzung des Dampfes ans-
iibt, die Dampfdruckver-
minderung den gewohn-
lichen Losungsgesetzen
folgen wird. Der Sinn der
Abweichung von diesem
einfachsten Fall bei gean-
derter Dampfzusammen-
setzung wird dadurch be-
stimmt, ob der gebildete
Dampf einer binaren Fliis-
sigkeit hoheren oder nie*
deren Dampfdruckes (yer-
glichen mit dem „Losungs-
mittePO angehort, und der
erstgenannte Einfluss kann
so weit gehen, dass er die normale Yerminderung durch den festen Stoft
iiberwiegt und so insgesamt eine Erhohung des Dampfdruckes ergiebt
Dies tritt nun in der That im vorliegenden Falle in solchen Losungen
ein, welche mehr als 0*05 Alkohol enthalten. Fig. 375 stellt die Be-
einflussung des Siedepunktes (nicht des Dampfdruckes) wasserigen Alko-
hols durch zugefiigtes Natriumkarbonat dar; die Alkoholgehalte sind io
Prozenten den Kurven beigeschrieben. Wie man sieht, folgen auf die
ansteigende Linie des reiuen Wassers (0-0%) immer flachere, bis bei
21-3% der steilste Abfall erreicht wird. Dass danu wieder die Kurren
ZL3%
1%
29b
3%
-•- % zugefuglf& Salz
Fig. 375.
ChemiBche Oleichgewichte dritter Ordnnng. 1169
horizontaler werden, iet notwendig, da in reinem Alkohol wieder Siede-
puoktserhohuDg eintreten mass, wenn die Kurve auch wegen der ge-
ringen Loslichkeit sehr knrz wird. Es sind somit hier and in alien ahn-
lichen Fallen zwei yerschiedene gemengte ^LosuDgsmittel*' Yorhanden»
bei welchen der Siedepunkt durch zugesetztes Salz gar nioht beeinflusst
wird, bei denen somit die Kurven horizontal verlanfen* Die erzielbaren
EmiedrigUQgen sind sehr erheblich; die beiden konstanten Losungen,
welche mit Zi im Gleichgewicht sind (L^ nnd L\ in Fig. 373), sieden
bei 81^. Da wasseriger Alkohol yon 9*8%, der bei 914^ siedet, noch
dnrch Zusatz yon wasserfreiem Natriumkarbonat die beiden Schichten
W AlTc.
Fig. 376.
ergiebt, so liegt hier eine Temperaturerniedrigung yon 10^ Yor. Doch
erwies es sich als ezperimentell sehr schwierig, die richtige Siedetempe-
ratnr zu beobachten; gewohnlich wurden Thermometerstande beobachtet,
die um mehrere Zehntelgrade zu hoch waren.
118. Untere kritisohe Funkte. Wahrend die bisher untersuchten
FaUe sich auf die haufigere Erscheinang bezogen, dass bei steigender
Temperatur die Fliissigkeiten in einander loslicher werden, hat P. A.
Meerburg^) den entgegengesetzten Fall studiert. Als Flussigkeitspaar
mit dieser Eigenschaft wurde Triathylamin-Wasser (S. 679) gewahlt, und
hierzu wurden yerschiedene andere Fliissigkeiten als dritter Bestandteil
gesetzt.
^) Zeitschr. f. phys. Ghemie 40, 641. 1902.
1170 II' Chemiiche Drnamik.
Die eiofaohsten Verhaltnieee ergaben eich mit Alkohol ala drittem
Bestaodteil. Dieser Stoff ist sowohl mit Wasser wie mit Triatbylamin
in alien Verhaltiiiaaen mischb&r; infolgedessen treteo keine besonderen
Gebiete auf nnd sein Einflues reduziert sich daranf, dase er die beiden
anderea Bestandteile in einandei loslicber macbt Setst man daher ober-
balb 19^ wo dieee ein Zweifiiissigkeitseystem bilden, Alkohol daza, ao
werdeo die beiden LdBuugen einander immer ahnlicber und gehen durd
einec kritiscben Punkt in eiue homogene Losnng iiber.
Dieses Verhalten ist aus der raamlicben Darstellung Fig. 376 er-
sichtlicb, die obne weiteres verstandlich ist Das an die Ebene
WCWaBser) Am(Amin) T(Temperatur) sich anlebnende Gewolbe amfasst
die Zweifliissigkeitsgebilde; a^ ist die Linie der kritiscben Pnnkte. Es
ist ganz dasselbe Bild, wie es z. B. Wasser nod Phenol mit Alkohol
ng. 877. Ffg. S78.
giebt, Dor dass das Gewolbe nach den niederen statt nach den hoheren
Temperaturen abBchliesst.
Etwas verwickelter werden die Ersoheiuongen, wenn man als dritten
Bestaodteil eine Fliissigkeit wahlt, welche mit Wasser nur teilweise misoh-
bar ist DaoD entstehen zwei Zweifliissigkeitsgebiete, die sich auf Tei^
suhiedene Weise beeindussen konnen. Zuoachst sei das Verhalten Ton
Triathylamia -Wasser mit Ather dargestellt
Zunachst bildet hier dae Wasser leicht die feste Phase Eis, neben
velchem bei hinreicbend uiedtiger Temperatur nur bomogeue Losungeo
anftreten. Fig. 377 stellt die Verbaltnisse bei etwa — 10" dar. Neben
E eetzt die Losungalinie dea Eises in sehr wenig waeserhaltigem Xtber
an, und durch Vermebrung des Amins gelangt man BchliesBlich an die
Grenze WAm, das Gleichgewicbt flnssigen, wasserbaltigen Amins mit Eis.
Erhobt man die Temperatur, so wird das Eis loslicber, d. h. die
Chemlscbe OlBichgewichte dritUr Ordnong. 1171
Ftfissigkeit vird wasserreidier und es beginot eicfa die nnTollkomnifiDe
Liislichkeit Atber-Wasser geltend zu machen, indem die Greozlinie
nach W Toniickt nod gleichzeitig ihr in Fig. 378 bereits angedeuteter
Inflezionspunkt immer aosgepragter wird. Bei — 5-5" spaltet die
diissige Pliaee Bich in zwei nicht mischbare Aoteile. Biemach eot-
Btebt bei etwas hoherer Temperatur eiD Qebiet mit zwei fliisBigen Pbasen
nnd teilt den Losungskegel des Eises in zvei getrennte Stiicke. Fig. 378
stellt die Isotbermen bei — i-b' dar. Von W geht zunachst der grosaa
Ldsnngskegel aach E (Ather); N stellt die Zasaaunensetzung der Lostu^
TOD Wasser in Atber dar, die bei dieeer Temperatur mit Eia im Gleich-
gewicbt ist. Setzt man Triatbylamio zn, so wird die Losang langsam
reicher an Wasaer. Bei L, Bpaltet sicb eine zweite, waaserreicbe fliiaaige
Phase L, ab, und es bildet sicb ein engea Feld WL^L, ans, in welchem
Eis mit den beiden konBtanten Losungen L, und L, im Gleichgewicht
ist In L, verachwindet die Losang L, und es stellt sicb eine Qleich-
gewicbtslinie Eis-Triathylaminlosnng her, die bei M endet, wo die
letEtere Losnng keinen Xther mehr, sondem nnr Wasser entl^t
Wird aber zu dem Gebilde j^^
aus Eis and den beiden kon-
Btanten Losungen L, and l^
mehr Triatbflamin gesetzt, so
gelangt man in das Gebiet L,aL„
in welchem kein testes Eis mehr
Torhanden iat, sondern zwei Ter-
anderliche fiiisBige Phasen im
Gleichgewicbt Bteben. In a ist
der kritische Ponkt, wo sicb die
beiden Zweige der letzteren ver-
einigen. s Lw lc
Losungen, die noch mehr Fig. 379.
Triatbflamin enthalten, sind homogen.
Wird die Temperatur erhobt, so verkleinert sicb der Losungskegel
des Eises, nnd die Punkte L, und L, nahem sich der Seite WE; bei
— 3-8*' &llen sie gleichzeitig in aie binein, denn dies ist die Tempe-
rator, bei welcher Eis, wasseriger Ather nnd atherbaltiges Waaser mit
einauder im Gleichgewicbt sind. Oberhalb dieser Temperatur nehmen
die Isothermen die Gestalt Fig. 379 an. Hier ist WMM das Gleich-
gewichtsgebiet mit festem Eise, verdiinnter wasseriger Loanng Ton Ather
einerseits, Ton Triatbylamio andererseits, sowie Ton Gemengen beider.
Unabbangig bierron ist das ZweiflUasigkeitsfeld L, aL,; Ather nod Wasser
1172
II. Chemische Dynimik.
werden dnrch Triathylamin in einander immer loslicher gemadit» bis
bei a der kritische Punkt erreicht wird.
In Fig. 380 sind diese Verhaltnisse schematisch im Raume darge-
stellt, indem die Temperaturen nach binten (oben) fallend angenonunen
Fig. 380.
worden sind. ABC ist die Sattigungslinie der beiden fliissigen Phasen
Amin-Wasser; FH die Sattigungslinie Eis-wasseriges Amin; hiemacb
sind die iibrigen Linien leicht za deuten.
Eine dritte Reihe von Yersuchen wurde mit Phenol als drittem Stoff
ausgefuhrt Dieses mischt sich mit Trimethylamin in alien Verhaltnissen;
GhetniBche Gleichgewichte drltter Ordnnng.
1173
mit Wasser giebt es einen oberen kritisehen Punkt. Ausserdem bestebt
68 fiber ein ziemlich weites Gebiet im festen Zustande.
Beginnt man mit Temperatoren, die erheblicb nuter 0^ liegen, so
hat man zwei feste PhaseD, Eis and festes Pbenol; daneben bestebt fiber-
all nur eine fliissige Pbase. Die entsprecbenden Isotbermen sind in
Fig. 381 (far — 6^) dargestellt: von W gebt der Losungskegel des Eises,
Ton Pb der des Phenols aus. Im Dreieck WPhP sind diese beiden
Am. w
Am
Fig. 382.
mit der konstanten Losung P im Gleichgewicbt; PT ist die Sattigungs-
linie fiir Eis, PR die fiir festes Phenol.
Erhoht man die Temperatar aaf — 4*6®, so beginnt sich in den
n)it Eis gesHttigten Losangen
eine Trennang in zwei Schichten
zu zeigen, and bei etwa 3*5^ hat
man Fig. 382. Der Losangs-
kegel des Eises ist gespalten,
and es ist das Zweifliissigkeits-
gebiet ABp mit dem kritisehen
Punkte p entstanden. Die Er-
scheinang ist der beim Ather
ganz ahnlich, wie aas dem Ver-
gleich mit Fig. 378 anmittelbar
ersichtlich wird.
Bei weiterer Temperaturer-
hohang nahern sich die Pankte B
und D, so dass dieser Toil vom Losungskegel des Eises kleiner wird; bei
— 2-7® fallen beide Pankte aaf einander, and wir habon Fig. 383. Das
Am.
Fig. 383.
1174
II. Chemische Dynamik.
vierseitige Feld WABPh stellt (mit Einschluss der Damp^hase) einen
nouvarianten Punkt dar, in welchem die Phasen: Eis, festes Phenol aod
die beiden nicht mischbaren Losungen A und B mit einander im Gleich-
gewicht Bind.
Wird die Temperatur weiter gesteigert, so tritt das Gebiet der
beiden flussigen Phasen in den Losungskegel des Phenols hinein. Fig. 384,
der nun seinerseits gespalten wird, wahrend der des Eises zusammen-
hangend geworden ist
Bei —0-9® fallt der Punkt s in die Seite WPh, pFig. 385, denn
dies ist die kryohydratische Temperatur des Phenols. Dariiber zieht
sich der Losungskegel des Eises immer enger auf W zuriick, um bei
6® zu yerschwinden.
•Ph.
Am yf
Fig. 384.
Fig. 385.
Weiterhin nahern sich die beiden Punkte A und B der Seite WPh,
um bei + 1*52 gleichzeitig in sie einzutreten. Dies ist namlich die Tem-
peratur, bei welcher festes Phenol mit den beiden flussigen Phasen, die
es mit Wasser bildet, im Gleichgowicht ist Die Isotherme besteht tod
hier ab jnur noch aus der Grenzlinie ApB der Zweifliissigkeitsgebilde
Wasser -Phenol, die durch Aminzusatz gegenseitig loslicher gemacht
werden, und dem zusammenhangenden Reste des Losungskegels des fasten
Phenols, der bei dessen Schmelzpunkt 43^ verschwindet. Weiterhin rer-
schwindet auch das Zweiflussigkeitsgebiet bei 68J, dem kritischen Punkte
Phenol- Wasser.
Inzwischen ist aber bei 18-1] an der Seite WAm der untere kri-
tische Punkt Trimethylamin -Wasser aufgetreten, der sich bei steigender
Temperatur schnell zu einem nach oben offenen, umgekehrten Gewolbe
erweitert. Bei oiner noch nicht bestimmten, unterhalb 57? liegenden
Temperatur kommt dies Gewolbe mit dem vorher erwahnten aafrechten
Chemische Gleichgewichte dritter Ordnung.
1175
an der Seite WPh zum Durchschnitt, und damit erstreckt sich das 6e-
1>iet der zwei fliissigen Phasen von der Seite WPh bis zur Seite WAm
ohne Unterbrechung als ein Querband, entsprechend Fig. 263, o (S. 1032).
Bei 68S dem kritischen Pankte des Phenols, lost sich dieses Querband
Ton der Seite WPh ab und es bleibt nur das von WAm ausgehende
Gebiet der Gleichgewichte zweier nicht mischbarer Losungen iibrig.
Fig. 386 stellt die Isothermen bei 10«, Fig. 387 die bei 57o und
Fig. 388 die bei 75^ dar, deren Deutung nach dem Gesagten leicht
verstandlich ist.
119. Dampfdmoke. Das experimentelle Studium der Dampfdrucke
ternarer Gemenge ist Yon Schreinemakers*) im Jahre 1900 begonnen
J*?v Tfv Ffv
lir .Am. W .JmW Anu
Fig. 386. Fig. 387. Fig. 388.
worden. Die erste Mitteilung enthalt kurze Angaben iiber die Kombi-
nation Wasser, Phenol, Anilin und das Ergebnis lasst sich aus Fig. 389
ablesen. Hier sind a^b^ und a^b, die beiden Grenzlinien des Zwei-
flussigkeitsgebietes bei 57-3^ Da ein jedes
Paar entsprechender Fliissigkeiten gleichen
Dampf aussendet, so giebt eine einfache
dritte Linie die Zusammensetzung der ent-
sprechenden Dampf e an; sie ist durch ab
dargestellt. Es gehoren somit stets drei
Punkte zusammen, yon denen je einer auf
einer der drei Linien liegt; in Fig. 389
sind mit cc^c, die Zusammensetzungen der Fig. 38S.
drei koezistenten Phasen (zwei Fliissigkeiten und Dampf) bezeichnet.
Weitere Arbeiten sind dann in den folgenden Jahren*) erschienen,
deren theoretischer Teil oben benutzt worden ist Die experimentellen
Arbeiten befinden sich noch in der Entwicklung, so dass eine zu-
sammenfassende Darstellung verfrliht ware.
')]Zeit8chr. f. phys. Ghemie Sa, 477. 1900.
*) Zeitschr. f. phys. Ghemie 36, 257, 413, 710. 1901. — 37, 129. 1901. —
88, 227. 1901. — 40, 440. 1902.
TK
An.
Autoren - Register,
Achard 38.
Alexejew 66S, 669, 672, 679,
698, 870, 872—874.
Amagat 869.
Andrea 533.
Andrews 346, 657.
Antusch 1075.
Aristoteles 2.
Arrhenins 165, 168—178,
183, 187, 188, 190, 192
—195, 591, 597.
Anlich 197, 604.
Bancroft 447.
Baron 30.
BaruB 775.
Baur 412.
Beccaria 12.
Beckroann 328.
Behreud 1083, 1085.
Bellati 407, 412, 415, 417,
422, 423.
Berent 147.
Bergmann 9, 12, 26, 28, 29,
35, 41, 99, 163.
Berthelot 76, 78, 91—98,
107, 114, 149, 156, 162,
170, 213, 257, 260, 262,
432, 451, 454, 460—462,
465, 494, 581, 605, 976,
1062, 1064.
BerthoUet 9, 12, 36, 40-42,
46—50, 76, 86, 92, 99,
163, 176, 199, 200, 703,
710.
Berzelins 14—16, 34, 36,48,
88,166,181,400,720,956.
Biltz 328, 332.
Biot 60, 62—64, 66, 67.
Blagden 1075.
Bodenstein 499, 501, 502.
Bodl&nder 1074, 1075.
Boguski 286.
Boltzmann 315, 323, 327.
Borelli 4.
Boudoaard 952.
Boyle 8, 18, 25.
Brame 455, 462.
Brann, F. 161, 832, 834.
Braan, L. 973.
Bredig 586, 765.
Brodie 399, 400, 451.
Brown 615.
Brugmanns 382.
Brahl 335, 838.
Bniner 873.
Bruyn, de 1158.
Buffon 9, 11, 12, 26, 29,
31, 37.
Bunsen 54, 366, 386, 831,
942, 964, 966.
Caignard-Latour 576, 580.
Cailletet 658.
Garius 563.
Carlisle 13.
Camelley 863.
Cavendish 12.
Cesaro 290.
Charpy 1108.
Chevreol 93.
Ghiczynski 75.
Claisen 336, 337.
ClausiuslOO, 111, 171,345.
CloSz 462.
Cohen 151, 241.
Collan 277.
Coppet, de 739, 751—753,
764, 765, 767, 774.
Corenwinder 495.
Crafts 327.
Crismer 685.
Cundall 599—601.
Curie 147.
Debray 82, 83, 151, 474,
525—529, 536, 539, 579.
Debas 55.
Deimann 12.
Demar^ay 856.
Demerliac 370, 371, 392.
Demokrit 3.
Desprets 464.
Deszathy 807.
DeTenter 802, 808.
Deville 81, 82, 89, 93, 140,
ia5, 322, 328, 450, 451,
455, 459, 464, 473, 474,
525, 956, 957, 959, 96L
Dletzenbacber 454.
Ditto 531.
Dittmar 563, 628.
Dolezaiek 640.
Doyer 586.
Dabmnfant 738.
Dahem 183, 636, 649, 658,
690.
Dalong 56.
Dumas 49, 93, 181, 328, 450.
Dupr§ 647.
Dusch 729.
Elliot 28, 33.
Empedokles 1, 3.
Epicur 3.
Esson 107, 203, 205, 213,
214.
£tard 807, 808.
Ealer 1061.
Daguin 455.
Dahms 848, 851.
Dalton 48, 197, 964.
Damien 370.
Davy 13—15, 166.
Fahrenheit 379.
Faraday 169, 420, 545, 765.
Favre 87, 93.
Ferche 367.
Fernet 557, 967, 1076.
Fischer 41.
Fizeau 413.
Fleury 203.
Fordos 453.
Antoren - Register.
1177
Fourcroy 30, 450.
Foasaereaa 292, 294.
Frankenheim 396 — 398,
405, 417, 445—447, 463,
752.
Friedel 489-491.
Fritzsche 453, 458.
Frowein 537.
Fue88 424.
Ftthrmann 222.
Oalilei 4.
GaWani 13.
Qasseodi 4.
Gay-Lnssac 47, 50, 99, 481,
710—712, 714, 716, 723,
724, 727. 731, 864.
Gehler 29.
G^lis 453.
Geoffiroy 19, 25.
Gerhardt 17.
Gernez 283—285, 407, 407,
466, 468, 470-472, 571,
577—579, 581, 582, 736
—739, 741, 742, 754, 764
-766, 769.
Gibbs 114, 117—137, 139-
149, 151, 154, 162, 189,
300, 301, 313, 322, 323,
342, 515, 557, 621, 879,
984, 1110, 1115.
Gilles 76, 114, 257, 460,
605, 976.
Gladstone 73—75, 110.
Glauber 18, 25.
Gmelin 3, 49.
Goldschmidt 439.
Gordon 971, 972.
Goskynski 727.
Greenfell 739.
Gren 450.
Grindel 37.
Goldberg 104, 107 — 109,
154,. 168, 173, 176, 17rf,
196, 214, 256, 257, 286,
302, 313, 320, 323, 605.
Guthrie 678, 681, 683, 843
—847, 851, 1119.
Hannay 540.
Harcourt 107, 203, 213, 214.
Hartmann 616.
Uautefeuille 354, 355, 358,
495, 4%, 502.
Hecht 768.
Heide, van der 1118.
Heidenhain 967.
Helm 281.
Helmholtz 85, 122, 148,162,
188.
Henrici 580.
Henry 133, 186, 197, 220,
253, 273, 554.
Hermbst&dt 9, 31.
Hess 268.
Heycock 932.
Hippokrates 1, 3.
Hittorf 166—169, 188, 356,
357, 420.
Hoflf, van't 17, 108, 118,
131, 135, 151-161, 173,
183—189, 207, 208, 215,
216, 219, 223, 233, 241,
818, 315, 406, 493, 587,
552, 597, 605, 787, 802,
850, 862, 863, 941, 1119.
Hofmann, A. W. 181.
Hofmann, E. 110.
Hohmann 608.
Hoitsema 946, 947.
Hollemann 1075.
Hood 214, 217, 225, 226,
239, 242.
Horstinann 55, 111—113,
137, 14S, 150, 153, 185,
189, 515, 521, 532, 586,
943-945, 951.
Humboldt 481.
Humphrey 954.
Hurter 286.
Jakowkin 980, 1064, 1089.
Jeannel 738.
Jones 978, 1121.
Irvine 450.
Isambert 515, 516, 520, 522,
523, 530—532, .539, 901,
96 S
Jungfleisch 401, 402 1062,
1064.
Ketner 1162.
Kirchhoff 825.
Kirwan 31.
Klobbie 699, 1143.
Knoblauch 258, 290.
Kohlrausch 170, 171.
Konowalow 590, 608, 619,
621, 625, 687—689.
Kopp 1, 8, 18, 566.
Kowalski 698.
Kraut 528.
Euenen 649, 655, 658, 665.
Kurilow 930, 1137.
Kaster 254, 333, 334, 1059.
Lagrange 31.
Lallemand 454.
Landolt 186, 696.
Lang 950.
Lasswitz 4, 8.
Lanbenheimer 404.
Laurents 17.
Lavoisier 3.
Le Blanc 980.
Le Ghatelier 374, 525, 526,
769, 787, 802, 816, 851,
902—904.
Lecocq deBoisbandran 788,
738, 741, 742, 744, 747,
749, 750, 766.
Leconte 453.
Lefebvre 762.
Lehfeld 1064.
Lehfeldt 615, 632—684, 686.
Lehmann 892, 894, 404—
406, 417, 423, 424, 448,
671.
Lemery 4, 5, 6.
Lemoine 288, 323, 357, 358,
491—493, 495—497.
Lenssen 70—72.
Lescoeur 540—542.
Lieben 727, 806.
Liesegang 777, 779.
Linebarger 615, 629, 681,
640.
Liversidge 739.
Lorentz 817.
L6we\ 719—724, 726, 727,
727, 729, 745, 760, 773,
781,782,856,1162,1163.
Ldwenherz 1119.
LCwenthal 70—72.
Lowitz 382, 705, 710.
Lubarsch 975.
Lucrez 8.
Lussana 422, 423.
Luther 437, 461, 639, 646,
666.
Mac Nab 947.
Macquer 30, 30, 35.
Magnanini 237.
Magnus 133, 452.
Mairan 382.
Malagutl 57, 59, 60, 165.
Marchand 449.
Margueritte 55, 739.
Margules 636, 636, 638,642,
643, 690.
1178
Autoren - Register.
Marignac 767, 769.
Marx 463.
Maxwell 345.
Mayer 85.
Meerburf; 1169.
Meier 327.
Mensbrugghe 580, 739.
Menschutkin 81.
Mettsel 408.
Meyer, E. y. 943.
Meyer, Loth. 76, 178, 967.
Meyer, V. 328, 499.
Meyerhofifer 1115, 1118.
Millon 267.
Miolati 848.
Mitscherllch 157, 328, 394,
395, 397, 449, 524, 526.
Moitessier 464.
Mood 954.
Monnet 29.
Moore 284, 466.
Morley 481.
Morveau 9, 30>-35.
Mouticr 114, 455, 536.
Mailer 975.
Mailer- Erzbach 542.
Musschenbroek 382.
Natanson 320, 323, 682.
Naumann 320, 520, 528.
Nernst 187, 196—198, 588.
591, 593, 604, 607, 608,
637, 647, 703, 1019, 1020,
1058, 1064—1066, 1093,
1095.
Neville 932.
Newton 8, 0, 11, 12, 18, 21.
Nicholson 13.
Noyes 2"23, 225, 226, 235,
236, 239, 269, 980.
Ofifer 846.
Orme Masson 671.
Oerstedt 567, 568.
Ostwald 12, 111, 114, 162
—166, 168, 170, 174—
176, 178—182, 190, 191,
203, 205, 206, 210, 215,
235, 238, 245, 291, 383,
447, 539, 597, 599, 683,
696, 713, 754, 848, 856,
860, 862, 988, 1089.
Pape 545.
Pareau 529.
Pasteur 473, 730.
Paets 12.
Payen 474.
Perkin 335.
Persoz 50—52.
Peslin 114, 536.
Pfaandler 101, 106, 749,
750, 817, 846.
Pfeffer 157, 158.
PhUips 436.
Pickering 818, 1121.
Pierre 907.
Planck 183, 190, 373, 389,
588—592.
Playfair 140, 320.
Placker 620.
Potylitzin 99.
Poynting 363, 373, 374,
389, 390.
Precht 528.
Priestley 12.
Proust 48.
Pachot 907.
Ramsay 352, 481, 540, 632.
Raoult 189, 525.
Kathke 99.
Rayleigh 131, 150, 481, 482.
Recoura 766.
Regnault 81, 353, 895.
Reicher, F. 425.
Reicher, L. Th. 156, 217,
218, 220, 242, 278, 406,
407, 803, 859.
Reinitzer 392.
Reischaner 763.
Reynoso 56.
Richards 835, 856.
Richter 36, 169.
Richter, V. v. 404.
Riecke 329, 332.
Rijn van Alkemade i;80,
1003.
Ristori 947.
Ritter 13.
Rod well 412.
Roloflf 848, 851, 1020.
Romanese 407, 412, 415, 417.
Roozeboom 524, 543, 772,
800, 802, 816, 818—820,
827, 828, 830, 839, 856,
870, 873, 874, 894, 899,
903—908, 910, 912, 919,
922, 927,938,1071,1115,
1118, 1121, 1122, 1127,
1128.
Roscoe 563, 628.
Rose 52, 54, 56, 57, 75.
Roth 973.
Rothmund 673, 676, 679,
683, 696, 867, 872, 874,
1072, 1074.
Radorff 1121.
Ruys 407.
Schaffgotsch 842.
Schaum 444, 774.
Scheerer 449.
Schenk 393.
SchiUer 365.
Schnanbert 47.
Schnegg 817.
ScbCnbein 569, 570.
SchODfeld 563.
Schreinemakers 870, 993,
1005, 1007-1009, 1012,
1016, 1017. 1046, 1071,
1080, 1103, 1116, 1118,
1120, 1122, 1139, 1143,
1144, 1148, 1151, 1155,
1157, 1175.
Schrfider, H. 573, 575, 576,
580, 729.
SchrSder, J. 789, 806.
Schroder van der Kolk 89,
111. .
Schr5tter 356.
Schwab 215.
Schwarz 423, 424, 861.
Schweigger 15, 712, 713.
Scot 237, 481.
Selmi 453, 457, 727.
Setschenow 968, 971, 974.
Shenstone 806, 807.
Shields 632.
Sllbermann 87, 93.
Sims 563, 895.
Sorby 831, 832.
Spring 287, 392.
Suckelberg, v. 809,832,834.
Stadt, van de 802.
Stahl 18, 19, 25, 35.
Staub 809.
Steiner 968, 971.
Steinheil 110.
Stokes 658.
Stortenbecker 913, 918.
Swart 325, 327.
Taylor 31.
Terrell 731, 738.
Thomsen 83, 86—89, 93, 94,
110, 149, 162, 170, 178>
803.
Thomson 863.
Thomson, James 345, 366.
370, 389, 690.
Autoren - Register.
1179
Thomson, J. M. 747, 762.
Thomson, Th. 450, 712.
Thomson, W. 685, 688.
Tilden 806, 807.
Tissi^r 56.
ToUozko 1060.
Tomlinson 580, 739.
Tresca 391.
TreYor 1116.
Triewald 382.
Troost 140, 320, 322, 328,
354, 355, 358, 912.
Troostwyk 12.
Talentinas 2.
Yauquelin 30.
Veit 9.
Veley 269.
Yignon 848.
Villard 365.
Violette 730, 731, 734, 736,
738, 739, 753, 754.
Yisser, de 367, 368, 852.
Volhard 333.
Volta 13.
Vriens 1116.
Waage 104, 107—109, 154,
173, 176, 178, 196, 214,
256, 257, 286, 302, 320,
323, 605.
Waals, yan der 325, 345,
524, 649, 658, 658, 681,
682.
Wald 477.
Walker 864, 864, 865, 873.
Wanklyn 140, 320.
Warder 214.
Wason 226, 239.
Watts 563.
Weber 453.
Weinhold 83, 525.
Wenzel 12, 36, 37, 39, 40,
107, 199, 206.
Wernicke 413.
Wiedeburg 483.
Wiedemann 83, 526—529.
Wilhelmy 67—70, 107, 200,
201, 211, 213.
WiU 586.
Williamson 99, 100.
Winkelmann, A. 590, 647.
Winkelmann, von 809.
Winterl 566.
Wislicenus, J. 254, 334, 767.
Wislicenus, W. 337, 604.
Withney 766.
Wittwer 203.
Wood 864.
Wurtz 492.
Zaitschek 977.
Zincke 403, 404.
Ziz 717, 719, 745.
Zwing 768.
Sach- Register.
A.
Abgeleitete Gleichangen 951, 95i.
AbmesBungen, Blftschen von molekalaren
584.
Abnorme Dampfdichten 489.
Absorption durch Flassigkeitsgemische
974.
Adh&sion und Affinit&t 31.
Affinitas prodncta 30.
Affinit&t 1, 84 — GleicbuDg 160 —
Mass 157 — relative 75 — and Ad-
h&sion 31.
Affinit&tsbestimmungen, ftltere Ge-
schichte 18.
Afflnit&tseigenschaften der S&aren, Ein-
fluss der Zusammensetzung und Eon-
stitution auf dies. 181.
Affinit&tskoSffizienten , spezifiscbe 162
— der S&uren 164.
Affinit&tslehre , neaere Geschichte 104
— in den letztoD zehn Jahren, Ent-
wicklung 182.
Affinit&tsmessnng, dynamische 165.
Aggregatzust&nde, r&amliche DarsteiluDg
der drei 433.
Aktiviernngsw&rme des Wassers 177.
Aktivit&tskoeffizient 169, 174.
Alaun, ObersattiguDgserscbeinungen 758.
Alcbemisten 2.
AldoformeD 334.
A-Linien 779.
Alkobol, Bernsteins&urenitril and Wasser;
Gleichgewichte 1152.
Alkoholisch-w&sserige SalzlCsungen 1158.
AUotrope Formen, Ldslichkeit 860.
AlumiDium und Gold, Legierungen 932.
AmmoDiumcarbamat, Dissociation 520.
Ammoniumsulfat^ Wasser, Alkobol;
Gleichgewicht 1159.
Ammoniumsulfhydrid, Dissociation 515.
Amyienbrombydrld, Dissociation 493.
Andronia 567.
Anilin, Wasser, Phenol; Dampfdnicke
1175 — Gleichgewichte 1155, 1157.
Anthracenpikrat, Gleichgewicht 1085.
Antimonderivate, Monographie 2.
Anziehungshypothescn 8.
Arbeitsleistung bei der Diffusion zweier
Gase 482.
Ather, Bernsteins&urenltrll and Wasser;
Gleichgewichte 1144.
Atome, elektrische Eigenschaften 15.
Atomistische Hypothese 3.
Atomverschiebang 334.
attractio a^gregationis 27 — compo-
sitionis 27 — duplex 27 — fosionis
27 — simplex electiva 27 — solotionis
27.
Aufldsungsmittel, Wirkung 44.
Autokatalyse 263.
Aviditat 170.
B.
Benzo6s&ure, Wasser und Bernsteins&ure-
nitril; Gleichgewichte 1148.
Benzol f /9-Naphtol und Pikrins&ore;
Gleichgewichte 1137.
Bernsteius&urenitril , Benzo§8&are and
Wasser, Gleichgewichte 1148 — Wasser
und Alkobol; Gleichgewichte 1152 —
Wasser und Ather, Gleichgewichte 1144
— Wasser und Chlomatrium; Gleich-
gewichte 1189.
Berthollet*sche Theorie, Schicksale 47.
Best&ndigkeit homogener Fldssigkeiten
128.
Best&ndigkeitsgebiete der verschiedenen
For men des Schwefels 457.
Bestandteil, unabh&ngiger 935 — virtu-
eller 936.
Bestandteile, 934 — Definition 476 —
umwandelbare 139.
Beziehung 21.
Bildungsw&rme Null 502.
Bin&re Gemische, energetische Theorie
636.
Bl&schen von molekularen Abmessangen
584.
Blasenlinien 575, 580.
Bleioxyd und Salmiak, Gleichgewicht 962.
Borax, Gbers&ttigung 762.
Bors&ure, Eiufluss ders. auf die Drehong
der Weins&urelOsungen 62.
Sach- Register.
1181
Bromammoniam, AmmoniakTerbindiuigen
912.
Bromhydrat 905.
Bromwasserstoff, Hydrate 908.
C.
Calcium carbonat, DissociatioD 525.
Calciumlactat, Cbers&ttigung 767.
Calciamsulfat, Obers&ttiguDg 767.
Chemie der anw&gbaren Stoffe 3.
Cbemiscbe Energie 879.
teste Pbasen an der Fl&cbe ders.
1068.
ternftrer Gebilde, Fiache 1003.
Cblorcalcium , Hydrate 919 — Ldslich-
keit der Hydrate dess. 819 — Ober-
8&ttigung 762.
Chlorbydrat 901 — Obersftttigung 773.
Chlornatriam, Bernsteins&urenitril and
Wasser; Gleicbgewicbte 1139.
Chlorwasserstoffy Hydrate 907.
CoSxistcnte Pbasen 124.
CoUoide LOsungen von Scbwefel 457.
Corpuscularbypothese 4.
Cyan und Paracyan, Gleichgewicbt 354.
Cyans&ure and Cyanurs&ure, Gleicbge-
wicht 355.
D.
Daltonsches Gesetz 480, 964.
Dampf, Gleichgewicbt mit festem Kdr-
per 353 — and Flassigkeit 339 — und
stetiger Cbergang 345.
Dampfdruck, Teroperaturgesetz 350 —
der Idsenden FJUssigkeit 556 — unbe-
st&ndiger Formen 900 — der Ldsung
eines flOcbtigen Stoffes 588.
Dampfdrucke gemiscbter Fltissigkeiten
bei alien Konzentrationen, angen&berte
Tbeorie ders. 617 — teilweise misch-
barer FlQssigkeiten 687 — flQssiger
Gemlscbe mittlerer Konzentration 611
— dreifacber bomogener Gemische
988 — yerscbiedene, desselben Hydrates
.MS — ges&ttigter LCsungen 823 —
Wasser, Pbenol, Anilin 1175.
Dampfdrackfl&cbeo^die mOglicben betero-
genen tem&rer FlQssigkeiten 1046.
Dampfdruckisotberme 340.
Dampfdruckkurven beim dreifacben
Punkte 437.
Dampfdracklinie, rQckl&ufige 829.
Dampfdruckvermebrung durcb Pressong
363.
Dampfphase, Anwendung ders. zur Er-
mittelnng der wirksamen Menge 359.
Dampfpbasen 303.
Ottirald, Cheinie. II|2. 2.Aiifl.
Definition der Bestandtetle 476.
Desmotropie 334.
DestilUtluiien 1010.
Diaphragmen, Wirkungen 121.
Diffusion zweier Gase, Arbeitsleiatong
bel ders. iSt.
Dimension der Geschwlndigkeitsko^-
zienten 231 — der Gleichgewiehtskon-
stanten 485.
Dissociation, Tbeorie 112 — der Ammo-
niakverbindungen von Metal Idiioriden
530 — des Amylenbrombydrids 493
— der Elektrolyte in ibren lonen 188
— krystallwasserbaltiger Salze 526 —
des geldsten Stickstofi'peroxyds 599.
Dissociationsdruck 508 — Gesetz 82.
Dlssociationsdrucke, Beziebuog zwiscben
den verscbiedenen mdglicben 538.
DissociationserBcbeinangeQ 81, 489 —
Erkl&rung 101.
Dissociationsspannung 82.
Dissociationsw&rme , Berecbnung ders.
aus der Temperaturverscbiebung des
Gleicbgewicbts 326.
Doppelpunkt, kritischer 1031.
Doppelsalze in Ldsangen 1121.
Drei feste Pbasen neben Dampf 838.
Dreifache Gemiscbe, grapbiscbe Dar-
stellung ders. 982.
Dreifacber Punkt 428.
Dampfdruckkurven bei dems. 437.
bei polymorpben Kdrpern 439.
Dreiphasenfeld 1052.
Druck, Einfluss dess. auf die Ldslicb-
keit 831 — Einfluss dess. auf den
Schmelzpunkt 366 — Einfluss dess.
auf die (Jmwandlungstemperatur 161.
— negativer 362 — positiver and
negativer 580.
Druckmaximum, Bedingung dafQr 127.
Druckminimum, Bedingung dafUr 127.
Dynamik, cbemiscbe 151, 199.
E.
Efflorescenz 44.
Eisen, Eisenoxyd, Wasserdampf and
Wasserstoff, Reaktion zwiscben dens.
956
Eisencblorid, Hydrate 927 — LOslicbkeit
der Hydrate dess. 820 — Cblorwasser-
stoff und Wasser 1122.
Eisenoxyd, Eisen, Wasserdampf and
Wasserstoff, Reaktion zwiscben dens.
956.
Elastizit&t 43, 146.
Elektriscbe Spannungsreibe 13.
ElektriziUt, Erbaltong 169.
Elektrocbemiscbe Hypotbescn 12 —
75
1182
Sach* Register.
Theorie Ton Arrhenius 168 — Theorie
von Davy 14 — Theorie von Berzeliiu
13, 15 — Tbeorien, neuere 166.
Elektrochemischer Apparat, Yollkom*
mener 148.
Elektrokapillare Erscheinnngen 148.
Elektrolyte sind Saize 167 — Dissociation
in ihren lonen 188 — Gleichgewicht
beliebig vieler 195.
Elektrolytische LOsung, Theorie ihres
Gleichgewichts 170.
Elektromotorische Kraft 161.
Elemente 2.
Enantio trope Form en 443 — and mono-
trope Formen, Unterschied 440.
Enantiotropie 405.
Endzustand bei chemischen Reaktionen
210.
Energetische Ableitung der Massen-
wirkungsformel 207.
Energie, freie 148, 149 — und Verwandt-
schaftslehre 83.
Enolformen 334.
Entropie 112.
Erden, absorbierende 23.
Erg&nzungsgleichuQg 119.
Erstarrungsgeschwindigkeit flberkalteter
Scbmelzen 282 — des Qberkalteten
Schwefels 465.
Erzeugungiilinien 1006.
Essigkalorimeter 369.
Esterbildung, Gesetze 76.
Eutektische Gemische 848 — Legiemng
842 — PuDkte 876 — Punkte, tern&re
1106 — Punkte bei mehreren Salzen
1119 — Union 1106 — Linien bei
YerbinduDgen 1109.
Eutektischer Punkt 869, 884.
F.
Falten 1033 — zusammenh&ngendo 1035.
FaltenpuDkt 1034.
Fernewirkung 8.
Feste Kdrper 140 — KOrper, gegenseitige
Umwandliing 285 — Pbase, eine, neben
einer gasfdrmigen 948 — Phasen 303
— Phasen an der Fiache der che-
mischen Energie 10B8 — Phasen
bei tern&reD Gleichgewichten 1067
— Stoffe, zwei, neben Gasen 955 —
— Stofife, drei\ und eine Gasphase 962
— Yerbindungen, chemische Energie
ders. 885.
Fester Korper, Gleichgewicht mit Dampf
353 — Kdrper, wirksame Masse eines
109.
Fl&che der chemischen Energie
1033.
g-Fl&che 1008.
FlQchtiger Stoff, Dampfdruck der LOsnng
eines 588.
FlQssige Gebilde^ chemische Energie
ders. 880 — Gemische mittlerer Eon-
zentration, Dampfdrucke 611 — Kry-
stalle 392 — Phasen 303 — Phasen,
chemische Energie zweier 889.
FlQssigkeit und Dampf 339.
stetiger t^bergang 345.
Fldssigkeiten, homogenes Gleichgewicht
in dens. 332 — tern&re Gleichgewichte
in dens. 976 — Gemische flachtiger
585 — und Gase 964.
Flassigkeitsgemische, Absorption dnrch
dies. 974.
Flassigkeitsh&ute 146.
Folgewirkungen 247, 249, 277.
Formulierung der Reaktionen 219.
FortpflanzuDg der chemischen Wirkung
200.
Freie Energie 122.
Freie lonen, Theorie 187.
Freiheitsgrad 125, 301.
Freiwillige Erystallisation in Qber-
8&ttigtenL6sungen751 — Zersetzungen
268.
Fundamentalgleichungen 121.
X, Funktion 880.
G.
GaSyLdslichkeit in Flttssigkeitsgemischen
967.
Gase, Gemische mehrerer 940 — homo-
genes Gleichgewicht bei dens. 483 —
Gleichgewichte mit dens. 480 — Ge-
setze des Gleichgewichts 138 — ideale
131 — chemische Yorg&nge dritter
OrdnuDg bei dens. 940 — und Fl&ssig-
keiten 964.
Gasgesetze, Anwendung aaf die freien
lonen 189.
Gasldsungen, abers&ttigte 566.
Gasmlschungen 131.
Gefrieren aus gemengten FlCkasigkeiten
1093.
Gegenreaktionen 251 — zweiter Ordnong
255.
Gegenwirkungen 247.
Gemische flQch tiger Flassigkeiten 5%
— mehrerer Gase 940.
Gestalt, Einfluss auf die Affinit&t 10.
Geschichte der Yerwandtschaftslehre 1.
Geschwindigkeit chemischer Yorg&nge
107.
Geschwindigkeitsfaktor 232.
GeschwindigkeitskoSffizienten y Dimen-
sionen 231.
Sach* Register.
1183
Glaubersalz, L6slichkeit 719 — LCsuDgs-
yerh<nisse 724 — Umwandlangspuokt
855.
Gleichgewicht: feat -feat d93«
— fe8t*flQ88ig 365.
— flassig-flassig 427.
— zwei feste £5rper und ein Gas 524.
— drei feste Kdrper und ein Gas 547.
— eine feste Phase neben Dampf 543.
— drei feste Phasen 551, 1087.
— vier feste Phasen 553, 1088.
— zwei iiUssige Phasen ohne Dampf
697.
— zwei flAssige Phasen and eine feste
1088.
— zwei fltlssige and zwei feste Phasen
1095.
— drei flOssige Phasen and eine feste
1095.
— zwei feste Stoffe and eine FlQssig-
keit 1076.
— eine feste tem&re Verbindang 1082.
— zwei feste bin&re Yerbindungen 1081.
— das beweglicbe 99.
— chemisches 296.
— beliebig vieler Elektrolyte 195.
— homogenes, in FlQssigkeiten 832.
bei Gasen 483.
in tern&ren LOsangen 980.
— des Jodwasserstoffs 494.
— einer elektrolytischen LOsung, Theorie
170.
— erster Ordnang, Einflass der Tem-
peratar 312.
xnit einer Gasphase 305.
— Yerh<nis zur Reaktionsgeschwindig-
keit 243.
— als Tempera turf unktion 156.
— bei koDstantem Yolum 488.
— wirkliches 296.
— and Gesamtdruck, Beziehung 310.
— und LOslichkeit, Beziehung zwischen
den KoMffzienten ders. 603.
Gleichgewichte mit FlUssigkeiten 554.
— mit Gasen 480.
— heterogene 196.
— homogene und heterogene 299.
— fester Edrper neben . Gasen 503.
— erster Ordnung 296.
— zweiter Ordnong 476.
— dritter Ordnung 934.
— zweiphasige 339.
— dreier Phasen 428.
— scheinbare 296.
— fester Stoffe mit FlQssigkeiten 699.
— temftre, in Flttssigkeiten 976, 1017.
f mit festen Phasen 1067.
— ^, mit mehreren fltissigen Phasen
1022.
— zusammengesetzte 892«
Gleichgewichtsbedingungen far hetero-
gene Gebilde, allgemeine 146.
Gleichgewicht8konstanten,Dimension485.
Gleichgewichtszust&nde , Theorie der
chemischen 114.
Gleichungen, abgeleitete 951, 954.
Gold und Aluminium, Legierungen 932.
Graphische Darstellung dreifacher Ge-
mische 982.
Grenze der Esterbildung 79.
Grenzebene 108.
Grenzkurve 652.
Grenzf&lle der Reaktion zweiter Ord*
nong 220.
Grundeigenschaften 2.
Grappe, hylotrope 298.
H.
Halbdurchl&ssige Scheidewand fest-
flQssig 374 — Scheidew&nde 361.
Halbstetige Zustandsfl&che 436.
Hauptgleichung 116.
Henrysches Gesetz 554.
Abweicbungen 563.
und osmotlscher Druck 555.
Heterogene Gebilde, Reaktionsgeschwin-
digkeit in dens. 281 — Gleichgewichte
196 — Yorgftnge zweiter Art 291 —
und homogene Gebilde 299.
Hilfsreaktion 88.
Homogene und heterogene Gebilde 299.
Hydrate des Eisenchlorids 927.
Hydrolyse 174.
Hylotrope Formen 298 — feste Phasen,
zwei 859.
Hypothesen, schlechte 33.
Hypothesenbildung 11
Hysteresisschleifen 410.
(I) J.
Invariantes Gleichgewicht, weitere F&Ile
475.
Inversion, Einfluss des Neutralsalzes auf
dies. 71 — des Zuckers 200.
Jod, Chloride 913.
Jodwasserstoff, Gleichgewicht 494.
lonen, freie 168.
Theorie 187.
Anwendung der Gasgesetze auf
dies. 189.
Isobaren 343 — fest-flassig 372.
Isochoren 343 — fest- flQssig 372.
Isohydrische Ldsungen 192.
Isolierung, Method e 238.
Isomere Umwandlung 805.
laomerie, chemische 397, 403 ^— physi-
kalische 394, 403 — r¨iche 334.
Isotherme Destination 1008.
Isothermen, fest-flttssig 371.
75*
1184
Sach-BegiBter.
K.
KAllam-Natriumtartrat, tTbers&ttigangs-
erscheinungen 761.
Ealiumbleijodid und Wasser 1116.
Kallomcarbonat, Wasser, Alkofaol; Gleieh-
gewicht 1160.
Kapillarit&t, Theorie 141.
Katalyse des Methylacetato 205.
Katalytische Beeinflussuogen 247 —
ErscheinuDgeD 579 — Reaktioaen 262
— Beaktionen h6herer Ordnung 269
— UmwaDdlttogen des Schwefels 461
•— VerzCgeruDgen 270 — Yorginge 248
— Wirkang des SUubes 727.
Keim 291.
Keime, GrCsse krystallinischer 385 —
— Krystalllsation durch isomorphe 388
— Qotere Grenze 754.
Kemtheorie 17.
Ketotormen 334.
Kinetik, chemischc 199.
Kioetische Hypothese 103.
Kleine Mengen eines Bestandteiis 486.
Knicklinie ItlO.
Knickpankte 876.
KoSffizient i 185.
Eo^xiBtente Phasen 299.
Kofixistenzprinzip 244 — Formulierang
246.
Kohftsionskraft 43.
Kohle, Eohlenoxyd und Eohlendioxyd;
Gleichgewicht 952.
Eohlendioxyd, Eohlenoxyd and Eohle;
Gleichgewicht 952 — Wasserstoff,
Eohlenoxyd und Wasserdampf, Gleich-
gewicht 942.
Eohlenoxyd, Eohlendioxyd und Eohle;
Gleichgewicht 952 — Wasserdampf,
Eohlendioxyd and Wasserstoff; Gleich-
gewicht 942.
Kohlenstoff und Wasserdampf, Reaktion
zwischen dens. 949.
Eohlenstoffatome, tetraedrische Form 17.
Eo'inzidenz derausgezeichneten Falle660.
Eondensation, retrograde 653.
Eondensationskurve 1006.
Eondensierte Systeme 153, 154, 552, 835.
Eontaktwirkung bei tj bersattigung 720.
Eraft, chemische 879.
Eonzentration 43.
Eonzentrationen 484.
Eraft, chemische 879.
Er&ftefunktion ftLr konstante Temperatur
121.
Eritische LCsongstemperator 670.
— Pankte bei bin&reo Gemangen 648.
— — untere 678, 11 69.
— Zersetzungitempetatar 903.
Eritischer Doppelpunkt 103 L
Eritiacher Poxikt 341.
fest-flOtsig 373.
bei tern&ren Fl&ssigkeiten 1025.
bei polymorphen Formen 426.
und die Erystalleigenschafien 391.
der LOsung 668.
dritter Ordnung 1103.
Eryohydrate 842 — Schmelzdrucklime
851.
Erystall, Habitus 147.
Erystalle, flQssige 392.
Erystalleigenschaften and der kritische
Punkt 391.
Erystalliniache Oberhitsnng 407.
Erystailisation durch isomorphe Eeime
388.
Erystallkeime 705.
Eoltarmethode 756.
Labile Formen 347 — Gebiete 774.
Labiles Gebiet 705 — und metastabiles
Gebiet 432.
Laktone, Yerseifung 220, 273.
Legierungen ron Wismnt, Blei and Zinn
1108.
Leitf&higkeit, molekulare 191.
LOslichkeit 597 — der Hydrate des
Chlorcalciums 819 — Einflnss des
Druckes auf dies. 831 — der Hydrate
des Eisenchlorids 820 — allotroper
Formen 860 — eines Gases In Flttssig-
keitsgemischen 9B7 — and Gleich-
gewicht, Beziehung zwischen den
Eo^ffizlenten ders. 603 — Gleichge-
wicht: FlQssigkeiten von begrenzter
666 — gleichzeitige 1062 — Beziehnog
zwischen derletzten LOsongswarme und
dem TemperaturkoSffizienten ders. 806
— zusammengesetzter fester Phasen
813, 829 —- retrograde 1029 — schein-
barc 559 — fester Stoffe, begrenzte 701
. — wahre 559 — zunehmenda 1025.
L6slichkeitsbeeinflussung durch den
Druck. Theorie 832 — amgekehrte
1061.
LOalichkeitslinic bei sehr kleinerEoazen-
tration 787.
grosser Eonzentration 785.
LOslichkeitsverminderung 1057.
Ldsung fester Stoffe 699 — eines flflchtigen
Stoffes, Dampfdrnck 588 — Zustaod
der Stoffe in verdUnnter 596.
L5tangen, Dampfdrucke ges&ttigter ^
— ZttBtand homogeoer 73 — isohydnBcbe
192 —r in gemischten LOsaogssBitteln
< 1020 — flftchtigerStoffe, Sledetesipert-
turen 590 — ternftre 978 — Theorie
130, 159, 184.
Sach- Register.
1185
LiOsaiigsgleichgewicht 704.
Li/^songsgleichgewichte organischer Yer-
bindungen, bin&re 930.
Ldsnngskegel 1069.
LiOsangslinie, einfachste 789 — yencbie-
dene Gestalten 793 — ToUst&ndige
867 — VerUuf 791.
LiOsnngsImien, Diskussion 804.
Lidsungstemperatur, kritiscbe 670.
Lidsungstbeorie 13&.
LiOsimgBw&mie 799.
Lidsungswftrme, ente 803 — ganze 803
— letzte 803 -^ letzte, Beziehnng
zwischen ders. and dem Temperatar-
koSMzienten der Ldsliebkeit 808.
LOsungsw&rmeD, unendlicbe 821.
Negativer Drack 362.
Neatralsalz, Einfluss auf die Inversion
71.
Nonvariante Pimkte 835.
0.
Oberfl&cbenspannang 141.
Ordnung, cbemiscbe Yorg&nge hOherer
221 Reaktionen zweiter — 212 Reak-
tionen dritter — 223 — yerwickelter
Reaktionen 272.
OrganischeVerbindangen, bin&reLOsnngs-
gleichgewicbte ders. 930.
Osmotiscber Druck 184.
and Henryscbes Gesetz 555.
Magnesiamsulfat, LOsangsTerb<nisse
724.
Manokryometer 367.
Massenwirkung 35, 36, 40, 67 — cbemiscbe
75 — Gesetz der cbemiscben 39 —
Tbeorie 104.
Massenwirkungsforme], energetiscbe Ab-
leitung 307.
Mecbaniscbe AaslOsnng dbers&ttigter
Fiassigkeiten 769.
Metamerie, molekulare 405.
Metastabile Formen 347 — Grenze 773.
Meustabiies Gebiet 705.
Metastabiies and labiles Gebiet 432.
Mittellinien 1128.
Mol 212.
Molekulare Verbindang 489.
Molenbracb 612, 983.
Monotrope Formen 443 — and enantio-
trope Formen^ Unterscbied 440.
Monotropie 405.
Kacbwirkungen, tbermiscbe 335.
Nacbwirkungserscbeinungen beimScbwe-
fel 466.
. j?-Napbtol, Pikrins&ure andBenzol,Gleicb-
gewicbt 1137.
Ifatriamacetat, Cbers&ttigang 763.
Katriumcarbonat , LOsongsverb<nisse
721 — Wasser, Alkobol; Gleichgewicbt
1162.
' Katrium chlorat , 0 bers&ttigangserscbei-
nungeu 754.
.Natriomsulfat, Wasseru. Alkobol; Gleicb-
gewicbt 1161.
Nebenreaktionen 106, 249.
l^ebenwlrkungen 247 — bOberer Ord-
nung 25a
P.
Paracyan and Cyan, Gleicbgewicbt 354.
Passive Widerst&nde 116.
Pbasen 116, 299 — zerstrenter Energie
136.
Pbasenregel 124, 301.
Pbenantrenpikrat, Gleicbgewicbt 1084.
Pbenol, Anilin, Wasser, Dampfdracke
1175.
Gleicbgewicbte 1155, 1157.
Pbospbor, Gleicbgewicbt 356.
Pikrins&ure, Benzol and /?-Napbtol;
Gleicbgewicbt 1137.
Polymeric, molekulare 405.
Polymorpbe Formen, kriti8cberPankt426.
Scbmelzpunktsunterscbiede 399.
Polymorpbe Korper, dreifacber Punkt
bei dens. 439 — Nitrate 417 — Stoffe,
allgemeine Gesetze ftlr die Umwand-
lung 425 — rftumlicbe Darstellung der
Yerb<nisse 448.
Polymorphic 394, 397 — bei Koblenstoff-
verbindnngen 400 — des Scbwefels
449 — des Schwefelkupfers 420 —
des Schwefelsilbers 420.
Potential 124 — cbemiscbes 116.
Potentiale 123 — fester and flttssiger
K6rper 134 — sebr kleiner Mengen
129.
Pressung 362, 374, 504, 1022.
Prinzip der kleinsten Arbeit 156 — der
grOssten Arbeit 157 — drittes 91.
Produkt der wirksamen Mengen 105.
Pankt, dreifacber 428 — vieiiacber 547.
Punkte, ausgezeicbnete 621.
Q.
Quecksilber 2.
1186
Sach- Register.
R.
Randlinien 1128.
R¨iche Darstellung der drei Aggre-
gatzust&nde 433.
ReaktiooeD, Formulierung 219 — zweiter
OrdDung 212 — dritter Ordnang 223
— Vereinfachung 239 — verwickeltere
246.
Reaktionsgeschwindlgkeit 107, 200.
— in heterogenen Gebilden 281.
bei Yer&nderiicher Oberfl&che 288.
— Yerh<nis zom Gleicbgewieht 243.
— Einfluss der Temperatar auf dies. 152.
— TemperatarkoSffizient 316.
Reaktionsgeschwiadigkeiten, Entdeckung
des Gesetzes 67.
ReaktioDSordnnngygraphischeDarstellang
228 — bei gestdrten Yorg&ngeD, Be-
stimmung 232.
Retrograde Eondensation 653.
8.
Salmiak und Bleiozyd, Gleicbgewieht
zwischen dens. 962.
Salz 2.
Salze,Elektrolyte sindl67 — gegenseitige
ZersetzuDg lOslicher 59 — Zersetzung
unlCslicher durch lOslicbe 56.
S&uren, Affinit&tskogffizienten 164 —
Einfluss der VerdQnnung auf ihre
St&rke 176 — Einfluss der Zusammen-
setzung und Konstitution auf ihre
Affinit&tseigenscbaften 181 — starke
und schwache 163 — Verhalten 179.
Schaumbildung 683.
Scheidewand, halbdurchlftssige fest-flOssig
374.
Scheidew&nde, halbdurchl&ssige 361.
Schmelzdrucklinie der Eryohydrate 851.
Schmelzfl&che 1100 — ternftrer Yer-
binduugeu 1101.
Schmelzpunkt, Einfluss des Druckes 366.
Schmelzpunktsun terschiede polymorpher
Formen 399.
Schwefei 2 — amorpher 450 — Best&n-
digkeitsgebiete der verschiedenen
Formen 457 — Polymorphie 449 —
Cbergangstemperatur 156 — Erstar-
ruDgsgeschwindigkeit des aberkalteten
465 — Utrikularzustand 455.
Schwefei dftmpfe, polymere 328.
Schwefeldioxyd, Hydrate 894.
Schwefeldioxydhydrat, tjTbers&ttigung 772.
Schwefelkupfer, Polymorphie 420.
Schwefelsilber, Polymorphie 420.
Seitenkurven 1128.
Siedepunkt bin&rer Gemische 627.
Siedetemperatoren der I^sungen flfich*
tiger Stoffe 590.
Spurlinie 1034.
Stabilit&t, Grenzen 129.
Statik, chemische 101.
SUub, katalytische Wirkang 727.
Stetige Zustandsfl&che 434.
Stetiger Cbergang von Dampf and Flflssig-
keit 345.
fest-flttssig 389.
Stickstoffhyperoxyd 139 — DiasociatioD
820 des gel68ten 599.
StCrungen 106, 208.
SabstitutionsYorg&Dge 17.
Summengleichungen 938.
T.
Tabellendrechsler 30.
Tautomere Umwandlung in Ldsung 604.
Tautomerie 334.
Teildruck 480.
Teildruckkurven unvollkommen misch-
barer Flassigkeiten 689.
Teilnng einer Base zwischen zwei S&a*
ren 162.
Temperatur, Einfluss auf die Reaktions-
geschwindlgkeit 152.
Temperaturdiagramm , das voUst&ndige
tem&re 1114.
Temperaturfl&che flOssig-fltLsaig 1101 —
fester Phasen 1105 — bei drei flfissigexi
Pha8enll03.
Temperaturfl&chen mit zwei flassigen
Phasen, Schnitte an dens. 1112 —
zusammengesetzte 1105 — nnd-linien
1098.
Temperaturkoeffizient der Reaktions-
geschwindigkeit 316.
Temperaturmaximum, Bedingong dafOr
127.
Temperaturminimnm , fiedlngang dftfOr
127.
Tem&re Gleichgewichte in FlQsaigkeiten:
allgemeinster Fall 1030.
mOgliche Einzelf&lle 10S2.
Theorie, Guldberg- and Waagesche
109.
Theorien, chemische, Geschickte 1.
Thermochemisches System 84.
Thermodynamik und Yerwandtachafts-
lehre 89 — Anwendong auf die Yer-
wandtschaftaerscheinangen 111.
Thennodynamisclie Obereinathnmimg,
Gesetz 681.
Thermodynamisclies Potential^ Anweo-
dung 878.
Thiosulfate, Zersetzang 292.
Sach -Register.
1187
Tri&thylamin, Wasser, Ather; Gleich-
gewicht 1170 — Wasaer, Alkohol;
Gleichgewicht 1170.
Trimethylamin, Wasser, Phenol; Gleich-
gewicht 1172.
Typentheorie 17.
U.
«
t^bergangspunkt 155, 552.
'Obergangstemperatur 399, 406.
C^berhitzung 379.
CberkaltuDg 379.
C^berkaltangserscheiDungen , Gescbicht-
liches 379.
CberkaltuDgszust&nde, Theorie 710.
Cbers&ttigte Fiassigkeiten, mechanische
AuslOsung 769 — Gasldsungen 566 —
Ldsungen isomorpher Salze 742.
Cbers&ttigung 383, 704 — Analogie mit
den organischen Keimen 729 — zwei
Arten 5^2 — bei LAsungen von FlUssig-
keiten in Flttssigkeiten 695 — Ursache
723.
fj bers&ttigongserscheinungen 872 — Za-
sammonfassung 780.
Obers&ttigungsgrenzo , experimenteller
Nachweis 777.
tj bers&ttigungszQst&nde, Theorie 710.
tjberschreitungen der Gebiete der Ag-
gregatzust&nde 431.
Umwandlangen im vierfachenPankte836.
Um wandluDgsintervall 1118.
Umwandlungstafen, Gesetz 444 — der
Schwefel als Beispiel fUr das Gesetz
ders. 472.
Umwandlungstemperatar, Einfluss des
Druckes auf dies. 161.
Umwandlungstempcraturen 424.
Unbest&ndige Formen, Dampfdruck 900.
Unendliche Yerdampfungsw&rme 830.
Unldsllche Stoffe, chemiscbe Wirkung
108. ^
Unstetigkeitsfl&che, Yergrdsserung 144.
Unstetigkettsfl&chen zwischen festen und
fiQssigen Korpern 146.
Untlberschreitbare Linie 991 , 1009 ,
1012.
Utrikularzustand des Schwefels 455.
T.
Valenzlehre 17.
Verdampfungskurve 1006.
Yerdampfungswarme bin&rer Gemische
644 — inoere 351 — uoendliche 830.
YerdUnnung 179 — der S&uren, Einfluss
auf ihre St&rke 176.
Yereinfachung der Eeaktionen 239.
Yerseifung des Chloralhydrats 242 *-*
der Ester 214 — dcfr Laktone 273.
Yerseifungsgeschwindigkeit 194.
Yertheilungsgesetz 594, 1062.
Yerwandtschaft, Mass 38 — der K6rper,
Lehre 36 ^ St&rke der chemischen
18.
Yerwandtscbaftserscheinungen , Anwen*
dung der Thermodynamik auf dies. 111.
Yerwandtschaftsgesetze 34.
Yerwandtschaftskoeffizient 76.
Yerwandtschaftslehre 183 — von Berg-
mann 26 — Energie in ders. 83 —
Geschichte 1 — uud Thermodynamik
89.
Yerwandtschaftsreihe 19.
Yerwandtschaftstafel von Geoffiroy 20.
Yerwandtschaftszahlen 73.
Yerwitterungsfiguren 545.
Yierfache Punkte mit flQssiger Phase 876.
mehrere 892.
Yierfacher Punkt 547.
Umwandlungen in dems. 836.
Yirtueller Bestandteil 936.
Yolta'sche Kette, Theorie 147, 187.
Yolumchemische Methode 164.
Yorg&nge, Geschwindigkeit chemischor
107.
W.
Wahlverwandschaft, doppelte 45 — prft-
disponierende 30 — reciproke 30 —
vielfache 30.
W&rmefunktion far konstanten Druck
122.
Wasser, Aktivierungsw&rme 177 — Alko-
hol und Bernsteins&urenitril; Gleich-
gewichte 1152 — Ather u. Bernstein-
s&urenitril; Gleichgewichte 1144 —
Bernsteins&urenitril und Benzo3s&ure;
Gleichgewichte 1148 — Chlornatrium
und Bernsteinsllurenitrll; Gleichge-
wichte 1189 — Massen wirkung 52 —
Phenol, Anilin; Dampfdrucke 1175
— Phenol und Anilin; Gleichgewichte
1155, 1157.
"Wasserdampf, Zerfall 81 — Kohlenoxyd,
Kohlendioxyd und Wasserstoff ; Gleich-
gewichte 942 — und Kohlenstoff,
Reaktion zwischen dens. 949 —
Wasserstoff, Eisen und Eisenoxyd,
Reaktion zwischen dens. 956.
Wassergas 949.
Wasserstoff, Kohlendioxyd, Kohlenoxyd
und Wasserdampf; Gleichgewichte
942 — Wasserdampf, Eisen und
Eisenoxvd, Reaktion zwischen dens.
956,
1188
Sach- Register.
WasBentoffatom, Ubiles 336.
Weios&ureKtoiingei] , Einfloss der fior-
8&are aaf dio Drehung den. 62.
Wirksame Masse eines festen KCrpers
109.
— Menge, Anwendang der Dam pf phase
zur ErmitteluDg ders. 859.
in LOsungen 360.
gelOster Stoffe 597.
Z.
Zersetznngsdruck 524.
Zersetzangskoeffizient 60.
Zersetzaogstemperatur, kritische 903.
Zocker, Inversion 200.
Zwang 141.
Zwei feste Phasen und eiae flOssige
neben Dampf 840.
Zwei flQssige Pbasen and eine feste
neben Dampf 864.
'^N/VERS/TY
r-
Druck TOD POBchel A Trepto in Leipzig.
Druckfehler und Verbesserungen.
8«ito 129 Zelle 14, 16 t. o. and 8 t. a. statt dm] Um: dm^.
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182 .. 8,.o. .«tfe ~(^) ru.:(p) =(-^)
238 „ 17 ▼. o. Btatt -h 8n ' * * lies: Sn * * ".
228 „ 19 T. o. stott Btannlion Um: Stannoloo:
280 ,, 9 T. 0. ttott k(A-z) B-z) 11m: k(A-z) (B-z).
281 „ 10 T. o. statt = (A— z)3i lies: k(A-z)'i.
281 ., 11 T. o. ststt »(A-z^ lies: k(A— z)«. '
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„ 282 „ 1 ▼. o. statt erster lies: n-ter.
,, 282 „ 9 ▼. a. ist der Sata ca lesen: Bei YorgAngen erster Ordnung irird der
Oescbirindigkeitsfaktor gleicb Bins and ist also anab-
bftngig Ton der Konsentration.
„ 242 „ 7 T. o. statt CP Ues: CHCi*.
,, 280 „ 11 T. o. statt ^«»z lies: §^»x.
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2»} „ 12 T. a. statt '— lies: ^.
808 ,, 21 T. o. statt n-1 lies: n+1.
806 ,1 8 ▼. o. statt (ndlupi— mdlups) lies: (ndlopi— mdlupi).
812 ,1 8 ▼. o. Tor T— dT einscbalten T and.
818 „ 7 T. o. statt Uwandlung lies: Umwandlang.
814 ,1 11 ▼. n. statt also urn ((^"^e) ^^' ^ '^^'^ °™ (^a~^e) '^'
816 „ 8 ▼. 0. statt Fig. 8 Ues: Fig. 7.
820 „ 8 ▼ 0. statt Wanklin lies: Wankljn.
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r 11m. uta T'
„ 828 », 7 und 8 t. o. statt Me ^ lies: Me
„ 838 M 14 T. tt. statt Lttft lies: Stickstoff.
„ 829 I, 6 T. o. statt beiderlei lies: in beiderlei.
y, 861 „ 18 T. u. statt dp lies: dlup.
„ 488 M 17 ▼. u. statt 4-596 lies: 4-669.
„ 749 und 760 ist fiberall statt Oernes so lesen Leoocq de Boisbandran.
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1006 Zelle 18 t. o. statt Damp fd rack lies: Dampf.
1116 „ 12 T. o. statt Veranderang lies: Yerdrftngung.
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